STADT DER SCHATTEN 1954
1
Am nächsten Morgen kam Fermín auf Cupidoflügeln zur Arbeit, lächelnd und einen Bolero pfeifend. Unter andern Umständen hätte ich ihn über seinen Nachmittagskaffee mit der Bernarda ausgefragt, doch an diesem Tag war ich nicht zu Lyrismen aufgelegt. Mein Vater hatte versprochen, Professor Javier Velázquez vormittags um elf in der Philosophischen Fakultät auf der Plaza Universidad eine Bestellung abzuliefern. Fermín bekam bei der bloßen Erwähnung des Akademikers einen Ausschlag, und unter diesem Vorwand erbot ich mich, die Bücher hinzubringen.
»Dieser Kerl ist ein Pedant, ein Lustmolch und ein faschistischer Arschkriecher«, verkündete er mit erhobener Faust, wie immer, wenn ihn Gerechtigkeitsdurst überkam. »Mit dem Schmus vom Lehrstuhl und vom Abschlußexamen würde der sogar die Pasionaria aufs Kreuz legen, wenn sich die Gelegenheit ergäbe.«
»Übertreiben Sie mal nicht, Fermín. Velázquez zahlt sehr gut und immer im voraus, und er empfiehlt uns überall«, rief ihm mein Vater in Erinnerung.
»Dieses Geld ist mit dem Blut unschuldiger Jungfrauen befleckt«,
protestierte Fermín. »So wahr Gott lebt, ich bin nie mit einer
Minderjährigen ins Bett gegangen, und nicht mangels Lust oder
Gelegenheit. Augenblicklich sehen Sie mich nicht in Hochform, doch
es hat eine Zeit gegeben, wo ich ordentlich was vorgestellt habe,
aber trotzdem, man weiß ja nie, wenn ich bei einer das Gefühl
hatte, sie war ein Luderchen, hab ich den Ausweis von ihr verlangt
oder aber eine schriftliche Erlaubnis des Vaters, um nicht gegen
die Ethik zu verstoßen.«
Mein Vater verdrehte die Augen.
»Mit Ihnen kann man nicht diskutieren, Fermín.« »Wenn ich recht
habe, habe ich eben recht.«
Ich nahm das Paket, das ich am Vorabend selbst vorbereitet hatte –
zwei Bände Rilke und einen Ortega zugeschriebenen apokryphen Essay
über Tapas und die Tiefgründigkeit des Nationalgefühls –, und
überließ Fermín und meinen Vater ihrer Debatte über Sitten und
Gebräuche.
Es war ein prächtiger Tag mit einem tiefblauen Himmel und einer klaren, frischen Brise, die nach Herbst und Meer roch. Mein Lieblingsbarcelona war schon immer das im Oktober gewesen, wenn seine Seele spazierengeht und man bereits weiser wird, wenn man nur vom CanaletasBrunnen trinkt, dessen Wasser in diesen Tagen wie durch ein Wunder nicht einmal nach Chlor schmeckt. Ich ging leichten Schrittes dahin, wich Schuhputzern, Bürohengsten, die von ihrem Vormittagsespresso zurückkamen, Losverkäufern und einem Ballett von Straßenkehrern aus, welche die Stadt gemächlich und wie mit dem Pinsel zu polieren schienen. Schon damals begann sich Barcelona mit Autos zu füllen, und bei der Ampel in der Calle Balmes sah ich auf beiden Bürgersteigen Gruppen von Büroangestellten im grauen Mantel und mit hungrigem Blick stehen und mit den Augen einen Studebaker verschlingen, als wäre es eine Schlagersängerin im Negligé. Als ich durch die Balmes zur Gran Vía hinaufging, begegneten mir Ampeln, Straßenbahnen, Autos und sogar Motorräder mit Beiwagen. In einem Schaufenster erblickte ich eine Annonce des Hauses Philips, die ein neues Zeitalter verhieß, das Fernsehen, das unser Leben verändern und uns alle zu Wesen der Zukunft machen sollte wie die Amerikaner. Fermín Romero de Torres, jederzeit über sämtliche Erfindungen auf dem laufenden, hatte bereits prophezeit, was geschehen würde.
»Das Fernsehen, mein lieber Daniel, ist der Antichrist, und ich sage Ihnen, es werden drei oder vier Generationen genügen, bis die Leute nicht einmal mehr selbständig furzen können und der Mensch in die Höhle, in die mittelalterliche Barbarei und in einen Schwachsinn zurückfällt, den schon die Nacktschnecke im Pleistozän überwunden hat. Diese Welt wird nicht von der Atombombe zerstört werden, wie uns die Zeitungen weismachen wollen, sondern sie wird sich totlachen, wird an Banalität zugrunde gehen, weil sie aus allem einen Witz macht, einen schlechten noch dazu.«
Professor Velázquez hatte sein Zimmer im zweiten Stock der Philosophischen Fakultät, zuhinterst in einem Flur mit Schachbrettfliesen, der zum südlichen Kreuzgang hinausführte. Ich fand ihn in der Tür zu einem Vorlesungsraum, wo er vorgab, einer Studentin mit spektakulärer Figur zuzuhören, die ein granatrotes, hautenges Kostüm trug und hellenische, in feinen Seidenstrümpfen glänzende Waden sehen ließ. Professor Velázquez stand im Ruf eines Don Juan, und es gab Stimmen, die sagten, die éducation sentimentale jeder jungen Dame aus gutem Haus sei unvollständig ohne eines der sprichwörtlichen Wochenenden in einem kleinen Hotel an der Strandpromenade von Sitges, wo im Tête-à-tête mit dem distinguierten Hochschullehrer französische Liebeslyrik rezitiert wurde. Bis sie ihr Gespräch beendet hatten, unterhielt ich mich damit, von der Studentin eine Röntgenaufnahme zu machen. Vielleicht war es der gemächliche Spaziergang gewesen, der meine Stimmung gehoben hatte, vielleicht waren es meine achtzehn Jahre und der Umstand, daß ich mehr Zeit mit den in alten Schmökern festgehaltenen Musen verbrachte als in Gesellschaft von Mädchen aus Fleisch und Blut, jedenfalls wurde mir in diesem Augenblick, als ich all die Kurven in der Anatomie der Studentin studierte, die ich nur von hinten sehen konnte, mir aber dreidimensional vorstellte, der Mund wäßrig.
»Nanu, das ist ja Daniel«, rief Professor Velázquez. »Zum Glück kommst du und nicht diese Vogelscheuche vom letzten Mal, der mit dem Stierkämpfernamen, der sah ja aus, als wär er betrunken oder müßte gleich eingesperrt und der Schlüssel weggeworfen werden. Stell dir vor, kommt der doch auf die Idee, mich nach der Etymologie des Wortes Schwengel zu fragen, mit einem hämischen Unterton, der ganz unangebracht war.«
»Der Arzt hat ihm eben starke Medikamente verschrieben. Etwas
mit der Leber.«
»Weil er den ganzen Tag besoffen ist«, sagte der Professor.
»An eurer Stelle würde ich die Polizei benachrichtigen. Der ist mit
Bestimmtheit aktenkundig. Und wie seine Füße stinken, mein Gott –
da läuft so mancher Scheißrote rum, der sich seit dem Fall der
Republik nicht mehr gewaschen hat.«
Ich wollte eben eine dezente Ausrede vorbringen, um Fermín zu
entschuldigen, da drehte sich die Studentin, die mit Professor
Velázquez geplaudert hatte, um. Ich sah, wie sie mir zulächelte,
und meine Ohren begannen zu glühen.
»Hallo, Daniel«, sagte Beatriz Aguilar.
Ich grüßte sie mit stummem Nicken.
»Ach, ihr kennt euch schon?« fragte Velázquez neugierig.
»Daniel ist ein alter Freund der Familie«, erklärte Bea. »Und der
einzige, der den Mut gehabt hat, mir einmal zu sagen, daß ich
affektiert und eingebildet bin.«
Verdutzt schaute mich Velázquez an.
»Das ist zehn Jahre her«, präzisierte ich. »Und ich habe es nicht
ernst gemeint.«
»Ich warte aber immer noch darauf, daß er mich um Verzeihung
bittet.«
Velázquez lachte herzlich und nahm mir das Paket ab.
»Ich habe das Gefühl, ich bin überflüssig hier«, sagte er, während
er es aufschnürte. »Oh, wunderbar. Hör mal, Daniel, sag deinem
Vater, daß ich ein Buch mit dem Titel Jugendbriefe aus Ceuta
von Francisco Franco Bahamonde suche.«
»Schon erledigt. In zwei Wochen hören Sie von uns.«
»Ich nehme dich beim Wort, und jetzt verzieh ich mich schleunigst,
zweiunddreißig leere Köpfe warten auf mich.«
Professor Velázquez zwinkerte mir zu, verschwand im Vorlesungsraum
und ließ mich mit Bea allein. Ich wußte nicht, wohin mit den
Augen.
»Hör zu, Bea, das mit dem blöden Witz, ehrlich, ich …«
»Ich hab dich auf den Arm genommen, Daniel. Ich weiß doch, daß wir
damals noch Kinder waren, und Tomás hat dich schon genug
verprügelt.«
»Es tut jetzt noch weh.«
Bea lächelte mich an, als hätten wir Frieden oder zumindest
Waffenruhe.
»Außerdem hattest du ja recht, ich bin etwas affektiert und
manchmal ein wenig eingebildet. Ich bin dir nicht sehr sympathisch,
was, Daniel?«
Die Frage überrumpelte mich, ich war entwaffnet und erschreckt, wie
leicht sich die Antipathie für jemanden, den man als Feind
betrachtet, verliert, sobald er sich nicht mehr als solcher
benimmt.
»Nein, das stimmt nicht.«
»Tomás sagt, eigentlich bin ich dir nicht unsympathisch, aber du
kannst meinen Vater nicht ausstehen und läßt mich dafür büßen, weil
du dich nicht an ihn rantraust. Ich gebe dir keine Schuld. An
meinen Vater traut sich keiner ran.«
Ich wurde bleich, aber nach wenigen Sekunden lächelte ich und
nickte.
»Offenbar kennt mich Tomás besser als ich selbst.«
»Das darf dich nicht wundern. Mein Bruder weiß sehr genau, wie wir
alle sind, er sagt nur nie was. Aber wenn er eines Tages auf den
Gedanken kommt, den Mund aufzutun, werden die Wände einstürzen. Er
schätzt dich sehr, weißt du.«
Ich zuckte die Achseln und schaute zu Boden.
»Er spricht immer von dir und von deinem Vater und der Buchhandlung
und dem Freund da, der für euch arbeitet und von dem Tomás sagt, er
ist ein Genie, das man erst noch entdecken muß. Manchmal hat man
das Gefühl, er hält euch eher für seine richtige Familie als die,
die er zu Hause hat.«
Ich begegnete ihrem starken, offenen, furchtlosen Blick. Ich wußte
nicht, was erwidern, und lächelte nur. Ich spürte, daß mir bei
ihrer Aufrichtigkeit angst und bange wurde, und schaute in den
Innenhof hinunter.
»Ich hab nicht gewußt, daß du hier studierst.«
»Das ist mein erstes Jahr.«
»Literatur?«
»Mein Vater ist der Meinung, die exakten Wissenschaften sind nichts
fürs schwache Geschlecht.« »Hm. Viele Zahlen.«
»Es ist mir egal – was mir Spaß macht, ist die Lektüre, und zudem
lernt man hier interessante Leute kennen.«
»Wie Professor Velázquez?«
Bea lächelte mit geschlossenen Lippen.
»Ich mag ja im ersten Jahr sein, aber ich weiß genug, um den Braten
zu riechen, Daniel. Besonders bei Leuten seines Schlages.«
Ich fragte mich, welchem Schlag sie wohl mich zuordnete.
»Außerdem ist Professor Velázquez ein Freund meines Vaters. Sie
sitzen beide im Vorstand des Verbandes zum Schutz und zur Förderung
der Zarzuela und der spanischen Lyrik.«
Ich setzte ein höchst beeindrucktes Gesicht auf.
»Und wie geht’s deinem Freund, dem Leutnant Cascos Buendía?«
Ihr Lächeln verschwand.
»Pablo kommt in drei Wochen auf Urlaub.«
»Da wirst du dich aber freuen.«
»Sehr. Er ist ein Prachtjunge, aber ich kann mir ungefähr ausmalen,
was du von ihm hältst.«
Das bezweifle ich, dachte ich. Sie schaute mich ein wenig
angespannt an. Eigentlich wollte ich das Thema wechseln, aber meine
Zunge war schneller.
»Tomás sagt, ihr werdet heiraten und nach El Ferrol ziehen.«
Sie nickte.
»Sobald er mit dem Militärdienst fertig ist.«
»Du bist bestimmt ungeduldig.« Ich spürte den Schweinehund in
meiner Stimme, einer unverschämten Stimme, von der ich nicht wußte,
woher sie kam.
»Es ist mir egal, ehrlich gesagt. Seine Familie hat Besitz dort,
zwei Werften, und Pablo wird eine davon übernehmen. Er ist sehr
talentiert für Führungsaufgaben.«
»Das sieht man ihm an.«
Beas Lächeln war gepreßt.
»Und zudem kenne ich Barcelona nach all den Jahren allmählich
…«
Ihr Blick war müde, traurig.
»Soviel ich gehört habe, ist El Ferrol eine faszinierende Stadt.
Quicklebendig. Und erst die Meeresfrüchte, die sollen ja fabelhaft
sein, ganz besonders die Seespinnen.«
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Ich hatte das Gefühl, am
liebsten hätte sie vor Wut geweint, aber dazu war sie zu stolz. Sie
lächelte ruhig.
»Zehn Jahre, und noch immer hast du die Lust nicht verloren, mich
zu beleidigen, nicht wahr, Daniel? Nur zu, mach deinem Herzen Luft.
Es ist meine Schuld, weil ich dachte, vielleicht könnten wir
Freunde sein oder so tun, als wären wir es, aber vermutlich bin ich
nicht soviel wert wie mein Bruder. Tut mir leid, daß du meinetwegen
Zeit verloren hast.«
Sie machte kehrt und schritt durch den Gang davon, der zur
Bibliothek führte. Ich sah, wie sie sich über die weißschwarzen
Fliesen entfernte, während ihr Schatten die von den Glasfenstern
hereinfallenden Lichtvorhänge unterbrach.
»Warte, Bea.«
Ich verfluchte mich und rannte ihr nach. Mitten im Gang packte ich
sie am Arm, um sie aufzuhalten. Sie warf mir einen Blick zu, der
brannte.
»Verzeih mir. Aber du irrst dich: Es ist nicht deine Schuld,
sondern meine. Ich bin nicht soviel wert wie dein Bruder
oder du. Und wenn ich dich beleidigt habe, dann aus Neid auf diesen
Idioten, der dein Freund ist, und aus Wut über den Gedanken, daß
jemand wie du nach El Ferrol oder in den Kongo geht, um ihm
nachzufolgen.«
»Daniel …«
»Du irrst dich in mir, denn wir können wirklich Freunde sein, wenn
du es mich versuchen läßt, jetzt, wo du weißt, wie wenig ich wert
bin. Und du irrst dich auch mit Barcelona, denn obwohl du meinst,
du kennst es, garantiere ich dir, daß es nicht so ist und daß ich
es dir beweisen werde, wenn du mich läßt.«
Ich sah, wie sie zu lächeln begann.
»Du sagst besser die Wahrheit«, sagte sie. »Weil ich es sonst
meinem Bruder sage, und der wird dir den Kopf rausziehen wie einen
Korken.«
Ich streckte ihr die Hand entgegen.
»Finde ich richtig. Freunde?«
Sie reichte mir die ihre.
»Wann hast du am Freitag aus?« fragte ich.
Sie zögerte einen Augenblick.
»Um fünf.«
»Ich werde Punkt fünf im Kreuzgang auf dich warten, und bevor es
dunkel wird, werde ich dir beweisen, daß es in Barcelona etwas
gibt, was du noch nicht kennst, und daß du nicht mit diesem
Schwachkopf nach El Ferrol gehen kannst, von dem ich mir nicht
vorstellen kann, daß du ihn liebst, denn wenn du es tust, wird dich
die Stadt verfolgen, und du wirst vor Gram sterben.«
»Du scheinst ja sehr selbstsicher, Daniel.«
Ich, der ich nie auch nur sicher war, wie spät es war, nickte in
der Gewißheit des Ignoranten. Ich blieb stehen und sah sie durch
diese endlose Galerie davongehen, bis ihre Gestalt mit dem
Halbdunkel verschmolz und ich mich fragte, was ich da eigentlich
getan hatte.
2
Der Hutladen Fortuny oder das, was von ihm übrig war, moderte im Erdgeschoß eines schmalen, ruß geschwärzten, elend aussehenden Hauses in der Ronda de San Antonio neben der Plaza de Goya vor sich hin. Noch waren die in die verschmutzte Schaufensterscheibe gravierten Buchstaben zu lesen, und an der Fassade bewegte sich im Wind ein Schild in Form einer Melone, das maßgeschneiderte Modelle und die letzten Neuheiten aus Paris verhieß. Die Tür war mit einem Vorhängeschloß gesichert, das wenigstens zehn Jahre da zu hängen schien. Ich drückte die Stirn ans Glas, um das Dunkel des Raums zu durchdringen.
»Wenn Sie wegen der Vermietung kommen, kommen Sie zu spät«, sagte eine Stimme hinter mir. »Der Liegenschaftenverwalter ist schon gegangen.«
Die Frau, die mich angesprochen hatte, mußte um die sechzig sein und trug die nationale Uniform frommer Witwen. Unter einem rosa Kopftuch lugten zwei Lockenwickler hervor, und die wattierten Pantoffeln paßten zu den fleischfarbenen, bis knapp unters Knie reichenden Strümpfen. Ich war mir fast sicher, daß sie die Pförtnerin des Hauses war.
»Ist der Laden denn zu mieten?« fragte ich.
»Sind Sie etwa nicht deswegen gekommen?«
»Eigentlich nicht, aber man kann nie wissen, vielleicht
interessiert es mich.«
Sie runzelte die Stirn, während sie überlegte, ob sie mich für einen Windbeutel halten oder mir die Wohltat des Zweifels gewähren sollte. Ich setzte mein engelhaftestes Lächeln auf.
»Ist der Laden schon lange geschlossen?«
»Wenigstens zwölf Jahre, seit der Alte gestorben ist.« »Señor
Fortuny? Haben Sie ihn gekannt?«
»Ich wohne seit achtundvierzig Jahren in diesem Haus, junger Mann.«
»Dann haben Sie vielleicht auch Señor Fortunys Sohn
gekannt.«
»Julián? Und ob.«
Ich zog das versengte Foto aus der Tasche und zeigte es ihr.
»Glauben Sie, Sie können mir sagen, ob der junge Mann auf dem Foto
da Julián Carax ist?«
Die Pförtnerin schaute mich leicht mißtrauisch an. Sie ergriff das
Bild und starrte darauf.
»Erkennen Sie ihn?«
»Carax war der Mädchenname der Mutter«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Doch, das ist Julián. Ich habe ihn sehr blond in Erinnerung, aber
hier auf dem Foto hat er anscheinend dunklere Haare.«
»Könnten Sie mir sagen, wer das Mädchen neben ihm ist?«
»Und wer möchte das wissen?«
»Verzeihen Sie, mein Name ist Daniel Sempere. Ich versuche etwas
über Señor Carax herauszufinden, Julián Carax.«
»Julián ist nach Paris gegangen, im Jahr 18 oder 19. Sein Vater
wollte ihn in die Armee stecken, wissen Sie. Ich glaube, die Mutter
hat ihn mitgenommen, um ihn davon zu befreien. Señor Fortuny ist
allein hier zurückgeblieben, in der Dachgeschoßwohnung.«
»Wissen Sie, ob Julián wieder einmal nach Barcelona gekommen
ist?«
Sie schaute mich einen Moment schweigend an. Dann sagte sie:
»Wissen Sie das nicht? Julián ist noch im selben Jahr in Paris
gestorben.«
»Wie bitte?«
»Ich sage, daß Julián gestorben ist. In Paris. Kurz nach der
Ankunft dort. Er wäre besser zur Armee gegangen.«
»Darf ich Sie fragen, woher Sie das wissen?«
»Woher wohl? Weil sein Vater es mir gesagt hat.«
Ich nickte langsam.
»Verstehe. Hat er Ihnen auch gesagt, woran er gestorben ist?«
»Der Alte hat nicht viele Details erzählt, ehrlich gesagt. Eines
Tages, kurz nachdem Julián gegangen war, ist ein Brief für ihn
gekommen, und als ich seinen Vater fragte, hat er gesagt, sein Sohn
sei gestorben und wenn noch etwas für ihn komme, solle ich es
wegwerfen. Warum machen Sie ein solches Gesicht?«
»Señor Fortuny hat Sie belogen. Julián ist nicht 1919
gestorben.«
»Was sagen Sie da?«
»Er hat in Paris gelebt, mindestens bis zum Jahr 35, und ist dann
nach Barcelona zurückgekommen.«
Das Gesicht der Pförtnerin hellte sich auf.
»Dann ist er also hier, in Barcelona?«
Ich nickte, im Vertrauen darauf, das ermuntere sie, mir noch mehr
zu erzählen.
»Meine Güte … Sie machen mir wirklich eine Freude, also wenn er
tatsächlich noch lebt, er war nämlich ein sehr zutraulicher Junge,
ein bißchen merkwürdig und sehr fantasievoll, das schon, aber er
hatte so ein gewisses Etwas, daß man ihn einfach liebhaben mußte.
Der wäre kein guter Soldat geworden, das hat man von weitem
gesehen. Meiner Isabelita hat er wahnsinnig gefallen. Stellen Sie
sich vor, eine Zeitlang habe ich sogar gedacht, die werden einmal
heiraten und so, wie Kinder eben sind … Darf ich das Foto noch mal
sehen?«
Ich gab es ihr wieder. Sie betrachtete es lange, wie eine
Rückfahrkarte in ihre Jugend.
»Unglaublich, wissen Sie, als sähe ich ihn eben jetzt … Und dieser
gemeine Kerl sagt, er ist gestorben. Natürlich, es gibt ja Leute
auf der Welt, da ist nichts unmöglich. Und was ist in Paris aus
Julián geworden? Bestimmt hat er viel Geld verdient. Ich habe immer
das Gefühl gehabt, der wird einmal noch reich.«
»Nicht direkt. Er ist Schriftsteller geworden.«
»Erfundene Sachen?«
»So was Ähnliches. Er hat Romane verfaßt.«
»Fürs Radio? Ach, wie schön. Aber das erstaunt mich gar nicht,
wissen Sie. Schon als Junge hat er den Kindern da im Viertel die
ganze Zeit Geschichten erzählt. Im Sommer sind meine Isabelita und
ihre Kusinen abends manchmal hinaufgegangen und haben ihm zugehört.
Sie sagten, er hat nie zweimal dieselbe Geschichte erzählt. Aber in
allen ist es um Tote und um Seelen gegangen. Ich sage ja, er war
ein etwas merkwürdiger Junge. Aber bei diesem Vater ist es
erstaunlich, daß er nicht vollkommen verkorkst rausgekommen ist. Es
wundert mich nicht, daß den am Ende die Frau verlassen hat, er war
ein gemeiner Kerl. Schauen Sie, ich stecke meine Nase ja nirgends
rein, nicht wahr. Ich bin mit allem einverstanden, aber das war
kein guter Mensch. In einem Haus erfährt man letztlich alles. Er
hat sie geschlagen, wissen Sie. Immer hörte man Schreie im
Treppenhaus, und mehr als einmal mußte die Polizei kommen. Ich
verstehe ja, daß ein Mann manchmal seine Frau schlagen muß, damit
sie weiß, wo’s langgeht, da sage ich nicht nein, es gibt viele
Miststücke, und die Mädchen werden nicht mehr so erzogen wie
früher, aber dem gefiel es, sie einfach aus einer Laune heraus zu
verdreschen, verstehen Sie? Die einzige Freundin, die diese Frau
gehabt hat, war ein junges Mädchen, die Viçenteta, die im vierten
Stock zweite Tür gewohnt hat. Manchmal ist die Arme zu ihr
geflüchtet, damit der Mann sie nicht weiter verprügelt. Und sie hat
ihr Dinge erzählt …«
»Was denn zum Beispiel?«
Die Pförtnerin machte eine vertrauliche Miene, während sie eine
Braue hochzog und sich argwöhnisch umsah.
»Zum Beispiel, daß der Junge nicht vom Hutmacher war.«
»Julián? Sie meinen, Julián war nicht der Sohn von Señor
Fortuny?«
»Das hat die Französin zur Viçenteta gesagt, ich weiß nicht, ob aus
Verzweiflung oder aus sonst einem Grund. Mir hat das junge Mädchen
es erst Jahre später erzählt, als sie nicht mehr hier wohnten.«
»Und wer war denn nun Juliáns richtiger Vater?«
»Das wollte die Französin nie sagen. Womöglich hat sie es nicht
einmal gewußt. Sie wissen ja, wie die Ausländer sind.«
»Und Sie meinen, ihr Mann hat sie darum geschlagen?«
»Weiß Gott, warum. Dreimal hat man sie ins Krankenhaus einliefern
müssen, dreimal. Und dieses Schwein hatte noch die Stirn, überall
herumzuerzählen, sie sei selber schuld, sie sei eine Säuferin und
laufe zu Hause immer in alle Möbel rein, weil sie dauernd ins Glas
gucke. Mir muß man ja nichts erzählen. Immer hatte er Streit mit
allen Nachbarn. Meinen verstorbenen Mann selig hat er einmal
angezeigt, er hätte in seinem Laden etwas gestohlen – in seinen
Augen waren alle Leute aus Murcia Herumtreiber und Diebe, dabei
kommen wir aus Ubeda…«
»Haben Sie gesagt, Sie erkennen das Mädchen neben Julián auf dem
Foto?«
Sie konzentrierte sich wieder auf das Bild.
»Ich habe sie nie gesehen. Sehr hübsch.«
»Wenn man sie so sieht, schaut es aus, als wären sie ein Paar«,
regte ich an, um ihrem Gedächtnis einen Stoß zu geben.
Mit einem Kopfschütteln reichte sie mir das Foto wieder.
»Von Fotos habe ich keine Ahnung. Und soviel ich weiß, hatte Julián
keine Freundin, aber ich stelle mir vor, wenn er eine gehabt hätte,
hätte er es mir nicht gesagt. Ich habe ja nur mit Mühe und Not
erfahren, daß Isabelita sich mit diesem Dings eingelassen hat … Ihr
jungen Leute erzählt ja nie was. Wir Alten sind es, die in einem
fort schwatzen.«
»Können Sie sich an seine Freunde erinnern oder an eine bestimmte
Person, die hierherkam?«
Sie zuckte die Schultern.
»Oh, das ist schon so lange her. Zudem ist Julián in den letzten
Jahren nur noch wenig hier gewesen, wissen Sie. Er hatte sich mit
einem Schulkameraden angefreundet, einem Jungen aus sehr guter
Familie, den Aldayas, mehr brauche ich nicht zu sagen. Jetzt redet
keiner mehr von ihnen, aber damals war es, als hätte man die
königliche Familie gesagt. Viel Geld. Ich weiß es, weil sie
manchmal ein Auto geschickt haben, um Julián abzuholen. Sie hätten
sehen sollen, was für ein Auto. So eins hat nicht mal Franco. Mit
Fahrer, alles glitzernd. Unglaublich.«
»Wissen Sie noch den Namen dieses Freundes von Julián?«
»Schauen Sie, mit einem Nachnamen wie Aldaya, da braucht es keine weiteren Namen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich erinnere mich auch an einen andern Jungen, etwas leichtsinnig, ein gewisser Miquel. Ich glaube, der war auch ein Klassenkamerad von ihm. Fragen Sie mich nicht, wie er noch geheißen hat oder was für ein Gesicht er hatte.«
Wir schienen an einem toten Punkt angekommen zu sein, und ich fürchtete, das Interesse der Pförtnerin könnte langsam schwinden. Da beschloß ich, einem plötzlichen Einfall nachzugeben.
»Wohnt denn jetzt jemand in der Wohnung der Fortunys?«
»Nein. Der Alte ist gestorben, ohne ein Testament zu hinterlassen,
und die Frau ist noch in Buenos Aires, soviel ich weiß, und sie ist
nicht einmal zur Beerdigung hergekommen.«
»Warum denn in Buenos Aires?«
»Weil sie keinen Ort gefunden hat, der weiter entfernt war von ihm,
wenn Sie mich fragen. Ich gebe ihr ehrlich keine Schuld. Sie hat
alles einem Anwalt überlassen, einem merkwürdigen Typ. Ich habe ihn
nie gesehen, aber meine Tochter Isabelita, die im Fünften erste Tür
wohnt, genau darunter, die sagt, manchmal kommt er abends, da er
einen Schlüssel hat, und spaziert stundenlang in der Wohnung auf
und ab, und dann geht er wieder. Einmal hat sie sogar gesagt, man
habe so was wie Frauenabsätze gehört. Was sagen Sie dazu?«
»Vielleicht waren es Stelzen.«
Sie schaute mich verständnislos an. Offensichtlich war das für die
Pförtnerin ein sehr ernstes Thema.
»Und in diesen ganzen Jahren hat niemand sonst die Wohnung
besucht?«
»Einmal ist ein ganz unheimlicher Kerl hier vorstellig geworden,
einer von denen, die ständig grinsen, aber man durchschaut sie
gleich. Er hat gesagt, er ist von der Kripo, und wollte die Wohnung
sehen.«
»Hat er gesagt, warum?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wissen Sie noch seinen Namen?«
»Inspektor irgendwas. Ich habe ihm nicht geglaubt, daß er Polizist
ist. Die Sache hat gestunken, Sie verstehen schon. Nach irgendwas
Persönlichem. Ich hab ihn an die Luft gesetzt und ihm gesagt, ich
habe die Wohnungsschlüssel nicht und wenn er was will, soll er den
Anwalt anrufen. Er sagte, er würde wiederkommen, aber ich hab ihn
nicht mehr gesehen. Und auch keine Lust darauf.«
»Sie hätten nicht zufällig den Namen und die Adresse dieses
Anwalts, oder?«
»Danach müßten Sie sich beim Liegenschaftenverwalter erkundigen,
bei Señor Molins. Er hat sein Büro hier in der Nähe, in der
Floridablanca 28, Hochparterre. Sagen Sie ihm, Sie kommen von
Señora Aurora, zu dienen.« »Haben Sie vielen Dank. Und sagen Sie,
Señora Aurora, dann ist also die Wohnung der Fortunys leer?«
»Leer nicht, da hat nie jemand was mitgenommen in all den Jahren,
seit der Alte gestorben ist. Manchmal stinkt es sogar. Ich würde
sagen, es gibt Ratten und so, stellen Sie sich vor.«
»Glauben Sie, es wäre möglich, einen Blick hineinzuwerfen?
Vielleicht finden wir etwas, das uns einen Hinweis darauf gibt, was
mit Julián wirklich geschehen ist …«
»Oh, das kann ich nicht machen. Darüber müssen Sie mit Señor Molins
sprechen, der ist dafür zuständig.« Ich lächelte ihr verschmitzt
zu.
»Aber Sie haben doch vermutlich einen Hauptschlüssel – auch wenn
Sie diesem Kerl gesagt haben, nein … Sagen Sie nicht, Sie sterben
nicht vor Neugier, zu erfahren, was da drin ist.«
Doña Aurora schaute mich schief an.
»Sie sind ein Teufel.«
Mit einem plötzlichen Ächzen gab die Tür nach, und aus dem Innern strömte verbrauchte, von muffiger Feuchtigkeit verpestete Luft. Ich stieß die Tür auf zu einem Korridor, der sich im Schwarzen verlor. Staubkringel hingen wie Hexenhaar von den Ecken an der Decke. Auf den gesprungenen Bodenfliesen lag eine Aschenschicht. Ich sah, daß Fußabdrücke in die Wohnung hineinführten.
»Heilige Muttergottes«, murmelte die Pförtnerin. »Hier gibt’s mehr Scheiße als auf einer Hühnerleiter.«
»Wenn es Ihnen lieber ist, geh ich schon mal allein hinein«,
schlug ich vor.
»Das würde Ihnen so passen. Los, gehen Sie voran, ich folge
Ihnen.«
Wir schlossen die Tür hinter uns. Einen Augenblick lang, bis sich
die Augen ans Dunkel gewöhnt hatten, blieben wir an der Schwelle
stehen. Ich hörte den nervösen Atem der Pförtnerin und roch ihren
sauren Schweiß. Ich fühlte mich wie ein Grabschänder, das Herz von
Habsucht zernagt.
»Hören Sie, was ist denn das für ein Geräusch?« fragte die
Pförtnerin unruhig.
Im Dunkeln hört man aufgeschrecktes Flügelschlagen. Am Ende des
Korridors glaubte ich ein blasses Etwas flattern zu sehen.
»Tauben«, sagte ich. »Sie müssen durch eine zerbrochene
Fensterscheibe eingedrungen sein und hier genistet haben.«
»Also mich ekeln diese Mistvögel an. Was die sich
zusammenscheißen.«
»Ganz ruhig, Doña Aurora, sie greifen nur an, wenn sie hungrig
sind.«
Wir gingen einige Schritte weiter bis zum Ende des Korridors und
gelangten in ein Eßzimmer mit einem Balkon. Man erkannte die
Konturen eines wackligen Tischs, auf dem ein fadenscheiniges
Tischtuch lag. Darum herum standen vier Stühle und dahinter zwei
schmutzverschleierte Vitrinen, die das Geschirr hüteten, eine
Sammlung Gläser und ein Teeservice. In einer Ecke stand noch Madame
Carax’ altes Klavier. Weiße und schwarze Tasten waren kaum mehr zu
unterscheiden, und unter dem Staub verschwanden die Fugen. Vor der
Balkontür bleichte ein Sessel mit abgeschabtem Behang vor sich hin.
Daneben ein Kaffeetisch, auf dem eine Lesebrille und eine in helles
Leder gebundene Bibel mit Goldschnitt lagen, wie sie damals zur
Erstkommunion geschenkt wurden. Sie bewahrte noch das Lesezeichen,
ein paar Fasern eines scharlachroten Bändels.
»Schauen Sie, auf diesem Sessel hat man den toten Alten gefunden.
Der Arzt sagte, er hätte schon zwei Tage so dagesessen. Wie
traurig, auf diese Weise zu sterben, einsam wie ein Hund. Dabei hat
er es so gewollt, aber trotzdem, mir tut er leid.«
Ich trat zu Señor Fortunys Totensessel. Neben der Bibel stand ein
kleines Kästchen mit Schwarzweißfotos, alte Studioaufnahmen. Ich
kniete nieder, um sie zu studieren, getraute mich aber kaum, sie zu
berühren, doch die Neugier war stärker. Das erste Foto zeigte ein
junges Paar mit einem Knaben, der nicht älter war als vier Jahre.
Ich erkannte ihn an den Augen.
»Da haben Sie sie. Señor Fortuny als junger Mann und sie …«
»Hatte Julián keine Brüder oder Schwestern?«
Seufzend zuckte die Pförtnerin die Schultern.
»Man hat gemunkelt, sie habe ein Kind verloren, nachdem der Mann
sie wieder einmal geprügelt hatte, aber ich weiß nicht. Die Leute
klatschen ja gern. Einmal hat Julián den Kindern, die im Haus
wohnten, erzählt, er hätte eine Schwester, die könnte nur er sehen
und die würde wie Dampf aus den Spiegeln kommen und beim Satan
persönlich in einem Palast unter einem See wohnen. Meine Isabelita
hatte einen ganzen Monat Alpträume. Also manchmal war dieser Junge
wirklich krankhaft.«
Ich warf einen Blick in die Küche. Die Scheibe eines kleinen
Fensters zum Lichtschacht war zerbrochen, und auf der andern Seite
hörte man das nervöse, feindselige Flattern der Tauben.
»Haben alle Wohnungen dieselbe Anordnung?« fragte ich.
»Diejenigen zur Straße hin, also jeweils die zweite Tür, ja, aber
die hier ist etwas anders, weil sie eine Dachwohnung ist. Da haben
sie die Küche und eine Waschküche, die auf den Lichtschacht
hinausgehen. Auf dem Gang sind drei Zimmer und am Ende ein Bad.
Wenn sie hübsch eingerichtet sind, machen sie was her, nicht wahr.
Das hier gleicht dem meiner Isabelita, auch wenn’s jetzt wie ein
Grab aussieht.«
»Wissen Sie, welches Juliáns Zimmer war?«
»Die erste Tür ist das Hauptschlafzimmer. Die zweite gehört zu
einem kleineren Raum. Vielleicht der, denke ich.«
Ich ging in den Gang hinein. Der Anstrich der Wände blätterte in
Fetzen ab. Die Tür zum Bad am Ende des Flurs war angelehnt. Im
Spiegel schaute mich ein Gesicht an. Es hätte meines oder das der
Schwester sein können, die in den Spiegeln dieser Wohnung gelebt
hatte. Ich versuchte die zweite Tür zu öffnen.
»Sie ist abgeschlossen«, sagte ich.
Verdutzt schaute mich die Pförtnerin an.
»Diese Türen haben kein Schloß«, murmelte sie.
»Die da schon.«
»Dann hat es bestimmt der Alte anbringen lassen – in den andern
Wohnungen …«
Ich schaute auf den Boden und sah, daß die Fußspur im Staub zur
geschlossenen Tür führte.
»Jemand ist in das Zimmer hineingegangen«, sagte ich. »Erst
kürzlich.«
»Machen Sie mir keine Angst.«
Ich trat zur andern Tür. Sie hatte kein Schloß. Bei der leichtesten
Berührung gab sie nach und glitt mit rostigem Knarren auf. In der
Mitte stand ein ungemachtes altes Himmelbett. Die Laken waren gelb.
Am Kopfende dominierte ein Kruzifix. Auf einer Kommode standen ein
Spiegel, eine Schüssel und ein Krug und davor ein Stuhl. An der
Wand ein halb offener Schrank. Ich ging um das Bett herum zu einem
Nachttisch, auf dem unter einer Glasplatte Ahnenfotos, Totenzettel
und Lotterielose festgeklemmt waren. Auf dem Tischchen eine
hölzerne Musikdose und eine für immer um fünf Uhr zwanzig
eingefrorene Taschenuhr. Ich versuchte die Musikdose aufzuziehen,
aber nach sechs Tönen blieb die Melodie hängen. In der Schublade
fand ich ein leeres Brillenetui, eine Nagelschere, ein
Schnapsfläschchen und eine Medaille der Muttergottes von Lourdes.
Sonst nichts.
»Irgendwo muß es doch einen Schlüssel für dieses Zimmer geben«,
sagte ich.
»Der Verwalter wird ihn haben. Also ich würde sagen, wir gehen
besser und …«
Wieder schaute ich auf die Musikdose. Ich klappte den Deckel auf
und fand einen vergoldeten Schlüssel, der den Mechanismus
blockierte. Als ich ihn ergriff, glöckelte die Dose weiter.
»Das muß der Schlüssel sein«, sagte ich lächelnd.
»Hören Sie, wenn das Zimmer verschlossen war, dann wird es einen
Grund haben. Und sei es nur aus Respekt gegenüber der Erinnerung an
…«
»Wenn es Ihnen lieber ist, können Sie in der Loge auf mich warten,
Doña Aurora.«
»Sie sind ein Teufel. Los, machen Sie schon auf.«
3
Ein kalter Luftzug pfiff durchs Schlüsselloch und strich mir über die Finger, als ich den Schlüssel hineinsteckte. Doña Aurora schaute mich ängstlich an, als würden wir gleich den Opferstock der Kathedrale aufbrechen.
»Geht dieses Zimmer auf die Straße hinaus?« fragte ich. Sie schüttelte den Kopf.
»Es hat ein kleines Fenster, ein Luftloch, das auf den Lichtschacht führt.«
Ich stieß die Tür auf. Eine finstere, undurchdringliche Höhle tat sich vor uns auf. Das Fenster zum Schacht war mit vergilbten Zeitungsseiten abgedeckt. Ich riß sie weg, und ein Strahl milchigen Lichts durchbohrte das Dunkel.
»Jesus, Maria und Josef«, murmelte die Pförtnerin neben mir.
Das Zimmer ertrank in Kruzifixen. Zu Dutzenden hingen sie an
Schnüren vom Balkenwerk und bedeckten an Nägeln die Wände. Man
konnte sie in den Ecken erahnen, mit dem Messer in die Möbel
geritzt, auf die Fliesen gekratzt, rot auf die Spiegel gemalt. Die
Fußspuren, die zur Türschwelle führten, zeichneten im Staub einen
Weg um ein bis auf den Sprungfederrahmen entblößtes Bett herum, nur
noch ein Skelett aus Draht und wurmstichigem Holz. Unter dem
Fenster zum Schacht war an der Wand eine Schreibkonsole befestigt,
und darauf stand ein Trio von Metallkruzifixen. Ich öffnete sie
vorsichtig. In den Fugen des Holzbalgs lag kein Staub, so daß ich
annehmen durfte, daß sie vor nicht allzu langer Zeit geöffnet
worden war. Sie hatte sechs Schubladen, deren Schlösser
aufgebrochen worden waren. Ich untersuchte sie eine nach der
andern. Leer.
Dann kniete ich vor der Konsole nieder. Ich betastete die Kratzer
im Holz und stellte mir Julián Carax’ Hände vor, die diese
Kritzeleien und Hieroglyphen anbrachten, deren Sinn von der Zeit
verweht worden war. Zuhinterst in der Konsole ließen sich ein Stoß
Hefte und ein Behälter mit Bleistiften und Federn ausmachen. Ich
ergriff eins der Hefte und blätterte es durch. Zeichnungen und
einzelne Worte. Rechenübungen. Lose Sätze, Zitate aus Büchern,
unvollendete Verse. Alle Hefte sahen sich gleich. Einige
Zeichnungen wiederholten sich Seite um Seite mit unterschiedlichen
Details. Eine männliche Gestalt fiel mir auf, die aus Flammen zu
bestehen schien. Eine andere zeigte etwas wie einen Engel oder ein
um ein Kreuz gerolltes Reptil. Man konnte Skizzen eines alten,
wunderlich aussehenden Hauses erahnen, das mit festungsähnlichen
Türmen und Kathedralbögen gefügt war. Der junge Carax offenbarte
den kräftigen Strich eines instinktsicheren, recht talentierten
Zeichners, obwohl sämtliche Bilder Skizzen geblieben waren.
Eben wollte ich das letzte Heft unbesehen zurücklegen, da glitt
etwas zwischen seinen Seiten heraus und fiel mir zu Füßen. Es war
ein Foto, auf dem ich dasselbe junge Mädchen erkannte wie auf dem
versengten, vor dem wunderlichen Haus aufgenommenen Bild. Sie
posierte in einem üppig wuchernden Garten, und durch die Baumkronen
hindurch erriet man die Form des Hauses, das ich eben auf den
Skizzen des halbwüchsigen Carax gesehen hatte. Ich erkannte es
sogleich – die Villa El Frare Blanc, Der weiße Mönch, in der
Avenida del Tibidabo. Auf der Rückseite des Fotos standen die
schlichten Worte:
In Liebe, Penélope
Ich steckte das Foto in die Tasche, schloß den Schreibtisch und
lächelte der Pförtnerin zu.
»Gesehen?« fragte sie, begierig, hier zu verschwinden.
»Fast. Vorhin haben Sie mir erzählt, kurz nach Juliáns Abreise nach
Paris sei ein Brief für ihn gekommen, aber sein Vater habe Ihnen
gesagt, Sie sollen ihn wegwerfen.«
Sie zögerte einen Augenblick, dann nickte sie.
»Den habe ich in die Kommodenschublade in der Diele gelegt, falls
die Französin eines Tages zurückkäme. Dort wird er noch sein.«
Wir gingen zur Kommode und zogen die oberste Schublade auf.
Zwischen einer Sammlung von stehengebliebenen Uhren, Knöpfen und
vor zwanzig Jahren außer Kurs gesetzten Münzen lag ein
ockerfarbener Umschlag.
»Haben Sie ihn gelesen?«
»Ich bitte Sie, wofür halten Sie mich?«
»Seien Sie nicht beleidigt. Unter diesen Umständen wäre das das
Natürlichste, wo Sie doch dachten, der arme Julián sei gestorben
…«
Sie zuckte die Achseln, senkte die Augen und zog sich zur Tür
zurück. Diesen Moment nutzte ich, um den Brief in die Innentasche
des Jacketts zu stecken und die Schublade wieder zuzuschieben.
»Sie dürfen nicht auf falsche Gedanken kommen«, sagte die
Pförtnerin.
»Natürlich nicht. Was steht denn in dem Brief?«
»Es ist ein Liebesbrief. Wie im Radio, aber trauriger, viel
trauriger, er klang wie echt. Beim Lesen hätte ich am liebsten
geweint.«
»Sie haben ein goldenes Herz, Doña Aurora.« »Und Sie sind ein
Teufel.«
Gleich am selben Nachmittag, nachdem ich mich von Doña Aurora verabschiedet und ihr versprochen hatte, sie von meinen Nachforschungen über Julián Carax zu unterrichten, suchte ich den Liegenschaftenverwalter auf. Señor Molins hatte bessere Zeiten gesehen und schmorte jetzt in seinem schmierigen, in einem Hochparterre der Calle Floridablanca versteckten Büro vor sich hin. Er war ein heiterer, zufriedener Zeitgenosse, der an einer halb aufgerauchten Zigarre hing, welche seinem Schnurrbart zu entwachsen schien. Es ließ sich schwer sagen, ob er schlief oder wach war, sein Atem klang wie ein Schnarchen. Er hatte fettige, auf die Stirn geklatschte Haare und einen durchtriebenen Schweineblick. Sein Anzug hätte ihm auf dem Trödelmarkt Los Encantes keine zehn Peseten eingebracht, aber er kompensierte ihn mit einer Krawatte in schreienden Farben. Nach dem Aussehen des Büros zu schließen, wurden hier bestenfalls Spitzmäuse und Katakomben eines Barcelona vor der Restauration verwaltet.
»Wir sind im Umbau«, sagte Molins entschuldigend. Um das Eis zu
brechen, ließ ich den Namen von Doña Aurora fallen, als wäre sie
eine alte Freundin der Familie. »Oh, die war als junges Mädchen
sehr attraktiv, doch doch«, bemerkte Molins. »Mit den Jahren ist
sie ein wenig aus dem Leim gegangen – natürlich bin auch ich nicht
mehr, was ich einmal war. Ob Sie es glauben oder nicht, in Ihrem
Alter war ich ein Adonis. Die Mädchen gingen vor mir auf die Knie,
damit ich Ihnen einen Gefallen tat, wenn nicht gar ein Kind machte.
Aber die von heute taugen nichts. Na gut, was kann ich für Sie tun,
junger Mann?« Ich tischte ihm eine mehr oder weniger plausible
Geschichte über eine angebliche entfernte Verwandtschaft mit den
Fortunys auf. Nach fünf Minuten Geschwätz schleppte sich Molins zu
seinem Archiv und gab mir die Adresse des Anwalts, der sich um die
Angelegenheiten von Sophie Carax, Juliáns Mutter, kümmerte.
»Also … José María Requejo. Calle León XIII 59. Aber die
Korrespondenz schicken wir halbjährlich in ein Fach des
Hauptpostamts in der Vía Layetana.«
»Kennen Sie Señor Requejo?«
»Ich habe bestimmt schon mit seiner Sekretärin telefoniert. Aber
alle laufenden Angelegenheiten mit ihm werden postalisch
abgewickelt, und das erledigt meine Sekretärin, die heute beim
Friseur ist. Die heutigen Anwälte haben keine Zeit mehr für den
förmlichen Umgang von einst. In diesem Beruf gibt es keine
Gentlemen mehr.«
Anscheinend gab es auch keine zuverlässigen Adressen mehr. Ein
rascher Blick ins Straßenverzeichnis, das auf dem Schreibtisch des
Verwalters lag, bestätigte meinen Verdacht: Die Hausnummer des
mutmaßlichen Anwalts Requejo existierte nicht. Das teilte ich Señor
Molins mit, der die Mitteilung wie einen Witz aufnahm.
»Donnerwetter«, lachte er. »Na, was hab ich Ihnen gesagt? Alles
Gauner.«
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und gab wieder einen
Schnarcher von sich.
»Hätten Sie vielleicht die Nummer dieses Postfachs?« »Laut
Karteikarte ist es die 2837, aber ich kann die Zahlen meiner
Sekretärin nicht entziffern, Sie wissen ja, für die Mathematik
taugen Frauen nicht, dafür taugen sie für …«
»Darf ich die Karte sehen?«
»Aber sicher. Hier bitte.«
Ich betrachtete sie. Die Zahlen waren absolut leserlich.
Das Postfach trug die Nummer 2321 … »Haben Sie oft mit Señor
Fortuny zu tun gehabt, als er noch lebte?« fragte ich.
»Nur obenhin. Ein sehr zurückhaltender Mann. Ich erinnere mich, daß
ich ihn, nachdem ich erfahren hatte, daß die Französin gegangen
war, einmal aufgefordert habe, mit ein paar Kollegen ins Bordell
mitzukommen, in ein fabelhaftes Etablissement, das ich neben dem La
Paloma kenne. Bloß damit er sich ein wenig aufheitern konnte,
nichts weiter. Da hörte der doch tatsächlich auf, mit mir zu
sprechen und mich auf der Straße zu grüßen, als wäre ich
unsichtbar. Wie finden Sie das?«
»Ich bin ganz baff. Was können Sie mir sonst noch über die Familie
Fortuny erzählen? Erinnern Sie sich gut an sie?«
»Das waren andere Zeiten. Jedenfalls habe ich schon den Großvater
Fortuny gekannt, der den Hutladen gegründet hat. Was soll ich Ihnen
vom Sohn erzählen? Aber sie, doch doch, sie war toll. Was für eine
Frau. Und ehrbar, nicht wahr, trotz dem ganzen Gemunkel und
Geschwätz …«
»Zum Beispiel, daß Julián nicht der eheliche Sohn Señor Fortunys
war?«
»Wo haben Sie denn das aufgeschnappt?«
»Wie gesagt, ich gehöre zur Familie. Da erfährt man alles.«
»Von alldem ist nie etwas bewiesen worden.«
»Aber man hat darüber geredet.«
»Die Leute wetzen den Schnabel nach Herzenslust. Der Mensch stammt
nicht vom Affen ab, sondern vom Huhn.« »Was haben die Leute denn
gesagt?«
»Möchten Sie ein Gläschen Rum? Er ist zwar von Igualada, aber er
hat ein Fünkchen Karibik … Schmeckt herrlich.«
»Nein, danke, aber ich leiste Ihnen Gesellschaft.
Erzählen Sie mir unterdessen weiter.«
… Antoni Fortuny, den alle den Hutmacher nannten, hatte Sophie Carax 1899 vor den Stufen der Kathedrale von Barcelona kennengelernt. Eben hatte er dem heiligen Eustachius ein Gelübde abgelegt, der im Rufe stand, von allen Heiligen mit eigener Kapelle der flinkste und am wenigsten zimperliche zu sein, wenn es darum ging, Liebeswunder zu wirken. Antoni Fortuny, schon über dreißig und des Junggesellendaseins müde, wollte eine Gattin, und er wollte sie gleich. Sophie war eine junge Französin, die in einem Wohnheim für junge Frauen in der Calle Riera Alta lebte und den Sprößlingen der privilegiertesten Barceloneser Familien Privatunterricht in Gesang und Klavier erteilte. Sie hatte weder Familie noch Vermögen, nur gerade ihre Jugend und die musikalische Ausbildung, die ihr der Vater, ein Pianist an einem Theater in Nîmes, noch hatte geben können, bevor er 1886 an Tuberkulose starb. Antoni Fortuny dagegen war ein Mann auf dem Weg zum Wohlstand. Kurz zuvor hatte er von seinem Vater das Geschäft geerbt, einen renommierten Hutladen in der Ronda San Antonio, wo er das Handwerk erlernt hatte, das er eines Tages einem eigenen Sohn beizubringen träumte. Sophie Carax erschien ihm zerbrechlich, schön, jung, gefügig und fruchtbar. Der heilige Eustachius war seinem Ruf gerecht geworden. Nach vier Monaten beharrlichen Werbens gab Sophie seinem Heiratsantrag statt. Señor Molins, ein Freund des verstorbenen Großvaters Fortuny, machte Antoni darauf aufmerksam, daß er eine Unbekannte heirate, daß Sophie zwar ein gutes Mädchen zu sein scheine, daß ihr diese Verbindung aber vielleicht allzu gelegen käme, er solle doch wenigstens noch ein Jahr warten … Antoni Fortuny antwortete, er wisse schon genug von seiner künftigen Gattin, alles andere interessiere ihn nicht. Sie heirateten in der Pino-Basilika und verbrachten ihren dreitägigen Honigmond im Seebad Mongat. Am Morgen vor der Abreise fragte der Hutmacher Señor Molins im Vertrauen, wie er in den Geheimnissen des Schlafzimmers vorzugehen habe. Sarkastisch sagte Molins, er solle doch seine Frau fragen. Knapp drei Tage später kam das Ehepaar Fortuny nach Barcelona zurück. Die Nachbarn sagten, beim Betreten des Hauses habe Sophie geweint. Jahre später schwor die Viçenteta, daß Sophie ihr gesagt hatte, der Hutmacher habe sie mit keinem Finger angerührt und als sie ihn habe verführen wollen, habe er sie eine Hure geschimpft und sich, angewidert von der Obszönität dessen, was sie ihm vorgeschlagen habe, von ihr abgewandt. Sechs Monate später verkündete Sophie, sie trage ein Kind unter dem Herzen. Das Kind eines andern Mannes.
Antoni Fortuny hatte unzählige Male gesehen, wie sein eigener Vater die Mutter geschlagen hatte, und tat, was ihm angemessen schien. Er hielt erst inne, als er annehmen mußte, eine einzige weitere Berührung brächte sie um. Dennoch weigerte sich Sophie, die Identität des Vaters ihrer Leibesfrucht preiszugeben. Mit der ihm eigenen Logik dachte Antoni Fortuny, es handle sich um den Teufel, denn das konnte einzig ein Kind der Sünde sein, und die Sünde hatte nur einen Namen: der Böse. In der Überzeugung, in seinem Heim und zwischen den Schenkeln seiner Frau habe sich die Sünde eingenistet, hängte der Hutmacher allenthalben Kruzifixe auf: an den Wänden, an den Türen sämtlicher Räume und an der Decke. Als er auch das Zimmer, in das er Sophie verbannt hatte, mit Kreuzen spickte, erschrak sie und fragte ihn mit Tränen in den Augen, ob er übergeschnappt sei. Blind vor Wut, wandte er sich um und ohrfeigte sie. »Eine Hure wie alle andern«, rief er und warf sie, nachdem sein Lederriemen sie beinahe gehäutet hatte, mit Fußtritten auf den Treppenabsatz hinaus. Als er am nächsten Tag die Wohnungstür öffnete, um in den Hutladen hinunterzugehen, lag Sophie immer noch dort, blutverkrustet und zitternd vor Kälte. Die Ärzte konnten die Brüche an der rechten Hand nie mehr ganz richten. Nie wieder würde Sophie Carax Klavier spielen können, dafür aber einen Jungen gebären, den sie Julián nennen würde, zur Erinnerung an den Vater, den sie, wie alles im Leben, zu früh verloren hatte. Zuerst wollte Fortuny sie aus dem Haus werfen, doch dann dachte er, der Skandal wäre dem Geschäft abträglich. Niemand würde Hüte bei einem Mann kaufen, der im Ruch eines Gehörnten stand. Das wäre widersinnig. Sophie mußte ein dunkles, kaltes Zimmer im hinteren Teil der Wohnung beziehen. Dort brachte sie mit der Hilfe zweier Nachbarinnen ihren Sohn zur Welt. Antoni kam erst nach drei Tagen wieder nach Hause. »Das ist der Sohn, den dir Gott gegeben hat«, sagte Sophie zu ihm.
»Wenn du jemanden bestrafen willst, dann bestrafe mich, aber nicht ein unschuldiges Kind. Der Junge braucht ein Zuhause und einen Vater. Meine Sünden sind nicht die seinen. Ich flehe dich an, erbarme dich unser.«
Die ersten Monate waren für beide schwierig. Antoni Fortuny hatte beschlossen, seine Frau zum Dienstmädchen zu erniedrigen. Bett und Tisch teilten sie nicht mehr, und nur selten wechselten sie ein Wort, das nicht der Entscheidung häuslicher Angelegenheiten galt. Einmal im Monat, normalerweise bei Vollmond, erschien Antoni Fortuny in aller Herrgottsfrühe kurz in Sophies Zimmer und fiel wortlos über sie her, ungestüm, aber wenig kundig. In diesen seltenen Momenten der Intimität versuchte sich Sophie bei ihm einzuschmeicheln, indem sie ihm Liebesworte zuraunte und ihn kunstgerecht liebkoste. Der Hutmacher war kein Mann leerer Worte, und der Ansturm des Verlangens verflog ihm in Minuten-, wenn nicht Sekundenschnelle. Diesen Überfällen bei hochgekrempeltem Nachthemd entsprang kein Kind. Nach einigen Jahren suchte Antoni Fortuny Sophies Zimmer endgültig nicht mehr auf und ließ es sich zur Gewohnheit werden, bis tief in die Nacht hinein in der Heiligen Schrift zu lesen, um dort Erquickung für seine Pein zu finden.
Mit Hilfe der Evangelien bemühte er sich, in seinem Herzen Liebe für diesen Jungen mit dem tiefen Blick zu wecken, der sich mit Vorliebe über alles lustig machte und Schatten erfand, wo es keine gab. Trotz seines Bemühens empfand er den kleinen Julián nicht als Kind seines Blutes, noch erkannte er sich in ihm wieder. Den Kleinen seinerseits schienen weder Hüte noch die Lehren des Katechismus allzusehr zu interessieren. Zu Weihnachten vergnügte er sich damit, die Krippenfiguren neu zusammenzustellen und Verwicklungen zu ersinnen, in denen das Jesuskind von den Heiligen Drei Königen zu schlüpfrigen Zwecken entführt wurde. Bald verfiel er darauf, Engel mit Wolfszähnen zu zeichnen und sich Geschichten von vermummten Geistern auszudenken, die aus den Wänden traten und die Gedanken der Menschen fraßen, während diese schliefen. Mit der Zeit gab der Hutmacher jede Hoffnung auf, diesen Burschen für ein ordentliches Leben formen zu können. Das war kein Fortuny und würde nie einer werden. Mit dem Argument, er langweile sich in der Schule, brachte Julián all seine Hefte vollgekritzelt mit ungeheuerlichen Wesen, geflügelten Schlangen und lebenden Häusern zurück, die gehen konnten und die Unvorsichtigen verschluckten. Schon damals war offensichtlich, daß ihn Fantasie und Erfindung unendlich viel mehr interessierten als die Alltagswirklichkeit um ihn herum. Von allen Enttäuschungen, die Antoni Fortuny in seinem Leben hortete, schmerzte ihn keine so sehr wie dieser Sohn, den ihm der Teufel geschickt hatte, um ihn zum besten zu haben.
Mit zehn Jahren verkündete Julián, er wolle Maler werden, wie Velázquez, denn er träumte davon, die Bilder zu malen, die der große Meister zu seinen Lebzeiten nicht mehr hatte schaffen können, weil er, wie Julián anführte, die Geisteskranken der königlichen Familie so oft zu porträtieren gezwungen gewesen sei. Um die Dinge ein für allemal zu regeln, vielleicht auch, um mit der Einsamkeit fertig zu werden und zur Erinnerung an ihren Vater, kam Sophie auf die Idee, ihm Klavierunterricht zu geben. Julián, der die Musik, die Malerei und jede in der Menschengesellschaft nutz- und zwecklose Materie über alles liebte, erlernte rasch die Grundbegriffe der Harmonie und zog es bald vor, eigene Kompositionen zu erfinden, statt den Etüden seines Notenbuchs zu folgen, was in seinen Augen widernatürlich war. In jener Zeit glaubte Antoni Fortuny noch, die Geistesschwäche des Jungen sei zum Teil auf seine Kost zurückzuführen, die zu sehr von den Gebräuchen der französischen Küche seiner Mutter bestimmt war. Bekanntlich zog ein Übermaß an Butter den moralischen Ruin und die Betäubung des Verstandes nach sich. Er verbot Sophie auf immer und ewig, mit Butter zu kochen. Das Ergebnis war nicht unbedingt das erhoffte.
Mit zwölf Jahren erlosch Juliáns fieberhaftes Interesse an der Malerei und an Velázquez allmählich, aber die erneut aufflackernden Hoffnungen des Hutmachers hielten nicht lange an. Julián gab die Träume vom Prado zugunsten eines sehr viel verderblicheren Lasters auf. Er hatte die Leihbibliothek in der Calle del Carmen entdeckt und suchte in jeder Rast, die ihm der Vater im Hutladen gewährte, das Heiligtum der Bücher auf, um bändeweise Romane, Poesie und Geschichte zu verschlingen. Einen Tag vor seinem dreizehnten Geburtstag verkündete er, er wolle eine Person namens Robert Louis Stevenson sein, ganz offensichtlich ein Ausländer. Der Hutmacher sagte, er werde es mit Mühe und Not zum Steinklopfer bringen. Nun hatte er die endgültige Gewißheit, daß sein Sohn nichts weiter war als ein Narr.
Oft wälzte sich Antoni Fortuny vor Wut und Frustration im Bett hin und her und fand keinen Schlaf. Im Grunde seines Herzens liebte er diesen Jungen, sagte er sich. Und er liebte, auch wenn sie es nicht verdiente, ebenfalls die Nutte, die ihn vom ersten Tag an betrogen hatte. Er liebte beide von ganzer Seele, aber auf seine Weise, und die war die richtige. Er bat Gott nur darum, ihm den Weg zu zeigen, wie sie alle drei glücklich sein könnten, nach Möglichkeit ebenfalls auf seine Weise. Er flehte den Herrn an, ihm ein Zeichen zu senden, ein Flüstern, ein klein wenig von seiner Gegenwart. Gott, in seiner unendlichen Weisheit und vielleicht überhäuft vom Ansturm von Bitten so vieler gequälter Seelen, gab keine Antwort. Während Antoni Fortuny in Gewissensbissen und Kümmernis zerfloß, erlosch Sophie langsam auf der andern Seite der Wand und sah ihr Leben in einem Strudel von Betrug, Verlassenheit und Schuld Schiffbruch erleiden. Sie liebte den Mann nicht, dem sie diente, aber sie fühlte sich ihm zugehörig, und die Möglichkeit, ihn zu verlassen und mit ihrem Sohn anderswohin zu gehen, schien ihr undenkbar. Bitter erinnerte sie sich an Juliáns richtigen Vater, und mit der Zeit lernte sie ihn hassen und alles verachten, was er vorstellte, doch war es genau das, wonach sie sich im Grunde sehnte. Da es an Gesprächen fehlte, begann sich das Ehepaar anzuschreien. Beschimpfungen und scharfe Vorwürfe flogen wie Messer durch die Wohnung und durchlöcherten jeden, der sich in den Weg zu stellen wagte, üblicherweise Julián. Später erinnerte sich der Hutmacher nie genau, warum er seine Frau geschlagen hatte, sondern nur an das Aufbranden und die Scham danach. Dann schwor er sich, das würde nie wieder vorkommen und wenn nötig würde er sich den Behörden stellen, damit man ihn in die Strafanstalt verbanne.
Mit Gottes Hilfe wiegte sich Antoni Fortuny in der Gewißheit, daß er ein besserer Mann werden könne, als es sein Vater gewesen war. Doch über kurz oder lang landeten seine Fäuste wiederum in Sophies zartem Fleisch, und mit der Zeit spürte er, daß er, wenn er sie nicht als Ehemann besitzen konnte, es als Henker tun würde. So ließ die Familie Fortuny die Jahre verstreichen, brachte ihre Herzen und Seelen zum Verstummen, bis sie alle vor lauter Schweigen die Worte vergessen hatten, um ihre wirklichen Gefühle auszudrücken, und einander zu Fremden wurden, die unter ein und demselben Dach zusammenlebten.
Ich war erst nach halb drei wieder in der Buchhandlung. Als ich eintrat, warf mir Fermín vom oberen Ende einer Leiter einen sarkastischen Blick zu, wo er den Nationalen Episoden unseres berühmten Benito Pérez Galdós Glanz verlieh.
»Wie freue ich mich, Sie zu sehen. Wir dachten schon, Sie seien
nach Amerika gefahren, um dort Ihr Glück zu machen, Daniel.«
»Ich bin unterwegs aufgehalten worden. Wo ist mein Vater?«
»Da Sie nicht gekommen sind, hat er sich aufgemacht, um die
restlichen Bestellungen abzuliefern. Ich soll Ihnen sagen, daß er
diesen Nachmittag nach Tiana geht, um die Privatbibliothek einer
Witwe zu schätzen. Ihr Vater gehört zu denen, die die Dinge
erledigen, ohne große Worte zu machen. Sie sollen nicht auf ihn
warten, um zu schließen.«
»War er böse auf mich?«
Fermín schüttelte den Kopf, während er katzenflink die Leiter
herunterglitt.
»Keine Spur. Ihr Vater ist ein Heiliger. Zudem hat er sich sehr
gefreut, als er sah, daß Sie sich eine Freundin zugelegt
haben.«
»Was?«
Fermín blinzelte und leckte sich die Lippen.
»Oh, Sie Spitzbube, und das haben Sie einfach für sich behalten.
Was für ein Mädchen – um den Verkehr zum Erliegen zu bringen. Und
so was von elegant. Man sieht, daß sie gute Schulen besucht hat,
aber da ist auch eine gewisse Einladung in ihrem Blick … Ich sage
Ihnen, wenn ich mein Herz nicht an die Bernarda verloren hätte –
ich hab Ihnen ja noch nicht einmal erzählt, wie das neulich war mit
dem Nachmittagskaffee … Da haben die Funken gesprüht, sag ich
Ihnen, die Funken, als wär’s das Feuerwerk zum Sonnenwendfest
…«
»Fermín«, unterbrach ich ihn, »wovon zum Teufel reden Sie?«
»Von Ihrer Freundin.«
»Ich habe keine Freundin.«
»Na ja, ihr jungen Leute nennt das ja jetzt anders, Bekannte oder
so …«
»Fermín, von vorne, bitte. Wovon reden Sie?«
Fermín Romero de Torres schaute mich verwirrt an. »Nun – heute
mittag, vor einer Stunde oder anderthalb, ist eine klasse Señorita
in den Laden gekommen und hat nach Ihnen gefragt. Ihr Vater und
meine Wenigkeit waren lebendigen Leibes anwesend, und ich kann
Ihnen zweifelsfrei versichern, daß das Mädchen keineswegs wie ein
Gespenst aussah. Ich könnte Ihnen sogar Ihren Geruch beschreiben.
Nach Lavendel, aber süßer. Wie ein frisch gebackenes
Milchbrötchen.«
»Hat das Milchbrötchen etwa gesagt, es sei meine Freundin?«
»Nicht mit genau diesen Worten, aber sie hat so beiläufig
gelächelt, Sie wissen schon, und gesagt, sie erwartet Sie am
Freitagnachmittag. Wir haben bloß zwei und zwei
zusammengezählt.«
»Bea«, murmelte ich.
»Ergo gibt es sie doch«, bemerkte Fermín erleichtert. »Ja, aber sie
ist nicht meine Freundin.«
»Dann weiß ich nicht, worauf Sie noch warten.« »Sie ist die
Schwester von Tomás Aguilar.«
»Von Ihrem Freund, dem Erfinder?«
Ich nickte.
»Um so mehr. Nicht gerade die Schwester von Cary Grant, wissen Sie – aber sie sieht fantastisch aus. Ich an Ihrer Stelle würde mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen.«
»Bea hat schon einen Freund. Einen Leutnant, der dient.«
Fermín seufzte irritiert.
»Oh, die Armee, Gebrechen und Bollwerk der Affenzunft. Desto
besser, so können Sie ihm ohne Gewissensbisse Hörner
aufsetzen.«
»Sie spinnen, Fermín. Bea wird ihn heiraten, sobald er den
Militärdienst zu Ende gebracht hat.«
Er lächelte mir verschmitzt zu.
»Tja, ich habe so ein merkwürdiges Gefühl, daß dem nicht so ist,
die heiratet nicht.«
»Was wollen denn Sie wissen.«
»Von Frauen und andern weltlichen Beschäftigungen wesentlich mehr
als Sie. Wie uns Freud lehrt, begehrt die Frau das Gegenteil
dessen, was sie denkt oder erklärt, was genau besehen gar nicht so
schrecklich ist, denn der Mann gehorcht, wie uns Perogrullo lehrt,
im Gegensatz dazu dem Diktat seines Genital- oder
Verdauungsapparats.«
»Halten Sie mir keinen Vortrag, Fermín, ich weiß schon, worauf Sie
hinauswollen. Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, dann resümieren
Sie.«
»Nun, ich sag es Ihnen in bündiger Essenz: Die sah nicht so aus,
als heirate sie einen Kommißkopf.«
»Ach nein? Und wie sah sie denn dann aus?«
Fermín trat mit vertraulicher Miene näher.
»Wie eine Femme fatale.« Er zog geheimnisvoll die Brauen in die
Höhe. »Und damit das klar ist, das meine ich als Kompliment.«
Wie immer hatte Fermín vollkommen recht. Ich gab mich besiegt und
spielte den Ball an ihn zurück.
»Wenn wir schon bei Femme fatale sind, erzählen Sie mir von der
Bernarda. Ist geküßt worden oder nicht?«
»Beleidigen Sie mich nicht, Daniel. Ich darf Sie daran erinnern,
daß Sie mit einem Verführungsprofi sprechen, und das mit dem Küssen
ist eine Sache von Amateuren und Pantoffeldilettanten. Die
wirkliche Frau erobert man peu à peu. Das ist alles eine Frage der
Psychologie, genau wie bei einem guten Stierkämpfer in der
Arena.«
»Sie hat Ihnen also einen Korb gegeben.«
»Fermín Romero de Torres gibt nicht einmal der heilige Rochus einen
Korb. Aber, um auf Freud zurückzukommen und wenn die Metapher
erlaubt ist, der Mann erhitzt sich wie eine Glühbirne: im
Handumdrehen rotglühend und dann ebenso schnell wieder kalt. Bei
der Frau dagegen, und das ist reine Wissenschaft, ist es wie beim
Bügeleisen, verstehen Sie? Ganz sachte, bei schwachem Feuer, wie
eine gute Suppe. Aber wenn sie dann einmal erhitzt ist, dann lodert
sie. Wie die Hochöfen in Vizcaya.«
Ich dachte über Fermíns thermodynamische Theorien nach.
»Das machen Sie also mit der Bernarda?« fragte ich. »Das Bügeleisen
aufs Feuer stellen?«
Fermín blinzelte mir zu.
»Diese Frau ist ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch, mit einer Libido
wie feuriges Magma und dem Herzen einer Heiligen. Um eine
wahrhaftige Parallelität zu etablieren: Sie erinnert mich an meine
kleine Mulattin in Havanna, die eine sehr fromme
Santería-Anhängerin war. Aber da ich im Grunde ein Kavalier der
alten Schule bin, nutze ich das nicht aus, und so habe ich mich mit
einem züchtigen Küßchen auf die Wange begnügt. Ich hab’s ja nicht
eilig, wissen Sie. Gut Ding will Weile haben. Es gibt so Lümmel,
die meinen, wenn sie einer Frau die Hand auf den Hintern legen und
sie protestiert nicht, dann haben sie sie schon in der Tasche.
Anfänger. Das Herz des Weibes ist ein ausgeklügeltes Labyrinth,
welches den engstirnigen Geist des Mannes herausfordert. Wenn Sie
eine Frau wirklich besitzen wollen, müssen Sie denken wie sie und
als erstes ihre Seele erobern. Der Rest, die süße, weiche
Verpackung, die einem Sinn und Tugend verdirbt, kommt dann als
Zugabe.«
Feierlich lobte ich seine Rede.
»Fermín, Sie sind ein Dichter.«
»Nein, ich halte es mit Ortega und bin Pragmatiker, denn die
Dichtung lügt, wenn auch im schönen Sinn, aber was ich sage, ist
wahrer als ein Butterbrot. Schon der Meister hat es gesagt, zeigen
Sie mir einen Don Juan, und ich zeige Ihnen einen verkappten
Schwulen. Meine Sache ist Dauerhaftigkeit, das Immerwährende. Sie
sollen mein Zeuge sein, daß ich die Bernarda wenn nicht zur
ehrbaren, das ist sie schon, so doch zumindest zur glücklichen Frau
machen werde.«
Ich nickte lächelnd. Seine Begeisterung war ansteckend und seine
Rhetorik unschlagbar.
»Passen Sie gut auf sie auf, Fermín. Die Bernarda hat zuviel Herz
und schon zu viele Enttäuschungen erlebt.«
»Glauben Sie, das habe ich nicht gesehen? Das steht ihr ja auf der
Stirn geschrieben wie eine Police der Kriegswitwenstiftung. Und das
sage ich Ihnen, der ich große Erfahrung darin habe, mit
Gemeinheiten fertig zu werden. Diese Frau überschütte ich mit
Glück, und sei es das letzte, was ich auf dieser Welt noch
unternehme.«
»Ehrenwort?«
Mit ritterlichem Ernst reichte er mir die Hand. Ich ergriff
sie.
»Ehrenwort von Fermín Romero de Torres.«
Der Nachmittag im Laden verlief gemächlich, es erschienen kaum ein paar Neugierige. Angesichts dessen empfahl ich Fermín, den Rest des Tages freizumachen. »Na, holen Sie doch die Bernarda ab und gehen Sie mit ihr ins Kino oder Arm in Arm in der Calle Puertaferrisa Schaufenster anschauen, das macht ihr Spaß.«
Er zögerte nicht, mich beim Wort zu nehmen, und ging sich im Hinterraum herausputzen, wo er immer tadellos frische Kleider und in einem Necessaire, um das ihn jede Dame der höhergelegenen Stadtteile beneidet hätte, allerhand Wässerchen und Salben vorrätig hatte. Als er wieder nach vorn kam, sah er aus wie ein Galan aus einem Liebesfilm, nur mit dreißig Kilo weniger um die Knochen. Er trug einen ehemaligen Anzug meines Vaters und einen Filzhut, der ihm zwei Nummern zu groß war, was er dadurch löste, daß er ein paar Kugeln aus Zeitungspapier in den Stulp steckte.
»Übrigens, Fermín, bevor Sie gehen … Ich wollte Sie noch um
einen Gefallen bitten.«
»Schon gewährt. Sie befehlen, ich bin da, um zu gehorchen.«
»Ich möchte Sie aber darum bitten, daß es unter uns bleibt, ja?
Kein Wort zu meinem Vater.«
Er lachte von Ohr zu Ohr.
»Oh, Sie Spitzbube. Es hat etwas mit diesem duften Mädchen zu tun,
oder?«
»Nein. Es geht um eine Angelegenheit von Ermittlung und Intrige.
Ihr Gebiet also.«
»Nun, ein klein wenig verstehe ich auch von jungen Mädchen. Ich sag
Ihnen das, falls Sie eines Tages eine technische Anfrage haben, Sie
wissen schon. In allem Vertrauen, da bin ich wie ein Arzt. Ohne
Zimperlichkeit.«
»Ich werde dran denken. Jetzt aber sollte ich wissen, wem das
Postfach mit der Nummer 2321 im Hauptpostamt in der Vía Layetana
gehört. Und, wenn möglich, wer die Post dort abholt. Glauben Sie,
Sie können dieses schwierige Problem für mich lösen?«
Er schrieb sich die Nummer mit Kugelschreiber unter dem Strumpf auf
den Rist.
»Das ist kinderleicht. Mir leistet kein öffentlicher Organismus
Widerstand. Geben Sie mir ein paar Tage, und ich liefere Ihnen
einen umfassenden Bericht.«
»Wir sind uns einig, daß mein Vater kein Wort erfährt, ja?«
»Seien Sie unbesorgt. Sie dürfen davon ausgehen, daß ich die Sphinx
von Cheops bin.«
»Vielen Dank. Und jetzt gehen Sie schon, ich wünsche Ihnen viel
Spaß.«
Ich verabschiedete ihn mit einem militärischen Gruß und sah ihn
würdevoll davonschreiten. Keine fünf Minuten später hörte ich die
Türglocke und schaute von meinen Zahlen und Korrekturen auf. Ein
Mann in grauem Mantel und mit Filzhut war eingetreten. Er hatte
einen schmalen Schnurrbart und blaue, glasige Augen. Sein
Verkäuferlächeln war falsch und gezwungen. Ich bedauerte, daß
Fermín nicht da war, er hatte eine geschickte Hand, um Reisende in
Sachen Kampfer und Plunder loszuwerden, die sich gelegentlich in
die Buchhandlung einschlichen. Der Besucher bot mir sein
schmieriges Lächeln, während er aufs Geratewohl einen Band von
einem Stoß nahm, der neben dem Eingang darauf wartete, eingeordnet
und geschätzt zu werden. Alles an ihm strahlte Verachtung für das
aus, was er sah. Du wirst mir nicht einmal einen schönen guten Tag
verkaufen, dachte ich.
»Eine Menge Buchstaben, was?« sagte er.
»Das ist ein Buch, und die haben immer ziemlich viele Buchstaben.
Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, mein Herr?«
Mit übellaunigem Nicken legte er das Buch auf den Stapel zurück und
ignorierte die Frage.
»Was ich immer sage. Lesen ist für Leute, die viel Zeit und nichts
zu tun haben. Wie die Frauen. Wer zu tun hat, hat keine Zeit für
Märchen. Im Leben gilt es hart zu schuften. Finden Sie nicht
auch?«
»Das ist eine Meinung. Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
»Das ist keine Meinung, das ist eine Tatsache. Genau das ist das
Problem in diesem Land, daß die Leute nicht arbeiten wollen. Es
gibt viele Herumtreiber, finden Sie nicht auch?«
»Ich weiß es nicht, mein Herr. Vielleicht. Hier verkaufen wir nur
Bücher, wie Sie sehen.«
Der Mann trat dichter an den Ladentisch; dabei flatterte sein Blick
dauernd im Geschäft umher und suchte manchmal meinen. Sein Aussehen
und seine Haltung kamen mir irgendwie vertraut vor, obwohl ich
nicht hätte sagen können, woher. Etwas an ihm ließ mich an eine der
Figuren denken, die auf den Spielkarten in Antiquitätenläden oder
bei Wahrsagern zu sehen sind. Er sah düster und aufbrausend aus wie
ein Fluch im Sonntagsanzug.
»Wenn Sie mir sagen wollen, womit ich Ihnen dienen kann …«
»Ich bin es eher, der gekommen ist, um Ihnen einen Dienst zu
erweisen. Sind Sie der Inhaber dieses Ladens?«
»Nein. Der Inhaber ist mein Vater.«
»Und der Name ist …?«
»Meiner oder der meines Vaters?«
Er lächelte gerieben.
»Ich werde mir also vorstellen, das Firmenschild Sempere und Söhne
gilt für beide.«
»Sie sind sehr scharfsinnig. Darf ich fragen, welches der Grund
Ihres Besuches ist, wenn Sie nicht an einem Buch interessiert
sind?«
»Der Grund meines Besuchs, eines Höflichkeitsbesuchs, ist es, Ihnen
mitzuteilen, daß mir zu Ohren gekommen ist, daß Sie beide mit
anrüchigen Leuten Umgang pflegen, insbesondere mit Invertierten und
Bösewichten.«
Ich schaute ihn verdutzt an.
»Wie bitte?«
Er bohrte seinen Blick in meinen.
»Ich rede von Schwulen und Gaunern. Sagen Sie nicht, Sie wissen
nicht, wovon ich spreche.«
»Ich fürchte, ich habe nicht die leiseste Ahnung und auch nicht das
geringste Interesse, Ihnen weiter zuzuhören.«
Er nickte, jetzt feindlich und zornig.
»Sie werden aber verdammt noch mal müssen. Ich nehme an, Sie sind
auf dem laufenden über die Aktivitäten des Bürgers Federico
Flaviá.«
»Don Federico ist der Uhrmacher des Viertels, ein vortrefflicher
Mensch, und ich bezweifle sehr, daß er ein Übeltäter ist.«
»Ich sprach von Schwulen. Ich weiß genau, daß diese Schwuchtel in
Ihrem Laden verkehrt, vermutlich, um Liebesromänchen und
Pornographie zu kaufen.«
»Und darf ich Sie fragen, was Sie das angeht?«
Anstatt zu antworten, zog er seine Brieftasche hervor und legte sie
offen auf den Ladentisch. Ich erkannte einen schmuddeligen
polizeilichen Dienstausweis mit dem Gesicht des Mannes, als er noch
etwas jünger war. Ich las bis zu den Worten ›Chefinspektor
Francisco Javier Fumero Almuñiz‹.
»Junger Mann, mir gegenüber haben Sie Respekt zu zeigen, sonst
stauche ich Sie und Ihren Vater zusammen, daß Ihnen die Haare
ausfallen, weil Sie bolschewistischen Schund verkaufen. Ist das
klar?«
Ich wollte eine Antwort geben, aber die Worte waren mir auf den
Lippen eingefroren.
»Aber nun gut, es ist nicht dieser warme Bruder, was mich heute
herführt. Der wird früher oder später auf dem Revier landen wie
alle seines Schlages, und dann werde ich ihm schon Dampf machen.
Was mir Sorge bereitet, ist, daß mir Berichte vorliegen, wonach Sie
einen gemeinen Dieb beschäftigen, einen Schurken der übelsten
Art.«
»Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen, Inspektor.«
Fumero lachte sein klebriges Lächeln.
»Weiß Gott, welchen Namen er sich jetzt zugelegt hat. Vor Jahren
hat er sich Wilfredo Camagüey genannt, ein As des Mambo, und hat
behauptet, Voodoospezialist, Tanzlehrer von Don Juan de Borbón und
Geliebter von Mata Hari zu sein. Andere Male nimmt er Namen von
Botschaftern, Varietékünstlern oder Stierkämpfern an. Wir haben den
Überblick schon lange verloren.«
»Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen kann, aber ich kenne
niemand namens Wilfredo Camagüey.«
»Gewiß nicht, aber Sie wissen, wen ich meine, nicht wahr?«
»Nein.«
»Sie komplizieren die Dinge gern, wie? Schauen Sie, ich bin als
Freund gekommen, um Sie zu benachrichtigen und zu warnen, daß, wer
einen Lumpen bei sich aufnimmt, sich am Ende selber die Finger
verbrennt, und Sie behandeln mich als Lügner.«
»Keineswegs. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und Ihre Warnung,
aber ich versichere Ihnen, daß wir nicht …«
»Erzählen Sie mir keinen Scheiß – wenn’s mich ankommt, geb ich
Ihnen eine in die Fresse und mach die Bude hier dicht, kapiert?
Aber heute bin ich gut gestimmt, also lass ich Sie mit der Warnung
allein. Sie müssen wissen, welche Gesellschaft Sie wählen. Wenn Sie
Schwule und Diebe mögen, dann haben Sie wohl selber von beiden
etwas. Für mich müssen die Dinge klar sein. Entweder Sie sind auf
meiner Seite oder gegen mich. So ist das Leben. Wie verbleiben wir
also?«
Ich sagte nichts. Fumero nickte und lächelte wieder.
»Sehr gut, Sempere. Wie Sie wollen. Wir beide fangen nicht gut an.
Wenn Sie Schwierigkeiten wollen, können Sie sie haben. Das Leben
ist nicht wie in den Romanen, wissen Sie. Im Leben muß man Partei
ergreifen. Und es ist klar, welche Sie gewählt haben. Die Partei
von denen, die verlieren, weil sie Esel sind.«
»Darf ich Sie jetzt bitten zu gehen, wenn Sie so gut sein
wollen.«
Er wandte sich mit seinem widerlichen Lächeln zur Tür.
»Wir werden uns wiedersehen. Und sagen Sie Ihrem Freund, Inspektor
Fumero habe ihn im Auge und lasse ihn herzlich grüßen.«
Der Besuch des unseligen Inspektors und der Nachhall seiner Worte
vergifteten mir den Nachmittag. Nachdem ich eine Viertelstunde mit
verknoteten Eingeweiden hinter dem Ladentisch hin und her getigert
war, schloß ich die Buchhandlung vorzeitig, trat auf die Straße
hinaus und ging ziellos umher. Ich brachte die Andeutungen und
Drohungen dieses Killertypen nicht aus dem Kopf und fragte mich, ob
ich meinem Vater und Fermín von diesem Besuch erzählen mußte, aber
vermutlich war genau das die Absicht Fumeros gewesen – Zweifel,
Angst und Unsicherheit unter uns zu säen. Ich beschloß, dieses
Spiel nicht mitzuspielen. Anderseits alarmierten mich die
Andeutungen über Fermíns Vergangenheit. Und sogleich schämte ich
mich, als ich feststellte, daß ich den Worten des Polizisten einen
Augenblick Glauben geschenkt hatte. Nachdem ich mir lange den Kopf
darüber zerbrochen hatte, dachte ich, am besten versiegle ich die
Episode in einem Winkel meines Gedächtnisses und denke nicht mehr
an das, was sie mit sich bringen mochte.
Auf dem Heimweg kam ich an der Uhrmacherei des Viertels vorbei.
Durchs Schaufenster sah ich Don Federico hinter seinem Tisch sitzen
und mich hereinwinken. Er war ein leutseliger, stets gut
aufgelegter Mann, der nie vergaß, einem schöne Feiertage zu
wünschen, und der für jede denkbare Schwierigkeit eine Lösung
wußte. Mich schauerte bei dem Gedanken, daß er auf Inspektor
Fumeros schwarzer Liste stand, und ich fragte mich, ob ich ihn wohl
warnen sollte. Ratlos trat ich in den Laden.
»Wie geht’s, Daniel? Du machst ja ein merkwürdiges Gesicht.«
»Ein schlechter Tag. Wie läuft’s denn, Don Federico?«
»Wie geschmiert. Die Uhren werden immer schlechter, und ich komme
mit der Arbeit nicht mehr nach. Wenn das so weitergeht, werde ich
einen Gehilfen einstellen müssen. Dein Freund, der Erfinder, hätte
der kein Interesse? Sicher hätte er eine geschickte Hand
dafür.«
Ich konnte mir unschwer ausmalen, was Tomás Aguilars Vater von der
Aussicht hielte, daß sein Sohn eine Beschäftigung bei Don Federico
annähme, der offiziellen Tunte des Viertels.
»Ich werde es ihm sagen.«
Ȇbrigens, Daniel, da ist der Wecker, den mir dein Vater vor zwei
Wochen gebracht hat. Ich weiß auch nicht, was er damit angestellt
hat, aber er würde besser einen neuen kaufen, als den da reparieren
zu lassen.«
In stickigen Sommernächten ging mein Vater manchmal auf dem Balkon
schlafen.
»Er ist ihm auf die Straße runtergefallen«, sagte ich.
»So was hab ich mir gleich gedacht. Ich hätte da einen Radiant zu
einem sehr guten Preis für ihn. Wenn du willst, kannst du ihn
gleich mitnehmen, er soll ihn ausprobieren.«
»Vielen Dank, Don Federico.«
Er packte mir den Wecker ein.
»Hochtechnologie«, sagte er. »Übrigens hat mich das Buch entzückt,
das mir Fermín neulich verkauft hat. Eins von Graham Greene. Dieser
Fermín ist ein prima Kerl.«
Ich nickte.
»Ja, der ist Gold wert.«
»Mir ist aufgefallen, daß er nie eine Uhr trägt. Sag ihm, er soll
mal vorbeikommen, dann regeln wir das.«
»Werde ich. Danke, Don Federico.«
Als er mir den Wecker aushändigte, sah mich der Uhrmacher
aufmerksam an und zog die Brauen in die Höhe.
»Ist bestimmt nichts los, Daniel? Wirklich nur ein schlechter
Tag?«
Ich lächelte und nickte wieder.
»Es ist nichts, Don Federico. Passen Sie auf sich auf.«
»Du auf dich auch, Daniel.«
Als ich zu Hause ankam, schlief mein Vater auf dem Sofa, die
Zeitung auf der Brust. Ich stellte den Wecker mit der Notiz »Von
Don Federico, du sollst den alten wegwerfen« auf den Tisch und
glitt still in mein Zimmer, legte mich im Halbdunkel aufs Bett und
schlief beim Gedanken an den Inspektor, an Fermín und den Uhrmacher
ein. Als ich erwachte, war es schon zwei Uhr früh. Ich schaute auf
den Gang hinaus und sah, daß sich mein Vater mit dem neuen Wecker
in sein Zimmer zurückgezogen hatte. Mir wurde klar, daß ich an die
Existenz von Inspektor Fumero nie wirklich geglaubt hatte. Ich ging
in die Küche und schenkte mir ein Glas kalte Milch ein. Ich fragte
mich, ob sich Fermín wohl gesund und munter in seiner Pension
befinde.
Ich versuchte das Bild des Polizisten aus meinen Gedanken zu
verdrängen und wieder einzuschlafen, aber daran war nicht zu
denken. Ich knipste das Licht an, um den Umschlag des Briefes an
Julián Carax zu studieren, den ich Doña Aurora am Morgen
unterschlagen hatte und noch in der Jackettasche trug. Ich legte
ihn auf meinem Schreibtisch unter den Lichtkegel der Lampe. Es war
ein pergamentartiger Umschlag mit gezackten, vergilbten Rändern,
der sich schmierig anfühlte. Der Stempel, kaum noch ein Schatten,
war vom 18. Oktober 1919. Das Siegel war abgefallen, wahrscheinlich
wegen Doña Auroras Neugier. An seiner Stelle war ein rötlicher
Fleck zurückgeblieben, wie von der Berührung einer Wildrose, die
die Verschlußklappe küßte, auf der der Absender zu lesen war:
Penélope Aldaya Avenida del Tibidabo 32, Barcelona
Ich öffnete den Umschlag und zog den Brief heraus, ein dickes, säuberlich gefaltetes ockerfarbenes Blatt. Der blaue Tintenschriftzug wirkte nervös, verflüchtigte sich jeweils nach ein paar Worten und gewann dann wieder an Kraft. Alles auf diesem Blatt erzählte von einer andern Zeit – die vom Tintenfaß abhängige Schrift, die mit der Federspitze auf dem dicken Blatt hingekratzten Worte, das sich rauh anfühlende Papier. Ich strich den Brief auf dem Tisch glatt und las ihn atemlos.
Lieber Julián, heute morgen habe ich von Jorge erfahren, daß Du
Barcelona wirklich verlassen und Dich aufgemacht hast, Deine Träume zu suchen. Ich habe immer befürchtet, daß Du durch diese Träume weder mir noch sonst jemandem gehören würdest. Gern hätte ich Dich ein letztes Mal gesehen, Dir in die Augen geschaut und Dir Dinge gesagt, die ich Dir in einem Brief nicht erzählen kann. Nichts ist so eingetreten, wie wir es geplant hatten. Ich kenne Dich nur zu gut und weiß, daß Du mir nicht schreiben, ja mir nicht einmal Deine Adresse schicken wirst, daß Du ein anderer sein willst. Ich weiß, daß Du mich hassen wirst, weil ich nicht dort war wie versprochen. Daß Du glauben wirst, ich hätte Dich versetzt. Ich hätte keinen Mut gehabt.
So oft habe ich mir Dich vorgestellt, allein in diesem Zug, überzeugt, ich hätte Dich betrogen. Viele Male habe ich versucht, Dich durch Miquel zu finden, aber er sagte mir, Du willst nichts mehr von mir wissen. Was für Lügen hat man Dir aufgetischt, Julián? Was hat man Dir von mir erzählt? Warum hast Du ihnen geglaubt?
Jetzt weiß ich endlich, daß ich Dich verloren habe, daß ich alles verloren habe. Aber trotzdem kann ich nicht zulassen, daß Du für immer gehst und mich vergißt, ohne zu wissen, daß ich keinen Groll gegen Dich hege, daß ich es von Anfang an wußte, daß ich wußte, daß ich Dich verlieren würde und daß Du in mir nie das sehen würdest, was ich in Dir sah. Du sollst wissen, daß ich Dich vom ersten Tag an geliebt habe und Dich noch immer liebe, jetzt mehr denn je, ob es Dir gefällt oder nicht.
Ich schreibe Dir heimlich, ohne daß es jemand weiß. Jorge hat geschworen, daß er Dich umbringt, wenn er Dich noch einmal sieht. Man läßt mich nicht mehr aus dem Haus, nicht einmal mehr ans Fenster. Ich glaube, man wird mir nie verzeihen. Eine Vertrauensperson hat mir versprochen, Dir diesen Brief zu schicken. Ich nenne ihren Namen nicht, um sie nicht zu kompromittieren. Ich weiß nicht, ob Dich meine Worte erreichen werden. Aber wenn es so sein und Du Dich entschließen solltest, mich zu holen, wirst Du hier den Weg finden, es zu tun. Während ich schreibe, stelle ich mir Dich in diesem Zug vor, voller Träume und das Herz vom vermeintlichen Betrug gebrochen, vor allen und vor Dir selbst fliehend. Es gibt so vieles, was ich Dir nicht erzählen kann, Julián. Dinge, die wir nie gewußt haben und die Du besser nie erfährst.
Ich wünsche mir nichts sehnlicher auf der Welt, als daß Du glücklich bist, Julián, daß alles, was Du erstrebst, Wirklichkeit wird und daß Du, auch wenn Du mich mit der Zeit vergißt, eines Tages verstehen kannst, wie sehr ich Dich geliebt habe.
Auf immer Penélope
4
Penélope Aldayas Worte, die ich in dieser Nacht wieder und wieder las, bis ich sie auswendig konnte, brachten den üblen Nachgeschmack schlagartig zum Verschwinden, den Inspektor Fumeros Besuch hinterlassen hatte. Nachdem ich, versunken in den Brief und die Stimme, die ich darin zu spüren meinte, für den Rest der Nacht kein Auge mehr zugetan hatte, zog ich mich leise an, legte meinem Vater eine Notiz auf die Kommode in der Diele, ich müsse einige Besorgungen erledigen und sei um halb zehn zurück in der Buchhandlung, und verließ im Morgengrauen das Haus. Als ich aus dem Eingang trat, lag auf den Straßen noch eine bläuliche Schicht aus Pfützen und Spiegelungen, die der nächtliche Nieselregen hinterlassen hatte. Ich knöpfte die Jacke bis zum Hals hinauf zu und machte mich beschwingt auf den Weg zur Plaza de Cataluña. Aus dem Treppenschacht der U-Bahn strömte lauer, kupfern schimmernder Dampf. An einem Schalter kaufte ich eine Fahrkarte zur Haltestelle Tibidabo. Der Waggon war gut besetzt von Amtsdienern, Hausangestellten und Tagelöhnern mit in Zeitungspapier gehüllten belegten Broten, so groß wie Ziegelsteine. Ich lehnte den Kopf mit halb geschlossenen Augen an die Fensterscheibe, während die Bahn durch die dunklen Eingeweide der Stadt zum Fuß des Tibidabo hinauffuhr. Als ich wieder auf die Straße trat, glaubte ich, ein anderes Barcelona zu entdecken. Es dämmerte, und ein Purpurstreifen teilte die Wolken und bestrich die Fassaden der kleinen Paläste und herrschaftlichen Häuser beiderseits der Avenida del Tibidabo. Träge kroch die Blaue Straßenbahn zwischen Dünsten bergauf. Ich rannte hinter ihr her und konnte mich unter dem gestrengen Blick des Schaffners gerade noch auf die hintere Plattform schwingen. Der mit Holz ausgekleidete Fahrgastraum war beinahe leer; nur zwei Mönche und eine Dame in Trauer mit aschfarbener Haut wiegten sich dösend im Hin und Her des wie von unsichtbaren Pferden gezogenen Wagens.
»Ich fahre nur bis Nummer zweiunddreißig«, sagte ich zum
Schaffner mit meinem gewinnendsten Lächeln.
»Sie können ebensogut bis Finisterre fahren«, antwortete er
gleichgültig. »Hier haben sogar diese beiden Soldaten Christi
bezahlt. Fahrkarte kaufen oder hinterherlaufen. Den Reim gibt’s
umsonst.«
Das Mönchsduo, in Sandalen und braunem Franziskanerhabit, nickte
und wies bekräftigend je eine rosa Fahrkarte vor.
»Dann steige ich aus«, sagte ich. »Ich habe kein Kleingeld bei
mir.«
»Wie es Ihnen beliebt. Aber warten Sie bis zur nächsten
Haltestelle, ich will keine Unfälle.«
Im Schrittempo fuhr die Trambahn die Baumallee bergan, und man sah
über die Mauern hinweg schloßähnliche Villen in Gärten liegen, die
ich mir voller Statuen, Brunnen, Stallungen und verschwiegener
Kapellen vorstellte. Ich stand auf der einen Seite der Plattform
und erkannte zwischen den Bäumen die Silhouette des Turms von El
Frare Blanc. Als sich die Bahn der Ecke Román Macaya näherte,
verlangsamte sie ihre Fahrt, bis sie beinahe ganz zum Stehen kam.
Der Fahrer betätigte die Klingel, und der Schaffner schaute mich
tadelnd an.
»Los, Sie Schlaumeier, beeilen Sie sich, da haben Sie Ihre Nummer
zweiunddreißig.«
Ich sprang ab und hörte das Rattern der Straßenbahn im Dunst
verklingen. Der Wohnsitz der Familie Aldaya lag auf der andern
Seite der Kreuzung. Ein schmiedeeisernes Portal voller Efeu und
Laub bewachte ihn. In die dicken Eisenstäbe eingelassen erriet man
ein fest verriegeltes Türchen. Schwarze Eisenschlangen auf dem
Gitter bildeten die Nummer zweiunddreißig. Ich versuchte
hineinzusehen, aber man erkannte kaum einen finsteren Turm. Eine
Rostspur rann aus dem Schlüsselloch des Türchens. Ich kniete nieder
und versuchte auf diese Weise, in den Hof hineinzusehen. Aber als
einziges erspähte ich büschelweise wilde Kräuter und die Umrisse
von etwas, was mir wie ein Brunnen oder ein Teich erschien, aus dem
eine ausgestreckte Hand zum Himmel emporzeigte. Erst nach einigen
Augenblicken begriff ich, daß es eine Hand aus Stein war und daß es
im Brunnen verborgen noch mehr Gliedmaßen und Formen gab, die ich
nicht sehen konnte. Noch weiter entfernt erahnte man zwischen den
Unkrautschleiern hindurch eine zersprungene, schutt- und
laubbedeckte Marmortreppe. Glück und Glanz der Aldayas hatten sich
vor langer Zeit gewendet. Dieser Ort war ein Grab.
Ich trat ein paar Schritte zurück und ging um die Ecke, um einen
Blick auf den Südflügel des Hauses zu werfen. Von hier aus sah man
den einen Turm des kleinen Palastes deutlicher. In diesem Moment
erblickte ich aus dem Augenwinkel die Gestalt eines hungrig
aussehenden Mannes in blauem Arbeitskittel, der mit einem groben
Besen das Laub auf dem Bürgersteig aufscheuchte. Er beobachtete
mich ein wenig argwöhnisch, und ich vermutete in ihm den Pförtner
eines der angrenzenden Anwesen. Ich lächelte ihm zu, wie es nur
jemand kann, der viele Stunden hinter einem Ladentisch verbracht
hat.
»Einen schönen guten Morgen«, sagte ich herzlich. »Wissen Sie, ob
das Haus der Aldayas schon lange verschlossen ist?«
Das Männchen schaute mich an, als hätte ich eine Frage zur
Quadratur des Kreises gestellt. Er nahm das Kinn in seine gelben
Finger, die eine Schwäche für Celtas ohne Filter verrieten. Leider
hatte ich keine Zigaretten bei mir, um mich bei ihm
einzuschmeicheln, und so wühlte ich in den Taschen, um ihn mir mit
etwas anderem geneigt zu machen.
»Mindestens zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre, und so soll es auch
bleiben«, sagte der Pförtner in dem gequetschten, fügsamen Ton von
Leuten, die zum Dienen geprügelt worden sind.
»Sind Sie schon lange hier?«
Er nickte.
»Ich bin hier bei den Herrschaften Miravell seit Anno 20
angestellt.«
»Sie haben nicht vielleicht eine Ahnung, was aus der Familie Aldaya
geworden ist, oder?«
»Nun, Sie wissen ja wohl, daß sie in der Zeit der Republik viel
Geld verloren haben. Wer Zwietracht sät … Das wenige, das ich weiß,
habe ich bei den Herrschaften Miravell aufgeschnappt, die früher
mit der Familie befreundet waren. Ich glaube, der ältere Sohn,
Jorge, ist ins Ausland gegangen, nach Argentinien. Offenbar hatten
sie dort Fabriken. Leute mit sehr viel Geld. Die fallen immer
wieder auf die Füße. Sie haben nicht vielleicht ein
Zigarettchen?«
»Tut mir leid, aber ich kann Ihnen ein Zitronenbonbon anbieten, das
erwiesenermaßen genausoviel Nikotin hat wie eine Montecristo und
dazu eine Unmenge Vitamine.«
Ungläubig runzelte der Pförtner die Stirn, aber er nickte. Ich
reichte ihm das Zitronenbonbon, das mir Fermín vor einer Ewigkeit
gegeben und das ich im Futter meiner Tasche entdeckt hatte. Ich
hoffte, es wäre noch nicht verdorben.
»Schmeckt gut«, urteilte der Pförtner, während er nach Kräften an
dem gummigen Bonbon lutschte.
»Sie kauen den Stolz der nationalen Süßwarenindustrie. Der
Generalissimus schluckt sie wie Zuckermandeln. Und sagen Sie, haben
Sie je von der Aldaya-Tochter gehört, von Penélope?«
Er stützte sich auf den Besen.
»Ich glaube, Sie irren sich. Die Aldayas hatten keine Töchter. Es
waren alles Jungen.«
»Sind Sie da sicher? Ich weiß, daß damals, im Jahr 19, in diesem
Haus ein junges Mädchen namens Penélope Aldaya gewohnt hat,
wahrscheinlich die Schwester dieses Jorge.«
»Könnte schon sein, aber ich sag Ihnen ja, ich bin erst seit Anno
20 da.«
»Und wem gehört das Haus jetzt?«
»Soviel ich weiß, ist es noch zum Verkauf ausgeschrieben, obwohl
man davon gesprochen hat, es abzureißen und eine Schule
hinzusetzen. Das ist das Beste, was man tun kann, ehrlich. Es bis
auf die Grundmauern niederreißen.«
»Warum meinen Sie?«
Er schaute mich vertraulich an. Als er lächelte, sah ich, daß ihm
oben mindestens vier Zähne fehlten.
»Diese Leute, die Aldayas. Die waren nicht ganz koscher, Sie wissen
ja, was man so sagt.«
»Ich fürchte nein. Was sagt man denn so?«
»Sie wissen ja. Die Gerüchte und so. Ich glaube natürlich nicht an
diese Märchen, nicht wahr, aber da drin soll sich mehr als einer in
die Hosen gemacht haben.«
»Sie wollen mir ja wohl nicht weismachen, in dem Haus spukt’s.«
»Lachen Sie nur. Aber an jedem Gerücht ist was Wahres.«
»Haben Sie denn etwas gesehen?«
»Wirklich gesehen nicht. Aber gehört.«
»Gehört? Was denn?«
»Sehen Sie, einmal, vor Jahren, eines Nachts, als ich den Joanet
begleitet habe, weil er doch darauf beharrt hat, verstehen Sie, ich
hatte da ja nichts verloren … Ja, wie ich sagte, da hab ich was
Merkwürdiges gehört. Wie ein Weinen.«
Er imitierte das Geräusch. Es kam mir vor wie die Litanei eines
Schwindsüchtigen, der ein Volksliedchen trällert.
»Das wird der Wind gewesen sein.«
»Wahrscheinlich, aber mir sind die Haare zu Berge gestanden,
ehrlich. Hören Sie, Sie haben nicht vielleicht noch so ein kleines
Lutscherchen, wie?«
»Wenn ich Ihnen eine Salmiakpastille anbieten darf – sie wirken
stärkend nach dem Süßen.«
»Her damit.« Der Pförtner hielt mir die offene Hand entgegen.
Ich gab ihm die ganze Schachtel. Die Lakritze schien ihm die Zunge
noch ein wenig mehr für diese saftige Geschichte der Aldaya-Villa
zu schmieren.
»Ganz unter uns, da gibt es ’ne Menge zu erzählen. Einmal, da hat
der Joanet, der Sohn von Señor Miravell, der ein Brocken ist,
zweimal so groß wie Sie – ich brauch Ihnen nur zu sagen, daß er in
der HandballNationalmannschaft ist … Also einige Kumpel von
Señorito Joanet hatten von dem Aldaya-Haus gehört und ihn
breitgeschlagen. Und er mich, damit ich mit ihm gehe – zwar viel
Geschwätz, aber dann doch kein Mumm, um allein hineinzugehen. Sie
wissen ja, verwöhnte Söhnchen. Er wollte unbedingt in der Nacht da
rein, um sich bei der Freundin als Held aufzuspielen, und fast
hätte er in die Hose gepinkelt. Jetzt sehen Sie es ja bei Tag, aber
nachts ist das ein ganz anderes Haus, verstehen Sie? Jedenfalls
sagt der Joanet, er ist in den zweiten Stock hinaufgegangen, ich
habe mich nämlich geweigert, da reinzugehen, nicht wahr, so was ist
ja bestimmt nicht erlaubt, obwohl das Haus damals sicher schon zehn
Jahre leer gestanden hat, und da sagt er, da ist was. Er hat so was
wie eine Stimme in einem Zimmer zu hören geglaubt, und als er rein
wollte, ist ihm die Tür vor der Nase zugefallen. Wie finden Sie
das?«
»Ich finde, das war ein Luftzug.«
»Oder ein Zug von was anderem«, sagte er und senkte die Stimme.
»Neulich haben sie es im Radio gesagt: Die Welt ist voller
Geheimnisse. Stellen Sie sich vor, jetzt haben sie offenbar das
echte Schweißtuch Christi hier bei uns in Sardanyola gefunden. Es
war auf die Leinwand eines Kinos genäht, um es vor den Arabern zu
verstecken, die wollten es, damit sie sagen konnten, Jesus Christus
wäre schwarz gewesen. Wie finden Sie das?«
»Mir fehlen die Worte.«
»Ich sag’s ja. Viele Geheimnisse. Dieses Haus müßte abgerissen und
dann Kalk aufs Gelände gestreut werden.«
Ich bedankte mich bei dem Alten für die Auskunft und begann die
Avenida nach San Gervasio zurückzugehen. Als ich aufschaute, sah
ich, wie der Tibidabo-Hügel zwischen Gazewolken erwachte. Auf
einmal wäre ich am liebsten zur Zahnradbahn gegangen, um zum alten
Rummelplatz hinaufzufahren und mich zwischen den Karussells und
Automatensalons zu verirren, aber ich hatte versprochen,
rechtzeitig in der Buchhandlung zu sein. Auf dem Rückweg zum
U-Bahnhof stellte ich mir vor, wie Julián Carax dieselben
feierlichen Fassaden bestaunte, die sich seit damals kaum verändert
hatten mit ihren Treppen und Statuen, und wie er vielleicht auf die
Blaue Straßenbahn gewartet hatte, die jetzt gleichsam auf
Zehenspitzen zum Himmel hinauffuhr.
5
Wieder zu Hause, sah ich, daß Fermín oder mein Vater die Buchhandlung schon geöffnet hatte. Ich ging auf einen Sprung in die Wohnung hinauf, um etwas zu essen. Mein Vater hatte mir Toastscheiben, Marmelade und eine Thermoskanne Kaffee auf dem Eßtisch bereitgestellt. Ich griff tüchtig zu und war in weniger als zehn Minuten wieder unten. Ich betrat den Laden von der Eingangshalle des Hauses aus durch den Hinterraum, wo ich den Kittel aus meinem Schrank nahm, mit dem ich die Kleider vor dem Staub von Kisten und Regalen zu schützen pflegte. Hinten im Schrank verwahrte ich eine noch immer nach Camprodón-Keksen riechende Blechdose mit allerlei unnützem Kram, von dem ich mich nicht trennen konnte: unrettbar beschädigte Uhren und Federhalter, alte Münzen, verblaßte Miniaturen, Murmeln, im Park des Labyrinths gefundene Patronenhülsen und alte Postkarten vom Barcelona der Jahrhundertwende. Mitten darin lag der Zeitungsfetzen, auf den mir Isaac Monfort in der Nacht, in der ich den Friedhof der Vergessenen Bücher aufgesucht hatte, um Der Schatten des Windes zu verstecken, die Adresse seiner Tochter Nuria geschrieben hatte. Ich steckte ihn in meinen Geldbeutel und schloß die Dose.
Mit einem »Guten Morgen« trat ich in den Laden. Fermín war mit
dem Sortieren mehrerer Kisten befaßt, die von einem Sammler aus
Salamanca gekommen waren, und mein Vater mühte sich damit ab, einen
deutschen Katalog von Luther-Schriften zu entziffern.
»Und einen noch besseren Nachmittag«, trällerte Fermín in
Anspielung auf mein Rendezvous mit Bea.
Ich tat ihm nicht den Gefallen zu antworten, sondern machte mich an
die allmonatliche Unannehmlichkeit, die Buchhaltung à jour zu
bringen, Quittungen und Lieferscheine, Außenstände und Zahlungen
gegeneinanderzuhalten. Das Radio beglückte unsere monotone Arbeit
mit ausgewählten Momenten der Karriere von Antonio Machín, der
damals sehr in Mode war. Meinem Vater gingen die karibischen
Rhythmen ein wenig auf die Nerven, aber er nahm sie hin, weil sie
Fermín an sein ersehntes Kuba erinnerten. Die Szene wiederholte
sich Woche für Woche: Mein Vater stellte sich taub, und Fermín gab
sich in unruhigen Bewegungen dem Takt der Habanera hin und füllte
die Werbepausen mit Anekdoten seiner Abenteuer in Havanna. Die
Ladentür stand offen, und ein süßer Duft nach frisch gebackenem
Brot und Kaffee drang herein. Nach einer Weile blieb unsere
Nachbarin Merceditas, die vom Einkaufen auf dem Boquería-Markt
zurückkam, vor unserem Schaufenster stehen und schaute zur Tür
herein.
»Morgen, Señor Sempere«, flötete sie.
Errötend lächelte ihr mein Vater zu. Ich hatte immer den Eindruck, die Merceditas gefiel ihm, aber sein Kartäuserethos erlegte ihm eisernes Schweigen auf. Fermín betrachtete sie aus dem Augenwinkel und verfolgte das sanfte Wiegen ihrer Hüften, als wäre eben ein Baiser zur Tür hereingekommen. Die Merceditas griff in eine Papiertüte und beschenkte uns mit drei glänzenden Äpfeln. Ich stellte mir vor, daß sie noch immer daran dachte, in der Buchhandlung zu arbeiten, und ihre Antipathie gegen Fermín, den Eindringling, nur mit Mühe verbergen konnte.
»Schauen Sie, wie schön. Ich habe sie gesehen und gedacht: Die sind für die Herrschaften Sempere«, sagte sie in affektiertem Ton. »Ich weiß doch, daß Sie als Intellektuelle Äpfel mögen, wie Isaac New York.«
»Isaac Newton, mein Herzchen«, präzisierte Fermín emsig.
Die Merceditas warf ihm einen tödlichen Blick zu.
»Sieh an, der Klugscheißer. Seien Sie dankbar, daß ich Ihnen
ebenfalls einen Apfel mitgebracht habe und nicht eine bittere
Pampelmuse, wie Sie sie verdient haben.«
»Aber meine Liebe, wo mir doch die Spende, die ich aus Ihren
jungfräulichen Händen in Form dieses Apfels empfange, der Frucht
der Erbsünde, das Hautgeflecht entflammt …«
»Fermín, ich bitte Sie«, schnitt ihm mein Vater das Wort ab.
»Jawohl, Señor Sempere.«
Die Merceditas wollte eben zu einer Antwort ansetzen, als von der
Straße empörtes Gezeter hereindrang. Wir verstummten
erwartungsvoll. Vorsichtig streckte die Merceditas den Kopf zur Tür
hinaus. Wir sahen mehrere Händler mit aufgeregtem Kopfschütteln
vorbeigehen. Gleich darauf erschien Don Anacleto Olmo, Nachbar und
offiziöser Sprecher der Königlichen Akademie der Sprache in unserem
Haus. Er war Gymnasiallehrer, hatte spanische Literatur und alte
Sprachen studiert und teilte seine Wohnung im zweiten Stock mit
sieben Katzen. In den nicht von seiner Lehrtätigkeit beanspruchten
Stunden betätigte er sich als Kolumnist eines angesehenen
Zeitungsverlages und dichtete, wie man munkelte, alterserotische
Verse, die er unter dem Pseudonym Raúl de Kock publizierte. Im
persönlichen Umgang war Don Anacleto ein leutseliger Mann, in der
Öffentlichkeit jedoch fühlte er sich verpflichtet, die Rolle des
Rhapsoden zu spielen, und befleißigte sich einer hochbarocken
Ausdrucksweise.
An diesem Morgen kam er mit kummerpurpurnem Gesicht daher, und
seine Hände am Elfenbeinstock zitterten ein wenig. Neugierig
starrten wir ihn alle vier an.
»Was ist denn, Don Anacleto?« fragte mein Vater.
»Franco ist gestorben, sagen Sie schon ja«, bemerkte Fermín
hoffnungsfroh.
»Halten Sie den Mund, Sie roher Mensch«, herrschte ihn die
Merceditas an, »und lassen Sie den Herrn Doktor sprechen.«
Don Anacleto holte tief Atem, und nachdem er wieder zu seinem
gesetzten Wesen gefunden hatte, erstattete er uns Bericht.
»Meine Freunde, das Leben ist ein Drama, und selbst den erhabensten
Geschöpfen des Herrn bleibt es nicht erspart, die Bitterkeit eines
launigen Schicksals zu kosten. Gestern abend, nach Mitternacht
bereits, ist unser geschätzter Nachbar Don Federico Flaviá i
Pujades von den staatlichen Sicherheitskräften inhaftiert
worden.«
Ich spürte, wie mir das Herz in die Hose rutschte.
»Jesus, Maria und Josef«, sagte die Merceditas.
Fermín schnaubte enttäuscht – offensichtlich erfreute sich das
Staatsoberhaupt nach wie vor einer ausgezeichneten Gesundheit. Don
Anacleto holte abermals Luft und fuhr fort:
»Anscheinend haben, nach einer Schilderung aus glaubhafter Quelle,
zwei Mitglieder der Kriminalpolizei in Zivil gestern kurz nach
Mitternacht Don Federico dabei ertappt, wie er als Matrone
verkleidet auf der Bühne einer Kaschemme in der Calle Escudellers
vor einem offenbar aus Geistesschwachen bestehenden Publikum
Couplets mit pikantem Text intonierte. Diese elenden Geschöpfe, die
am selben Abend aus dem Armenhaus eines religiösen Ordens entwischt
waren, hatten sich im Taumel des Spektakels die Hose
heruntergelassen, um schamlos und händeklatschend mit
aufgerichtetem Nachtschattengewächs und geiferndem Maul zu
schwofen.«
Bei dieser schlüpfrigen Wendung, die die Schilderung genommen
hatte, bekreuzigte sich die Merceditas erschrocken.
»Als die Mütter von einigen der armen Geschöpfe benachrichtigt
wurden, haben sie Anzeige wegen Verstoßes gegen die elementarste
Moral erstattet. Sogleich bekam die Presse Wind von dem gefundenen
Fressen, und die Zeitung El Caso berichtet in ihrer heutigen
Ausgabe von dem Ereignis, das sie als dantesk und schaudererregend
bezeichnet.«
»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte mein Vater. »Wo es schon so
ausgesehen hat, als hätte Don Federico aus seinen Erfahrungen
gelernt.«
Don Anacleto nickte pastoral.
»Ja, aber noch haben Sie das Schlimmste nicht gehört. Anscheinend
ist der Uhrmacher schon zweimal unter ähnlichen Umständen
festgenommen worden, wie in den Annalen des Kriminalgeschehens von
den Ordnungshütern festgehalten ist.«
»Sagen Sie eher, von den Bösewichten mit Erkennungsmarke«,
schnauzte Fermín.
»In die Politik mische ich mich nicht ein. Aber ich kann Ihnen
sagen, daß die beiden Polizisten den armen Don Federico von der
Bühne heruntergeprügelt und aufs Revier in der Vía Layetana
mitgenommen haben. Unter andern Umständen wäre es mit ein wenig
Glück bei einem Scherz und vielleicht zwei Ohrfeigen geblieben,
aber unglücklicherweise war es so, daß gestern abend der berühmte
Inspektor Fumero Dienst hatte.«
»Fumero«, stöhnte Fermín, den die bloße Erwähnung des Inspektors
erschauern ließ.
»Höchstpersönlich. Wie ich sagte, wurde dieser Ordnungshüter von
der verängstigten Mutter eines der auf Abwege gebrachten Burschen
aus dem Armenhaus über die Ereignisse informiert. Er gab dem
diensttuenden Sergeanten zu verstehen, eine solche Schweinerei
verdiene die höchste Strafe und was dem Uhrmacher, also Don
Federico Flaviá i Pujades, zustehe, sei eine Nacht im
Gemeinschaftsgefängnis im untersten Kellergeschoß des
Polizeireviers.«
An diesem Punkt begann Don Anacleto, ein kurzes, aber herzliches
Porträt vom Charakter des Opfers zu zeichnen, obwohl es allen
bestens bekannt war.
»Ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, daß Señor Flaviá i
Pujades mit einer schwachen, zartfühlenden Persönlichkeit gesegnet
ist, ganz Güte und christliche Frömmigkeit. Wenn sich eine Fliege
in die Uhrmacherei verirrt, klatscht er sie nicht mit seinem
Hanfschuh zu Tode, sondern öffnet Tür und Fenster sperrangelweit,
damit die Zugluft dieses Geschöpf des Herrn in dessen freie Natur
zurückträgt. Leider hat Don Federico zeit seines Lebens mit einem
unheilvollen Hang zum Laster zusammenleben müssen, das ihn in ganz
seltenen Fällen übermannt und als Weibsperson verkleidet auf die
Straße hinausgespült hat. Sein Geschick, von der Armbanduhr bis zur
Nähmaschine alles zu reparieren, ist immer sprichwörtlich gewesen
und seine Person von allen geschätzt worden, die wir ihn gekannt
und in seinem Geschäft verkehrt haben, selbst von denen, die mit
seinen gelegentlichen nächtlichen Eskapaden mit Perücke, Zierkamm
und getupftem Kleid nicht einverstanden waren.«
»Sie sprechen, als wäre er tot«, sagte Fermín konsterniert.
»Tot nicht, Gott sei Dank.«
Ich seufzte erleichtert auf. Don Federico wohnte bei seiner
achtzigjährigen, stocktauben Mutter, die im Viertel als die
Pepita bekannt und für ihre orkanartigen Winde berühmt war.
»Die Pepita dürfte sich kaum vorgestellt haben«, fuhr der Dozent
fort, »daß ihr Federico die Nacht in einer schmutzigen Zelle
verbracht hatte, wo ein Chor von Luden und Messerstechern sich um
ihn riß und ihm danach eine Mordstracht Prügel verpaßte.«
Grabesstille legte sich über uns. Die Merceditas schluchzte. Fermín
wollte ihr zum Trost zärtlich den Arm umlegen, doch mit einem
Sprung riß sie sich los.
»Stellen Sie sich das Bild vor«, schloß Don Anacleto.
Der Epilog der Geschichte machte nichts besser. Gegen zehn Uhr
vormittags hatte ein grauer Lieferwagen des Polizeipräsidiums Don
Federico vor seiner Haustür liegenlassen. Er war blutüberströmt,
das Kleid hing ihm in Fetzen vom Leib, seine Perücke und die ganzen
Klunker waren verschwunden. Man hatte ihn angepißt, und sein
Gesicht war mit Quetschungen und Schnitten übersät. Der Sohn der
Bäckerin hatte ihn gefunden, ein Häufchen Elend, das zitternd im
Hauseingang kauerte.
»Das gibt es doch nicht, mein Gott«, sagte die Merceditas in der
Tür der Buchhandlung, in weiser Entfernung von Fermíns Händen. »Der
arme Kerl, wo er doch ein so herzensguter Mensch ist, der sich mit
keinem anlegt. Und wenn er sich gern als Pharaonin verkleidet und
singen geht? Was ist denn schon dabei? Die Menschen sind einfach
böse.«
Don Anacleto schwieg und schaute zu Boden.
»Böse nicht«, entgegnete Fermín. »Schwachsinnig, was nicht dasselbe
ist. Das Böse setzt moralische Entschlossenheit voraus. Der
Schwachkopf dagegen hält sich nicht mit Nachdenken auf, sondern
handelt instinktiv. Was die Welt braucht, sind mehr wirklich böse
Menschen und weniger beschränkte Holzköpfe.«
»Reden Sie doch keinen Unsinn. Was es braucht, ist ein wenig mehr
christliche Nächstenliebe und weniger Fiesheit, das ist ja ein Land
von Schurken«, sagte die Merceditas. »Immer schön zur Messe gehen –
aber von unserem Herrn Jesus Christus nimmt hier nicht mal Gott
Notiz.«
»Na, streitet euch nicht«, unterbrach mein Vater die beiden.
»Und Sie, Fermín, gehen Sie jetzt zu Don Federico und schauen Sie
nach, ob er was braucht, aus der Apotheke oder vom Markt.«
»Jawohl, Señor Sempere. Auf der Stelle. Sie wissen ja, mich bringt
mein Mundwerk noch unter den Boden.«
»Was Sie zugrunde richtet, ist Ihre Schamlosigkeit und
Respektlosigkeit«, sagte die Merceditas. »Gotteslästerer. Man
sollte Ihnen die Seele mit Salmiak putzen.«
»Schauen Sie, Merceditas, ich weiß ja, daß Sie ein guter Mensch
sind, und im Augenblick gibt’s im Viertel einen sozialen Notfall,
wo man Prioritäten setzen muß, aber sonst würd ich Ihnen zwei, drei
Kardinalpunkte erläutern.«
»Fermín!« rief mein Vater.
Fermín schloß den Schnabel und huschte zur Tür hinaus. Mißbilligend
schaute ihm die Merceditas nach.
»Dieser Mensch wird Sie eines Tages noch ganz schön in
Schwierigkeiten bringen, denken Sie an mich. Der ist mindestens
Anarchist, Freimaurer oder sogar Jude. Mit diesem Zinken im Gesicht
…«
Wir sahen sie kerzengerade und mit klopfenden Absätzen davongehen.
Mein Vater holte tief Luft, als wollte er den wiedergewonnenen
Frieden einatmen. Neben ihm stand mit herbstlich traurigem Blick
Don Anacleto, dessen Gesicht immer weißer geworden war.
»Dieses Land ist in die Binsen gegangen«, sagte er erstaunlich
unrhetorisch.
»Na los, Kopf hoch, Don Anacleto. Sie werden schon sehen, wie Don
Federico wieder auf die Füße kommt, der ist robuster, als wir alle
glauben.«
Der Lehrer schüttelte den Kopf.
»Das ist wie die Gezeiten, wissen Sie«, sagte er. »Die Barbarei,
meine ich. Sie zieht ab, und man hält sich für gerettet, aber sie
kommt immer wieder zurück, sie kommt immer wieder zurück.«
Wir nickten artig. Er verabschiedete sich und ging bedrückt davon.
Mein Vater und ich schauten uns kurz an und wußten nicht, was
sagen. Ich fragte mich, ob ich ihm von Inspektor Fumeros Besuch in
der Buchhandlung berichten sollte. Das ist eine Warnung gewesen,
dachte ich, Fumero hat den armen Don Federico als abschreckendes
Beispiel benutzt.
»Ist was, Daniel? Du bist ja ganz weiß.«
Ich seufzte und erzählte ihm dann den Zwischenfall mit Inspektor
Fumero von neulich abends, seine Anspielungen. Beim Zuhören
schluckte mein Vater die Wut hinunter.
»Es ist meine Schuld«, sagte ich. »Ich hätte etwas sagen sollen
…«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, du hast es nicht wissen können, Daniel.« »Aber …«
»Das darfst du nicht einmal denken. Und kein Wort davon zu Fermín.
Weiß Gott, wie er reagieren würde, wenn er erführe, daß dieser Kerl
wieder hinter ihm her ist.«
»Aber irgend etwas werden wir unternehmen müssen.«
»Schauen, daß er sich möglichst in keine Schwierigkeiten
bringt.«
Ich nickte, nicht sehr überzeugt, und schickte mich an, die von
Fermín begonnene Arbeit weiterzuführen, während mein Vater zu
seinem Luther-Katalog zurückkehrte. Ab und zu warf er mir einen
schrägen Blick zu. Ich tat, als bemerkte ich es nicht.
»Wie war’s denn gestern mit Professor Velázquez? Alles
gutgegangen?« fragte er, um endlich das Thema zu wechseln.
»Ja. Er hat sich über die Bücher gefreut. Er hat gesagt, er sucht
ein Buch mit Franco-Briefen.«
»Die Jugendbriefe aus Ceuta. Was hast du ihm denn
gesagt?«
»Daß wir schon dran sind und ihm in höchstens zwei Wochen Bescheid
geben.«
»Sehr gut. Wir werden Fermín darauf hetzen und es uns von Velázquez
vergolden lassen.«
Wir arbeiteten weiter, als wäre es reine Routine. Mein Vater
schaute mich noch immer an. Gleich kommt’s, dachte ich.
»Gestern ist ein sehr sympathisches junges Mädchen hiergewesen.
Fermín sagt, es ist die Schwester von Tomás Aguilar?«
»Ja.«
Mein Vater wog den Zufall mit einem Na-da-schau-herGesicht ab und
gab mir eine Minute Waffenruhe, bevor er wieder zum Angriff
überging, diesmal so, als wäre ihm plötzlich etwas in den Sinn
gekommen.
Ȇbrigens, Daniel: Heute wird hier nicht viel los sein, und ich
denke, vielleicht möchtest du dir den Tag frei nehmen. Außerdem
habe ich in letzter Zeit das Gefühl, du arbeitest zuviel.«
»Es geht mir gut, danke.«
»Schau, ich hab sogar daran gedacht, Fermín hierzulassen und mit
Barceló ins Liceo zu gehen. Heute nachmittag wird Tannhäuser
gegeben, und er hat mich eingeladen – er hat mehrere
Parkettplätze.«
Mein Vater tat so, als wäre er in seinen Katalog vertieft. Er war
ein miserabler Schauspieler.
»Seit wann magst du denn Wagner?«
Er zuckte die Schultern.
»Einem geschenkten Gaul … Außerdem ist es mit Barceló egal, was für
eine Oper gegeben wird, er kommentiert während der ganzen
Vorstellung das Spiel und kritisiert die Kostüme und das Tempo. Er
erkundigt sich oft nach dir. Vielleicht besuchst du ihn mal in
seinem Laden.«
»Irgendwann in den nächsten Tagen.«
»Also, wenn du einverstanden bist, überlassen wir das Ruder heute
Fermín und amüsieren uns ein wenig, es ist fällig. Und wenn du
etwas Geld brauchst …«
»Papa, Bea ist nicht meine Freundin.«
»Wer spricht denn da von Freundinnen? Wie gesagt, ganz wie du
willst. Wenn du was brauchst, nimm’s dir aus der Kasse, aber
hinterlass eine Notiz, damit Fermín keinen Schrecken kriegt, wenn
er Kasse macht.«
Danach spielte er den Zerstreuten und verlor sich mit einem breiten
Lächeln im Hinterzimmer. Ich schaute auf die Uhr. Halb elf Uhr
vormittags. Um fünf war ich mit Bea im Kreuzgang der Uni
verabredet, und sehr zu meinem Leidwesen zeichnete sich ab, daß mir
der Tag endlos lang würde.
Kurze Zeit später kam Fermín von der Wohnung des Uhrmachers zurück
und teilte uns mit, ein Kommando von Nachbarinnen habe eine
Dauerwache aufgestellt und pflege den armen Don Federico, bei dem
der Arzt drei gebrochene Rippen, mehrfache Prellungen und einen
Rektalriß wie aus dem Lehrbuch diagnostiziert habe.
»Hatten Sie irgendwelche Auslagen?« fragte mein Vater.
»Ich habe mir erlaubt, ihm ein paar Blumen, ein
NenucoKölnisch-Wasser und drei Fläschchen Pfirsich-Fruco zu
bringen, das schmeckt ihm am besten.«
»Gut. Und er selbst, wie geht es ihm?«
»Beschissen, wozu es leugnen. Allein wenn ich ihn so sehe, wie er
im Bett zusammengeknäuelt daliegt und wimmert, er will sterben,
überfällt mich die Lust zu morden, das glauben Sie gar nicht. Am
liebsten würde ich mich auf der Stelle bis an die Zähne bewaffnet
bei der Kripo aufbauen und ein halbes Dutzend dieser Arschlöcher
mit dem Stutzen umlegen, angefangen bei dieser Eiterpustel von
Fumero.«
»Immer mit der Ruhe, Fermín. Ich verbiete Ihnen strikt, irgend
etwas zu unternehmen.«
»Zu Befehl, Señor Sempere.«
»Und die Pepita, wie hat sie es aufgenommen?«
»Mit beispielhafter Geistesgegenwart. Die Nachbarinnen haben sie
mit der Brandyflasche behandelt, und als ich sie zu sehen bekam,
war sie schon ganz wehrlos und benommen aufs Sofa gekippt, wo sie
geschnarcht hat wie ein Eber und Fürze von sich gegeben, daß die
Lampe wackelt.«
»Wie sie leibt und lebt. Fermín, ich möchte Sie bitten, heute im
Laden zu bleiben, ich werde eine Weile zu Don Federico gehen.
Danach bin ich mit Barceló verabredet. Und Daniel hat auch einiges
zu erledigen.«
Ich schaute eben rechtzeitig auf, um Fermín und meinen Vater dabei
zu ertappen, wie sie einen einvernehmlichen Blick wechselten.
»Ihr seid mir zwei schöne Kuppler«, sagte ich.
Sie lachten immer noch über mich, als ich stinksauer zur Tür
hinausging.
Durch die Straßen fegte eine kalte, schneidende Brise; eine stahlgraue Sonne beschien den Horizont der Dächer und Glockentürme im Gotischen Viertel. Es dauerte noch mehrere Stunden bis zu meinem Rendezvous mit Bea im Kreuzgang der Universität, und so beschloß ich, bei Nuria Monfort mein Glück zu versuchen, im Vertrauen darauf, daß sie noch unter der Adresse wohnte, die mir ihr Vater vor langer Zeit gegeben hatte.
Die hinter den alten römischen Stadtmauern versteckte Plaza de San Felipe Neri ist nur gerade ein Luftloch im Labyrinth der Sträßchen des Gotischen Viertels. Die Mauern der Kirche sind übersät mit Einschußlöchern des Maschinengewehrfeuers aus den Tagen des Krieges. An diesem Morgen spielte eine Gruppe kleiner Jungen Soldaten. Eine junge Frau, deren Haar von silbernen Strähnen durchzogen war, saß mit einem halb aufgeschlagenen Buch in den Händen auf einer Bank und ließ den Blick zwischen den Knaben hindurch ins Unbestimmte schweifen. Gemäß meinen Angaben wohnte Nuria Monfort in einem Hauseingangs des Platzes. Auf dem geschwärzten Steinbogen über dem Eingang konnte man noch das Baujahr lesen: 1801. Im dunklen Hausflur war eine Treppe zu erkennen, die spiralförmig hinanstieg. Ich betrachtete die wabenartigen Blechbriefkästen, deren Inhaber auf verblichenen Kartontäfelchen zu lesen waren.
Miquel Moliner / Nuria Monfort 3° 2a
Ich stieg ganz langsam hinauf, aus Angst, das Haus würde einstürzen, wenn ich auf diesen winzigen Puppenhausstufen fester aufträte. Auf jedem Absatz befanden sich zwei Türen ohne Nummer oder sonstiges Unterscheidungsmerkmal. Im dritten Stock angekommen, entschied ich mich aufs Geratewohl für die eine Tür und klopfte an. Das Treppenhaus roch feucht, nach altem Gemäuer. Ich klopfte mehrmals erfolglos. Da versuchte ich es bei der andern Tür, an die ich dreimal mit der Faust hämmerte, da aus dem Innern die Rundfunksendung Besinnliche Momente mit Pater Martín Calzado herausdröhnte.
Eine Frau in türkisblau wattiertem Karo-Hausmantel und Pantoffeln und unter einem Helm von Lockenwicklern öffnete mir die Tür. Im Dämmerlicht sah sie aus wie ein Taucher. Hinter ihr widmete Pater Martín Calzados inzwischen samtweiche Stimme einige Worte dem Sponsor des Programms, dem Kosmetikhersteller Aurorin, dessen Produkte von den Lourdes-Wallfahrern bevorzugt wurden und als wahres Wundermittel gegen Pusteln und rücksichtslose Wucherer galten.
»Guten Tag. Ich suche Señora Monfort.«
»Die Nurieta? Da haben Sie sich in der Tür geirrt, junger Mann. Das
ist gegenüber.«
»Verzeihen Sie, aber ich habe geklopft, und da war niemand.«
»Sie sind doch nicht etwa ein Gläubiger, oder?« fragte die
Nachbarin.
»Nein. Ich komme im Auftrag von Señora Monforts Vater.«
»Ah, gut. Die Nurieta ist unten und liest. Haben Sie sie nicht
gesehen, bevor sie raufgekommen sind?«
Wieder auf der Straße, stellte ich fest, daß die Frau mit den
silbernen Haaren und dem Buch in den Händen noch immer auf der Bank
saß. Ich betrachtete sie aufmerksam. Nuria Monfort war eine mehr
als attraktive Frau mit einem Gesicht für Schaufensterpuppen und
Studioaufnahmen, aber ihre Jugendlichkeit schien ihr durch den
Blick ins Unbestimmte zu entschwinden. In ihrer fragilen, wie
hingepinselten Figur hatte sie etwas von ihrem Vater. Zwar sah das
Gesicht im Zwielicht zehn Jahre jünger aus, aber auf Grund der
Silbersträhnen und der Züge, die sie älter machten, schätzte ich
sie auf etwas über vierzig.
»Señora Monfort?«
Sie schaute mich an, als erwachte sie zögernd aus einer Trance.
»Mein Name ist Daniel Sempere. Ihr Vater hat mir vor einiger Zeit
Ihre Adresse gegeben und mir gesagt, Sie könnten mir vielleicht
etwas über Julián Carax erzählen.«
Da schwand alle Verträumtheit aus ihrem Gesicht, und ich ahnte, daß
es keine gute Idee gewesen war, ihren Vater zu erwähnen.
»Was wollen Sie?« fragte sie argwöhnisch.
Ich spürte, daß ich meine Chance vertan hatte, wenn ich nicht auf
der Stelle ihr Vertrauen gewann. Die einzige Karte, die ich
ausspielen konnte, war, die Wahrheit zu sagen.
»Lassen Sie mich erklären. Vor acht Jahren habe ich mehr oder
weniger zufällig im Friedhof der Vergessenen Bücher einen Roman von
Julián Carax gefunden, den Sie dort versteckt hatten, damit ihn ein
Mann, der sich als Laín Coubert ausgibt, nicht vernichten
konnte.«
Sie starrte mich an, reglos, als fürchtete sie, die Welt um sie
herum bräche zusammen.
»Ich werde Ihnen nur ein paar wenige Minuten stehlen«, sagte ich
schnell. »Ich verspreche es Ihnen.«
Sie nickte niedergeschlagen.
»Wie geht es meinem Vater?« fragte sie, meinem Blick
ausweichend.
»Gut. Etwas älter mittlerweile. Er vermißt Sie sehr.«
»Sie kommen besser mit nach oben. Über diese Dinge mag ich nicht
auf der Straße sprechen.«
6
Nuria Monfort lebte in Schatten. Ein schmaler Gang führte in ein Eßzimmer, das zugleich Küche, Bibliothek und Büro war. Im Vorbeigehen erkannte ich ein schlichtes fensterloses Schlafzimmer. Der Rest der Wohnung bestand aus einem winzigen Bad ohne Dusche und Waschbecken, wo alle möglichen Gerüche hereindrangen, vom Küchendunst der Kneipe unten bis zum Gestank der bald hundertjährigen Leitungen. Die Wohnung lag in ewigem Halbdunkel, dazu ein zwischen bröckelnden Hausmauern hängender finsterer Balkon. Es roch nach schwarzem Tabak, nach Kälte und Entbehrung. Nuria Monfort beobachtete mich, und ich tat so, als bemerkte ich nicht, wie ärmlich ihre Wohnung war.
»Zum Lesen gehe ich auf die Straße hinunter, hier in der Wohnung gibt es kaum Licht«, sagte sie. »Mein Mann hat mir eine Schreibtischlampe versprochen, wenn er wieder nach Hause kommt.«
»Ist Ihr Mann auf Reisen?«
»Miquel ist im Gefängnis.«
»Entschuldigen Sie, ich wußte nicht …«
»Sie haben es ja auch nicht wissen können. Ich schäme mich nicht,
es zu sagen – mein Mann ist kein Verbrecher. Dieses letzte Mal
haben sie ihn mitgenommen, weil er für die
Metallarbeitergewerkschaft Flugblätter gedruckt hat. Das ist schon
zwei Jahre her. Die Nachbarn glauben, er ist in Amerika, auf
Reisen. Auch mein Vater weiß es nicht, und ich möchte nicht, daß er
es erfährt.«
»Seien Sie unbesorgt. Von mir wird er es nicht erfahren.«
Ein gespanntes Schweigen trat ein; vermutlich sah sie in mir
einen Spion von Isaac.
»Es ist bestimmt hart, die Wohnung allein zu tragen«, sagte ich
ungeschickt, um die Leere zu füllen.
»Es ist nicht leicht. Ich versuche es, so gut ich kann, mit
Übersetzungen, aber wenn man einen Mann im Gefängnis hat, reicht
das nicht weit. Die Anwälte haben mich bluten lassen, und ich
stecke bis zum Hals in Schulden. Übersetzen trägt fast so wenig ein
wie Schreiben.«
Sie schaute mich an, als erwarte sie eine Antwort. Ich lächelte
nur.
»Übersetzen Sie Bücher?«
»Nicht mehr. Jetzt habe ich mit Drucksachen, Verträgen und
Zolldokumenten angefangen, das bringt viel mehr ein. Fürs
Übersetzen von Literatur werden Hungerlöhne bezahlt, wenn auch
etwas mehr als fürs Schreiben. Die Hausgemeinschaft hat mich schon
zweimal hinauszuekeln versucht. Daß ich meinen Anteil an den
Ausgaben der Gemeinschaft zu spät zahle, ist noch harmlos. Stellen
Sie sich vor – Fremdsprachen beherrschen und überdies eine Hose
tragen. Manch einer beschuldigt mich, in dieser Wohnung ein Bordell
zu führen. Ach, dann sähe alles ganz anders aus …«
Ich hoffte, im Halbdunkel sehe sie nicht, wie ich rot wurde.
»Entschuldigen Sie. Ich weiß auch nicht, warum ich Ihnen das alles
erzähle. Jetzt bringe ich Sie auch noch zum Erröten.«
»Es ist meine Schuld. Ich habe gefragt.«
Sie lachte nervös. Die von dieser Frau ausgehende Einsamkeit war
schmerzlich.
»Sie gleichen ein wenig Julián«, sagte sie plötzlich. »Wie Sie
schauen und sich bewegen. Er hat es genauso gemacht. Er hat
geschwiegen und mich angeschaut, ohne daß ich wissen konnte, was er
dachte, und dann habe ich ihm wie ein Dummchen Dinge erzählt, die
ich besser für mich behalten hätte … Darf ich Ihnen etwas anbieten,
einen Milchkaffee?«
»Nein, danke. Machen Sie sich bitte keine Mühe.«
»Das ist keine Mühe. Ich wollte sowieso einen für mich machen.«
Ich vermutete, dieser Milchkaffee war ihr ganzes Mittagessen, und
lehnte die Einladung erneut ab. Sie ging in eine Ecke des
Eßzimmers, wo sich eine elektrische Kochplatte befand.
»Machen Sie es sich bequem«, sagte sie und wandte mir den Rücken
zu.
Ich schaute mich um und fragte mich, wie. Nuria Monforts
Arbeitsplatz bestand aus einem Schreibtisch, der die Ecke beim
Balkon einnahm. Eine UnderwoodSchreibmaschine stand neben einer
Petroleumlampe und unter einem Regal voller Wörterbücher und
Nachschlagewerke. Es gab keine Familienfotos, aber die Wand vor dem
Schreibtisch war mit Postkarten tapeziert, alles Bilder einer
Brücke, die ich irgendwo gesehen zu haben glaubte, ohne sie
identifizieren zu können, vielleicht Paris oder Rom. Vor diesem
Wandschmuck strahlte der Schreibtisch eine fast zwanghafte
Sauberkeit und Akkuratesse aus. Die Bleistifte waren gespitzt und
perfekt aufgereiht, die Papiere und Mappen in drei symmetrischen
Reihen angeordnet. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß mich Nuria
Monfort von der Schwelle des Gangs aus beobachtete, schweigend, wie
man auf der Straße oder in der U-Bahn Unbekannte anschaut. Sie
steckte sich eine Zigarette an, ohne sich von der Stelle zu rühren,
das Gesicht in blaue Rauchschwaden gehüllt. Unbewußt schien sie
doch etwas von einer Femme fatale auszustrahlen, wie diese Frauen,
die Fermín ganz verrückt machten, wenn sie im Kinonebel eines
Berliner Bahnhofs in unwahrscheinlichem Licht auftauchten, und ich
dachte, vielleicht habe sie ihr eigenes Aussehen satt.
»Es gibt nicht viel zu erzählen«, begann sie. »Ich habe Julián vor
über zwanzig Jahren in Paris kennengelernt. Damals habe ich für den
Verlag Cabestany gearbeitet. Señor Cabestany hatte für einen
Pappenstiel die Rechte an Juliáns Romanen gekauft. Zuerst hatte ich
bei ihm im Büro gearbeitet, aber als er erfuhr, daß ich
Französisch, Italienisch und ein wenig Deutsch konnte, hat er mich
zu seiner persönlichen Sekretärin gemacht. Zu meinen Aufgaben
gehörte es, die Korrespondenz mit ausländischen Autoren und
Verlegern zu führen, mit denen der Verlag in Beziehung stand, und
so bin ich auch mit Julián Carax in Verbindung getreten.«
»Ihr Vater hat mir erzählt, Sie beide seien gute Freunde
gewesen.«
»Mein Vater hat Ihnen bestimmt gesagt, wir hätten ein Abenteuer
gehabt oder so, nicht wahr? Er meint, ich hechele hinter jeder Hose
her wie eine läufige Hündin.«
Die Aufrichtigkeit und Unverfrorenheit dieser Frau benahm mir die
Worte. Ich brauchte zu lange, um mir eine annehmbare Antwort
zurechtzulegen. Nuria Monfort lächelte bereits und schüttelte den
Kopf.
»Hören Sie nicht auf ihn. Mein Vater ist auf diese Idee gekommen,
als ich im Jahr 33 nach Paris reisen mußte, um für Cabestany bei
Gallimard ein paar Dinge zu regeln. Ich war eine Woche in der Stadt
und wohnte bei Julián, und zwar aus dem einfachen Grund, weil
Cabestany die Hotelkosten sparen wollte. Da können Sie sehen, wie
romantisch. Bis dahin war meine Beziehung zu Julián Carax eine rein
briefliche gewesen, normalerweise ging es um Autorenrechte,
Fahnenabzüge und editorische Fragen. Was ich von ihm wußte – oder
mir vorstellte –, das hatte ich von der Lektüre der Manuskripte,
die er uns schickte.«
»Hat er Ihnen etwas über sein Leben in Paris erzählt?«
»Nein. Julián hat nicht gern über seine Bücher oder sich selbst
gesprochen. Er hat nicht gerade glücklich gewirkt in Paris,
allerdings hatte ich den Eindruck, er gehörte zu den Menschen, die
nirgends glücklich werden können. Im Grunde habe ich ihn nie ganz
kennengelernt. Das hat er nicht zugelassen. Er war ein sehr
zurückhaltender Mensch, und manchmal hatte ich das Gefühl, die Welt
und die Leute interessierten ihn nicht mehr. Cabestany hat ihn für
sehr schüchtern und ein wenig verrückt gehalten, aber ich hatte das
Gefühl, er hat in der Vergangenheit gelebt, eingeschlossen in
seinen Erinnerungen, ganz für sich, für seine Bücher und in ihnen
drin, wie ein Luxusgefangener.«
»Sie sagen das, als beneideten Sie ihn.«
»Es gibt schlimmere Gefängnisse als Worte, Daniel.«
Ich nickte, ohne genau zu wissen, was sie meinte.
»Hat Julián einmal über diese Erinnerungen gesprochen, über seine
Jahre in Barcelona?«
»Sehr selten. In der Woche, in der ich in Paris bei ihm war, hat er
mir ein wenig von seiner Familie erzählt. Seine Mutter war
Französin, Musiklehrerin. Sein Vater hatte einen Hutladen oder so
was. Ich weiß, daß er ein sehr frommer, sehr strenger Mann
war.«
»Hat Ihnen Julián gesagt, was für eine Art Beziehung er zu ihm
hatte?«
»Ich weiß, daß sie sich auf den Tod nicht ausstehen konnten. Das
hatte seine Geschichte. Tatsächlich ging Julián nach Paris, damit
ihn sein Vater nicht in die Armee stecken konnte. Seine Mutter
hatte ihm versprochen, bevor es soweit komme, werde sie ihn weit
weg von diesem Mann bringen.«
»Dieser Mann war immerhin sein Vater.«
Nuria Monfort lächelte, ein angedeutetes Lächeln in den Mundwinkeln
und mit einem traurigen, matten Glanz in den Augen.
»Selbst wenn er es gewesen wäre, er hat sich nie so benommen, und
Julián hat ihn auch nie als das gesehen. Einmal hat er mir
gestanden, seine Mutter habe vor der Heirat ein Abenteuer mit einem
Unbekannten gehabt, dessen Namen sie nie habe preisgeben wollen.
Dieser Mann war Juliáns richtiger Vater.«
»Das klingt wie der Beginn von Der Schatten des Windes.
Glauben Sie, er hat Ihnen die Wahrheit gesagt?«
Sie nickte.
»Julián hat mir erzählt, er sei damit groß geworden, wie der
Hutmacher, so hat er ihn immer genannt, seine Mutter beschimpft und
geschlagen hat. Dann kam er in Juliáns Zimmer, um ihm zu sagen, er
sei ein Kind der Sünde, er habe den schwachen, elenden Charakter
seiner Mutter geerbt und werde sein Leben lang ein Hungerleider
sein und bei allem scheitern, was er in die Hand nehme …«
»Hat Julián Groll auf seinen Vater verspürt?«
»Mit der Zeit erkalten diese Dinge. Ich habe nie das Gefühl gehabt,
Julián haßt ihn. Vielleicht wäre das besser gewesen. Mein Eindruck
ist, daß er nach all diesen Szenen jeden Respekt vor dem Hutmacher
verloren hatte. Er hat davon gesprochen, als ginge ihn das nichts
mehr an, als gehörte es zu einer Vergangenheit, die er
zurückgelassen hatte, aber so etwas vergißt man nie. Die Worte, die
das Herz eines Kindes vergiften, sei es aus Gemeinheit oder
Ignoranz, bleiben im Gedächtnis haften und verbrennen einem über
kurz oder lang die Seele.«
Ich fragte mich, ob sie aus eigener Erfahrung sprach, und wieder
kam mir das Bild meines Freundes Tomás Aguilar in den Sinn, der
sich stoisch die Tiraden seines edlen Papas anhörte.
»Wie alt war Julián damals?«
»Acht oder zehn Jahre, denke ich. Sobald er alt genug war, daß er
in die Armee hätte eintreten können, hat ihn seine Mutter nach
Paris mitgenommen. Ich glaube, sie haben nicht einmal auf
Wiedersehen gesagt. Der Hutmacher hat nie verstanden, daß ihn seine
Familie verlassen hat.«
»Haben Sie einmal gehört, daß Julián ein junges Mädchen namens
Penélope erwähnte?«
»Penélope? Ich glaube nicht. Daran müßte ich mich erinnern.«
»Sie war eine Freundin von ihm, als er noch in Barcelona
wohnte.«
Ich zog das Foto von Carax und Penélope Aldaya aus der Tasche und
gab es ihr. Ich sah, wie sie aufleuchtete, als sie den
halbwüchsigen Julián erblickte. Die Nostalgie, der Verlust mußten
an ihr nagen.
»Wie jung er da war … Ist das diese Penélope?«
Ich nickte.
»Sehr hübsch. Julián wußte sich immer mit schönen Frauen zu
umgeben.«
Frauen wie Sie, dachte ich.
»Wissen Sie, ob er viele …«
Wieder dieses Lächeln auf meine Kosten.
»Verlobte, Freundinnen hatte? Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt,
ich habe nie etwas von einer Frau in seinem Leben gehört. Einmal
wollte ich ihn reizen und habe ihn gefragt. Sie wissen ja, daß er
sich seinen Lebensunterhalt mit Klavierspielen in einem
Animierlokal verdient hat. Ich hab ihn gefragt, ob er nicht in
Versuchung komme, den ganzen Tag so von hübschen leichten Mädchen
umgeben. Das fand er gar nicht lustig. Er sagte, er habe nicht das
Recht, jemand zu lieben, er habe es verdient, allein zu sein.«
»Hat er gesagt, warum?«
»Julián hat nie gesagt, warum.«
»Trotzdem wollte er am Ende heiraten, kurz vor seiner Rückkehr nach
Barcelona im Jahr 1936.«
»Das hat es geheißen.«
»Sie bezweifeln es?«
Sie zuckte die Schultern.
»Wie gesagt, in all den Jahren, die wir uns gekannt haben, hat
Julián mir gegenüber nie eine Frau besonders erwähnt, erst recht
nicht eine, die er heiraten wollte. Das mit der angeblichen
Hochzeit ist mir erst später zu Ohren gekommen. Neuval, Carax’
letzter Verleger, hat Cabestany erzählt, die Verlobte sei zwanzig
Jahre älter gewesen als Julián, eine vermögende, kranke Witwe. Laut
Neuval hatte ihn diese Frau jahrelang mehr oder weniger
ausgehalten. Die Ärzte gaben ihr noch sechs Monate, höchstens ein
Jahr. Wie Neuval sagte, wollte sie Julián heiraten, damit er sie
beerben könnte.«
»Aber die Hochzeit hat nie stattgefunden.«
»Falls es so einen Plan oder eine solche Witwe überhaupt je gegeben
hat.«
»Soviel ich weiß, war Carax in ein Duell verwickelt, am frühen
Morgen des Tages, an dem er heiraten sollte. Wissen Sie, mit wem
oder warum?«
»Neuval hat angenommen, es war jemand, der in irgendeiner Beziehung
zu der Witwe stand, ein entfernter, habgieriger Verwandter, der
fürchtete, die Erbschaft würde einem Dahergelaufenen in die Hände
fallen. Neuval hat vor allem Schundromane veröffentlicht, und es
sieht ganz so aus, als hätte er das Genre verinnerlicht.«
»Ich sehe, Sie glauben nicht sehr an die Geschichte mit der
Hochzeit und dem Duell.«
»Nein. Ich habe sie nie geglaubt.«
»Was denken Sie, was ist dann geschehen? Warum ist Carax nach
Barcelona zurückgekehrt?«
Sie lächelte traurig.
»Diese Frage stelle ich mir seit siebzehn Jahren.«
Nuria Monfort zündete sich eine neue Zigarette an. Mir bot sie
ebenfalls eine an. Ich fühlte mich versucht, lehnte aber ab.
»Aber irgendeine Vermutung werden Sie doch haben«, sagte ich.
»Alles, was ich weiß, ist, daß im Sommer 1936 kurz nach
Kriegsausbruch ein Angestellter des städtischen Leichenschauhauses
im Verlag angerufen und gesagt hat, vor drei Tagen sei Julián
Carax’ Leiche bei ihnen eingeliefert worden. Man hatte ihn tot in
einer Gasse des Raval gefunden, in Lumpen gehüllt und mit einer
Kugel im Herzen. Er hatte ein Buch bei sich, Der Schatten des
Windes, und seinen Paß. Der Stempel zeigte, daß er einen Monat
zuvor über die französische Grenze gekommen war. Niemand weiß, wo
er in dieser Zeit gesteckt hat. Die Polizei hat sich mit seinem
Vater in Verbindung gesetzt, aber der wollte nichts mit der Leiche
zu tun haben und sagte, er habe keinen Sohn. Als sich nach zwei
Tagen niemand nach der Leiche erkundigte, wurde sie in einem
Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof des Montjuïc beerdigt. Ich habe
ihm nicht einmal Blumen bringen können, weil mir niemand sagen
konnte, wo er lag. Der Angestellte des Leichenschauhauses, der das
in Juliáns Jackett gefundene Buch behalten hatte, ist nach einigen
Tagen auf die Idee gekommen, im Verlag Cabestany anzurufen. So habe
ich erfahren, was geschehen war. Ich konnte es nicht verstehen.
Wenn Julián in Barcelona überhaupt noch jemand hatte, zu dem er
gehen konnte, dann war ich es – oder allenfalls Cabestany. Wir
waren seine einzigen Freunde, aber er hatte uns überhaupt nicht
gesagt, daß er zurück war. Das haben wir erst nach seinem Tod
erfahren …«
»Haben Sie sonst noch etwas herausgefunden, nachdem Sie von seinem
Tod erfahren hatten?«
»Nein. Es waren die ersten Tage des Krieges, und Julián ist nicht
als einziger spurlos verschwunden. Davon spricht niemand mehr, aber
es gibt viele namenlose Gräber wie seines. Nachfragen hieß mit dem
Kopf gegen die Wand rennen. Mit Hilfe von Cabestany, der damals
schon sehr krank war, habe ich bei der Polizei Beschwerde eingelegt
und alle Hebel in Bewegung gesetzt. Das einzige, was ich erreicht
habe, war der Besuch eines jungen Inspektors, eines bösen,
arroganten Menschen, der mir sagte, ich solle besser aufhören,
Fragen zu stellen, und mich um eine positivere Einstellung bemühen,
das Land befinde sich mitten im Bürgerkrieg. Das waren seine Worte.
Er hieß Fumero, das ist alles, was ich noch weiß. Jetzt ist in den
Zeitungen ja andauernd die Rede von ihm. Vielleicht haben Sie von
ihm gehört.«
Ich schluckte.
»Vage.«
»Ich habe nie wieder jemanden Julián erwähnen hören, bis sich ein
Mann mit dem Verlag in Verbindung setzte, der sämtliche Exemplare
seiner Romane kaufen wollte, die noch am Lager waren.«
»Laín Coubert.«
Nuria Monfort nickte.
»Haben Sie eine Idee, wer dieser Mann war?«
»Ich habe eine Vermutung, bin mir aber nicht sicher. Im März 1936,
daran erinnere ich mich, weil wir damals gerade kurz vor der
Veröffentlichung von Der Schatten des Windes waren, rief
jemand im Verlag an und verlangte Juliáns Adresse. Er sagte, er sei
ein alter Freund von ihm und wolle ihn in Paris mit seinem Besuch
überraschen. Man hat ihn mit mir verbunden, und ich sagte ihm, ich
sei nicht ermächtigt, ihm diese Auskunft zu geben.«
»Hat er gesagt, wer er war?«
»Ein gewisser Jorge.«
»Jorge Aldaya?«
»Möglich. Julián hatte ihn mehr als einmal erwähnt. Offenbar waren
sie zusammen auf die San-Gabriel-Schule gegangen, und manchmal hat
er in einer Art von ihm gesprochen, als wäre er sein bester Freund
gewesen.«
»Haben Sie Aldaya Juliáns Pariser Adresse gegeben?«
»Nein, er kam mir verdächtig vor.«
»Und was sagte er?«
»Er hat mich ausgelacht und gesagt, er würde sie schon auf andere
Art rauskriegen, und hat aufgehängt.«
Etwas schien sie zu zermürben. Ich begann zu ahnen, wohin uns das
Gespräch führen würde.
»Aber irgend jemand hat wieder von ihm gesprochen, nicht wahr?«
Sie nickte nervös.
»Wie gesagt, kurz nach Juliáns Verschwinden ist dieser Mann im
Verlag Cabestany aufgekreuzt. Damals konnte Cabestany schon nicht
mehr arbeiten, und sein ältester Sohn hatte die Firma übernommen.
Der Besucher, Laín Coubert, erbot sich, die ganzen restlichen
Lagerbestände von Juliáns Romanen zu kaufen. Ich dachte, das sei
ein geschmackloser Witz. Laín Coubert war eine Figur aus Der
Schatten des Windes.«
»Der Teufel.«
Sie nickte.
»Haben Sie Laín Coubert denn überhaupt zu Gesicht bekommen?«
Sie schüttelte den Kopf und zündete sich die dritte Zigarette
an.
»Nein. Aber ich habe einen Teil des Gesprächs mit dem Sohn in
Cabestanys Büro mitgekriegt …«
Sie ließ den Satz in der Luft hängen, als hätte sie Angst, ihn zu
vervollständigen, oder wüßte nicht, wie. Die Zigarette zitterte in
ihren Händen.
»Seine Stimme«, sagte sie. »Es war dieselbe Stimme wie die des
Mannes, der unter dem Namen Jorge Aldaya angerufen hatte.
Cabestanys Sohn, ein arroganter Dummkopf, wollte mehr Geld von ihm.
Coubert sagte, er müsse darüber nachdenken. In derselben Nacht ist
das Lager des Verlages in Pueblo Nuevo niedergebrannt, und Juliáns
sämtliche Bücher.«
»Außer denen, die Sie gerettet und im Friedhof der Vergessenen
Bücher versteckt haben.«
»So ist es.«
»Haben Sie eine Idee, aus welchem Grund jemand alle Bücher von
Julián Carax verbrennen wollte?«
»Warum werden Bücher verbrannt? Aus Dummheit, aus Ignoranz, aus Haß
… Was weiß ich.«
»Was glauben denn Sie?« insistierte ich.
»Julián hat in seinen Büchern gelebt. Die Leiche, die in der
Totenhalle landete, das war nur ein Teil von ihm. Seine Seele ist
in seinen Geschichten. Einmal habe ich ihn gefragt, wo er die
Inspiration für seine Figuren hernehme, und er sagte, von niemand,
alle seine Personen seien er selbst.«
»Wenn ihn also jemand vernichten wollte, müßte er diese Geschichten
und diese Personen vernichten, nicht wahr?«
Wieder zeigte sich dieses mutlose Lächeln von Niederlage und
Müdigkeit.
»Sie erinnern mich an Julián«, sagte sie. »Bevor er den Glauben
verlor.«
»Den Glauben woran?«
»An alles.«
Im Halbdunkel trat sie auf mich zu und nahm meine flache Hand. Sie
strich mir schweigend darüber, als wollte sie die Linien auf der
Haut lesen. Die Hand zitterte unter ihrer Berührung. Ich ertappte
mich dabei, wie ich im Geist unter diesen abgetragenen, wie
geborgten Kleidern die Umrisse ihres Körpers nachzog. Ich wünschte
mir, sie zu berühren und ihren Puls unter der Haut glühen zu
fühlen. Unsere Blicke hatten sich getroffen, und ich war mir
sicher, sie wußte, was ich dachte. Ich spürte, daß sie einsamer war
denn je. Ich schaute auf und traf auf ihren gelassenen Blick.
»Julián ist allein gestorben, in der Überzeugung, daß sich niemand
an ihn und seine Bücher erinnern würde und daß sein Leben nichts
bedeutet hatte«, sagte sie. »Es hätte ihm Freude gemacht, zu
wissen, daß ihn jemand lebendig erhalten wollte, an ihn denken
würde. Er hat immer gesagt, wir existieren, solange sich jemand an
uns erinnert.«
Mich überfiel der fast schmerzhafte Wunsch, diese Frau zu küssen,
ein Verlangen, wie ich es noch nie empfunden hatte, nicht einmal,
wenn ich Clara Barceló heraufbeschworen hatte. Sie las meinen
Blick.
»Es ist spät geworden für Sie, Daniel«, murmelte sie.
Ein Teil von mir wollte bleiben, sich in der seltsamen Intimität
des Halbdunkels mit dieser Unbekannten verlieren und sie sagen
hören, meine Gesten und mein Schweigen erinnerten sie an Julián
Carax.
»Ja«, sagte ich unsicher.
Sie nickte und begleitete mich zur Tür. Der Gang erschien mir ewig.
Sie machte auf, und ich trat auf den Treppenabsatz hinaus.
»Wenn Sie meinen Vater sehen, sagen Sie ihm, es geht mir gut.
Belügen Sie ihn.«
Ich verabschiedete mich mit gedämpfter Stimme von ihr, bedankte
mich, daß sie Zeit für mich gehabt hatte, und wollte ihr höflich
die Hand reichen. Sie übersah meine formelle Geste, legte mir die
Hände auf die Arme, beugte sich zu mir hin und küßte mich auf die
Backe. Wir schauten uns schweigend an, und diesmal wagte ich ihre
Lippen zu suchen, beinahe zitternd. Mir schien, sie öffneten sich
ein wenig und ihre Finger tasteten nach meinem Gesicht. Im letzten
Moment zog sie sich zurück und senkte die Augen.
»Ich glaube, es ist besser, Sie gehen, Daniel«, flüsterte sie.
Ich hatte das Gefühl, sie würde gleich weinen, und noch bevor ich
etwas sagen konnte, schloß sie die Tür. Ich blieb auf dem
Treppenabsatz zurück und spürte ihre Anwesenheit auf der andern
Seite der Tür, während ich mich fragte, was dort drin vorgefallen
sein mochte. Gegenüber flackerte das Guckloch der Nachbarin. Ich
schenkte ihr einen Gruß und stürzte treppab. Wieder auf der Straße,
hafteten mir noch immer Nurias Gesicht, ihre Stimme und ihr Geruch
im Herzen. Ich nahm die Berührung ihrer Lippen und ihres Atems auf
der Haut mit durch die Straßen, die überfüllt waren von
gesichtslosen, aus Büros und Geschäften strömenden Menschen. Als
ich in die Calle Canuda einbog, überfiel mich eine eisige Brise,
die den Lärm abschnitt. Ich war dankbar für den kalten Wind im
Gesicht und ging Richtung Universität. Beim Überqueren der Ramblas
bahnte ich mir einen Weg zur Calle Tallers und verlor mich dann in
deren engem, im Dämmerlicht liegendem Stollen und dachte, ich sei
noch immer in diesem düsteren Eßzimmer gefangen, in dem ich mir
jetzt Nuria Monfort vorstellte, wie sie allein im Dunkeln saß und
still ihre Bleistifte, Mappen und Erinnerungen ordnete, die Augen
voller Tränen.
7
Fast heimtückisch brach der Nachmittag in sich zusammen, mit einem kalten Wind und einem Purpurschleier, der in sämtliche Winkel der Straßen glitt. Ich beschleunigte meine Schritte, und nach knapp zehn Minuten tauchte die Fassade der Universität wie ein in der Nacht gestrandetes ockerfarbenes Schiff auf. Der Pförtner der Philosophischen Fakultät las in seinem Verschlag Spaniens einflußreichste Federn der Gegenwart in der Abendausgabe von El Mundo Deportivo. Es schienen kaum noch Studenten anwesend zu sein. Das Echo meiner Schritte begleitete mich durch die Gänge und Galerien, die zum Kreuzgang führten, wo das Halbdunkel von zwei verschämten gelblichen Leuchten kaum beeinträchtigt wurde, plötzlich kam mir der Gedanke, Bea habe mich auf den Arm genommen und sich hier zu dieser Niemandsstunde mit mir nur verabredet, um sich für meine Anmaßung zu rächen. Die Blätter der Orangenbäume im Kreuzgang glänzten auf, und das Rauschen des Brunnens schlängelte sich zwischen den Bogen hindurch. Ich spähte in den Innenhof, halb enttäuscht, halb feige erleichtert. Da war sie. Vor dem Brunnen zeichnete sich ihre Silhouette ab, wie sie auf einer der Bänke saß und zu den Wölbungen des Kreuzgangs emporschaute. Ich blieb im Eingang stehen, um sie zu betrachten, und einen Moment lang glaubte ich in ihr die auf ihrer Bank der Plaza de San Felipe Neri tagträumende Nuria Monfort zu sehen. Ich stellte fest, daß Bea weder Mappe noch Bücher bei sich hatte, und dachte, vielleicht habe sie an diesem Nachmittag gar keine Vorlesung gehabt, sondern sei eigens meinetwegen hergekommen. Ich trat in den Kreuzgang. Meine Schritte auf den Pflastersteinen verrieten mich, und Bea schaute mit überraschtem Lächeln auf, als wäre ich rein zufällig hier.
»Ich dachte, du würdest nicht kommen«, sagte sie. »Das hab ich
von dir auch gedacht.«
Sie blieb sitzen, sehr aufrecht, die Knie zusammengepreßt und die
Hände im Schoß gefaltet. Ich fragte mich, wie es möglich war,
jemanden als so fern zu empfinden und dennoch jedes Fältchen seiner
Lippen lesen zu können.
»Ich bin gekommen, weil ich dir beweisen will, daß du dich geirrt hast in dem, was du neulich gesagt hast, Daniel. Daß ich Pablo heiraten werde und daß es keine Rolle spielt, was du mir heute abend zeigen wirst, ich werde mit ihm nach El Ferrol gehen, sobald er mit dem Militärdienst fertig ist.«
Ich schaute sie an. Mir wurde klar, daß ich zwei Tage lang auf Wolken geschwebt hatte und daß mir jetzt die Welt entglitt.
»Und ich dachte, du bist gekommen, weil du mich sehen wolltest.« Ich lächelte kraftlos und sah, wie sie vor Unbehagen errötete. »Das hab ich bloß so gesagt«, log ich. »Aber ernst gemeint habe ich, daß ich dir eine Seite der Stadt zeigen will, die du noch nicht kennst. So wirst du dich wenigstens an mich oder an Barcelona erinnern, wenn du weggegangen bist.«
Sie lächelte ein wenig traurig und wich meinem Blick aus.
»Ich wäre beinahe ins Kino gegangen, weißt du. Um dich heute nicht
zu sehen«, sagte sie.
»Warum das denn?«
Sie schaute mich schweigend an. Dann zuckte sie die Schultern und
schaute in die Höhe, als wollte sie Worte im Flug erhaschen.
»Weil ich Angst hatte, daß du vielleicht recht hast«, sagte sie
schließlich.
Die zunehmende Dunkelheit und das Schweigen, das Fremde miteinander
verbindet, die allein sind, schützten uns, und ich fühlte mich
stark genug, jede Verrücktheit zu sagen, und sei es zum letzten
Mal.
»Liebst du ihn oder nicht?«
Ihr Lächeln löste sich auf.
»Das geht dich nichts an.«
»Stimmt. Das geht nur dich etwas an.«
Ihr Blick wurde kalt.
»Was kann es dich denn interessieren?«
»Das geht dich nichts an.«
Sie lächelte nicht. Ihre Lippen zitterten.
»Die Leute, die mich kennen, wissen, daß ich Pablo schätze. Meine
Familie und …«
»Aber ich bin ja fast ein Fremder«, unterbrach ich sie, »und ich
möchte es von dir hören.«
»Was hören?«
»Daß du ihn wirklich liebst. Daß du ihn nicht einfach heiratest, um
von zu Hause wegzukommen oder um weit weg von Barcelona und deiner
Familie zu sein, wo sie dir nichts anhaben können. Daß du gehst und
nicht fliehst.«
In ihren Augen glänzten Tränen der Wut.
»Du hast kein Recht, mir so etwas zu sagen, Daniel. Du kennst mich
nicht.«
»Sag mir, daß ich mich irre, und ich werde gehen. Liebst du
ihn?«
Wir schauten uns lange schweigend an.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie schließlich. »Ich weiß es
nicht.«
»Irgend jemand hat mal gesagt, in dem Moment, wo man sich damit
aufhält, darüber nachzudenken, ob man jemanden liebt, hat man schon
für immer aufgehört, ihn zu lieben.«
»Wer hat das gesagt?«
»Ein gewisser Julián Carax.«
»Ein Freund von dir?«
»So ähnlich.«
»Den wirst du mir vorstellen müssen.«
»Heute abend, wenn du willst.«
Wir verließen die Universität unter einem blauschwarz gefleckten
Himmel und spazierten ohne bestimmte Richtung dahin, eher um uns
gegenseitig an unseren Schritt zu gewöhnen, als um irgendwohin zu
gelangen. Wir flüchteten uns ins einzige beiden gemeinsame Thema,
ihr Bruder Tomás. Bea sprach über ihn wie über einen Fremden, den
man zwar liebt, aber kaum kennt. Sie wich meinem Blick aus. Ich
spürte, daß sie bereute, was sie mir im Kreuzgang der Uni gesagt
hatte, daß die Worte sie noch schmerzten, innerlich an ihr
nagten.
»Du, von dem, was ich dir vorhin gesagt habe«, sagte sie plötzlich,
»wirst du Tomás nichts erzählen, ja?«
»Natürlich nicht. Niemandem.«
Sie lachte nervös.
»Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Sei nicht gekränkt,
aber manchmal fühlt man sich freier, mit einem Fremden zu sprechen
als mit jemandem, den man kennt. Wie kommt das bloß?«
Ich zuckte die Achseln.
»Wahrscheinlich weil uns ein Fremder sieht, wie wir sind, und
nicht, wie er glauben will, daß wir sind.«
»Ist das auch von deinem Freund Carax?«
»Nein, das habe ich gerade erfunden, um dich zu beeindrucken.«
»Und wie siehst du mich?«
»Als ein Geheimnis.«
»Das ist das merkwürdigste Kompliment, das man mir je gemacht
hat.«
»Das ist kein Kompliment. Das ist eine Drohung.«
»Wieso denn das?«
»Geheimnisse muß man ergründen, herausfinden, was sich hinter ihnen
verbirgt.«
»Wahrscheinlich bist du enttäuscht, wenn du siehst, was drinnen
ist.«
»Wahrscheinlich bin ich überrascht. Und du ebenfalls.«
»Tomás hat mir nie gesagt, daß du so unverschämt bist.«
»Mein bißchen Unverschämtheit spare ich mir eben ganz für dich
auf.«
»Und warum?«
Weil du mir Angst machst, dachte ich.
Wir traten in ein altes Café beim Poliorama-Theater, setzten uns an
einen Fenstertisch und bestellten Sandwiches und Milchkaffee, um
uns aufzuwärmen. Sowie der Kaffee und das Essen kamen, stürzte ich
mich ohne jeglichen Anspruch auf gute Manieren darauf. Bea rührte
keinen Bissen an. Beide Hände um die große dampfende Tasse gelegt,
schaute sie mir zu.
»Was willst du mir also heute zeigen, was ich noch nicht
kenne?«
»Verschiedenes. Was ich dir aber wirklich zeigen werde, gehört zu
einer Geschichte. Hast du mir nicht neulich gesagt, daß du gern
liest?«
Sie nickte und zog erwartungsvoll die Brauen in die Höhe.
»Also, das ist eine Geschichte, die von Büchern handelt.«
»Von Büchern?«
»Von verfluchten Büchern, von dem Mann, der sie geschrieben hat,
von jemandem, der aus den Seiten eines Romans entwischt ist, um ihn
zu verbrennen, von einem Verrat und einer verlorenen Freundschaft.
Es ist eine Geschichte von Liebe, Haß und den Träumen, die im
Schatten des Windes hausen.«
»Du klingst wie der Klappentext eines Schundromans, Daniel.«
»Wahrscheinlich weil ich in einer Buchhandlung arbeite und zu viele
von denen gesehen habe. Aber das ist eine wahre Geschichte. Sie
stimmt ebenso, wie daß das Brot, das man uns aufgetischt hat,
mindestens drei Tage alt ist. Und wie alle wahren Geschichten
beginnt und endet sie auf einem Friedhof, aber nicht einem
Friedhof, wie du ihn dir vorstellst.«
Sie lächelte wie ein Kind, dem man ein Rätsel oder einen
Zaubertrick in Aussicht stellt.
»Ich bin ganz Ohr.«
Ich trank den letzten Schluck Kaffee und schaute sie eine Weile
wortlos an. Wie gern hätte ich in diesem scheuen Blick Zuflucht
gesucht, den ich durchsichtig, leer befürchtet hatte. Ich dachte an
die Einsamkeit, die mich an diesem Abend befallen würde, nachdem
ich mich von ihr verabschiedet hätte, ohne weitere Tricks und
Geschichten, um mir ihre Gesellschaft vorzugaukeln. Wie wenig hatte
ich ihr zu bieten, und wieviel erwartete ich von ihr.
»Dein Hirn knarrt, Daniel«, sagte sie. »Was heckst du aus?«
Ich begann meine Erzählung mit dem weit zurückliegenden Morgen, an
dem ich erwacht war, ohne mich ans Gesicht meiner Mutter erinnern
zu können, und hielt nicht inne, bis ich zu der Dämmerwelt
gelangte, die ich an diesem Morgen bei Nuria Monfort erahnt hatte.
Bea hörte mir schweigend und mit einer Aufmerksamkeit zu, die weder
Urteil noch Mutmaßung erkennen ließ. Ich erzählte ihr von meinem
ersten Besuch im Friedhof der Vergessenen Bücher und von der Nacht,
die ich mit der Lektüre von Der Schatten des Windes
verbrachte. Ich erzählte ihr von meiner Begegnung mit dem Mann ohne
Gesicht und von Penélope Aldayas Brief, den ich immer bei mir
hatte, ohne zu wissen, warum. Ich erzählte ihr, daß ich es nie
geschafft hatte, Clara Barceló zu küssen noch sonst eine Frau, und
wie meine Hände gezittert hatten, als ich vor wenigen Stunden Nuria
Monforts Lippen leichthin auf der Haut gespürt hatte. Ich erzählte
ihr, daß ich bis dahin nicht begriffen hatte, daß das eine
Geschichte von einsamen Menschen, von Abwesenheiten und Verlust
war, und daß ich mich deshalb in sie hineingeflüchtet hatte, bis
sie mit meinem eigenen Leben verschmolz, als entwischte ich aus den
Seiten eines Romans.
»Sag nichts«, flüsterte Bea. »Bring mich einfach an diesen
Ort.«
Es war schon dunkle Nacht, als wir in der Calle Arco del Teatro vor
dem Portal des Friedhofs der Vergessenen Bücher stehenblieben. Ich
packte den Klopfer mit dem Teufelchen und schlug ihn dreimal an. Es
wehte ein kalter, stark nach Kohle riechender Wind. Wir warteten im
Schutz des gewölbten Eingangs. Beas Gesicht war eine Handbreit von
meinem entfernt. Kurz darauf hörte man im Innern leichte Schritte
näher kommen und dann die müde Stimme des Aufsehers fragen:
»Wer ist da?«
»Ich bin’s, Isaac – Daniel Sempere.«
Mir schien, ich hörte ihn leise fluchen. Dann folgte das
tausendfache Knirschen und Knarren des Schlosses. Schließlich ging
die Tür einige Zentimeter auf, und im Schein einer Öllampe erschien
Isaac Monforts Adlergesicht. Als er mich erblickte, seufzte er und
verdrehte die Augen.
»Ich weiß auch nicht, warum ich frage«, sagte er. »Wer könnte es
wohl zu dieser Stunde sonst sein?«
Er war in etwas gehüllt, was mir wie eine merkwürdige Mischung aus
Hausrock, Burnus und russischem Armeemantel vorkam. Die wattierten
Pantoffeln paßten perfekt zu einer karierten Wollmütze mit
Troddel.
»Hoffentlich habe ich Sie nicht aus dem Bett geholt«, sagte
ich.
»I wo, ich habe eben erst mit dem ›Müde bin ich, geh zur Ruh‹
begonnen.«
Er warf Bea einen Blick zu, als hätte er gerade eine brennende
Dynamitpatrone zu ihren Füßen entdeckt.
»Ich hoffe zu Ihrem Besten, das ist nicht das, was es scheint«,
drohte er.
»Isaac, das ist meine Freundin Beatriz, ich möchte ihr mit Ihrer
Erlaubnis diesen Ort zeigen. Seien Sie unbesorgt, sie ist absolut
vertrauenswürdig.«
»Sempere, ich habe Säuglinge mit mehr gesundem Menschenverstand
gekannt als Sie.«
»Es ist ja nur für einen Augenblick.«
Mit einem Schnauben gab er klein bei und nahm Bea ausgiebig in
Augenschein.
»Wissen Sie schon, daß Sie sich in Gesellschaft eines
Geistesschwachen befinden?« fragte er.
Sie lächelte höflich.
»Ich mache mich langsam mit dem Gedanken vertraut.«
»Göttliche Unschuld. Kennen Sie die Regeln?«
Sie nickte. Isaac schüttelte schweigend den Kopf, spähte wie immer
nach Schattengestalten auf der Straße und ließ uns herein.
»Ich habe Ihre Tochter Nuria besucht«, warf ich hin. »Es geht ihr
gut. Sie hat viel zu tun, aber es geht ihr gut. Sie schickt Ihnen
Grüße.«
»Ja, und Giftpfeile. Wie langweilig Sie sind, wenn Sie flunkern,
Sempere. Aber das Bemühen sei verdankt. Los, kommen Sie.«
Als wir drinnen waren, reichte er mir die Öllampe und riegelte
wieder zu, ohne uns weiter zu beachten.
»Wenn Sie fertig sind, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.«
Das Bücherlabyrinth war in geisterhaften Inseln zu erahnen, die
sich unter dem Schleier der Dunkelheit zeigten. Die Lampe warf eine
Blase dunstiger Helligkeit zu unseren Füßen. Sprachlos blieb Bea im
Eingang zum Labyrinth stehen. Ich mußte lachen, weil ich auf ihrem
Gesicht denselben Ausdruck erkannte, den mein Vater vor Jahren auf
meinem gesehen haben mußte. Wir traten in die Tunnel und Galerien
des Labyrinths, die unter unseren Schritten knarrten. Die
Markierungen, die ich bei meinem letzten Besuch angebracht hatte,
waren noch da.
»Komm, ich möchte dir etwas zeigen«, sagte ich.
Mehr als einmal verlor ich meine eigene Spur, und wir mußten ein
Stück zurückgehen, bis wir das letzte Zeichen wiederfanden. Bea
beobachtete mich beunruhigt und zugleich fasziniert. Meine
Erinnerung sagte mir, daß sich unser Weg in einer Spirale verloren
hatte, doch schließlich konnte ich im Gewirr von Korridoren und
Tunneln den richtigen Weg wiederfinden, und wir bogen in einen
schmalen Gang ein, der aussah wie ein in die Schwärze
hineinreichender Steg. Neben dem letzten Regal kniete ich nieder
und suchte mein Buch, versteckt hinter der Reihe von Bänden, die
unter einer im Licht der Lampe wie Rauhreif glänzenden Staubschicht
begraben waren. Ich ergriff es und gab es Bea.
»Darf ich dir Julián Carax vorstellen?«
»Der Schatten des Windes«, las sie und strich über die
goldenen Buchstaben des Umschlags.
»Kann ich es mitnehmen?« fragte sie.
»Jedes außer diesem.«
»Aber das ist ungerecht. Nach allem, was du mir erzählt hast,
möchte ich gerade dieses.«
»Ein andermal vielleicht. Aber heute nicht.«
Ich nahm es ihr aus den Händen und verwahrte es wieder an seinem
Ort.
»Ich werde ohne dich zurückkommen und es mitnehmen, und du wirst
nichts davon erfahren«, spottete sie.
»Du würdest es in tausend Jahren nicht finden.«
»Das meinst bloß du. Ich habe deine Markierungen schon gesehen und
kenne auch die Geschichte vom Minotaurus.«
»Isaac würde dich nicht reinlassen.«
»Da irrst du dich. Ich bin ihm sympathischer als du.«
»Woher willst du denn das wissen?«
»Ich kann Blicke lesen.«
Gegen meinen Willen glaubte ich ihr und schaute weg.
»Nimm irgendein anderes. Schau, das hier klingt vielversprechend.
Das Hochlandschwein, das unbekannte Wesen – Auf der Suche nach
den Wurzeln der iberischen Sau, von Anselmo Torquemada. Davon
sind bestimmt mehr Exemplare verkauft worden als von jedem Roman
von Julián Carax. Vom Schwein kann man alles brauchen.«
»Das andere da macht mich mehr an.«
»Tess of the d’Urbervilles. Es ist die Originalausgabe.
Wagst du dich auf englisch an Thomas Hardy ran?«
Sie schaute mich mißbilligend an.
»Es ist dein.«
»Na also. Es scheint doch ganz, als würde es auf mich warten. Als
wäre es seit vor meiner Geburt für mich hier versteckt
gewesen.«
Verdutzt schaute ich sie an. Sie verzog den Mund zu einem
Lächeln.
»Was habe ich denn gesagt?«
Da küßte ich sie, ohne nachzudenken, leicht auf die Lippen.
Es war nahezu Mitternacht, als wir vor ihrer Haustür ankamen. Wir
hatten fast den ganzen Weg schweigend zurückgelegt, da wir nicht
auszusprechen wagten, was wir dachten. Wir gingen getrennt,
verbargen uns voreinander. Mit ihrer Tess unter dem Arm
schritt Bea kerzengerade dahin, und ich folgte ihr eine Spanne
zurück, die Berührung des Kusses auf den Lippen. Noch spürte ich
Isaacs Blick beim Verlassen des Friedhofs der Vergessenen Bücher.
Es war ein Blick, den ich gut kannte, den ich tausendmal bei meinem
Vater gesehen hatte, ein Blick, der mich fragte, ob ich eigentlich
die leiseste Ahnung habe, was ich tue. Die letzten Stunden hatten
sich in einer andern Welt abgespielt, einer Welt von Blicken, die
ich nicht begriff und die mir den Verstand raubten. Jetzt, auf dem
Rückweg in die Wirklichkeit des EnsancheViertels, löste sich der
Bann, und ich empfand nur noch schmerzliches Verlangen und
namenlose Unruhe. Ein bloßer Blick auf Bea zeigte mir, daß der
Sturm auch sie durcheinandergebracht hatte. Wir blieben vor der Tür
stehen und schauten uns an, ohne uns auch nur im geringsten zu
verstellen. Ein sangesfreudiger Nachtwächter kam gemächlich näher
und trällerte Boleros, wozu er sich mit dem angenehmen Geklingel
seiner Schlüsselbüschel begleitete.
»Vielleicht wäre es dir lieber, wenn wir uns nicht mehr sehen«,
sagte ich ohne Überzeugung.
»Ich weiß nicht, Daniel. Ich weiß gar nichts. Möchtest du das
wirklich?«
»Nein, natürlich nicht. Und du?«
Sie zuckte die Schultern.
»Was glaubst du denn?« fragte sie. »Vorher habe ich dich belogen,
im Kreuzgang.«
»Womit?«
»Daß ich dich heute nicht sehen wollte.«
Der Nachtwächter ging mit einem flüchtigen Lächeln um uns herum,
scheinbar gleichgültig gegenüber meiner ersten Haustürturtelszene,
die einem so alten Fuchs banal und abgedroschen erscheinen
mußte.
»Meinetwegen brauchen Sie sich nicht zu beeilen«, sagte er.
»Ich werde an der Ecke mal ein Zigarettchen schmauchen, Sie können
mir dann sagen, wenn’s soweit ist.«
Ich wartete, bis er vorbei war.
»Wann werde ich dich wiedersehen?«
»Ich weiß es nicht, Daniel.«
»Morgen?«
»Bitte, Daniel. Ich weiß es nicht.«
Ich nickte. Sie fuhr mir mit den Fingern zärtlich übers
Gesicht.
»Besser, du gehst jetzt.«
»Weißt du wenigstens, wo du mich finden kannst?«
Sie nickte.
»Ich werde warten.«
»Ich auch.«
Als ich ging, kam bereits der Nachtwächter daher, um
aufzuschließen.
»Schamloser Kerl«, flüsterte er mir im Vorbeigehen zu, nicht ohne
eine gewisse Bewunderung. »Wirklich ein süßer Käfer.«
Ich wartete, bis Bea im Haus verschwunden war, und ging dann
leichten Schrittes davon, immer wieder zurückschauend. Langsam
beschlich mich die absurde Gewißheit, daß alles möglich war, und
ich hatte das Gefühl, selbst diese menschenleeren Straßen und der
feindliche Wind rochen nach Hoffnung. Als ich zur Plaza de Cataluña
kam, sah ich, daß sich in der Mitte ein Taubenschwarm versammelt
hatte. Sie ließen keine Handbreit Boden frei, ein Schleier weißer
Flügel, die sich lautlos wiegten. Zuerst wollte ich um sie
herumgehen, aber genau in diesem Moment sah ich, daß sich der
Schwarm vor mir auftat, ohne aufzufliegen. Ich ging langsam weiter
und sah, daß die Tauben hinter mir wieder zusammenrückten. Im
Zentrum des Platzes angekommen, hörte ich die Glocken der
Kathedrale Mitternacht schlagen. Ich blieb einen Augenblick stehen,
mitten in einem Meer silberner Vögel: Das war der merkwürdigste und
wunderbarste Tag meines Lebens gewesen.
8
Als ich vor dem Schaufenster der Buchhandlung vorbeiging, sah ich, daß noch Licht brannte. Vielleicht war mein Vater so lange aufgeblieben, um die Korrespondenz à jour zu bringen oder unter sonst einem Vorwand, um auf mich zu warten und mich über meine Verabredung mit Bea auszufragen. Ich sah jemanden einen Bücherstapel aufbauen und erkannte Fermíns hagere, sehnige Gestalt. Ich klopfte an die Schaufensterscheibe. Angenehm überrascht schaute er von seiner konzentrierten Arbeit auf und bedeutete mir, durch den Hintereingang einzutreten.
»Noch immer bei der Arbeit, Fermín? Es ist doch schon so
spät.«
»Eigentlich habe ich mir nur die Zeit vertrieben, um nachher zu dem
armen Don Federico zu gehen und bei ihm zu wachen. Eloy vom
Optikerladen und ich haben einen Schichtdienst eingerichtet. Ich
schlafe ja sowieso nicht sehr viel, höchstens zwei, drei Stunden.
Natürlich sind auch Sie nicht untätig gewesen, Daniel. Mitternacht
ist vorbei, und daraus schließe ich, daß Ihr Treffen mit dem jungen
Mädchen ein grandioser Erfolg gewesen ist.«
Ich zuckte die Schultern.
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«
»Haben Sie sie betatscht?«
»Nein.«
»Ein gutes Zeichen. Trauen Sie nie einer Frau, die sich so ohne
weiteres befingern läßt. Aber noch weniger denen, die einen
Geistlichen brauchen, um die Zustimmung einzuholen. Das Filet, wenn
der Fleischvergleich erlaubt ist, ist am besten halb durchgebraten.
Natürlich, wenn es sich ergibt, sollen Sie auch kein Duckmäuser
sein, sondern die Gelegenheit nutzen. Aber wenn das, was Sie
suchen, etwas Ernstes ist, wie bei mir mit der Bernarda, dann
denken Sie an diese goldene Regel.«
»Ist es denn ernst bei Ihnen?«
»Mehr als ernst. Spirituell. Und mit diesem Mädchen, Beatriz? Daß
sie ein Bild von einer Frau ist, springt ja ins Auge, aber der
entscheidende Punkt ist: Gehört sie zu denen, die einem
minderjährigen Bürschchen die Eingeweide in Aufruhr bringen?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
»Schauen Sie, Daniel, das ist wie bei einer Magenverstimmung.
Spüren Sie da etwas, im Magenmund? So, als hätten Sie einen
Ziegelstein verschluckt? Oder ist es nur ein allgemeines
Fieber?«
»Eher ein Ziegelstein«, sagte ich, obwohl ich auch das Fieber nicht
ganz ausschließen konnte.
»Dann ist die Sache ernst. Gott steh Ihnen bei. Los, nehmen Sie
Platz, ich mache Ihnen einen Lindenblütentee.«
Wir setzten uns an den Tisch im Hinterraum, umgeben von Büchern und
Stille. Fermín reichte mir eine dampfende Tasse und lächelte ein
wenig verlegen. Irgend etwas ging ihm durch den Kopf.
»Darf ich Sie etwas fragen, Daniel, etwas, was meine Person
betrifft?«
»Ja, natürlich.«
»Ich bitte Sie, ganz ehrlich zu antworten.« Er räusperte sich.
»Finden Sie, ich könnte Vater sein?«
Er mußte die Verdutztheit in meinem Gesicht gelesen haben und fügte
eilig hinzu:
»Ich meine nicht Vater im biologischen Sinn, ich meine Vater in
einem andern Sinn – ein guter Vater, Sie wissen schon.«
»Ein guter Vater?«
»Ja, so wie Ihrer. Ein Mann mit Kopf, Herz und Seele. Ein Mann, der
in der Lage ist, einem Kind zuzuhören, es zu führen und zu achten,
und nicht seine eigenen Fehler auf es überträgt. Jemand, den ein
Kind nicht nur liebt, weil er sein Vater ist, sondern den es als
Menschen bewundert. Jemand, dem es ähnlich sein möchte.«
»Warum fragen Sie mich das, Fermín? Ich dachte, Sie glauben nicht
an Ehe und Familie. Das Joch und so, erinnern Sie sich?«
Er nickte.
»Schauen Sie, Ehe und Familie sind nicht mehr und nicht weniger als
das, was wir daraus machen. Wenn echte Liebe da ist, eine Liebe,
die man nicht in alle Himmelsrichtungen ausposaunt, sondern die man
spürt und sich gegenseitig zeigt …«
»Sie klingen ja wie ein ganz neuer Mensch, Fermín.«
»Ich klinge nicht nur so. Die Bernarda hat in mir den Wunsch
geweckt, ein besserer Mensch zu werden.«
»Wozu denn das?«
»Um ihrer würdig zu sein. Sie sagt es zwar nicht ausdrücklich, aber
ich glaube, das größte Glück, das sie in diesem Leben haben könnte,
wäre es, Mutter zu sein. Und ich habe diese Frau lieber als
Pfirsichkompott. Ich brauche Ihnen bloß zu sagen, daß ich imstande
bin, nach zweiunddreißig Jahren klerikaler Enthaltsamkeit für sie
durch eine Kirche zu gehen und die Psalmen zu rezitieren oder was
auch immer.«
»Ich sehe, Sie sind sehr entschlossen, Fermín. Dabei haben Sie sie
doch eben erst kennengelernt …«
»In meinem Alter muß man allmählich klar sehen, wo’s langgeht,
sonst ist man am Arsch. Ich habe schon viele Dummheiten begangen,
und jetzt weiß ich, daß ich nichts anderes will, als die Bernarda
glücklich zu machen und eines Tages in ihren Armen zu sterben. Ich
will wieder ein achtbarer Mensch sein, wissen Sie. Nicht
meinetwegen, sondern ihretwegen. Die Bernarda glaubt an diese Dinge
– an die Radioserien, die Geistlichen, die Achtbarkeit und die
heilige Jungfrau von Lourdes. Sie ist so, und ich will sie genau
so, wie sie ist. Und darum will ich jemand sein, auf den sie stolz
sein kann. Sie soll denken können: Mein Fermín, das ist vielleicht
ein Mannsbild!«
»Haben Sie all das mit ihr besprochen? Zusammen Kinder zu
haben?«
»Um Gottes willen, nein. Wofür halten Sie mich? Glauben Sie, ich
gehe durch die Welt und sage zu den Frauen, ich habe Lust, Sie zu
schwängern?«
»Haben Sie der Bernarda gesagt, daß Sie eine Familie gründen
möchten?«
»So was braucht man nicht zu sagen, Daniel. Das sieht man einem
an.«
Ich nickte.
»Nun, in dem Fall bin ich sicher, daß Sie ein wunderbarer Vater und
Ehemann sein werden.«
Sein Gesicht zerfloß vor Freude.
»Meinen Sie das im Ernst?«
»Natürlich.«
»Sie nehmen mir aber wirklich einen Steinbrocken vom Herzen, Wenn
ich mich nämlich an meinen Vater nur erinnere und denke, ich könnte
für jemanden werden, was er für mich war, würde ich mich am
liebsten gleich sterilisieren lassen.«
»Seien Sie unbesorgt. Außerdem gibt es wahrscheinlich keine
Behandlung, die ihre Zeugungskraft zu brechen vermag.«
»Stimmt auch wieder. Na, gehen Sie schlafen, ich will Sie nicht
länger aufhalten.«
»Sie halten mich nicht auf. Ich habe das Gefühl, ich werde kein
Auge zutun.«
»Des einen Leid … Übrigens, erinnern Sie sich noch an das Postfach,
von dem Sie mir erzählt haben?«
»Haben Sie schon etwas rausgefunden?«
»Ich habe Ihnen ja gesagt, Sie können das ruhig mir überlassen.
Heute mittag zur Essensstunde bin ich zur Post gegangen und habe
mit einem alten Bekannten, der dort arbeitet, ein paar Worte
gewechselt. Das Postfach 2321 ist auf den Namen eines gewissen José
María Requejo eingetragen, Anwalt mit Büro in der Calle León XIII.
Ich habe mir erlaubt, die Adresse der besagten Person zu
überprüfen, und ohne Erstaunen festgestellt, daß es sie nicht gibt,
aber ich denke, das wissen Sie schon. Die Korrespondenz für dieses
Postfach wird seit Jahren von jemandem abgeholt. Das weiß ich, weil
einige der Sendungen einer Immobilienmaklerfirma eingeschrieben
kommen und man beim Abholen eine kleine Quittung unterschreiben und
die Papiere vorlegen muß.«
»Wer ist es? Ein Angestellter von Anwalt Requejo?«
»Soweit bin ich noch nicht, aber ich bezweifle es. Entweder irre
ich mich sehr, oder diesen Requejo gibt’s etwa so wie die heilige
Jungfrau von Fatima. Ich kann Ihnen nur den Namen der Person
nennen, die die Korrespondenz abholt: Nuria Monfort.«
Ich fuhr hoch.
»Nuria Monfort? Sind Sie da ganz sicher, Fermín?«
»Ich habe einige der Quittungen mit eigenen Augen gesehen. Auf
allen standen der Name und die Nummer des Personalausweises. Aus
dem Speiübelgesicht, das Sie bekommen haben, schließe ich, daß Sie
diese Enthüllung überrascht.«
»Ziemlich.«
»Darf ich fragen, wer diese Nuria Monfort ist? Der Angestellte, mit
dem ich sprach, hat mir gesagt, daß er sich ganz genau an sie
erinnern kann, weil sie vor zwei Wochen gekommen ist, um die Post
abzuholen, und seiner unparteiischen Meinung nach hat sie
attraktiver ausgesehen und eine straffere Brust gehabt als die
Venus von Milo. Und ich verlasse mich auf seine Einschätzung, denn
vor dem Krieg war er Ästhetikprofessor, aber natürlich, als
entfernter Vetter eines entmachteten Regierungschefs muß er jetzt
Ein-Peseten-Marken lecken …«
»Eben heute war ich bei dieser Frau, bei ihr zu Hause«, murmelte
ich.
Fermín schaute mich perplex an.
»Bei Nuria Monfort? Langsam denke ich, ich habe mich in Ihnen
geirrt, Daniel. Sie sind ja ein echter Verführer.«
»Nicht, was Sie denken.«
»Selber schuld. In Ihrem Alter habe ich es gehalten wie El Molino –
je eine Vorstellung am Vormittag, am Nachmittag und am Abend.«
Ich schaute dieses dürre Knochenmännchen an, ganz Nase und
gelblicher Teint, und merkte, daß er dabei war, mein bester Freund
zu werden.
»Darf ich Ihnen etwas erzählen, Fermín? Etwas, was mir schon seit
langem im Kopf rumgeht.«
»Klar doch. Alles. Besonders wenn es schlüpfrig ist und dieses
Mägdlein betrifft.«
Zum zweiten Mal an diesem Abend erzählte ich die Geschichte von
Julián Carax und seinem rätselhaften Tod. Fermín hörte mit größter
Aufmerksamkeit zu, machte sich Notizen in ein Heft und unterbrach
mich gelegentlich, um nach irgendeinem Detail zu fragen, dessen
Bedeutung mir entgangen war. Als ich mir so selber zuhörte, wurden
mir die Lücken in dieser Geschichte immer deutlicher. Mehr als
einmal wußte ich nicht mehr weiter, verirrten sich meine Gedanken
beim Versuch, herauszufinden, warum mich Nuria Monfort belogen
hatte. Was bedeutete der Umstand, daß sie jahrelang die
Korrespondenz für ein nicht existierendes Anwaltsbüro abgeholt
hatte, das sich angeblich um die Familie Fortuny-Carax in der Ronda
de San Antonio kümmerte? Ich merkte nicht, daß ich meine Zweifel
laut formuliert hatte.
»Wir können noch nicht wissen, warum diese Frau Sie belogen hat«,
sagte Fermín, »aber wir können die Vermutung wagen, daß sie, wenn
sie es in dieser Hinsicht getan hat, es auch in anderer Hinsicht
tun konnte und wahrscheinlich getan hat.«
Ich seufzte verwirrt.
»Was schlagen Sie vor?«
Fermín Romero de Torres machte eine hochphilosophische Gebärde.
»Ich werde Ihnen sagen, was wir tun können. Wenn Sie einverstanden
sind, schauen wir diesen Sonntag mal so ganz zufällig bei der
San-Gabriel-Schule vorbei und versuchen etwas rauszufinden über die
Anfänge der Freundschaft zwischen diesem Carax und dem andern
Jungen, dem Geldsack …«
»Aldaya.«
»Im Umgang mit Geistlichen bin ich sehr gewandt, Sie werden schon
sehen, und sei es nur, weil ich wie ein schlitzohriger Kartäuser
aussehe. Ein paar Schmeicheleien, und ich stecke sie allesamt in
die Tasche.«
»Und das heißt?«
»Mann! Ich garantiere Ihnen, die werden singen wie der Knabenchor
von Montserrat.«
9
Den Samstag verbrachte ich wie in Trance, fest verankert hinter dem Ladentisch und in der Hoffnung, Bea komme unversehens zur Tür herein. Jedesmal wenn das Telefon klingelte, stürzte ich mich darauf und riß meinem Vater oder Fermín den Hörer aus den Händen. Gegen Abend, nach zwanzig Kundenanrufen und ohne Nachricht von Bea, fand ich mich allmählich damit ab, daß die Welt und mein gerade so hoffnungsvoll begonnenes Leben an ihr Ende gelangten. Mein Vater war nach San Gervasio gefahren, um eine Sammlung zu schätzen, und Fermín nutzte die Gelegenheit, um mir eine weitere seiner erfahrungsgesättigten Lektionen über die Geheimnisse der Liebesverstrickungen zu geben.
»Beruhigen Sie sich, oder Sie kriegen Nierensteine«, riet
er.
»Mit dem Liebeswerben ist es wie mit dem Tango: absurd und nichts
als Fiorituren. Aber Sie sind der Mann, und als solcher müssen Sie
die Initiative ergreifen.«
Das begann ja schon unheilvoll.
»Die Initiative? Ich?«
»Was wollen Sie – im Stehen pissen zu können hat eben seinen
Preis.«
»Aber Bea hat doch durchblicken lassen, daß sie sich melden
wird.«
»Wie wenig Sie von Frauen verstehen, Daniel. Ich wette mein
Weihnachtsgeld drauf, daß dieses niedliche Mädchen jetzt zu Hause
sitzt und wie die Kameliendame zum Fenster hinausschmachtet, daß
Sie kommen und sie vor dem Grobian von Herrn Vater erretten und in
einer unaufhaltsamen Spirale von Geilheit und Sünde mitreißen.«
»Sind Sie sicher?«
»Reine Wissenschaft.«
»Und wenn sie mich nicht mehr sehen will?«
»Passen Sie auf, Daniel. Die Frauen sind, mit bemerkenswerten
Ausnahmen wie Ihre Nachbarin, die Merceditas, intelligenter als wir
– oder wenigstens ehrlicher mit sich selbst bezüglich dessen, was
sie wollen oder nicht. Etwas anderes ist es, ob sie es einem oder
der Welt auch mitteilen. Sie haben es mit dem Rätsel der Natur zu
tun. Das Weib, Babel und Labyrinth. Wenn Sie die Frau denken
lassen, sind Sie verloren. Erinnern Sie sich: heißes Herz, kühler
Verstand. Der Kodex des Verführers.«
Er wollte eben ins Detail gehen über die Besonderheiten und
Techniken der Verführungskunst, als die Türglocke klingelte und
mein Freund Tomás Aguilar eintrat. Mir blieb das Herz stehen. Zwar
verweigerte mir die Vorsehung Bea, aber sie sandte mir ihren
Bruder. Ein unheilverkündender Herold, dachte ich. Tomás machte ein
düsteres Gesicht und blickte etwas mutlos drein.
»Mit was für einer Leichenbittermiene Sie daherkommen, Don Tomás«,
sagte Fermín. »Sie trinken doch wenigstens ein Täßchen Kaffee mit
uns, nicht wahr?«
»Ich sage nicht nein«, antwortete Tomás mit seiner üblichen
Zurückhaltung.
Fermín schenkte ihm eine Tasse von dem Gebräu aus seiner
Thermosflasche ein, das verdächtig nach Sherry roch.
»Irgendein Problem?« fragte ich.
Tomás zuckte die Schultern.
»Nichts Neues. Mein Vater hat heute wieder mal seinen ganz
besonderen Tag, so daß ich lieber ein wenig an die frische Luft
gegangen bin.«
Ich schluckte.
»Wieso denn?«
»Weiß Gott, warum. Gestern nacht ist meine Schwester sehr spät nach
Hause gekommen. Mein Vater hat auf sie gewartet, ein wenig
betrunken wie immer. Sie hat sich geweigert, zu sagen, woher sie
kam und mit wem sie zusammengewesen war, und mein Vater wurde
fuchsteufelswild. Bis um vier Uhr früh hat er rumgeschrien und sie
als Hure und noch schlimmer tituliert und geschworen, sie ins
Kloster zu stecken und, falls sie schwanger ist, mit Fußtritten auf
die Straße rauszuschmeißen.«
Fermín warf mir einen alarmierten Blick zu. Ich spürte, daß sich
die Schweißtropfen, die mir den Rücken hinunterliefen, um mehrere
Grad abkühlten.
»Heute morgen«, fuhr Tomás fort, »hat sich Bea in ihrem Zimmer
eingeschlossen, und sie ist den ganzen Tag nicht mehr rausgekommen.
Mein Vater hat sich im Eßzimmer aufgebaut, um die ABC zu
lesen und im Radio Zarzuelas in voller Lautstärke zu hören. In der
Pause von Luisa Fernanda hab ich gehen müssen, sonst hätte
ich den Verstand verloren.«
»Nun, gewiß war Ihre Schwester mit ihrem Verlobten zusammen,
nicht?« stichelte Fermín. »Das ist doch normal.«
Hinter dem Ladentisch holte ich zu einem Fußtritt aus, aber Fermín
wich ihm mit katzenhafter Beweglichkeit aus.
»Ihr Verlobter leistet den Wehrdienst ab«, korrigierte Tomás.
»Er kommt erst in zwei Wochen auf Urlaub. Und außerdem, wenn sie
mit ihm ausgeht, ist sie spätestens um acht Uhr wieder zu
Hause.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wo sie war und mit wem?«
»Er hat doch schon gesagt, nein, Fermín«, mischte ich mich ein.
»Und Ihr Vater auch nicht?« Fermín amüsierte sich königlich und
ließ nicht locker.
»Nein, aber er hat geschworen, es rauszukriegen und dem
Betreffenden den Schädel einzuschlagen und die Beine abzuhacken,
sobald er ihn hat.«
Ich wurde blaß. Ohne zu fragen, gab mir Fermín eine Tasse seines
Gesöffs, und ich trank es in einem Zug aus. Mit seinem
undurchdringlichen, dunklen Blick schaute mich Tomás schweigend
an.
»Haben Sie das gehört?« sagte Fermín unversehens. »So was wie ein
Trommelwirbel vor dem Salto mortale.«
»Nein.«
»Der Bauch meiner Wenigkeit. Da hab ich doch plötzlich Hunger
gekriegt … Würde es Ihnen was ausmachen, wenn ich Sie eine Weile
allein lasse und zur Bäckerei gehe, um zu sehen, ob ich ein
Honigtörtchen kriege? Und damit meine ich noch nicht mal die neue
Verkäuferin, die vor kurzem aus Reus gekommen ist und einem das
Wasser im Munde zusammenlaufen läßt und so. Sie heißt ganz
tugendhaft María Virtudes, aber das Kindchen hat so was
Lasterhaftes … Also, ich lasse Sie allein, dann können Sie sich
über Ihre Angelegenheiten unterhalten, ja?«
In zehn Sekunden war Fermín wie weggeblasen, unterwegs zu seinem
Imbiß und der Begegnung mit dem Nymphchen. Tomás und ich blieben in
unserem Schweigen allein.
»Tomás«, begann ich mit trockenem Mund, »deine Schwester war
gestern abend mit mir zusammen.«
Er schaute mich unverwandt an.
»Sag was«, sagte ich.
»Du hast nicht alle Tassen im Schrank.«
Eine Minute lang drang Gemurmel von der Straße herein. Tomás hielt
seine Tasse in der Hand, ohne zu trinken.
»Ist es dir ernst?« fragte er.
»Ich habe mich nur ein einziges Mal mit ihr getroffen.«
»Das ist keine Antwort.«
»Würde es dir was ausmachen?«
Er zuckte die Achseln.
»Du mußt wissen, was du tust. Würdest du sie nicht mehr treffen,
nur weil ich dich darum bäte?«
»Ja«, log ich. »Aber bitte mich nicht darum.«
Er senkte den Kopf.
»Du kennst Bea nicht«, murmelte er.
Ich schwieg. Wortlos verstrichen einige Minuten; wir schauten die
grauen Gestalten an, die durchs Schaufenster hereinspähten, und
beteten, eine von ihnen möge eintreten und uns aus diesem
vergifteten Schweigen erlösen. Nach einer Weile stellte Tomás die
Tasse auf den Ladentisch und wandte sich zur Tür.
»Willst du schon gehen?«
Er nickte.
»Sehen wir uns morgen?« fragte ich. »Wir könnten ins Kino gehen,
mit Fermín, wie früher.«
Er blieb bei der Tür stehen.
»Ich sag’s dir nur einmal, Daniel. Tu meiner Schwester nicht
weh.«
Als er hinausging, kam ihm Fermín mit einer Tüte ofenfrischen
Gebäcks entgegen. Kopfschüttelnd schaute Fermín zu, wie er sich in
der Nacht verlor. Er stellte die Tüte auf den Ladentisch und bot
mir eine noch warme Marzipanschnecke an. Ich lehnte ab. Ich hätte
nicht einmal ein Aspirin hinuntergebracht.
»Das wird schon vorbeigehen, Daniel. Sie werden sehen. Unter
Freunden sind solche Dinge normal.«
»Ich weiß nicht«, murmelte ich.
10
Am Sonntagmorgen um halb acht war ich mit Fermín im Café Canaletas verabredet, wo er mich zu Milchkaffee und Brioches einlud, deren Struktur, selbst mit Butter bestrichen, eine gewisse Ähnlichkeit mit der von Bimsstein aufwies. Der Kellner, der uns bediente, trug ein Falangeabzeichen auf dem Revers und hatte einen bleistiftschmalen Schnurrbart. Er trällerte unaufhörlich vor sich hin, und als wir ihn nach dem Grund für seine wunderbare Laune fragten, erklärte er, er sei am Vortag Vater geworden. Wir beglückwünschten ihn, und da drängte er jedem von uns eine Faria-Zigarre auf, damit wir sie später am Tag aufs Wohl seines Erstgeborenen rauchten. Das sagten wir ihm zu. Fermín schaute ihn verstohlen und mit gerunzelter Stirn an, und ich vermutete, er hecke etwas aus.
Beim Frühstück erklärte er mit einer allgemeinen Skizze des
Rätsels das detektivische Tagewerk für eröffnet.
»Das Ganze beginnt mit der arglosen Freundschaft zwischen zwei
Jungen, Julián Carax und Jorge Aldaya, Klassenkameraden von
Kindesbeinen an, so wie Don Tomás und Sie. Jahrelang geht alles
gut. Unzertrennliche Freunde, die das ganze Leben vor sich haben.
Aber in irgendeinem Augenblick gibt es einen Streit, der diese
Freundschaft auseinanderbrechen läßt. Um die Salondramatiker zu
paraphrasieren: Der Streit hat den Namen einer Frau und heißt
Penélope. Sehr homerisch. Können Sie mir folgen?«
Das einzige, was mir in den Sinn kam, waren Tomás Aguilars letzte
Worte am Abend zuvor in der Buchhandlung: »Tu meiner Schwester
nicht weh.« Mir war übel.
»1919 bricht Julián Carax wie ein Westentaschenodysseus gen Paris
auf«, fuhr Fermín fort. »Der von Penélope unterschriebene Brief,
den er nie bekommt, beweist, daß die junge Frau zu diesem Zeitpunkt
bei sich zu Hause eingeschlossen ist, aus wenig klaren Gründen
Gefangene ihrer Familie, und daß die Freundschaft zwischen Aldaya
und Carax zu Ende ist. Ja, wie uns Penélope erzählt, hat ihr Bruder
Jorge geschworen, seinen ehemaligen Freund Julián umzubringen, wenn
er ihn noch einmal sieht. Starke Worte für das Ende einer
Freundschaft. Man braucht nicht Sherlock Holmes zu sein, um daraus
zu schließen, daß der Streit eine direkte Folge der Beziehung
zwischen Penélope und Carax ist.«
Kalter Schweiß bedeckte mir die Stirn. Ich spürte, wie mir der
Milchkaffee und die paar Bissen, die ich zu mir genommen hatte, den
Hals heraufkrochen.
»Trotzdem müssen wir annehmen, daß Carax nie erfährt, was mit
Penélope geschehen ist, denn der Brief gelangt nicht in seine
Hände. Sein Leben verliert sich in den Nebeln von Paris, wo er ein
geisterhaftes Dasein entfalten wird zwischen seiner Anstellung als
Pianist in einem Animierlokal und einer erbärmlichen Karriere als
erfolgloser Romancier. Diese Pariser Jahre sind ein Geheimnis.
Alles, was von ihnen bleibt, ist ein vergessenes, womöglich
verschwundenes literarisches Œuvre. Wir wissen, daß er irgendwann
beschließt, eine rätselhafte vermögende Dame zu heiraten, die
doppelt so alt ist wie er. Diese Ehe, wenn wir uns an die Zeugnisse
halten, scheint eher ein Akt der Nächstenliebe oder der
Freundschaft von Seiten einer kranken Dame zu sein als ein
romantisches Abenteuer. Besorgt um die wirtschaftliche Zukunft
ihres Protegés, beschließt die Mäzenin offensichtlich, ihm ihr
Vermögen zu vermachen und sich von dieser Welt mit einem Koitus ad
maiorem gloriam der Künste zu verabschieden. So sind die
Pariser.«
»Vielleicht war es echte Liebe«, sagte ich mit hauchdünner
Stimme.
»Sagen Sie, Daniel, geht es Ihnen nicht gut? Sie sind ja kreideweiß
und schwitzen entsetzlich.«
»Es geht mir ausgezeichnet«, log ich.
»Also, weiter im Text. Die Liebe ist wie die Wurst: Es gibt
Schweinefiletwurst, und es gibt Mortadella. Alles hat seinen Platz
und seine Funktion. Carax hatte erklärt, er fühle sich keiner Art
von Liebe würdig, und tatsächlich ist uns nichts bekannt von
irgendeiner Romanze aus seinen Pariser Jahren. Natürlich, da er in
einem Bordell gearbeitet hat, konnte er seine primäre Glut der
Instinkte vielleicht durch Fraternisieren mit den dortigen
Angestellten befriedigen, sozusagen als Bonus oder Nießnutz. Aber
das ist reine Spekulation. Kehren wir zu dem Moment zurück, wo die
Eheschließung zwischen Carax und seiner Beschützerin angekündigt
wird. Jetzt erscheint Jorge Aldaya wieder auf der Bildfläche dieser
undurchsichtigen Geschichte. Wir wissen, daß er mit Carax’ Verleger
in Barcelona Kontakt aufnimmt, um den Aufenthaltsort des
Romanautors zu erfahren. Kurz darauf, am Morgen seines
Hochzeitstags, schlägt sich Julián Carax in einem Duell mit einem
Unbekannten auf dem Friedhof Père Lachaise und verschwindet. Die
Hochzeit findet niemals statt. Von da an wird alles unklar.«
Fermín schaltete eine dramatische Pause ein und warf mir seinen
Spionagefilmblick zu.
»Vermutlich geht Carax über die Grenze, und um einmal mehr seinen
sprichwörtlichen Sinn für die goldrichtige Gelegenheit zu beweisen,
kehrt er 1936 nach Barcelona zurück, genau bei Ausbruch des
Bürgerkriegs. Was er in diesen Wochen in Barcelona unternimmt und
wo er sich aufhält, ist nicht bekannt. Wir vermuten, er bleibt
einen Monat in der Stadt und setzt sich in dieser Zeit mit keinem
seiner Bekannten in Verbindung, weder mit seinem Vater noch mit
seiner Freundin Nuria Monfort. Kurze Zeit später findet man ihn
erschossen auf der Straße auf. Und unverzüglich erscheint ein
unheilvoller Zeitgenosse, der sich als Laín Coubert ausgibt, ein
Name, den er bei einer Figur aus Carax’ letztem Roman ausleiht,
die, um das Maß vollzumachen, niemand anders ist als der
Höllenfürst. Der mutmaßliche Teufel ist entschlossen, das wenige,
was von Carax bleibt, verschwinden zu lassen und seine Bücher für
immer zu vernichten. Um das Melodrama abzurunden, erscheint er als
Mann ohne Gesicht, durchs Feuer entstellt. Ein Bösewicht, einer
Schauermär entsprungen, bei dem, um alles noch vollends zu
komplizieren, Nuria Monfort Jorge Aldayas Stimme zu erkennen
glaubt.«
»Ich erinnere Sie daran, daß mich Nuria Monfort belogen hat«, sagte
ich.
»Gewiß, aber auch wenn sie Sie belogen hat, hat sie es
möglicherweise eher durch Auslassen getan und vielleicht, um sich
selbst aus den Ereignissen herauszuhalten. Es gibt wenig Gründe,
die Wahrheit zu sagen, aber unendlich viele, um zu lügen. Sagen
Sie, geht es Ihnen auch wirklich gut? Ihr Gesicht hat die Farbe von
galicischem Tetillakäse.«
Ich schüttelte den Kopf und sauste Richtung Toilette davon.
Ich erbrach das Frühstück, das Abendessen und einen guten Teil der
Wut, die ich verspürte. Ich wusch mir das Gesicht mit eiskaltem
Wasser und betrachtete mein Bild in dem trüben Spiegel, auf den
jemand mit Wachsstift gekritzelt hatte: »Girón, du Schwein«. Wieder
am Tisch, stellte ich fest, daß Fermín an der Theke stand und mit
unserem Kellner über Fußball diskutierte, während er die Rechnung
bezahlte.
»Geht’s besser?« fragte er.
Ich nickte.
»Das ist ein Blutdruckabfall«, sagte er. »Da, nehmen Sie ein
Lutschbonbon, das kuriert alles.«
Als wir das Café verließen, beharrte er darauf, mit dem Taxi zur
San-Gabriel-Schule zu fahren und uns die UBahn für einen andern Tag
aufzuheben, mit dem Argument, es sei ein Morgen wie im Bilderbuch
und die Tunnel seien für die Ratten.
»Ein Taxi nach Sarriá kostet ein Vermögen«, warf ich ein.
»Das übernimmt die Berufskasse der Idioten«, sagte er.
»Der Patriot da hat sich im Wechselgeld vertan, und wir haben ein
gutes Geschäft gemacht. Und in Ihrem Zustand ist eine Reise unter
Tag nichts für Sie.«
Derart mit unrechtmäßigen Mitteln versehen, stellten wir uns unten
an der Rambla de Cataluña an eine Ecke und warteten auf ein Taxi.
Wir mußten einige vorbeifahren lassen, denn Fermín erklärte, wenn
er schon einmal in ein Auto steige, müsse es zumindest ein
Studebaker sein. Erst nach einer Viertelstunde erschien ein ihm
zusagendes Fahrzeug, das er mit aufgeregtem Fuchteln stoppte. Er
wollte unbedingt auf dem Vordersitz fahren, was ihm Gelegenheit
gab, sich in eine Diskussion über das Gold von Moskau und Josef
Stalin einzulassen, der des Fahrers Idol und geistiger Führer auf
Distanz war.
»In diesem Jahrhundert hat es drei große Figuren gegeben: Dolores
Ibárruri, Manolete und Josef Stalin«, verkündete der Fahrer,
entschlossen, uns mit einer detaillierten Hagiographie des
illustren Genossen zu beglücken.
Ich saß bequem auf dem Rücksitz, ohne mich an dem Gespräch zu
beteiligen, und genoß durchs offene Fenster die frische Luft.
Fermín, begeistert von der Spazierfahrt im Studebaker, animierte
den Fahrer mit gezielten Fragen.
»Nun, ich habe gehört, seit er einen Mispelkern verschluckt hat,
leidet er gräßlich an der Prostata und kann jetzt nur noch
urinieren, wenn man ihm die Internationale vorsingt«, warf Fermín
hin.
»Faschistische Propaganda«, entgegnete der Fahrer. »Der Genosse
pißt wie ein Stier. Mit so ’ner Wassermenge kann selbst die Wolga
nicht aufwarten.«
Diese angeregte Debatte begleitete uns auf der ganzen Fahrt durch
die Vía Augusta zum höhergelegenen Teil der Stadt. Es wurde immer
heller, und eine frische Brise überzog den Himmel mit tiefem Blau.
Als wir zur Calle Ganduxer gelangten, bog der Fahrer rechts ein,
und gemächlich fuhren wir zum Paseo de la Bonanova hinauf.
Die San-Gabriel-Schule erhob sich baumumstanden am oberen Ende
einer engen Straße, die sich von der Bonanova heraufschlängelte.
Die mit dolchförmigen Fenstern gespickte Fassade betonte das Profil
eines gotischen Palastes aus rotem Backstein und schien zwischen
Bogen und Türmen zu schweben, die in kathedralähnlichen Grannen
über die Wipfel der Platanen aufragten. Wir stiegen aus und
betraten einen dichtbewachsenen Garten voller Brunnen, aus denen
sich verrostete Putten erhoben, und durchflochten von steinernen
Pfaden, die zwischen den Bäumen hinanführten. Auf dem Weg zum
Haupteingang setzte mich Fermín mit einer seiner Lektionen zur
Sozialgeschichte über die Institution ins Bild.
»Obwohl sie Ihnen jetzt wie Rasputins Mausoleum erscheinen mag, war
die San-Gabriel-Schule seinerzeit eines der angesehensten und
exklusivsten Institute von ganz Barcelona. In den Zeiten der
Republik ist sie heruntergekommen, denn die damaligen Neureichen,
die neuen Industriellen und Bankiers, deren Sprößlingen man
jahrelang einen Platz verweigert hatte, weil ihre Namen nach Neu
rochen, beschlossen, ihre eigenen Schulen zu gründen, wo man sie
respektvoll behandelte und wo sie ihrerseits anderer Leute Kindern
einen Platz verweigern konnten. Das Geld ist wie jedes andere
Virus: Sobald die Seele dessen, der es hortet, verfault, macht es
sich auf die Suche nach frischem Blut. In dieser Welt währt ein
Name weniger lange als eine Zuckermandel. In ihren guten Zeiten,
also mehr oder weniger zwischen 1880 und 1930, nahm die
San-Gabriel-Schule die Crème de la crème der verwöhnten Kinder aus
altem Adel und mit klingender Börse auf. Die Aldayas und Konsorten
kamen als Internatsschüler an diesen düsteren Ort, um sich mit
ihresgleichen zu verbrüdern, die Messe zu hören und Geschichte zu
lernen, damit sie sie auf diese Weise ad nauseam wiederholen
konnten.«
»Aber Julián Carax war nicht unbedingt einer von ihnen«, bemerkte
ich.
»Nun, manchmal bieten diese vortrefflichen Institutionen für die
Kinder des Gärtners oder eines Schuhputzers ein oder zwei
Stipendien an, um so ihre Geisteserhabenheit und christliche
Großherzigkeit zu demonstrieren. Die wirkungsvollste Art, die Armen
unschädlich zu machen, besteht darin, daß man sie lehrt, die
Reichen imitieren zu wollen. Das ist das Gift, und damit blendet
der Kapitalismus die …«
»Pst, Fermín, wenn einer dieser Geistlichen Sie hört, wird man uns
rausschmeißen«, unterbrach ich ihn leise, als ich sah, daß uns oben
auf der Treppe, die zum Schulportal emporführte, zwei Priester mit
einer Mischung aus Neugier und Reserviertheit beobachteten, und ich
fragte mich, ob sie wohl von unserem Gespräch etwas mitbekommen
hatten.
Einer von ihnen kam mit höflichem Lächeln und bischöflich auf der
Brust gefalteten Händen auf uns zu. Er mußte etwa fünfzig sein, und
seine schlanke Gestalt und das schüttere Haar ließen ihn wie einen
Raubvogel aussehen. Er hatte einen durchdringenden Blick und roch
nach frischem Kölnisch Wasser und Mottenpulver.
»Guten Morgen. Ich bin Pater Fernando Ramos«, verkündete er. »Womit
kann ich Ihnen dienen?«
Fermín reichte ihm die Hand, die der Priester, in sein eisiges
Lächeln gehüllt, kurz studierte, ehe er sie drückte.
»Fermín Romero de Torres, bibliographischer Berater von Sempere und
Sohn, höchst erfreut, Ihre fromme Exzellenz zu grüßen. Hier zu
meiner Seite befindet sich mein Mitarbeiter und zugleich Freund
Daniel, ein junger Mann mit großer Zukunft und von ausgewiesen
christlichem Wesen.«
Pater Fernando betrachtete uns, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich
wäre am liebsten im Erdboden verschwunden.
»Das Vergnügen ist ganz meinerseits, Señor Romero de Torres«,
antwortete er gallig. »Darf ich Sie fragen, was dieses großartige
Duo zu unserer bescheidenen Anstalt führt?«
Ich beschloß einzugreifen, ehe Fermín dem Priester eine weitere
Ungeheuerlichkeit auftischte und wir uns eiligst davonmachen
müßten.
»Pater Fernando, wir versuchen zwei ehemalige Schüler der
San-Gabriel-Schule zu finden: Jorge Aldaya und Julián Carax.«
Pater Fernando preßte die Lippen zusammen und zog eine Braue in die
Höhe.
»Julián ist vor über fünfzehn Jahren gestorben, und Aldaya ist nach
Argentinien ausgewandert«, sagte er knapp.
»Haben Sie sie gekannt?« fragte Fermín.
Der sezierende Blick des Priesters verweilte auf jedem von uns,
bevor er antwortete.
»Wir waren Klassenkameraden. Darf ich fragen, woher Ihr Interesse
rührt?«
Ich dachte eben darüber nach, wie wir diese Frage beantworten
sollten, da kam mir Fermín zuvor.
»Es ist so, daß uns eine Anzahl Dinge in die Hände gelangt sind,
die den beiden Erwähnten gehören oder gehörten – in diesem Punkt
ist die Rechtsprechung ja unklar.«
»Und welcher Natur sind die besagten Dinge, wenn die Frage
gestattet ist?«
»Ich bitte Euer Gnaden, unser Schweigen zu akzeptieren, denn bei
diesem Gegenstande gibt es, so wahr Gott lebt, nur zu viele Gründe
des Bedenkens und Verschweigens, die nichts mit dem allerhöchsten
Vertrauen zu tun haben, das uns Ihre Exzellenz und der Orden, den
Sie so würdevoll und fromm vertreten, abverdienen«, sagte Fermín in
rasendem Tempo.
Pater Fernando schaute ihn an, beinahe erstarrt. Ich beschloß, den
Gesprächsfaden wiederaufzunehmen, bevor Fermín zu Atem käme.
»Die von Señor Romero de Torres angesprochenen Dinge sind
familiärer Natur, Andenken und Gegenstände von ausschließlich
gefühlsmäßigem Wert. Worum wir Sie bitten möchten, Pater, wenn es
Ihnen nicht allzuviel ausmacht, ist, daß Sie uns von Ihren
Erinnerungen an Julián und Aldaya aus der Schulzeit erzählen.«
Noch immer betrachtete uns Pater Fernando argwöhnisch. Es lag auf
der Hand, daß ihm die Erklärungen, die wir ihm gegeben hatten,
nicht ausreichten, um unser Interesse zu rechtfertigen und ihn zur
Mitwirkung zu gewinnen. Ich warf Fermín einen hilfesuchenden Blick
zu, damit er irgendeine List fände, um den Pater
herumzukriegen.
»Wissen Sie, daß Sie ein wenig Julián gleichen, als er jung war?«
fragte mich der Pater unversehens.
Fermíns Blick leuchtete auf. Was hat er bloß vor, dachte ich.
»Sie sind ein Fuchs, Hochwürden«, rief Fermín mit gespieltem
Erstaunen. »Ihr Scharfsinn hat uns erbarmungslos demaskiert. Sie
werden es mindestens zum Kardinal oder Papst bringen.«
»Wovon reden Sie?«
»Ist es denn nicht eindeutig und offensichtlich, Eminenz?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Dürfen wir mit dem Beichtgeheimnis rechnen?«
»Das ist ein Garten, kein Beichtstuhl.«
»Es genügt uns Ihre geistliche Diskretion.«
»Die haben Sie.«
Fermín seufzte tief und schaute mich melancholisch an.
»Daniel, wir dürfen diesen heiligen Soldaten Christi nicht weiter
belügen.«
»Natürlich nicht …«, bekräftigte ich völlig verwirrt.
Fermín trat nahe an den Priester heran und flüsterte ihm
vertraulich zu:
»Pater, wir haben felsenfeste Gründe zur Annahme, daß unser Freund
Daniel da nichts anderes ist als ein heimlicher Sohn des
verblichenen Julián Carax. Daher unser Interesse, seine
Vergangenheit zu rekonstruieren und die Erinnerung an einen
abwesenden bedeutenden Mann wiederzuerlangen, den die Parze von der
Seite eines armen Jungen zu reißen für gut befunden hat.«
Verdutzt starrte mich der Pater an.
»Trifft das zu?«
Ich nickte. Tief betrübt klopfte mir Fermín auf die Schulter.
»Schauen Sie das arme Bürschchen an, wie es einen im Nebel der
Erinnerung verschwundenen Vater sucht. Was kann es Traurigeres
geben als das, können mir das Eure heilige Magnifizenz
verraten?«
»Haben Sie Beweise, die Ihre Behauptungen untermauern?«
Fermín packte mich am Kinn und bot mein Gesicht als Zahlungsmittel
dar.
»Welchen weiteren Beweis begehren Monsignore noch als dieses
Antlitz, stummer, beweiskräftiger Zeuge des fraglichen
Vaterschaftsakts?«
Der Priester schien zu schwanken.
»Werden Sie mir helfen, Pater?« flehte ich verschlagen.
»Bitte …«
Pater Fernando seufzte unbehaglich.
»Ich sehe nichts Böses dabei, denke ich«, sagte er schließlich.
»Was wollen Sie wissen?«
»Alles«, sagte Fermín.
11
Pater Fernandos Zusammenfassung seiner Erinnerungen hatte einen gewissen Predigtton. Mit meisterhafter Knappheit konstruierte er seine stilreinen Sätze und erfüllte sie mit einem Rhythmus, der gleichsam als Zugabe eine unausgesprochene Moral einzuschließen schien. In jahrelangem Lehrerdasein hatte er sich diesen bestimmten, didaktischen Ton eines Mannes erworben, der es gewohnt ist, daß man ihn vernimmt, der sich aber fragt, ob man ihm auch zuhört.
»Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, ist Julián Carax 1914 in die San-Gabriel-Schule eingetreten. Ich habe mich sogleich zu ihm hingezogen gefühlt – wir gehörten beide zu der kleinen Gruppe Schüler, die nicht aus vermögenden Familien stammten. Man hat uns das Hungerleiderkommando genannt. Jeder von uns beiden hatte seine eigene Geschichte. Ich hatte ein Stipendium für einen Platz bekommen, weil mein Vater fünfundzwanzig Jahre lang in der Küche dieses Hauses gearbeitet hatte. Julián war dank der Fürsprache von Señor Aldaya aufgenommen worden, der Kunde des Hutladens Fortuny war, welcher Juliáns Vater gehörte. Natürlich waren das andere Zeiten, damals hat sich die Macht noch in einzelnen Familien und Dynastien konzentriert. Das ist eine verschwundene Welt, deren letzte Überbleibsel die Republik weggeschwemmt hat, zum Guten vermutlich, und von ihr sind nur diese Namen im Briefkopf gesichtsloser Unternehmen, Banken und Konsortien geblieben. Wie alle alten Städte ist auch Barcelona eine Summe von Ruinen. Die großen Herrlichkeiten, deren sich viele brüsten, Paläste, Faktoreien und Monumente, Insignien, mit denen wir uns identifizieren, sind bloß noch Leichen, Reliquien einer untergegangenen Zivilisation.«
An diesem Punkt schaltete Pater Fernando eine feierliche Pause ein, als erwarte er von der Gemeinde ein paar lateinische Brocken zur Antwort.
»Ja und amen, Ehrwürden. Was für eine bedeutsame Wahrheit«, sagte Fermín, um das unangenehme Schweigen zu überbrücken.
»Sie haben uns vom ersten Jahr meines Vaters in der Schule
erzählt«, bemerkte ich sanft.
Pater Fernando nickte.
»Schon damals hat er sich Carax genannt, obwohl sein erster Name
Fortuny war. Anfänglich haben ihn einige Jungs deswegen gehänselt –
und natürlich weil er einer des Hungerleiderkommandos war.
Sie haben sich auch über mich lustig gemacht, weil ich der Sohn des
Kochs war. Sie wissen ja, wie Kinder sind. Im Grunde ihres Herzens
hat Gott sie mit Güte erfüllt, aber sie wiederholen eben, was sie
zu Hause hören.«
»Unschuldige Kinderchen«, sagte Fermín.
»Was wissen Sie noch von meinem Vater?«
»Nun, das ist schon so lange her … Der beste Freund Ihres Vaters
war damals nicht Jorge Aldaya, sondern ein Junge namens Miquel
Moliner. Miquel kam aus einer fast so reichen Familie wie die
Aldayas, und ich würde mich zu der Aussage versteigen, er sei der
verrückteste Schüler gewesen, den man hier je gesehen hat. Der
Rektor glaubte, er sei vom Teufel besessen, weil er während der
Messe immer Marx auf deutsch rezitiert hat.«
»Eindeutiges Zeichen von Besessenheit«, bestätigte Fermín.
»Miquel und Julián haben sich gut verstanden. Manchmal haben wir
uns in der Mittagspause zu dritt getroffen, und Julián hat uns
Geschichten erzählt. Andere Male hat er von seiner Familie und den
Aldayas berichtet …«
Der Priester schien zu zögern.
»Auch nach dem Verlassen der Schule sind Miquel und ich noch eine
Zeitlang in Kontakt geblieben. Damals war Julián bereits nach Paris
gegangen. Ich weiß, daß sich Miquel nach ihm gesehnt hat, und oft
hat er von ihm gesprochen und sich an Geheimnisse erinnert, die
Julián ihm vor Zeiten anvertraut hatte. Als ich dann ins
Priesterseminar ging, sagte Miquel, ich sei zum Feind übergetreten.
Das war zwar scherzhaft gemeint, aber Tatsache ist, daß wir uns
auseinandergelebt haben.«
»Haben Sie davon gehört, daß Miquel eine gewisse Nuria Monfort
geheiratet hat?«
»Miquel, geheiratet?«
»Erstaunt Sie das?«
»Vermutlich sollte es nicht, aber … Ich weiß nicht. Ich habe
wirklich seit vielen Jahren nichts mehr von ihm gehört. Seit vor
dem Krieg.«
»Hat er Ihnen gegenüber einmal den Namen Nuria Monfort
erwähnt?«
»Nein, nie. Und auch nichts von einer Heirat oder daß er eine
Freundin hatte … Hören Sie, ich bin mir gar nicht sicher, ob ich
Ihnen das alles erzählen darf. Das sind Dinge, die mir Julián und
Miquel unter vier Augen mitgeteilt haben, im stillen
Einverständnis, daß sie unter uns bleiben würden …«
»Wollen Sie einem Sohn die einzige Möglichkeit versagen, die
Erinnerung an seinen Vater wiederzuerlangen?« fragte Fermín.
Pater Fernando schien zwischen dem Zweifel und, wie mir schien, dem
Wunsch nach Erinnerung hin und her gerissen, danach, diese
verlorenen Tage Wiederaufleben zu lassen.
»Vermutlich sind so viele Jahre vergangen, daß es keine Rolle mehr
spielt. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem Julián uns
erklärt hat, wie er die Aldayas kennengelernt und wie das
unmerklich sein Leben verändert hatte …«
… An einem Oktobernachmittag des Jahres 1914 machte vor dem Hutladen Fortuny in der Ronda de San Antonio ein Objekt halt, das viele für eine rollende Familiengruft hielten. Ihm entstieg die majestätisch-arrogante Gestalt Don Ricardo Aldayas, schon damals einer der reichsten Männer nicht nur Barcelonas, sondern Spaniens, dessen Textilindustrieimperium sich in Zitadellen und Kolonien längs der Flüsse von ganz Katalonien hinzog. Seine Rechte hielt die Zügel des Bankwesens und Grundbesitzes der halben Provinz, während die Linke unermüdlich die Fäden von Abgeordnetenversammlung, Rathaus, mehreren Ministerien, Bistum und Hafenzollbehörden zog.
An diesem Nachmittag benötigte das jedermann einschüchternde, entblößte Haupt mit dem üppigen Schnurr- und dem königlichen Backenbart einen Hut. Aldaya trat in Antoni Fortunys Laden, und nachdem er einen flüchtigen Blick auf die Einrichtung geworfen hatte, schaute er aus dem Augenwinkel den Hutmacher und seinen Gehilfen, den jungen Julián, an und sprach folgendes: »Wie ich höre, kommen von hier entgegen jedem Anschein die besten Hüte Barcelonas. Der Oktober sieht übel aus, und ich werde sechs Zylinder, ein Dutzend Melonen und mehrere Jagdmützen brauchen sowie etwas, was ich im Parlament in Madrid tragen kann. Schreiben Sie es sich auf, oder muß ich es Ihnen wiederholen?« Das war der Beginn eines langwierigen – und lukrativen – Prozesses, in dem Vater und Sohn mit vereinten Kräften Don Ricardo Aldayas Bestellung anfertigten. Julián, der die Zeitung zu lesen pflegte, wußte um Aldayas Stellung und sagte sich, er könne seinen Vater jetzt, im entscheidenden Moment seines Geschäfts, nicht im Stich lassen. Seit der Potentat seinen Laden betreten hatte, schwebte der Hutmacher vor Wonne. Aldaya hatte versprochen, wenn er an der Ausführung Gefallen finde, werde er den Laden in seinem ganzen Bekanntenkreis weiterempfehlen. Das bedeutete, daß der Hutladen Fortuny vom ehrbaren, aber bescheidenen Geschäft den Sprung in die höchsten Kreise machen und groß- und kleinköpfige Abgeordnete, Bürgermeister, Kardinäle und Minister behuten würde. Die Tage dieser Woche vergingen wie im Traum. Julián blieb der Schule fern und arbeitete achtzehn und zwanzig Stunden täglich im Atelier hinter dem Laden. Ganz begeistert umarmte ihn sein Vater ab und zu und küßte ihn sogar, ohne es zu merken. Ja er schenkte seiner Frau Sophie zum ersten Mal in vierzehn Jahren ein Kleid und ein Paar neue Schuhe. Der Hutmacher war nicht wiederzuerkennen. Am Sonntag vergaß er, zur Messe zu gehen, und am selben Nachmittag schloß er Julián mit stolzgeschwellter Brust in die Arme und sagte mit Tränen in den Augen zu ihm: »Großvater wäre stolz auf uns.«
Einer der technisch und politisch schwierigsten Prozesse in der verschwundenen Wissenschaft der Hutmacherei war das Maßnehmen. Laut Julián war Don Ricardo Aldayas Schädel von bäurischer Wuchtigkeit. Der Hutmacher war sich der Schwierigkeiten bewußt, kaum hatte er das Haupt des bedeutenden Mannes zu Gesicht bekommen, und als Julián am selben Abend sagte, der Kopf erinnere ihn an gewisse Formationen des Montserratgebirges, konnte Fortuny nur zustimmen. »Vater, mit allem Respekt, Sie wissen, daß ich beim Maßnehmen eine geschicktere Hand habe als Sie, da Sie nervös werden. Lassen Sie mich machen,« Der Hutmacher willigte gern ein, und als Aldaya am nächsten Tag in seinem Mercedes vorfuhr, empfing ihn Julián und führte ihn ins Atelier. Sowie Aldaya sah, daß ihm ein vierzehnjähriger Junge Maß nehmen würde, brauste er auf:
»Was soll denn das? Ein Dreikäsehoch? Das ist ja haarsträubend!« Julián, der um die öffentliche Bedeutung des Mannes wußte, von ihm aber überhaupt nicht eingeschüchtert wurde, antwortete: »Señor Aldaya, viele Haare, die sich sträuben könnten, haben Sie nicht, dieser Scheitel sieht aus wie die Plaza de las Arenas, und wenn wir Ihnen nicht schnellstens eine Garnitur Hüte anfertigen, wird man Ihre Schädeldecke mit dem Stadtplan von Barcelona verwechseln.« Bei diesen Worten glaubte Fortuny zu sterben. Aldaya faßte Julián gelassen ins Auge und begann dann zu aller Erstaunen zu lachen, wie er es sei Jahren nicht mehr getan hatte.
»Dieser Ihr Junge wird es weit bringen, Fortunato«, sagte Aldaya, der sich den Namen des Hutmachers nicht merken konnte.
Don Ricardo Aldaya, so stellte sich heraus, hatte es satt, daß ihn alle fürchteten, ihm um den Bart gingen und sich vor ihm auf den Boden legten wie Fußabstreifer. Er verachtete Arschkriecher, Angsthasen und alle, die irgendeine körperliche, geistige oder moralische Schwäche zeigten. Als er auf diesen einfachen Jungen traf, kaum ein Lehrling, der die Dreistigkeit und Schlagfertigkeit hatte, ihn auf den Arm zu nehmen, wurde ihm klar, daß er tatsächlich den idealen Hutladen gefunden hatte, und er verdoppelte seine Bestellung. Bereitwillig kam er in dieser Woche täglich zu seiner Sitzung, um sich von Julián Maß nehmen und Modelle anprobieren zu lassen. Antoni Fortuny war erstaunt, als er sah, wie sich einer der wichtigsten Männer der katalanischen Gesellschaft bei den Scherzen und Geschichten vor Lachen bog, die ihm dieser Sohn erzählte, der ihm unbekannt war, mit dem er nie sprach und der seines Wissens noch nie Sinn für Humor an den Tag gelegt hatte. Am Ende dieser Woche nahm Aldaya den Hutmacher beim Schlafittchen und zog ihn in eine Ecke zum vertraulichen Gespräch.
»Hören Sie zu, Fortunato, dieser Ihr Sohn ist ein Talent, und Sie lassen ihn hier in diesem Saftladen versauern und verstauben.«
»Das ist ein gutes Geschäft, Don Ricardo, und der Junge zeigt eine gewisse Begabung, obwohl es ihm an Benehmen fehlt.«
»Dummes Zeug. Auf welche Schule schicken Sie ihn?« »Nun, also,
er geht auf die …«
»Das sind Tagelöhnerfabriken. Wenn man das Talent, das Genie in der
Jugend nicht fördert, verkümmert es und zehrt den auf, der es
besitzt. Man muß es in die richtigen Bahnen lenken, es
unterstützen. Verstehen Sie mich, Fortunato?«
»Sie täuschen sich in meinem Sohn. Von einem Genie hat er nicht das geringste. In Geographie kommt er mit Ach und Krach auf ein Genügend … Die Lehrer sagen mir, er ist ein Windbeutel, der sich sehr schlecht benimmt, genau wie seine Mutter, aber hier wird er wenigstens immer einen ehrenwerten Beruf haben und …«
»Fortunato, Sie langweilen mich. Noch heute werde ich mich mit dem Vorstand der San-Gabriel-Schule treffen und werde sagen, man soll Ihren Sohn in dieselbe Klasse aufnehmen, in der mein Erstgeborener ist, Jorge. Weniger wäre erbärmlich.«
Fortuny machte Augen wie Wagenräder.
»Aber, Don Ricardo, ich könnte ja nicht einmal die Kosten …«
»Niemand hat gesagt, Sie brauchen auch nur einen Heller zu bezahlen. Um die Erziehung des Jungen kümmere ich mich. Sie, als Vater, brauchen nur ja zu sagen.«
»Ja, selbstverständlich, aber …«
»Also kein weiteres Wort mehr. Immer vorausgesetzt natürlich,
Julián ist einverstanden.«
»Er wird tun, was man ihm befiehlt, versteht sich.«
In diesem Augenblick schaute Julián mit einem Modell in der Hand
zur Tür des Hinterraums herein.
»Don Ricardo, wenn Sie so gut sein wollen …«
»Sag mal, Julián, was hast du heute nachmittag vor?« fragte
Aldaya.
Julián schaute abwechselnd zu seinem Vater und zum
Industriellen.
»Nun, hier im Laden meinem Vater zu helfen.«
»Abgesehen davon.«
»Ich wollte eigentlich in die Bibliothek von …«
»Du magst Bücher, was?«
»Jawohl.«
»Zu Hause habe ich eine Bibliothek von vierzehntausend Bänden,
Julián. Als junger Mensch habe ich viel gelesen, aber nun habe ich
keine Zeit mehr. Meinen Sohn Jorge bringen keine zehn Pferde in die
Bibliothek. Die einzige zu Hause, die denkt und liest, ist meine
Tochter Penélope, so daß eigentlich all diese Bücher für die Katz
sind. Möchtest du sie sehen?«
Julián brachte kein Wort heraus und nickte. Der Hutmacher verfolgte
die Szene unruhig. Alle Welt wußte, daß Romane für Frauen und für
Leute waren, die nichts zu tun hatten.
»Fortunato, Ihr Sohn kommt mit mir, ich will ihn meinem Jorge
vorstellen. Keine Bange, später bringen wir ihn wieder nach Hause.
Sag mal, mein Junge, bist du schon einmal in einen Mercedes
eingestiegen?«
Daraus schloß Julián, daß das der Name dieses kaiserlichen Stücks
war, das der Industrielle zur Fortbewegung gebrauchte. Er
schüttelte den Kopf.
»Dann wird es aber allmählich Zeit. Es ist wie in den Himmel
fahren, nur braucht man nicht zu sterben dabei.«
Antoni Fortuny sah sie in dieser gewaltigen Luxuskarosse
davonfahren, und als er in seinem Herzen suchte, verspürte er nur
Trauer. Beim Abendessen mit Sophie (die ihr neues Kleid und die
neuen Schuhe trug und kaum noch Male und Narben zeigte) fragte er
sich, worin er sich diesmal geirrt hatte. Genau dann, als Gott ihm
einen Sohn zurückgab, nahm Aldaya ihn ihm wieder weg.
Noch nie war Julián über die Diagonal hinausgekommen. Diese aus
Alleen, alten Stammsitzen und auf eine Stadt wartenden Palästen
bestehende Linie war eine verbotene Grenze. Oberhalb der Diagonal
lagen geheimnisvolle, reiche, legendenhafte Weiler, Hügel und Orte.
Während sie sie überquerten, erzählte ihm Aldaya von der
San-Gabriel-Schule und von neuen Freunden, die er haben würde.
»Und du, Julián, was ist denn dein Ziel? Im Leben, meine ich.«
»Ich weiß nicht. Manchmal denke ich, ich möchte Schriftsteller
werden. Romanautor.«
»Klar, du bist noch sehr jung. Und sag, das Bankgeschäft lockt dich
nicht?«
»Ich weiß es nicht, Señor. Daran habe ich eigentlich noch gar nie
gedacht. Ich habe noch nie mehr als drei Peseten auf einmal
gesehen. Die Hochfinanz ist ein Geheimnis für mich.«
Aldaya lachte.
»Da gibt es überhaupt kein Geheimnis, Julián. Der Trick besteht
darin, nicht drei und drei Peseten zusammenzubringen, sondern drei
Millionen und drei Millionen. Dann gibt es kein wirkliches Rätsel
mehr. Nicht einmal die Heilige Dreifaltigkeit.«
Als sie an diesem Nachmittag die Avenida del Tibidabo hinauffuhren,
glaubte Julián die Pforten des Paradieses zu durchschreiten.
Villen, die ihm wie Kathedralen erschienen, flankierten den Weg.
Auf halber Strecke bog der Fahrer ab, und sie fuhren durch das
Gittertor einer der Villen. Auf der Stelle setzte sich eine
Heerschar von Bediensteten in Bewegung, um den Herrn zu empfangen.
Alles, was Julián sehen konnte, war ein majestätisches,
dreistöckiges altes Haus. Es war ihm noch nie in den Sinn gekommen,
daß an einem solchen Ort wirkliche Menschen wohnen könnten. Er ließ
sich durch die Eingangshalle mitziehen, durchquerte einen gewölbten
Saal, von dem aus eine von Samtvorhängen gesäumte Marmortreppe in
die Höhe führte, und trat in einen großen Raum, dessen Wände vom
Boden bis zur Unendlichkeit mit Büchern verkleidet waren.
»Na?« fragte Aldaya.
Julián hörte ihn kaum.
»Damián, sag Jorge, er soll sogleich in die Bibliothek
herunterkommen. Du wirst andere Kleider benötigen, Julián. Manche
Barbaren achten nur auf das Äußere … Ich werde Jacinta sagen, sie
soll das übernehmen, du brauchst dich um nichts zu kümmern. Und
vielleicht sagst du deinem Vater besser nichts davon, damit er sich
nicht verletzt fühlt. Schau, da kommt Jorge. Jorge, du sollst einen
prima Jungen kennenlernen, der dein neuer Klassenkamerad sein wird.
Julián Fortu …«
»Julián Carax«, präzisierte Julián.
»Julián Carax«, wiederholte Aldaya zufrieden. »Gefällt mir, wie es
klingt. Das ist mein Sohn Jorge.«
Julián reichte ihm die Hand, und Jorge ergriff sie. Es war ein
schwammiger Händedruck. Nach einer Kindheit in dieser Puppenwelt
war sein Gesicht blaß ziseliert. Er trug Kleider und Schuhe, die
Julián wie aus einem Roman vorkamen. Sein Blick verriet Süffisanz
und Anmaßung, Verachtung und zuckersüße Höflichkeit. Julián
lächelte ihm offen zu, als er unter diesem Panzer von Gepränge und
Würde Unsicherheit, Angst und Leere erkannte.
»Stimmt es, daß du keins dieser Bücher gelesen hast?«
»Bücher sind langweilig.«
»Bücher sind Spiegel: Man sieht in ihnen nur, was man schon in sich
hat«, erwiderte Julián.
Don Ricardo Aldaya lachte wieder.
»Nun, ich lasse euch allein, damit ihr euch kennenlernen könnt.
Julián, du wirst sehen, daß Jorge unter dieser Maske des
verzogenen, eingebildeten Jungen nicht so dumm ist, wie er
ausschaut. Etwas von seinem Vater hat er schon.«
Aldayas Worte schienen den Jungen wie Dolche zu treffen, aber sein
Lächeln ging keinen Millimeter zurück. Julián bereute seine
Antwort.
»Du bist bestimmt der Sohn des Hutmachers«, sagte Jorge ganz ohne
Herablassung. »In letzter Zeit spricht mein Vater oft von dir.«
»Das ist nur das Neue. Ich hoffe, du schenkst dem keine Beachtung.
Unter dieser Maske des vorlauten Besserwissers bin ich nicht so
idiotisch, wie ich ausschaue.«
Jorge lächelte ihm zu. Julián dachte, er lächle wie Leute, die
keine Freunde haben – dankbar.
»Komm, ich zeige dir den Rest des Hauses.«
Sie verließen die Bibliothek Richtung Haupteingang und Park. Als
sie durch den Saal gingen, schaute Julián am Fuß der Marmortreppe
auf und erkannte den Hauch einer Gestalt, die mit der Hand auf dem
Geländer hinanstieg. Er hielt den Atem an. Das Mädchen mußte
dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein und wurde von einer reifen,
kleinen, rosigen Frau eskortiert, allem Anschein nach ihre
Kinderfrau. Das Mädchen trug ein blaues Satinkleid. Ihr Haar war
mandelfarben, und die Haut der Schultern und des schlanken Halses
schien transparent zu sein. Oben an der Treppe blieb sie stehen und
wandte sich für einen Augenblick um. Eine Sekunde lang trafen sich
ihre Blicke, und sie schenkte ihm den Anflug eines Lächelns. Dann
legte ihr die Kinderfrau den Arm um die Schultern und führte sie
zur Schwelle eines Gangs, in dem die beiden verschwanden. Julián
senkte die Augen und fand sich wieder mit Jorge.
»Das ist meine Schwester Penélope. Du wirst sie schon noch
kennenlernen. Sie ist ein wenig überspannt. Den ganzen Tag liest
sie. Na los, komm, ich werde dir die Kapelle im Keller zeigen. Die
Köchinnen sagen, sie ist verhext.«
Willig folgte ihm Julián, aber die Welt wankte unter ihm. Zum
ersten Mal, seit er in Don Ricardo Aldayas Mercedes gestiegen war,
begriff er, was da vor sich ging. Er hatte unzählige Male von ihr
geträumt, von dieser Treppe, diesem blauen Kleid und diesem Blick,
ohne zu wissen, wer sie war noch warum sie ihm zulächelte. Als sie
in den Park hinaustraten, ließ er sich von Jorge zu den Garagen und
Tennisplätzen führen, die sich jenseits erstreckten. Erst jetzt
schaute er zurück und erblickte sie, in ihrem Fenster im zweiten
Stock. Kaum konnte er ihre Gestalt richtig erkennen, aber er wußte,
daß sie ihm zulächelte und daß auch sie ihn irgendwie wiedererkannt
hatte.
Die flüchtige Erscheinung Penélope Aldayas oben auf der Treppe
begleitete ihn während seiner ersten Wochen in der
San-Gabriel-Schule. Seine neue Welt hatte viele verschiedene
Gesichter, und nicht alle sagten ihm zu. Die San-Gabriel-Schüler
benahmen sich wie arrogante Fürsten, während ihre Lehrer so etwas
wie gebildete Diener waren. Der erste Freund, den Julián dort außer
Jorge Aldaya gewann, war ein Junge namens Fernando Ramos, Sohn
eines der Köche der Schule, der sich nie ausgemalt hätte, daß er
eines Tages eine Soutane tragen und in denselben Schulzimmern
Unterricht erteilen würde, in denen er groß geworden war. Fernando,
dem die andern den Spitznamen Topfgucker gaben und den sie wie
einen Dienstboten behandelten, besaß eine wache Intelligenz, hatte
aber kaum Freunde unter den Mitschülern. Sein einziger Kamerad war
ein verrückter Junge namens Miquel Moliner, der mit der Zeit der
beste Freund werden sollte, den Julián an dieser Schule überhaupt
hatte. Miquel Moliner, mit zuviel Hirn und zuwenig Geduld
ausgestattet, machte sich ein Vergnügen daraus, seine Lehrer zur
Weißglut zu bringen, indem er ihre sämtlichen Ausführungen mit
dialektischen Spielchen anzweifelte, die ebensoviel Witz wie
Grausamkeit verrieten. Die andern fürchteten seine spitze Zunge und
hielten ihn für einer andern Spezies zugehörig, was in gewisser
Hinsicht nicht ganz abwegig war. Trotz seines bohemienhaften
Äußeren und seines wenig aristokratischen Benehmens war Miquel der
Sohn eines durch die Fabrikation von Waffen geradezu absurd reich
gewordenen Industriellen.
»Carax, nicht wahr? Ich höre, daß dein Vater Hüte macht«, sagte er,
als Fernando Ramos sie einander vorstellte.
»Julián für meine Freunde. Ich höre, daß deiner Kanonen macht.«
»Er verkauft sie bloß. Was das Machen betrifft, so weiß er nichts
anderes zu machen als Geld. Meine Freunde, zu denen ich nur
Nietzsche und den Genossen Fernando da zähle, nennen mich
Miquel.«
Miquel Moliner war ein trauriger Junge. Er war in ungesunder Weise
vom Tod und allen damit zusammenhängenden Themen besessen, auf
deren Betrachtung er einen Großteil seiner Zeit und seines Talents
verwandte. Drei Jahre zuvor war seine Mutter bei einem merkwürdigen
häuslichen Unfall ums Leben gekommen, den ein unbesonnener Arzt als
Selbstmord zu bezeichnen wagte. Miquel hatte die Leiche gefunden,
die im tiefen Brunnenwasser des kleinen Sommerpalastes schimmerte,
welchen die Familie in Argentona besaß. Als man sie an Seilen
heraufzog, zeigte sich, daß die Taschen des Mantels der Toten mit
Steinen gefüllt waren. Weiter fand sich ein in ihrer Muttersprache
Deutsch geschriebener Brief, doch Señor Moliner, der sich nie die
Mühe gemacht hatte, diese Sprache zu erlernen, verbrannte ihn noch
am selben Abend, ohne daß ihn jemand lesen durfte. Überall sah
Miquel Moliner den Tod, im dürren Laub, in den aus ihren Nestern
gefallenen Vögeln, in den Alten und im Regen, der alles
wegschwemmte. Er besaß ein außergewöhnliches Zeichentalent, und
manchmal verlor er sich stundenlang in Kohleillustrationen, auf
denen zwischen Nebelschwaden und menschenleeren Stränden immer eine
Dame erschien, in der Julián seine Mutter vermutete.
»Was willst du werden, wenn du älter bist, Miquel?«
»Ich werde nie älter werden«, sagte er.
Seine größte Liebe, außer zu zeichnen und jedem lebenden Geschöpf
zu widersprechen, galt den Werken eines geheimnisvollen
österreichischen Arztes, der mit den Jahren Berühmtheit erlangen
sollte: Sigmund Freud. Miquel Moliner, der dank seiner verstorbenen
Mutter perfekt Deutsch las und schrieb, besaß mehrere Bände mit
Schriften des Wiener Arztes. Sein Lieblingsgebiet war die
Traumdeutung. Miquel pflegte die Leute nach ihren Träumen zu
fragen, um dann eine Diagnose der unverhofften Patienten
vorzunehmen. Immer sagte er, er werde jung sterben und es mache ihm
nichts aus. Da er soviel an den Tod dachte, hatte er in ihm
schließlich, wie Julián annahm, mehr Sinn gefunden als im
Leben.
»An dem Tag, an dem ich sterbe, wird alles, was mein ist, dein
sein, Julián«, sagte er. »Nur nicht die Träume.«
Außer mit Fernando Ramos, Miquel Moliner und Jorge Aldaya machte
Julián bald die Bekanntschaft eines schüchternen, etwas
widerborstigen Jungen namens Javier, des einzigen Sohns des
Hausmeisterehepaars von San Gabriel, das in einem bescheidenen
Häuschen beim Eingang zu den Gärten der Schule wohnte. Javier, in
dem die andern Jungen genauso wie in Fernando mehr oder weniger
einen unerwünschten Lakaien sahen, strich allein in den Gärten und
Höfen des Geländes umher, ohne mit jemandem Kontakt zu knüpfen. So
hatte er sich sämtliche Schlupfwinkel des Hauses, die
unterirdischen Tunnel, die zu den Türmen emporführenden Gänge und
allerlei labyrinthische Verstecke angeeignet, an die sich niemand
mehr erinnerte. Das war seine geheime Welt, seine Zuflucht. Immer
hatte er ein aus den Schubladen seines Vaters entwendetes
Taschenmesser bei sich, mit dem er gern Holzfiguren schnitzte, die
er im Taubenschlag der Schule verwahrte. Sein Vater Ramón, der
Hausmeister, war ein Veteran aus dem Kubakrieg, in dem er eine Hand
und, wie böswillig gemunkelt wurde, durch einen Schrotschuß den
rechten Hoden verloren hatte. In der festen Überzeugung, Müßiggang
sei aller Laster Anfang, hatte Ramón der Eineier, wie ihn die
Schüler betitelten, seinen Sohn damit beauftragt, die dürren Nadeln
des Pinienwäldchens und das Laub im Brunnenhof in einem Sack zu
sammeln. Ramón war ein guter Mensch, etwas ungehobelt und
unseligerweise dazu verdammt, sich schlechte Gesellschaft
auszusuchen. Die schlimmste war seine Frau. Der Eineier hatte ein
beschränktes Mannweib mit Prinzessinnenfantasien und dem Aussehen
einer Putze geheiratet, die sich mit Vorliebe leichtbekleidet ihrem
Sohn und den Schülern zeigte, welche Schauerposse Anlaß zu
allwöchentlicher Gaudi gab. Mit Vornamen hieß sie María Craponcia,
aber sie nannte sich Yvonne, das erschien ihr stilvoller. Sie
pflegte ihren Sohn über die Möglichkeiten des gesellschaftlichen
Aufstiegs auszufragen, die ihm die Freundschaften verschafften,
welche er vermeintlich mit der Crème der Barceloneser Gesellschaft
knüpfte. Sie horchte ihn über das Vermögen von diesem und jenem aus
und stellte sich schon vor, wie sie, wundersam herausgeputzt, in
den großen Salons der guten Gesellschaft zu Tee und
Blätterteiggebäck eingeladen wurde.
Javier verbrachte sowenig Zeit wie möglich zu Hause und war dankbar
für die Aufgaben, die ihm sein Vater übertrug, so hart sie auch
sein mochten. Jeder Vorwand war recht, um allein zu sein, um in
seine Geheimwelt zu entwischen und seine Holzfiguren zu schnitzen.
Wenn ihn die Mitschüler von weitem erblickten, lachten einige oder
warfen mit Steinen nach ihm. Als Julián eines Tages sah, wie ihm
ein Stein die Stirn aufschlug und ihn zu Boden warf, verspürte er
solches Mitleid mit ihm, daß er ihm zu Hilfe eilte und ihm seine
Freundschaft antrug. Zuerst dachte Javier, Julián wolle ihm noch
den Rest geben, während sich die andern vor Lachen kugelten.
»Ich heiße Julián«, sagte er und reichte ihm die Hand.
»Meine Freunde und ich wollten im Pinienwäldchen einige Partien
Schach spielen, und ich habe mich gefragt, ob du vielleicht
mitmachen magst.«
»Ich kann nicht Schach spielen.«
»Bis vor ein paar Wochen konnte ich es auch nicht. Aber Miquel ist
ein guter Lehrer …«
Der Junge blickte mißtrauisch, erwartete jeden Moment den Spott,
den versteckten Angriff.
»Ich weiß nicht, ob deine Freunde wollen, daß ich mit euch zusammen
bin …«
»Es war ihre Idee. Was meinst du?«
Von diesem Tag an gesellte sich Javier manchmal zu ihnen, wenn er
die ihm übertragenen Aufgaben erledigt hatte. Immer hörte und
schaute er schweigend den andern zu. Aldaya hatte ein wenig Angst
vor ihm. Fernando, der die Verachtung der Mitschüler wegen seiner
einfachen Herkunft am eigenen Leib erfahren hatte, konnte mit dem
rätselhaften Jungen nicht liebenswürdig genug sein. Miquel Moliner,
der ihm die Grundbegriffe des Schachspiels beigebracht hatte,
beobachtete ihn mit einem klinischen Auge, er war von allen der am
wenigsten Überzeugte.
»Der hat doch einen Knall. Jagt Katzen und Tauben und quält sie
dann stundenlang mit seinem Messer. Danach verscharrt er sie im
Pinienwäldchen. Was für eine Wonne!«
»Wer sagt das?«
»Er selbst hat es mir neulich erzählt, als ich ihm den Rösselsprung
erklärte. Er hat mir auch erzählt, daß seine Mutter nachts manchmal
zu ihm ins Bett schlüpft und ihn befummelt.«
»Der hat dich bestimmt auf den Arm genommen.«
»Das bezweifle ich. Dieser Bursche ist nicht richtig im Kopf,
Julián, und wahrscheinlich ist es nicht seine Schuld.«
Julián bemühte sich, Miquels Warnungen und Prophezeiungen zu
überhören, aber auch ihm fiel es schwer, mit dem Sohn des
Hausmeisters eine wirklich freundschaftliche Beziehung einzugehen.
Yvonne mochte besonders Julián und Fernando Ramos nicht. Von der
ganzen Schar junger Herren besaßen sie als einzige keinen Heller.
Es hieß, Juliáns Vater sei ein einfacher Ladeninhaber und seine
Mutter habe es nur eben zur Musiklehrerin gebracht. »Diese Leute
haben weder Geld noch Rang, noch Eleganz, mein Liebling«, sagte sie
zu Javier. »Gut für dich ist dagegen Aldaya, der kommt aus einer
piekfeinen Familie.« – »Ja, Mutter«, antwortete er, »wie Sie
meinen.« Mit der Zeit schien Javier zu seinen neuen Freunden
Vertrauen zu fassen.
Gelegentlich tat er den Mund auf, und für Miquel Moliner schnitzte
er zum Dank für dessen Unterricht eine Garnitur Schachfiguren.
Eines schönen Tages, als es schon niemand mehr erwartete oder für
möglich hielt, entdeckten sie, daß Javier lächeln, ja sogar
jungenhaft lachen konnte.
»Siehst du? Er ist ein ganz normaler Junge wie alle andern auch«,
sagte Julián.
Doch Miquel Moliner war keineswegs beruhigt und beobachtete Javier
mit beinahe wissenschaftlichem Eifer und Argwohn.
»Javier ist von dir besessen, Julián«, sagte er eines Tages zu ihm.
»Er tut alles, um deine Anerkennung zu finden.«
»So ein Quatsch! Dazu hat er ja schon einen Vater und eine Mutter,
ich bin bloß ein Freund.«
»Ahnungslos, das ist es, was du bist. Sein Vater ist ein armer
Mann, der schon Mühe hat, beim Scheißen den Hintern zu finden, und
Doña Yvonne ist ein Drachen mit einem Flohhirn, der einem den
lieben langen Tag wie zufällig in Unterwäsche über den Weg läuft
und sich für María Guerrero oder etwas noch Schlimmeres hält, das
ich lieber nicht nenne. Natürlich sucht der Junge einen Ersatz, und
du fällst wie ein rettender Engel vom Himmel und reichst ihm die
Hand. Der heilige Julián vom Brunnen, Beschützer der
Enterbten.«
»Dieser Dr. Freud weicht dir das Hirn auf, Miquel. Wir alle
brauchen Freunde, selbst du.«
»Javier hat keine Freunde und wird nie welche haben. Er hat die
Seele einer Spinne. Wir werden ja sehen. Ich frage mich, wovon er
träumt …«
Miquel Moliner konnte nicht ahnen, daß Javiers Träume denen seines
Freundes Julián ähnlicher waren, als er es für möglich gehalten
hätte. Als der Sohn des Hausmeisters einmal, Monate vor Juliáns
Eintritt in die Schule, im Brunnenhof das dürre Laub einsammelte,
fuhr Don Ricardo Aldayas Prunkauto vor. An diesem Nachmittag war
der Industrielle in Begleitung. An seiner Seite befand sich eine
Erscheinung, ein in Seide gehüllter Engel aus Licht, der über dem
Boden zu schweben schien. Der Engel Penélope stieg aus dem Mercedes
aus und ging mit flatterndem Sonnenschirm zum Brunnen, wo er
stehenblieb und mit der Hand das Wasser im Bassin schlug. Wie immer
folgte ihr beflissen ihre Kinderfrau Jacinta und achtete auf die
kleinste Geste von ihr. Eine Armee Bediensteter hätte sie begleiten
können – Javier hatte nur Augen für das Mädchen. Er fürchtete, die
Vision könnte sich verflüchtigen, wenn er bloß blinzelte. Wie
angewurzelt blieb er stehen und starrte atemlos nach der
Erscheinung. Kurz darauf, als hätte sie seine Gegenwart und seinen
verstohlenen Blick erahnt, schaute Penélope zu ihm hin. Die
Schönheit dieses Gesichts war ihm schmerzhaft, unerträglich. Auf
ihren Lippen glaubte er den Anflug eines Lächelns zu erkennen.
Erschrocken lief er davon, um sich oben im Zisternenturm beim
Taubenschlag im Dachgeschoß der Schule zu verstecken, seinem
Lieblingsschlupfwinkel. Noch zitterten seine Hände, als er zu den
Schnitzwerkzeugen griff und an einem neuen Stück zu arbeiten
begann, das dem Gesicht gleichen sollte, welches er eben erblickt
hatte. Als er an diesem Abend Stunden später als üblich nach Hause
kam, erwartete ihn wütend seine Mutter. Der Junge senkte die Augen,
weil er fürchtete, wenn sie seinen Blick läse, würde sie darin das
Mädchen vom Bassin sehen und seine Gedanken erraten.
»Wo hast du denn gesteckt, du Lausebengel?«
»Entschuldigen Sie, Mutter. Ich habe mich verirrt.«
»Du bist irr seit dem Tag deiner Geburt.«
Jahre später, immer wenn er seinen Revolver einem Gefangenen in den
Mund steckte und abdrückte, sollte sich Chefinspektor Francisco
Javier Fumero an den Tag erinnern, wo er neben einem Ausflugslokal
in Las Planas den Schädel seiner Mutter zerplatzen sah und dabei
nur den Widerwillen vor toten Dingen empfand. Die Guardia civil,
alarmiert vom Geschäftsführer des Lokals, der den Schuß gehört
hatte, fand den Jungen auf einem Felsen sitzen, die noch lauwarme
Flinte auf dem Schoß. Starr betrachtete er den enthaupteten,
insektenbedeckten Körper von María Craponcia alias Yvonne. Als er
die Zivilgardisten auf sich zukommen sah, zuckte er nur die
Schultern, das Gesicht voller Blutspritzer, als zehrten die
Blattern an ihm. Die Gardisten hörten ein Schluchzen und fanden
dreißig Meter weiter Ramón neben einem Baum im Unkraut kauern. Er
zitterte und war nicht in der Lage, sich verständlich zu machen.
Nach langem Zögern gab der Leutnant der Guardia civil das Gutachten
ab, das Vorkommnis sei ein tragischer Unfall gewesen, und bekundete
es desgleichen im Protokoll, wenn auch nicht in seinem Gewissen.
Francisco Javier Fumero fragte, ob er diese alte Flinte behalten
dürfe, wenn er groß sei, wolle er Soldat werden … »Geht es Ihnen
nicht gut, Señor Romero de Torres?« Das plötzliche Auftauchen
Fumeros in Pater Fernandos Erzählung hatte mich erstarren lassen,
die Wirkung auf Fermín aber war niederschmetternd gewesen. Er war
ganz gelb, und seine Hände zitterten.
»Ein Blutdruckabfall«, improvisierte er mit hauchdünner Stimme.
»Dieses katalanische Klima ist für uns Menschen aus dem Süden
manchmal quälend.«
»Darf ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?« fragte der Priester
bestürzt.
»Wenn es Hochwürden nichts ausmacht. Und vielleicht ein
Schokoladenplätzchen, von wegen der Glukose …« Der Priester reichte
ihm ein Glas Wasser, das Fermín gierig austrank.
»Alles, was ich habe, sind Eukalyptusbonbons. Tun die es auch?«
»Gott möge es Ihnen vergelten.«
Fermín verschlang eine Handvoll Bonbons und schien bald darauf
seine gewohnte Blässe zurückzugewinnen. »Dieser Junge, der Sohn des
Hausmeisters, welcher bei der Verteidigung der Kolonien heldenhaft
sein Skrotum ließ, sind Sie sicher, daß der Fumero hieß, Francisco
Javier Fumero?«
»Ja, vollkommen. Kennen Sie ihn etwa?«
»Nein«, sagten wir unisono.
Pater Fernando runzelte die Stirn.
»Wäre ja nicht verwunderlich. Mit der Zeit ist Francisco Javier schließlich eine jämmerlich berühmte Persönlichkeit geworden.«
»Belieben?«
»Sie verstehen mich ganz genau. Francisco Javier Fumero ist
Chefinspektor der Kriminalpolizei von Barcelona, und sein Ruf ist
selbst zu denen spielend vorgedrungen, die wir dieses Gelände nicht
verlassen. Und als Sie seinen Namen gehört haben, sind Sie um
mehrere Zentimeter geschrumpft, würde ich sagen.«
»Jetzt, da Ihre Exzellenz es erwähnen, klingelt mir der Name
irgendwie vertraut …«
Pater Fernando schaute uns mißtrauisch an.
»Dieser Junge da ist kein Sohn von Julián Carax. Irre ich
mich?«
»Ein geistiger Sohn, Eminenz, was ein größeres moralisches Gewicht
hat.«
»In was für einer Patsche stecken Sie beide eigentlich? Wer schickt
Sie her?«
Jetzt war ich mir sicher, daß der Augenblick nahte, wo uns der
Priester hochkant hinauswerfen würde, und beschloß, Fermín zum
Schweigen zu bringen und ausnahmsweise auf die Karte Ehrlichkeit zu
setzen.
»Sie haben recht, Pater. Julián Carax ist nicht mein Vater. Aber es
schickt uns niemand her. Vor Jahren bin ich zufällig auf ein Buch
von Carax gestoßen, ein Buch, das als verschwunden galt, und
seither habe ich versucht, mehr über ihn herauszufinden und Licht
in die Umstände seines Todes zu bringen. Señor Romero de Torres hat
mir dabei geholfen …«
»Welches Buch?«
»Der Schatten des Windes. Haben Sie es gelesen?«
»Ich habe Juliáns sämtliche Romane gelesen.«
»Haben Sie sie noch?«
Der Priester schüttelte den Kopf.
»Darf ich Sie fragen, was Sie mit ihnen gemacht haben?«
»Vor Jahren ist jemand in mein Zimmer eingedrungen und hat sie
verbrannt.«
»Haben Sie einen bestimmten Verdacht?«
»Natürlich. Fumero. Sind Sie etwa nicht deswegen hier?«
Fermín und ich wechselten einen verwirrten Blick.
»Inspektor Fumero? Warum sollte er diese Bücher verbrennen
wollen?«
»Wer denn sonst? Im letzten Jahr, das wir zusammen auf der Schule
verbrachten, hat Francisco Javier versucht, Julián mit der Flinte
seines Vaters zu erschießen. Wäre ihm Miquel nicht in den Arm
gefallen …«
»Warum hat er ihn denn umzubringen versucht? Julián war doch sein
einziger Freund.«
»Francisco Javier war verrückt nach Penélope Aldaya. Niemand wußte
das. Ich glaube, nicht einmal Penélope selbst hat die Existenz des
Jungen wahrgenommen. Er hat das Geheimnis jahrelang für sich
behalten. Anscheinend folgte er Julián, ohne daß der es wußte. Ich
glaube, eines Tages hat er gesehen, wie er sie küßte. Ich weiß es
nicht. Hingegen weiß ich, daß er ihn am hellichten Tag umzubringen
versucht hat. Miquel Moliner, der Fumero nie über den Weg getraut
hatte, hat sich auf ihn gestürzt und ihn im letzten Moment daran
gehindert. Neben dem Eingang kann man noch das Einschußloch sehen.
Jedesmal, wenn ich daran vorbeigehe, erinnere ich mich an diesen
Tag.«
»Was ist mit Fumero geschehen?«
»Er und seine Familie erhielten Hausverbot. Ich glaube, Francisco
Javier hat man eine Zeitlang in ein Internat gesteckt. Wir haben
erst zwei Jahre später wieder von ihm gehört, als seine Mutter bei
einem Jagdunfall ums Leben kam. Einen solchen Unfall hat es aber
nicht gegeben. Miquel hatte von Anfang an recht gehabt. Francisco
Javier Fumero ist ein Mörder.«
»Wenn ich Ihnen erzählen würde …«, murmelte Fermín.
»Nun, es wäre gar nicht so schlecht, wenn Sie mir etwas erzählen
würden, zur Abwechslung vielleicht etwas Wahres.«
»Wir können Ihnen sagen, daß es nicht Fumero war, der Ihre Bücher
verbrannt hat.«
»Wer war es denn dann?«
»Mit absoluter Sicherheit war es ein Mann mit vom Feuer entstelltem
Gesicht, der sich Laín Coubert nennt.«
»Ist das nicht …?«
Ich nickte.
»Der Name einer Figur von Carax. Der Teufel.«
Pater Fernando stützte sich in seinem Sessel auf, beinahe so
verwirrt wie wir.
»Was immer klarer zu werden scheint, ist, daß Penélope Aldaya der
Mittelpunkt dieser ganzen Geschichte ist, und gerade von ihr wissen
wir am allerwenigsten«, bemerkte Fermín.
»Ich glaube nicht, daß ich Ihnen da behilflich sein kann. Ich habe
sie kaum gesehen, zwei-, dreimal aus der Ferne. Alles, was ich von
ihr weiß, hat mir Julián erzählt, und das war nicht viel. Die
einzige Person, die ich den Namen Penélope seither habe erwähnen
hören, war Jacinta Coronado.«
»Jacinta Coronado?«
»Penélopes Kinderfrau. Sie hatte Penélope und Jorge großgezogen.
Sie hat sie wahnsinnig geliebt, besonders Penélope. Manchmal hat
sie Jorge von der Schule abgeholt – Don Ricardo Aldaya mochte es
nicht, wenn seine Kinder auch nur eine Sekunde ohne Aufsicht von zu
Hause waren. Jacinta war ein Engel. Sie hatte gehört, daß ich,
genau wie Julián, ein ziemlich mittelloser Junge war, und immer hat
sie uns einen kleinen Imbiß mitgebracht, weil sie dachte, wir
litten Hunger. Ich habe ihr gesagt, mein Vater sei der Koch, sie
solle sich keine Gedanken machen, zu essen hätte ich genug. Aber
sie war nicht davon abzubringen. Manchmal habe ich auf sie gewartet
und mich mit ihr unterhalten. Sie war die beste Frau, die ich je
kennengelernt habe. Sie hatte keine Kinder, und auch von einem
Freund war nichts bekannt. Sie war ganz allein auf der Welt und
hatte ihr Leben geopfert, um Aldayas Kinder aufzuziehen. Sie hat
Penélope von ganzer Seele angebetet und spricht noch immer von ihr
…«
»Sie haben noch Kontakt zu Jacinta?«
»Ich besuche sie manchmal im Santa-Lucía-Altenheim. Sie hat
niemanden. Aus Gründen, die unserem Begriffsvermögen nicht
zugänglich sind, belohnt uns der Herr nicht immer bei Lebzeiten.
Jacinta ist schon sehr alt und noch so allein, wie sie es immer
war.«
Fermín und ich wechselten einen Blick.
»Und Penélope? Haben Sie sie nie besucht?«
Pater Fernandos Blick war ein schwarzer Abgrund.
»Niemand weiß, was aus Penélope geworden ist. Dieses Mädchen war
Jacintas Leben. Als die Aldayas nach Amerika auswanderten, hat sie
mit ihr alles verloren.«
»Warum haben sie sie denn nicht mitgenommen? Ist Penélope ebenfalls
nach Amerika gegangen, mit den übrigen Aldayas?« fragte ich.
Der Priester zuckte die Achseln.
»Ich weiß es nicht. Nach 1919 hat niemand Penélope wiedergesehen
oder von ihr gehört.«
»Das Jahr, in dem Carax nach Paris gegangen ist«, stellte Fermín
fest.
»Sie müssen mir versprechen, daß Sie diese arme Greisin nicht
belästigen werden, um schmerzhafte Erinnerungen auszugraben.«
»Wofür halten uns Herr Pfarrer?« fragte Fermín.
In der Vermutung, er werde nichts mehr aus uns herausbringen, ließ
uns Pater Fernando schwören, daß wir ihn über die Ergebnisse
unserer Nachforschungen auf dem laufenden halten würden. Um ihn zu
beruhigen, wollte Fermín unbedingt auf ein Neues Testament
schwören, das auf seinem Schreibtisch lag.
»Lassen Sie die Evangelien in Frieden. Ihr Wort genügt mir.«
»Sie lassen sich nicht über den Tisch ziehen, wie, Pater? Sehr
clever!«
»Kommen Sie, ich bringe Sie zum Ausgang.«
Er führte uns durch den Garten zum Tor und blieb in angemessenem
Abstand zum Ausgang stehen, während er die Straße betrachtete, die
sich zur realen Welt bergab schlängelte, als fürchtete er, sich zu
verflüchtigen, wenn er sich einige Schritte weiter vorwagte. Ich
fragte mich, wann er zum letzten Mal das Gelände der
San-GabrielSchule verlassen haben mochte.
»Es hat mir sehr leid getan, als ich erfuhr, daß Julián gestorben
war«, sagte er leise. »Trotz allem, was nachher geschehen ist, und
obwohl wir uns mit der Zeit voneinander distanziert haben, waren
wir gute Freunde: Miquel, Aldaya, Julián und ich. Sogar Fumero. Ich
habe immer gedacht, wir wären unzertrennlich, aber das Leben
scheint etwas zu wissen, was wir nicht wissen. Ich habe nie wieder
Freunde gehabt wie diese und glaube auch nicht, daß ich noch einmal
welche haben werde. Hoffentlich finden Sie, was Sie suchen,
Daniel.«
12
Es ging gegen zehn Uhr, als wir auf den Paseo de la Bonanova gelangten, jeder in seine Gedanken zurückgezogen. Ich hatte keinen Zweifel, daß diejenigen Fermíns um das unselige Erscheinen Inspektor Fumeros in der Geschichte kreisten. Ich blickte ihn verstohlen an und sah, daß sein Gesicht von Unruhe zerquält war. Ein dunkelvioletter Wolkenschleier breitete sich aus und gab den Lichtstrahlen die Farbe dürren Laubs.
»Wenn wir uns nicht sputen, werden wir ordentlich naß«, sagte
ich.
»Noch nicht. Diese Wolken sehen nach Nacht, nach Quetschwunde aus.
Sie gehören zu denen, die sich Zeit lassen.«
»Sagen Sie nicht, Sie verstehen auch von Wolken etwas.«
»Das Leben auf der Straße lehrt einen mehr, als man eigentlich
wissen möchte. Was meinen Sie, wenn wir in das Lokal auf der Plaza
de Sarriá gehen und zwei TortillaSandwiches mit ganz viel Zwiebeln
futtern? Der bloße Gedanken an Fumero hat mich schrecklich hungrig
gemacht.«
Wir schlugen den Weg zum Platz ein, wo eine Schar Opas mit dem
örtlichen Taubenschlag kokettierte und das Leben auf ein Spiel von
Brosamen und Warten reduzierte. Wir setzen uns an einen Tisch neben
der Kneipentür, und Fermín verschlang die beiden Sandwiches, seines
und meines, trank ein Bier vom Faß, einen Espresso mit Milch und
Rum und dazu die zwei Schokoladenplätzchen. Als Nachspeise lutschte
er eins seiner Bonbons. Am Nachbartisch beobachtete ein Mann Fermín
über den Rand der Zeitung hinweg und dachte wahrscheinlich dasselbe
wie ich.
»Ich weiß nicht, wo Sie das alles hintun, Fermín.«
»Ich hatte schon immer einen enormen Stoffwechsel. Meine Mutter hat
mich oft gefragt, ob vielleicht ein Zwilling in mir mitißt. Sie
mußte immer doppelt auftischen.«
»Vermissen Sie sie?«
»Meine Mutter«? Mit einem Lächeln zuckte er die Schultern. »Was
weiß ich. Wenige Dinge sind trügerischer als die Erinnerungen. Und
Sie? Vermissen Sie Ihre Mutter?«
Ich senkte die Augen.
»Sehr.«
»Wissen Sie, woran ich mich bei meiner am besten erinnern kann? An
ihren Geruch. Sie hat immer ganz sauber gerochen, nach süßem Brot,
egal, ob sie auf dem Feld gearbeitet hatte oder tagaus, tagein
dieselben Kleider trug. Sie hat immer nach allem Guten gerochen,
das es auf dieser Welt gibt. Dabei war sie ein Grobian. Sie hat
geflucht wie ein Fuhrmann, aber gerochen wie eine
Märchenprinzessin. Wenigstens ist es mir so vorgekommen. Und Sie?
Woran erinnern Sie sich am meisten bei Ihrer Mutter?«
Ich zögerte einen Augenblick und klaubte die Worte zusammen.
»An nichts. Ich kann mich seit Jahren nicht mehr an meine Mutter
erinnern. Weder an ihr Gesicht noch an ihre Stimme oder ihren
Geruch. Das ist mit dem Tag verschwunden, an dem ich Julián Carax
entdeckt habe, und es ist nicht wiedergekommen.«
Fermín schaute mich etwas ungläubig an und wog seine Antwort
ab.
»Haben Sie denn kein Bild von ihr?«
»Ich habe die Bilder nie anschauen mögen.«
»Warum nicht?«
Noch nie hatte ich das jemandem erzählt, nicht einmal meinem Vater
oder Tomás.
»Weil es mir Angst macht. Es macht mir Angst, ein Bild meiner
Mutter zu suchen und eine Fremde in ihr zu entdecken. Sie finden
das bestimmt dumm.«
Er schüttelte den Kopf.
»Und darum denken Sie, wenn Sie das Geheimnis von Julián Carax
ergründen können und ihn der Vergessenheit entreißen, wird das
Gesicht Ihrer Mutter zurückkehren?«
Ich schaute ihn schweigend an. In seinem Blick lag weder Ironie
noch ein Urteil. Einen Moment lang erschien mir Fermín Romero de
Torres als der scharfsinnigste und weiseste Mensch der Welt.
»Vielleicht«, sagte ich schließlich.
Punkt zwölf Uhr nahmen wir einen Bus zurück ins Stadtzentrum. Wir
setzten uns vorne hin, direkt hinter den Fahrer, was Fermín nutzte,
um mit ihm ein Gespräch über die vielen technischen und
hygienischen Fortschritte zu beginnen, die er beim oberirdischen
öffentlichen Verkehr feststellte, seit er ihn 1940 letztmals
benutzt hatte, insbesondere bezüglich der Beschilderung, wie eine
Tafel mit den Worten Spucken und zotiges Reden verboten
bezeugte. Fermín studierte sie und erwies ihr seine Reverenz, indem
er geräuschvoll einen kräftigen Auswurf von sich gab, was uns die
bitterbösen Blicke eines Kommandos von drei Duttträgerinnen
eintrug, die, mit Meßbüchern ausgerüstet, im hinteren Teil
mitfuhren.
»Rüpel«, murmelte die eine Frömmlerin, die erstaunlich dem
offiziellen Bild von General Yagüe glich.
»Da hast du sie«, sagte Fermín. »Drei Heilige hat mein Spanien: die
heilige Empörung, die eisheilige Jungfer und die heilige
Zimperliese. Alle gemeinsam haben wir aus diesem Land einen Witz
gemacht.«
»Recht haben Sie«, stimmte der Fahrer bei. »Unter Azaña war alles
besser. Vom Verkehr gar nicht zu reden. Es ist zum Kotzen.«
Ein weiter hinten sitzender Mann lachte über den Gedankenaustausch.
Ich erkannte in ihm den Beobachter vom Nebentisch in der Kneipe.
Sein Ausdruck schien anzudeuten, daß er auf Fermíns Seite war und
gern gesehen hätte, wie der seine Wut an den drei Frauen ausließ.
Ich wechselte einen kurzen Blick mit ihm. Er lächelte mir
freundlich zu und schaute dann wieder in seine Zeitung. Als wir in
die Calle Ganduxer kamen, sah ich, daß sich Fermín in seinen Mantel
eingekuschelt hatte und mit offenem Mund und glückseligem Gesicht
ein Nickerchen machte. Der Bus rollte durch die geschniegelte
Herrschaftlichkeit des Paseo de San Gervasio, als Fermín plötzlich
hochfuhr.
»Ich habe von Pater Fernando geträumt«, sagte er. »Nur, daß er in
meinem Traum als Jäger gekleidet war und einen erlegten Bären neben
sich liegen hatte, der glänzte wie lauteres Gold.«
»Und was soll das?«
»Wenn Freud recht hat, bedeutet das, daß uns der Geistliche
möglicherweise einen Bären aufgebunden hat.«
»Mir kam er ehrlich vor.«
»Eigentlich schon. Vielleicht zu ehrlich, als es für ihn gut ist.
Geistliche mit einem Hang zum Heiligen schickt man irgendwann alle
in die Mission, wo sie dann von Moskitos oder Piranhas aufgefressen
werden.«
»So schlimm wird’s wohl nicht sein.«
»Was haben Sie für eine gesegnete Unschuld, Daniel. Sie glauben ja
noch an die Geschichte vom Mäuschen und dem Zahn. Also, nur ein
kleines Beispiel: Dieser Schwindel von Miquel Moliner, den Ihnen
Nuria Monfort da verzapft hat. Ich habe den Eindruck, dieses
Frauenzimmer hat Ihnen mehr Lügen aufgetischt als die Meinungsseite
des Osservatore Romano. Jetzt soll sie also mit einem
Jugendfreund von Aldaya und Carax verheiratet sein, sieh mal einer
an. Und dazu haben wir noch die Geschichte von Jacinta, der guten
Kinderfrau, die ja sein mag, aber mir riecht sie allzusehr nach
Rührstück. Ganz zu schweigen von Fumeros Starauftritt in der Rolle
des Killers.«
»Sie glauben also, Pater Fernando hat uns angeschwindelt?«
»Nein. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß er ehrlich wirkt, aber
das Ordensgewand wiegt schwer, und womöglich hat er sich nicht ins
Meßbuch gucken lassen wollen, um es mal so zu sagen. Ich glaube,
wenn er uns angekohlt hat, dann aus Unterlassung oder Anstand,
nicht um uns eins auszuwischen oder aus Bosheit. Zudem halte ich
ihn nicht für fähig, einen solchen Schwindel zu erdichten. Wenn er
besser lügen könnte, würde er nicht Algebra und Latein
unterrichten, er säße längst im Bistum, mit einem Kardinalsbüro und
frischen Marzipanbaisers zum Kaffee.«
»Was sollen wir also tun?«
»Früher oder später werden wir die Mumie des Engelsgroßmütterchens
ausgraben und an den Knöcheln schütteln müssen, um zu sehen, was
dabei rauskommt. Einstweilen werde ich an einigen Fäden ziehen,
vielleicht kriege ich über diesen Miquel Moliner etwas heraus. Und
es wäre auch nicht überflüssig, ein Auge auf Nuria Monfort zu
werfen, ich glaube, es zeigt sich immer deutlicher, daß sie das
ist, was meine verstorbene Mutter eine Schlange genannt hat.«
»Sie irren sich in ihr«, sagte ich.
»Ihnen braucht man nur zwei hübsch gewachsene Brüste zu zeigen, und
schon glauben Sie, Sie haben die heilige Theresia von Avila
gesehen, wofür es in Ihrem Alter eine Entschuldigung, wenn nicht
Abhilfe gibt. Überlassen Sie sie mir, Daniel, mich macht der
Wohlgeruch des ewig Weiblichen nicht mehr so verrückt wie Sie. In
meinen Jahren wird die Durchblutung des Kopfes wichtiger als die
der Weichteile.«
»Das sagen ausgerechnet Sie.«
Fermín zog seinen Geldbeutel hervor und begann den Inhalt zu
zählen.
»Sie haben ja ein Vermögen dabei«, sagte ich. »Und all das ist vom
Wechselgeld heute früh übriggeblieben?«
»Zum Teil. Der Rest ist rechtens. Heute führe ich eben meine
Bernarda aus. Dieser Frau kann ich einfach nichts abschlagen.
Notfalls überfalle ich die Bank von Spanien, um ihr all ihre Launen
zu erfüllen. Was haben denn Sie vor für den Rest des Tages?«
»Nichts Besonderes.«
»Und dieses Mädchen, na?«
»Welches Mädchen?«
»Die mit dem schauerlichen Dutt. Welches Mädchen wohl – Aguilars
Schwester natürlich!«
»Ich weiß nicht.«
»Wissen tun Sie’s schon, aber was Sie machen, das ist, auf gut
deutsch, den Schwanz zwischen die Beine kneifen, statt den Stier
bei den Hörnern zu packen.«
Auf diese Worte hin kam mit müdem Gesicht und zwischen den Lippen
kunstvoll tanzendem Zahnstocher der Schaffner auf uns zu und
sagte:
»Sie entschuldigen, aber die Damen dort bitten Sie, etwas
züchtigere Worte zu gebrauchen.«
»Die können sich ja verpissen, wenn’s ihnen nicht paßt«, sagte
Fermín laut.
Achselzuckend wandte sich der Schaffner zu den drei Frauen um,
womit er ihnen zu verstehen gab, daß er alles in seiner Macht
Stehende getan habe und nicht bereit sei, sich wegen einer Frage
der Wortwahl eine Ohrfeige einzuhandeln.
»Daß sich Leute, die kein Leben haben, immer in dasjenige der
andern einmischen müssen«, murmelte Fermín. »Wo waren wir
stehengeblieben?«
»Bei meinem fehlenden Mut.«
»Eben. Ein chronischer Fall. Hören Sie auf mich. Gehen Sie, holen
Sie Ihr Mädchen, das Leben vergeht im Flug, vor allem der
lebenswerte Teil. Sie haben ja gehört, was der Geistliche gesagt
hat. Aus den Augen, aus dem Sinn.«
»Aber es ist doch gar nicht mein Mädchen.«
»Dann erobern Sie sie eben, bevor ein anderer sie Ihnen
wegschnappt, besonders so ein kleiner Zinnsoldat.«
»Sie reden von Bea, als wäre sie eine Trophäe.«
»Nein, als wäre sie ein Segen«, sagte Fermín. »Passen Sie auf,
Daniel. Das Schicksal lauert immer gleich um die Ecke – wie ein
Dieb, eine Nutte oder ein Losverkäufer, seine drei trivialsten
Verkörperungen. Hausbesuche macht es hingegen keine. Man muß sich
schon zu ihm bemühen.«
Auf dem Rest der Fahrt dachte ich über diese philosophische Perle
nach, während Fermín ein weiteres begnadetes Nickerchen machte. An
der Ecke Gran Vía/Paseo de Gracia stiegen wir unter einem
aschfarbenen, das Licht verschluckenden Himmel aus. Fermín knöpfte
seinen Mantel bis an die Gurgel hinauf zu und verkündete, er laufe
nun eiligst in seine Pension, um sich für das Rendezvous mit der
Bernarda herauszuputzen.
»Sie müssen wissen, daß mit einem höchst bescheidenen Aussehen wie
meinem unter anderthalb Stunden Toilette kein Staat zu machen ist.
Es gibt keinen Geist ohne Gestalt, das ist die traurige
Wirklichkeit dieser gauklerischen Zeiten. Vanitas peccatum
mundi.«
Durch die Gran Vía sah ich diese Andeutung von einem Männchen
davoneilen, in seinen grauen Mantel eingemummelt, der flatterte wie
eine verschossene Fahne im Wind. Ich machte mich auf den Heimweg,
um mich zu Hause mit einem guten Buch vor der Welt zu verstecken.
Als ich von der Puerta del Ángel in die Calle Santa Ana einbog,
blieb mir das Herz stehen. Wie immer hatte Fermín recht gehabt: In
grauem Kostüm, neuen Schuhen und Seidenstrümpfen wartete vor der
Buchhandlung das Schicksal auf mich und betrachtete sein
Spiegelbild in der Schaufensterscheibe.
»Mein Vater glaubt, ich bin in der Zwölf-Uhr-Messe«, sagte Bea,
ohne ihr Bild aus den Augen zu lassen.
»Das bist du ja sozusagen auch. In der Kirche Santa Ana, weniger
als zwanzig Meter von hier, läuft seit neun Uhr eine
Dauervorstellung.«
Wir unterhielten uns wie zwei Unbekannte, die zufällig vor einem
Schaufenster stehengeblieben waren, und suchten in der Scheibe
unseren Blick.
»Da gibt es nichts zu witzeln. Ich habe ein Sonntagsblatt studieren
müssen, um zu sehen, wovon die Predigt handelt. Später wird er von
mir verlangen, daß ich sie ihm ausführlich zusammenfasse.«
»Deinem Vater entgeht nichts.«
»Er hat geschworen, dir die Beine zu brechen.«
»Vorher wird er herauskriegen müssen, wer ich bin. Und solange sie
noch intakt sind, laufe ich schneller als er.«
Sie sah mich angespannt an und schielte immer wieder über die
Schulter hinweg nach den Passanten, die hinter uns
vorbeiglitten.
»Ich weiß nicht, worüber du lachst«, sagte sie. »Es ist ihm Ernst
damit.«
»Ich lache nicht. Ich bin halb tot vor Angst. Ich freue mich
einfach, dich zu sehen.«
Ein Lächeln auf halbmast, nervös, flüchtig.
»Ich mich auch.«
»Das sagst du, als wäre es eine Krankheit.«
»Es ist schlimmer als das. Ich dachte, wenn ich dich im Tageslicht
wiedersehen würde, käme ich vielleicht zur Vernunft.«
Ich fragte mich, ob das ein Kompliment oder eine Mißbilligung
war.
»Man darf uns nicht zusammen sehen, Daniel. Nicht so, auf offener
Straße.«
»Wenn du willst, können wir in die Buchhandlung hineingehen, im
Hinterraum steht eine Kaffeemaschine, und …«
»Nein. Ich will nicht, daß mich jemand hier hineingehen oder
herauskommen sieht. Wenn mich jetzt jemand mit dir plaudern sieht,
kann ich immer noch sagen, ich habe zufällig den besten Freund
meines Bruders getroffen. Wenn man uns zweimal zusammen ertappt,
erregen wir Verdacht.«
Ich seufzte.
»Wer soll uns denn sehen? Wen geht es etwas an, was wir tun?«
»Die Leute haben immer Augen für das, was sie nichts angeht, und
mein Vater kennt halb Barcelona.«
»Warum bist du denn hergekommen und wartest auf mich?«
»Ich bin nicht gekommen, um auf dich zu warten. Ich bin zur Messe
gegangen, erinnerst du dich? Du hast es eben selbst gesagt. Zwanzig
Meter von hier …«
»Du machst mir Angst, Bea. Du lügst ja noch besser als ich.«
»Du kennst mich nicht, Daniel.«
»Das sagt dein Bruder.«
Unsere Blicke trafen sich in der Fensterscheibe.
»Du hast mir neulich abends etwas gezeigt, was ich noch nie gesehen
hatte«, murmelte sie. »Jetzt bin ich dran.«
Ich runzelte gespannt die Stirn. Bea öffnete ihre Tasche, zog ein
zusammengefaltetes Kärtchen heraus und gab es mir.
»Du bist nicht der einzige, der die Geheimnisse von Barcelona
kennt, Daniel. Ich habe eine Überraschung für dich. Ich erwarte
dich heute nachmittag um vier an dieser Adresse. Niemand darf
wissen, daß wir dort verabredet sind. Wenn du nicht kommst, werde
ich es verstehen«, sagte sie. »Ich werde verstehen, daß du mich
nicht mehr sehen willst.«
Ohne mir auch nur eine Sekunde Zeit für eine Antwort zu geben,
machte sie kehrt und ging behenden Schrittes Richtung Ramblas
davon. Ich schaute ihr nach, bis ihre Gestalt in dem grauen
Halbdunkel verschmolz, das dem Gewitter vorausging. Ich klappte das
Kärtchen auf. Darauf stand in blauer Schrift eine mir wohlvertraute
Adresse:
Avenida del Tibidabo 32
13
Das Gewitter wartete nicht auf den Einbruch der Dunkelheit, um loszudonnern. Die ersten Blitze zuckten, kurz nachdem ich in einen Bus der Linie 22 gestiegen war. Als wir um die Plaza Molina herum die Balmes hinauffuhren, verschwamm die Stadt schon hinter flüssigen Vorhängen, und mir kam in den Sinn, daß ich nicht einmal vorsorglich einen Schirm mitgenommen hatte.
»Mutig, mutig«, murmelte der Fahrer, nachdem ich Anhalten
verlangt hatte.
Es war bereits zehn nach vier, als mich der Bus im verlorenen
obersten Stück der Balmes im Unwetter stehenließ. Die Avenida del
Tibidabo gegenüber war unter dem Bleihimmel nur eine wäßrige
Andeutung. Ich zählte bis drei und lief unter dem Regen los. Naß
bis aufs Mark und zitternd vor Kälte, blieb ich nach wenigen
Minuten im Schutz eines Hauseingangs stehen, um Atem zu schöpfen.
Ich erforschte den Rest des Weges. Der Eishauch des Gewitters
verschleierte grau die gespenstischen Konturen von Palästen und
Villen. Unter ihnen erhob sich inmitten der gezausten Bäume einsam
der dunkle Turm des Aldaya-Hauses. Ich strich mir die klatschnassen
Haare aus den Augen und lief los, quer über die menschenleere
Avenida zu ihm hinüber.
Das Türchen im Gittertor wiegte sich im Wind. Auf der andern Seite
schlängelte sich ein schmaler Weg zur Villa hinauf. Ich schlüpfte
durch das Türchen auf das Grundstück. Zwischen dem Unkraut erahnte
man die Sockel roh entthronter Statuen. Als ich mich dem Haus
näherte, sah ich, daß eine von ihnen, ein Engel der Läuterung,
zuoberst im Park verloren in einem Bassin lag. Unter der jetzt
überfließenden Wasseroberfläche glitzerte die schwärzliche Gestalt
geisterhaft. Die Hand des Feuerengels ragte aus dem Wasser; ein
anklagender Zeigefinger, spitz wie ein Bajonett, wies auf den
Haupteingang. Die gearbeitete Eichentür war angelehnt. Ich stieß
sie auf und wagte mich ein paar Schritte in eine höhlenartige
Vorhalle hinein. Die Wände schienen unter der Berührung einer Kerze
zu schwanken.
»Ich dachte schon, du würdest nicht kommen«, sagte Bea.
Ihre Silhouette hob sich vom Halbdunkel in einem Flur ab, an dessen
Ende sich fahl erleuchtet eine Galerie auftat. Sie saß auf einem
Stuhl an der Wand, eine Kerze zu den Füßen.
»Schließ die Tür«, bedeutete sie mir, ohne aufzustehen. »Der
Schlüssel steckt im Schloß.«
Ich gehorchte. Das Schloß knarrte mit Grabesecho. Ich hörte Beas
Schritte hinter mir näher kommen und spürte ihre Berührung an
meinen nassen Kleidern.
»Du zitterst ja. Vor Angst oder vor Kälte?«
Ich wandte mich zu ihr um und sagte:
»Das habe ich noch nicht entschieden. Wozu sind wir hier?«
Sie lächelte und nahm mich bei der Hand.
»Weißt du es denn nicht? Ich dachte, du hättest es erraten …«
»Das war das Haus der Aldayas, das ist alles, was ich weiß. Wie
bist du hereingekommen, und woher hast du gewußt …?«
»Komm, wir machen ein Feuer, damit dir wieder warm wird.«
Sie führte mich durch den Korridor an den Fuß der Galerie, die den
Saal des Hauses beherrschte. Dieser reckte sich in Marmorsäulen und
kahlen Mauern zur Täfelung einer stückweise abgebröckelten Decke
empor. Man erahnte die Rahmen von Bildern und Spiegeln, die vor
Zeiten die Wände bedeckt hatten, sowie die Spuren von Möbeln auf
dem Marmorboden. Am einen Ende des Saals lagen in einem Kamin
einige Scheite bereit. Neben einem Schürhaken türmte sich ein
Stapel alter Zeitungen. Der Kamin roch nach frischem Feuer und
Kohlenstaub. Bea kniete vor ihm nieder und stopfte mehrere
Zeitungsseiten zwischen die Scheite. Mit einem Streichholz steckte
sie sie in Brand, und rasch bildete das Feuer einen Kranz. Kundig
schoben ihre Hände das Holz zurecht. Vermutlich dachte sie, ich
verzehre mich vor Neugier und Ungeduld, aber ich setzte ein
desinteressiertes Gesicht auf, das zeigen sollte, daß sie, wenn sie
mit mir geheimniskrämern wollte, den kürzeren ziehen würde. Sie
lächelte triumphierend. Wahrscheinlich wertete das Zittern meiner
Hände mein Ansehen nicht gerade auf.
»Kommst du oft hierher?« fragte ich.
»Heute zum ersten Mal. Gespannt?«
»Ein klein wenig.«
Sie kniete wieder vor dem Feuer nieder, zog eine Wolldecke aus
einer Segeltuchtasche und breitete sie aus. Sie roch nach
Lavendel.
»Komm, setz dich hierher ans Feuer, nicht daß du meinetwegen noch
eine Lungenentzündung kriegst.«
Die Wärme des Kamins gab mir das Leben zurück. Schweigend,
verzaubert schaute Bea in die Flammen.
»Wirst du mir das Geheimnis erzählen?« fragte ich schließlich.
Sie setzte sich auf einen der Stühle. Ich blieb dicht am Feuer
sitzen und schaute zu, wie der Dampf aus meinen Kleidern
aufstieg.
»Was du das Aldaya-Haus nennst, hat eigentlich einen richtigen
Namen, nämlich Nebelburg, aber das weiß fast niemand. Seit
fünfzehn Jahren versucht das Büro meines Vaters, diesen Besitz zu
verkaufen, erfolglos. Als du mir neulich die Geschichte von Julián
Carax und Penélope Aldaya erzählt hast, habe ich nicht weiter
darauf geachtet. Später, am Abend zu Hause, ist mir einiges
aufgegangen, und ich habe mich daran erinnert, daß ich meinen Vater
einmal von der Familie Aldaya habe sprechen hören, und zwar von
diesem Haus. Gestern bin ich in sein Büro gegangen, und sein
Sekretär, Casasús, hat mir die Geschichte des Hauses erzählt. Hast
du gewußt, daß das in Wirklichkeit gar nicht ihr offizieller
Wohnsitz war, sondern eines ihrer Sommerhäuser?«
Ich verneinte.
»Das Haupthaus der Aldayas war ein Palast, der 1925 abgerissen
wurde, um einem Mietshaus Platz zu machen, an der heutigen Kreuzung
der Calle Bruch und der Calle Mallorca. Dieses Haus war im Auftrag
des Großvaters von Penélope und Jorge, Simón Aldaya, 1896 von Puig
i Cadafalch erbaut worden, als es dort nichts als Felder und
Bewässerungskanäle gab. Die Nebelburg hingegen hatte der
älteste Sohn des Patriarchen Simón, Don Ricardo Aldaya, in den
letzten Jahren des 19. Jahrhunderts einem höchst pittoresken Mann
abgekauft – zu einem Spottpreis, denn das Haus hatte einen üblen
Ruf. Casasús meinte, es sei verflucht und nicht einmal die
Verkäufer würden sich herwagen, um es zu zeigen, und sich unter
irgendwelchen Vorwänden verdrücken …«
14
Während ich mich aufwärmte, erzählte mir Bea, wie die Nebelburg in den Besitz der Familie Aldaya gelangt war. Es war eine Schauergeschichte, die ebensogut aus Julián Carax’ Feder hätte geflossen sein können. 1899/1900 war das Haus vom Architektenbüro Naulí, Martorell und Bergadà unter der Schirmherrschaft eines extravaganten katalanischen Financiers namens Salvador Jausà erbaut worden, der nur ein Jahr darin leben sollte. Bereits mit sechs Jahren Waise und aus einfachen Verhältnissen stammend, hatte der Magnat sein Vermögen größtenteils in Kuba und Puerto Rico zusammengetragen. Aus der Neuen Welt brachte er aber nicht nur ein Vermögen mit: Er kam in Begleitung einer nordamerikanischen Gattin, einer blassen, zerbrechlichen jungen Dame aus Philadelphias vornehmer Gesellschaft, die kein Wort Spanisch sprach, und eines farbigen Dienstmädchens, das seit seinen ersten Kubajahren in seinem Dienst gestanden hatte und einen als Harlekin gekleideten Affen in einem Käfig sowie sieben Überseekoffer Gepäck mitführte. Bis zum Kauf eines Wohnsitzes, der dem Geschmack und Verlangen Jausàs entsprach, bezogen sie mehrere Zimmer im Hotel Colòn auf der Plaza de Cataluña.
Niemand zweifelte daran, daß das Dienstmädchen – eine Schönheit aus Ebenholz mit einem Blick und einer Figur, die, wie es in den Gesellschaftsreportagen hieß, zu Herzjagen führten – seine Geliebte und Lehrmeisterin in unbeschreiblichen Vergnügungen war. Daß sie eine Hexe und Zauberin war, verstand sich ohnehin. Sie hieß Marisela, oder zumindest nannte Jausà sie so, und in Kürze wurden ihr Aussehen und ihr Verhalten zum Lieblingsärgernis der Gesellschaften, die die Damen aus gutem Hause gaben, um Baisers zu kosten und die Zeit und die herbstliche Hitze totzuschlagen. Gerüchte machten die Runde, wonach es diese Afrikanerin auf dem Manne sitzend mit diesem trieb, ihn reitend wie ein brünstiges Weib, was gegen mindestens fünf Todsünden verstieß. Um das Maß vollzumachen, hatte Jausà auch noch die Unverfrorenheit, jeweils am Sonntagvormittag mit seiner Gattin und Marisela in seinem Wagen spazierenzufahren und so der Jugend auf dem Paseo de Gracia unterwegs zur Elf-Uhr-Messe ein Schauspiel des Sittenverfalls zu bieten.
Zu jener Zeit war Barcelona schon vom Jugendstilfieber erfaßt, aber Jausà gab den für den Bau seiner neuen Bleibe angeheuerten Architekten unmißverständlich zu verstehen, daß er etwas anderes wollte. Anders war das bevorzugte Adjektiv seines Vokabulars. Er war jahrelang an der Reihe neugotischer Villen vorüberspaziert, die sich die Magnaten des Industriezeitalters in der Fünften Avenue zwischen der 58. und der 72. Straße auf der Ostseite des Central Park hatten bauen lassen. Er wünschte sich seinen Wohnsitz fern von der Stadt, in der damals noch relativ öden Gegend der Avenida del Tibidabo, um, wie er sagte, Barcelona aus der Distanz zu betrachten. Als einzige Gesellschaft begehrte er einen Park mit Engelsstatuen, die gemäß seinen Anweisungen an den Spitzen eines siebenzackigen Sterns zu stehen hatten. Zur Ausführung seiner Pläne sandte Salvador Jausà seine Architekten für drei Monate nach New York, damit sie die Wahnsinnsbauten studierten, welche errichtet worden waren, um Commodore Vanderbilt, die Familie von Johann Jacob Astor, Andrew Carnegie und die übrigen fünfzig goldenen Familien zu beherbergen.
Ein Jahr später sprachen die drei Architekten in seinen Gemächern im Hotel Colón vor, um ihm das Projekt zu präsentieren. In Mariselas Anwesenheit hörte Jausà ihnen schweigend zu und beauftragte dann das Architektenbüro, den Bau ungeachtet der Kosten in einem halben Jahr zu errichten. Sieben Monate später, im Juli 1900, zogen Jausà, seine Gattin und das Dienstmädchen Marisela in das Haus ein. Im August dieses Jahres waren die beiden Frauen tot, und die Polizei fand Salvador Jausà nackt und mit den Händen an den Sessel seines Arbeitszimmers gefesselt. Im Polizeirapport stand, die Wände des ganzen Hauses seien mit Blut verschmiert, die Engelsstatuen rund um den Park verstümmelt und ihre Gesichter nach Art von Stammesmasken bemalt gewesen. Auf den Sockeln seien Spuren von schwarzen Altarkerzen gefunden worden. Die Untersuchung dauerte acht Monate.
Laut den Ermittlungen der Polizei schien alles darauf hinzudeuten, daß Jausà und seine Gattin von Marisela, in deren Räumen mehrere Fläschchen eines Pflanzenextrakts gefunden wurden, mit diesem vergiftet worden waren. Aus irgendeinem Grund hatte Jausà überlebt, doch die Folgeerscheinungen des Giftes waren schrecklich – er verlor das Gehör, war teilweise gelähmt und litt unter ungeheuren Schmerzen. Señora Jausà wurde auf dem Bett in ihrem Zimmer gefunden, nur mit ihren Juwelen und einem Brillantarmband angetan. Die Polizei vermutete, daß sich Marisela nach Verübung des Verbrechens mit einem Messer die Adern aufgeschnitten hatte und dann so lange durchs Haus gelaufen war und die Gang- und Zimmerwände mit ihrem Blut bespritzt hatte, bis sie in ihrem Dachgemach tot umgefallen war. Anscheinend war Jausàs Gattin im Moment ihres Todes schwanger gewesen. Marisela, so hieß es, habe auf den nackten Bauch der Señora mit heißem rotem Wachs einen Schädel gezeichnet. Einige Monate später legte die Polizei den Fall zu den Akten. Viele aus der feinen Gesellschaft freuten sich, daß Salvador Jausàs Exzentrizitäten ein Ende genommen hatten. Das war ein Irrtum – sie hatten eben erst begonnen.
In dieser Zeit kam Jausà mit Don Ricardo Aldaya in Kontakt, damals schon ein aufstrebender Industrieller mit dem Ruf eines Frauenhelden und dem Temperament eines Löwen, der sich erbot, ihm seinen Besitz abzukaufen, um ihn niederzureißen und sich das Grundstück vergolden zu lassen. Jausà ließ sich nicht zum Verkauf überreden, lud Ricardo Aldaya aber ein, das Haus zu besichtigen, um ihm etwas zu zeigen, was er als wissenschaftliches und spirituelles Experiment bezeichnete. Seit dem Ende der Untersuchungen hatte kein Besucher mehr einen Fuß über die Schwelle gesetzt. Was Aldaya dort sah, ließ ihm das Blut in den Adern gerinnen.
Noch immer bedeckten die dunklen Flecken von Mariselas Blut die Wände. Anscheinend war Jausà davon überzeugt, daß der Geist der Afrikanerin weiterhin im Haus weilte. Er behauptete, ihre Stimme, ihren Geruch, selbst ihre Berührung in der Dunkelheit wahrzunehmen. Als das Gesinde davon hörte, entfloh es und nahm im benachbarten Ort Sarriá neue Stellen an. Jausà jedoch hatte in New York die Gelegenheit gehabt, einige Ergebnisse der Erfindung des Cinematographen zu sehen, des technischen Kuriosums der Zeit. Wie die verstorbene Marisela glaubte er, die Kamera sauge Seelen ein, diejenige des gefilmten Menschen und diejenige des Betrachters, und bestellte den Erfinder und katalanischen Cinematographenpionier Fructuós Gelabert zu sich. Dieser baute in der Gegend von San Cugat del Vallés einige Filmstudios, in der Gewißheit, im 20. Jahrhundert würden die bewegten Bilder den obrigkeitlich verordneten Glauben ersetzen. Nach dem Weggang seiner Bediensteten war Jausà mit seiner Besessenheit und seinen unsichtbaren Geistern allein geblieben. Bald gelangte er zur Überzeugung, es gelte, diese Unsichtbarkeit zu überwinden, und gab Fructuós Gelabert den Auftrag, in den Gängen der Nebelburg Meter um Meter Film zu drehen, um Zeichen und Visionen aus dem Jenseits einzufangen. Bis dahin waren die Versuche jedoch unfruchtbar geblieben.
Alles änderte sich, als Gelabert verkündete, er habe von Thomas Edisons Fabrik eine neue Art lichtempfindliches Material erhalten, mit dem man selbst unter prekärsten Lichtverhältnissen filmen könne. Mit einer Technik, die nie ganz deutlich wurde, hatte einer der Assistenten von Gelaberts Labor einen billigen Schaumwein in die Entwicklerschale gegeben, und infolge der chemischen Reaktion zeigten sich auf dem belichteten Film merkwürdige Formen. Das war der Film, den Jausà Don Ricardo Aldaya an dem Abend vorführen wollte, an dem er ihn in sein Geisterhaus in der Avenida del Tibidabo 32 einlud.
Jausà zweifelte die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse nicht im geringsten an. Wo andere Leute Formen und Schatten sahen, sah er Seelen und schwor, genau zu erkennen, wie sich Mariselas Silhouette als aufrecht gehender Wolf materialisiere. Ricardo Aldaya sah in der Projektion nichts weiter als große Flecken und merkte zudem, daß sowohl der gezeigte Film als auch der Vorführer nach ordinärem Wein stanken. Als guter Geschäftsmann spürte er jedoch, daß er aus alledem Gewinn schlagen könnte. Also gab er Jausà recht und ermunterte ihn, sein Unternehmen fortzusetzen. Wochenlang drehten Gelabert und seine Leute Kilometer um Kilometer Film, und zwischen den Projektionen überschrieb Jausà Vollmachten, unterzeichnete Beglaubigungen und übertrug die Kontrolle über seine finanziellen Reserven Ricardo Aldaya.
An einem Novemberabend dieses Jahres verschwand Jausà während eines Gewitters spurlos. Niemand erfuhr je, was aus ihm geworden war. Damals war Aldaya schon Inhaber der meisten seiner Besitztümer. Einige Leute sagten, die verstorbene Marisela sei zurückgekommen, um mit Jausà zur Hölle zu fahren. Andere behaupteten, ein dem Millionär sehr ähnlich sehender Bettler sei einige Monate lang in der Umgebung der Zitadelle gesehen worden, bis ihn bei vollem Tageslicht ein schwarzer Wagen mit zugezogenen Vorhängen überfahren habe.
Einige Monate später zog Don Ricardo Aldaya mit seiner Familie in das Haus in der Avenida del Tibidabo, wo nach zwei Wochen die kleine Tochter des Ehepaars geboren wurde, Penélope. Um das zu feiern, taufte Aldaya das Haus in Villa Penélope um, doch der neue Name konnte sich nie durchsetzen. Das Haus hatte seinen eigenen Charakter und zeigte sich immun gegen die Lebensweise seiner neuen Besitzer. Diese klagten über nächtliche Geräusche und Schläge an die Wände, plötzlichen Fäulnisgeruch und eisige Luftzüge. Dauernd wechselten die Bücher der Bibliothek ihre Ordnung oder standen verkehrt in den Regalen. Im dritten Stock lag ein Schlafzimmer, das nicht benutzt wurde, weil auf den Wänden unerklärliche Feuchtigkeitsflecken in Form verschwommener Gesichter erschienen, und in dem frische Blumen in Minutenschnelle welkten.
Die Köchinnen beteuerten, gewisse Artikel seien aus der Vorratskammer wie weggezaubert und bei jedem Neumond färbe sich die Milch rot. Auch sonst wurden Gegenstände vermißt, insbesondere Juwelen und Knöpfe an den in Schränken und Schubladen verwahrten Kleidern. Ab und zu tauchten die verschwundenen Dinge Monate später in einem entlegenen Winkel des Hauses oder im Park wieder auf. Nach Don Ricardo Aldayas Meinung hätte eine Woche Fasten die Familie von den Schrecknissen geheilt. Als auch die Kleinode seiner Frau gestohlen wurden, setzte er ein halbes Dutzend Bedienstete auf die Straße, obwohl alle unter Tränen ihre Unschuld beteuerten. Es verschwanden aber nicht nur die Juwelen, mit der Zeit kam der Familie Aldaya auch die Lebensfreude abhanden.
Sie war nie glücklich gewesen in diesem Haus, das ihr durch Don Ricardos undurchsichtige Geschäftemacherei zugefallen war. Señora Aldaya bat ihren Mann unablässig, die Villa zu veräußern und in der Stadt Wohnsitz zu nehmen oder sogar in den Palast zurückzukehren, den Puig i Cadafalch für Großvater Simón, den Patriarchen des Clans, gebaut hatte. Ricardo Aldaya weigerte sich. Da er die meiste Zeit auf Reisen oder in den Faktoreien der Familie verbrachte, sah er keinen Grund, das Haus zu verlassen. Einmal verschwand acht Stunden lang der kleine Jorge im Haus. Seine Mutter und das Gesinde suchten ihn verzweifelt, erfolglos. Als er bleich und verwirrt wiederauftauchte, sagte der Junge, er sei die ganze Zeit in der Bibliothek gewesen, in Gesellschaft der geheimnisvollen farbigen Frau, die ihm alte Fotos gezeigt und ihm gesagt habe, sämtliche Frauen der Familie müßten in diesem Haus sterben, um die Sünden ihrer Männer zu sühnen. Sie enthüllte dem kleinen Jorge sogar den Todestag seiner Mutter: der 12. April 1921. Im Morgengrauen des 12. April 1921 wurde Señora Aldaya entseelt im Bett ihres Schlafzimmers aufgefunden.
Eine Woche später beschloß Don Ricardo Aldaya, das Haus abzustoßen. Zu diesem Zeitpunkt war sein Finanzimperium bereits todkrank, und einige Leute deuteten an, das sei alles die Schuld des verfluchten Hauses, das jedem Bewohner Unglück bringe. Vorsichtigere sagten nur, Aldaya habe die Veränderungen des Marktes nie verstanden und in seinem ganzen Leben nichts anderes getan, als das von Patriarch Simón aufgebaute Geschäft zu ruinieren. Ricardo Aldaya verkündete, er verlasse Barcelona und übersiedle mit seiner Familie nach Argentinien, wo es seinen Textilindustrien glänzend ging. Nach Ansicht vieler floh er vor dem Untergang und der Schmach.
1922 wurde die Nebelburg für einen Spottpreis zum Verkauf angeboten. Anfänglich bestand ein großes Kaufinteresse, aber nach der Besichtigung des Hauses machte keiner der potentiellen Käufer eine Offerte. 1923 wurde es versiegelt. Das Eigentumsrecht ging auf eine Grundstücksgesellschaft über, der Aldaya Geld schuldete, damit sie den Verkauf oder den Abbruch in die Hand nähme oder sonst eine Lösung fände. Jahrelang stand das Haus zum Verkauf, ohne daß ein Käufer gefunden wurde. 1939 machte die besagte Gesellschaft Konkurs, als die beiden Teilhaber unter nie ganz geklärten Anschuldigungen ins Gefängnis kamen, und nach beider Tod 1940 wurde sie von einem Madrider Finanzkonsortium geschluckt, dem auch Señor Aguilar, der Vater von Tomás und Bea, angehörte. Trotz aller Bemühungen konnte keiner der in Señor Aguilars Diensten stehenden Verkäufer das Haus an den Mann bringen, nicht einmal zu einem weit unter dem Marktwert liegenden Preis. Über zehn Jahre lang betrat es niemand.
»Bis heute«, sagte Bea und versank dann in einem Schweigen.
Mit der Zeit sollte ich mich an dieses plötzliche Schweigen
gewöhnen und daran, daß sie sich mit verlorenem Blick und
zurückgenommener Stimme einkapselte.
»Ich wollte dir diesen Ort zeigen, weißt du. Ich wollte dir eine
Überraschung bereiten. Als ich Casasús zuhörte, dachte ich, ich
müsse dich hierherbringen, das war schließlich Teil deiner
Geschichte, der Geschichte von Carax und Penélope. Den Schlüssel
habe ich mir im Büro meines Vaters ausgeliehen. Keiner weiß, daß
wir hier sind. Es ist unser Geheimnis, und ich wollte es mit dir
teilen. Ich habe mich gefragt, ob du kommen würdest.«
»Du hast es gewußt.«
Sie lächelte.
»Ich glaube, nichts geschieht aus Zufall. Im Grunde hat alles
seinen geheimen Plan, auch wenn wir ihn nicht verstehen. Etwa, daß
du im Friedhof der Vergessenen Bücher diesen Roman von Julián Carax
gefunden hast oder daß wir beide jetzt hier sind, in diesem Haus,
das den Aldayas gehört hat.«
Während sie sprach, hatte meine Hand ungeschickt nach ihrem
Fußknöchel getastet und arbeitete sich nun zu ihrem Knie empor. Bea
beobachtete sie, als wäre sie ein Insekt, das da hochgeklettert
war. Ich fragte mich, was Fermín wohl in diesem Moment getan hätte.
Wo war sein Wissen, wenn ich es am meisten brauchte?
»Tomás sagt, du hast nie eine Freundin gehabt«, sagte sie, als
erklärte das alles.
Ich zog die Hand zurück und schaute besiegt zu Boden. Ich hatte das
Gefühl, sie lächle, aber ich wagte nicht hinzuschauen.
»Für einen so verschwiegenen Menschen ist dein Bruder eine
ziemliche Plaudertasche. Was sagt die Wochenschau denn sonst noch
von mir?«
»Sie sagt, du seist jahrelang in eine Frau verliebt gewesen, die
älter war als du, und dieses Erlebnis habe dir das Herz
gebrochen.«
»Gebrochen ist nur eine Rippe und der Stolz.«
»Tomás sagt, du bist nie mehr mit einem Mädchen gegangen, weil du
alle mit dieser Frau vergleichst.«
Der gute Tomás und seine versteckten Schläge.
»Ihr Name ist Clara«, sagte ich.
»Ich weiß. Clara Barceló.«
»Du kennst sie?«
»Alle kennen irgendeine Clara Barceló. Auf den Namen kommt es nicht
an.«
Wir schwiegen eine Weile und schauten zu, wie das Feuer Funken
sprühte.
»Nachdem ich dich gestern abend verlassen hatte, habe ich Pablo
einen Brief geschrieben«, sagte Bea.
Ich schluckte.
»Deinem Verlobten, dem Leutnant? Wozu?«
Sie zog einen Umschlag hervor und zeigte ihn mir. Er war
verschlossen und versiegelt.
»In dem Brief sage ich ihm, daß ich sobald wie möglich heiraten
will, in einem Monat, wenn es geht, und daß ich für immer von
Barcelona weg will.«
Beinahe zitternd suchte ich ihren undurchdringlichen Blick.
»Warum erzählst du mir das?«
»Damit du mir sagst, ob ich ihn abschicken soll oder nicht. Darum
habe ich dich heute hierherkommen lassen, Daniel. Sieh mich
an.«
Ich schaute auf und hielt ihrem Blick stand. Ich wußte keine
Antwort. Bea senkte die Augen und entfernte sich zum andern Ende
des Saals. Eine Tür führte zu einer Marmorbalustrade, die sich auf
den Hof öffnete. Ich sah, wie ihre Gestalt mit dem Regen
verschmolz, eilte ihr nach, um sie aufzuhalten, und riß ihr den
Umschlag aus den Händen. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht und
fegte Tränen und Wut hinweg. Ich brachte sie ins Haus zurück und
zog sie vor das wärmende Feuer. Sie mied meinen Blick. Da warf ich
den Umschlag in die Flammen. Wir schauten zu, wie er verbrannte und
sich in blaue Rauchspiralen auflöste. Mit Tränen in den Augen
kniete Bea neben mir nieder. Ich umarmte sie und spürte ihren Atem
am Hals.
»Laß mich nicht fallen, Daniel«, flüsterte sie.
Der weiseste Mann, den ich je kennengelernt hatte, Fermín Romero de
Torres, hatte mir einmal erklärt, es gebe keine Erfahrung im Leben,
die derjenigen vergleichbar sei, zum ersten Mal eine Frau
auszuziehen. Er hatte mich nicht belogen, er hatte mir aber auch
nicht die ganze Wahrheit gesagt. Er hatte mir nichts erzählt von
dem seltsamen Zittern der Hände, das jeden Knopf, jeden
Reißverschluß zu einem Hindernis machte. Er hatte mir nichts gesagt
von dem Zauber der blassen Haut, von der ersten zitternden
Berührung der Lippen. Von alledem hatte er mir nichts erzählt, weil
er wußte, daß sich das Wunder nur einmal ereignet und dabei eine
Sprache der Geheimnisse spricht, die, haben sie sich einmal zu
erkennen gegeben, für immer verfliegen. Tausende Male habe ich
diese erste Begegnung mit Bea in dem Haus in der Avenida del
Tibidabo, wo das Prasseln des Regens die Welt mit sich forttrug,
auferstehen lassen wollen. Tausende Male habe ich zurückkehren und
mich in einer Erinnerung verlieren wollen, von der ich kaum ein
klares Bild zustande bringe. Bea, nackt und regenglänzend vor dem
Feuer liegend. Ich beugte mich über sie und ließ die Fingerspitzen
über die Haut ihres Bauches gleiten. Sie senkte den Blick und
lächelte, sicher und stark.
Es war dunkel geworden, als wir das Haus verließen. Vom Gewitter
war nur noch ein schwacher, kalter Sprühregen geblieben. Ich wollte
Bea den Schlüssel zurückgeben, aber sie bedeutete mir mit einem
Blick, ich solle ihn behalten. Schweigend, Hand in Hand und ohne
uns anzuschauen, gingen wir zum Paseo de San Gervasio hinunter, in
der Hoffnung, dort ein Taxi oder einen Bus zu finden.
»Ich kann dich erst am Dienstag wiedersehen«, sagte Bea mit dünner
Stimme, als zweifelte sie plötzlich an meinem Wunsch, sie ebenfalls
wiederzusehen.
»Ich werde dich hier erwarten«, sagte ich.
Ich hielt es für ausgemacht, daß nun alle Treffen mit Bea im
Gemäuer dieses alten Hauses stattfänden, daß der Rest der Stadt
nicht uns gehörte. Mir schien, mit jedem Schritt, den wir uns von
dort entfernten, werde ihr Händedruck schwächer und kühler. Als wir
den Paseo de Gervasio erreichten, stellten wir fest, daß die
Straßen praktisch menschenleer waren.
»Hier werden wir nichts finden«, sagte Bea. »Wir gehen besser die
Balmes hinunter.«
Entschlossenen Schrittes bogen wir in die Balmes ein und
marschierten unter den Baumkronen dahin, um uns vor dem Nieselregen
zu schützen – und vielleicht auch davor, daß sich unsere Blicke
trafen. Ich hatte den Eindruck, Bea gehe immer schneller, ziehe
mich beinahe mit. Einen Moment lang dachte ich, wenn ich ihre Hand
loslasse, würde sie davonlaufen. Meine Fantasie, noch randvoll von
der Berührung und dem Geschmack ihres Körpers, brannte im Wunsch,
sie auf eine Bank zu drücken, sie zu küssen, ihr all die Dummheiten
zuzuraunen, die einem Fremden nur komisch vorgekommen wären. Aber
Bea war nicht mehr wirklich da. Irgend etwas nagte an ihr, still
und dennoch ganz laut. »Was ist denn?« fragte ich leise.
Sie antwortete mit einem ängstlichen Lächeln. Da sah ich mich
selbst durch ihre Augen: ein noch völlig argloses Bürschchen, das
glaubte, in einer Stunde die Welt erobert zu haben, und noch nicht
wußte, daß sie ihm in einer Minute wieder abhanden kommen konnte.
Ich ging weiter, ohne eine Antwort zu erwarten, endlich erwachend.
Kurz darauf waren Verkehrsgeräusche zu hören, und die Luft schien
sich zu entzünden wie eine Gasblase in der Wärme von
Straßenlaternen und Ampeln.
»Besser, wir trennen uns hier«, sagte Bea und ließ meine Hand
los.
An der Ecke erkannte man die Lichter eines Taxistandes, eine lange
Reihe Glühwürmchen.
»Wie du meinst.«
Sie beugte sich zu mir hin und streifte mit den Lippen meine Wange.
Ihr Haar roch nach Wachs.
»Bea«, begann ich, fast unhörbar, »ich liebe dich …«
Sie schüttelte schweigend den Kopf und verschloß mir mit den
Fingern die Lippen, als hätten meine Worte sie verletzt.
»Dienstag um sechs, einverstanden?« fragte sie.
Wieder nickte ich. Ich sah sie davongehen und in einem Taxi
verschwinden, fast eine Unbekannte. Einer der Fahrer, der das
Gespräch mit scharfen Augen verfolgt hatte, sah mich neugierig
an.
»Na, geht’s nach Hause, Chef?«
Gedankenlos setzte ich mich in seinen Wagen. Im Rückspiegel
beobachteten mich die Augen des Fahrers. Das Taxi, das mit Bea
davonfuhr, zwei leuchtende Punkte, verlor sich in der Schwärze.
15
Ich konnte nicht einschlafen, bis der Morgen mein Fenster mit hundert Grautönen übergoß, einer betrüblicher als der andere. Fermín, der vom Kirchplatz aus Steinchen an meine Scheibe warf, weckte mich. Ich zog das Erstbeste an, was ich fand, und ging hinunter, um ihm zu öffnen. Er brachte seine unerträgliche Montagmorgenbegeisterung mit. Wir zogen das Gitter hoch und hängten das Schild Offen hinaus.
»Sie haben vielleicht Ringe um die Augen, Daniel. Groß wie ein Baugrundstück. Man sieht, daß Sie den Stier bei den Hörnern gepackt haben.«
Im Hinterraum band ich mir meinen blauen Kittel um und reichte ihm den seinen – besser gesagt, ich warf ihn ihm ingrimmig zu. Fermín schnappte ihn sich im Flug, ganz verschmitztes Grinsen.
»Eher hat mich der Stier auf die Hörner genommen«, sagte
ich.
»Überlassen Sie die geistreichen Sprüche Don Ramón Gómez de la
Serna, Ihre leiden an Anämie. Na los, erzählen Sie.«
»Was soll ich denn erzählen?«
»Das überlasse ich Ihnen. Die Anzahl Degenstiche oder die
Ehrenrunden in der Arena.«
»Mir ist nicht nach Witzen, Fermín.«
»O Jugend, Blüte der Einfalt. Kommen Sie, ärgern Sie sich nicht
über mich – ich habe brandaktuelle Nachrichten bezüglich unserer
Ermittlungen über Ihren Freund Julián Carax.«
»Ich bin ganz Ohr.«
Er warf mir seinen CIA-Blick zu, eine Braue in die Höhe gezogen,
die andere wachsam.
»Nun, nachdem ich gestern die Bernarda mit intakter Keuschheit,
aber zwei saftigen blauen Flecken am Gesäß nach Hause gebracht
hatte, habe ich von wegen Abendlatte eine Schlaflosigkeitsattacke
erlitten und diesen Umstand genutzt, um eine der
Informationsstellen der Barceloneser Unterwelt aufzusuchen, nämlich
die Schenke von Eliodoro Salfumán alias Kaltschwanz, ein
ungesundes, aber sehr pittoreskes Lokal in der Calle Sant Jeroni,
Stolz und Seele des Raval.«
»Machen Sie es um Gottes willen kurz, Fermín.«
»Bin schon dabei. Also, dort angekommen, habe ich mich bei einigen
der Stammgäste, alten Leidensgenossen, eingeschmeichelt und über
diesen Miquel Moliner zu ermitteln begonnen, den Mann ihrer Mata
Hari Nuria Monfort und angeblichen Insassen der
Stadtpensionate.«
»Angeblich?«
»Nie treffender gesagt, denn in diesem Fall ist es, wenn ich mich
so ausdrücken darf, vom Adjektiv zur Tatsache nicht einmal ein
Katzensprung. Ich weiß aus Erfahrung, daß hinsichtlich der
Zuchthausinsassenschaft meine Informanten in besagter Kneipe
verläßlicher sind als die Blutsauger des Justizpalastes, und ich
kann Ihnen versichern, mein lieber Daniel, daß in den letzten zehn
Jahren niemand von einem Miquel Moliner als Gefangenem, Besucher
oder sonstigem Lebewesen in Barcelonas Gefängnissen gehört
hat.«
»Vielleicht sitzt er anderswo ein.«
»Na klar, in Alcatraz, Sing-Sing oder in der Bastille. Daniel,
diese Frau hat Sie angeschwindelt.«
»Es ist zu vermuten.«
»Nicht zu vermuten, zu akzeptieren.«
»Und was nun? Miquel Moliner ist eine tote Spur.« »Oder diese Nuria
für Sie eine Spur zu gewitzt.« »Was empfehlen Sie?«
»Für den Moment, andere Wege zu verfolgen. Es wäre keineswegs
müßig, dieses alte Weiblein zu besuchen, die gute Kinderfrau aus
dem Märchen, das uns der Geistliche gestern vormittag aufgetischt
hat.«
»Sagen Sie nicht, Sie vermuten, auch die Kinderfrau sei
verschwunden.«
»Nein, aber ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir die
Zimperlichkeiten lassen und nicht mehr ans Portal klopfen, als
bäten wir um ein Almosen. In dieser Angelegenheit muß man durch die
Hintertür hinein. Einverstanden?«
»Vermutlich treffen Sie den Nagel auf den Kopf, Fermín.«
»Dann holen Sie mal einen Hammer, heute abend werden wir gleich
nach Ladenschluß der Frau im Altenheim Santa Lucía einen
Barmherzigkeitsbesuch abstatten. Und jetzt erzählen Sie, wie ist es
Ihnen gestern mit diesem Backfisch ergangen? Seien Sie doch nicht
so verschlossen – was Sie mir verschweigen, wird als Eiterpickel
durchschlagen.«
Ich seufzte und gestand ihm alles haarklein. Als ich zu Ende war
und auch meine Ängste geschildert hatte, überraschte mich Fermín
mit einer plötzlichen, tiefempfundenen Umarmung.
»Sie sind verliebt«, murmelte er gerührt, während er mir auf die
Schulter klopfte. »Sie Armer.«
An diesem Abend verließen wir die Buchhandlung pünktlich zur
Ladenschlußzeit, was uns einen scharfen Blick meines Vaters
eintrug, dem allmählich schwante, daß wir bei diesem ganzen Hin und
Her etwas im Schilde führten. Fermín stotterte einiges
Unzusammenhängende über unerledigte Besorgungen, und dann machten
wir uns eiligst dünne. Vermutlich würde ich meinem Vater über kurz
oder lang reinen Wein einschenken müssen, wenigstens teilweise –
welcher Teil das sein würde, war eine andere Frage.
Unterwegs schilderte mir Fermín mit seinem ausgeprägten Sinn für
Hintertreppenfolklore den Schauplatz, den wir aufzusuchen im
Begriff waren. Das Altenheim Santa Lucía war eine Einrichtung von
gespenstischem Ruf und befand sich in einem halbverfallenen Palast
in der Calle Montcada. Die Legende beschrieb ihn als eine Mischung
aus Purgatorium und Leichenhalle mit prekärsten sanitären
Bedingungen. Vom 11. Jahrhundert an hatte er unter anderem mehrere
vornehme Familien, ein Gefängnis, einen Kurtisanensalon, eine
Bibliothek mit verbotenen Handschriften, eine Kaserne, eine
Bildhauerwerkstatt, ein Pestsanatorium und ein Kloster beherbergt.
Mitte des 19. Jahrhunderts, als er mehr oder weniger zerfiel, war
er in ein Museum der Mißgeburten und Abscheulichkeiten umgewandelt
worden. Dessen Leiter nannte sich László de Vicherny, Herzog von
Parma und Privatalchimist der Bourbonen, hieß mit richtigem Namen
aber Baltasar Deulofeu i Carallot, gebürtig aus Esparraguera, und
war ein professioneller Betrüger und notorischer Casanova.
Dieser Mann rühmte sich, in Formolfläschchen verwahrt die größte
Sammlung menschlicher Föten sein eigen zu nennen. Unter anderem bot
das Tenebrarium, wie Deulofeu sein Werk getauft hatte,
spiritistische und nekromantische Sitzungen, Hahnen-, Ratten-,
Hunde-, Weiber-, Behinderten- und gemischte Kämpfe mit den
entsprechenden Wetten an, dazu ein Krüppel- und Ungeheuerbordell,
ein Kasino, eine Rechts- und Finanzberatungsstelle, ein
Liebestrankatelier, eine Bühne für Schauspiele regionaler Folklore,
Marionettentheater und Revuen exotischer Tänzerinnen.
Fünfzehn Jahre lang war das Tenebrarium ein durchschlagender
Erfolg, bis die schwärzeste Schande über die Vergnügungsstätte und
ihren Schöpfer fiel, als nämlich aufflog, daß Deulofeu innerhalb
einer einzigen Woche die Gattin, die Tochter und die
Schwiegermutter des Militärgouverneurs der Provinz verführt hatte.
Bevor er aus der Stadt fliehen und eine andere seiner vielen
Identitäten annehmen konnte, hetzte ihn ein Killertrupp durch die
Gassen des Santa-María-Viertels, um ihn im Zitadellenpark
aufzuhängen und anzuzünden und seinen Körper dann den herrenlosen
Hunden zum Fraße vorzuwerfen. Nachdem es zwei Jahrzehnte verlassen
gewesen war und niemand sich die Mühe gemacht hatte, Lászlós
Abscheulichkeiten zu beseitigen, wurde das Tenebrarium von einem
religiösen Orden in eine Fürsorgeinstitution umgewandelt.
»Dummerweise sind alle sehr geheimniskrämerisch, was diesen Ort
betrifft – aus schlechtem Gewissen, würde ich sagen –, so daß wir
uns irgendeinen Vorwand werden ausdenken müssen, um einzudringen«,
sagte Fermín.
In jüngerer Zeit rekrutierten sich die Insassen des Altenheims
Santa Lucía aus den Reihen der Scheintoten, verlassenen Greise,
Geistesgestörten, Bedürftigen und dem einen oder andern komischen
Heiligen, die alle zusammen die unterste Hefe von Barcelona
bildeten. Zu ihrem Glück überlebten die meisten ihren Eintritt
nicht lange; der Zustand des Ortes und die Gesellschaft luden nicht
zur Langlebigkeit ein.
»Das saugen Sie sich doch alles aus den Fingern«, protestierte ich
angesichts dieser pittoresken Schilderung.
»So weit reicht meine Erfindungsgabe nicht, Daniel. Warten Sie ab,
Sie werden schon sehen. Ich habe das Haus vor etwa zehn Jahren bei
einer unglückseligen Gelegenheit besucht und kann Ihnen sagen, daß
es aussah, als hätte man ihren Freund Julián Carax als Ausstatter
beigezogen. Dumm, daß wir nicht einige Lorbeerblätter mitgenommen
haben, um seine typischen Gerüche zu dämpfen. Es wird uns schon
genug Mühe bereiten, eingelassen zu werden.«
Mit derlei Erwartungen bogen wir in die Calle Montcada ein, die um
diese Zeit bereits eine finstere Passage war, gesäumt von alten,
jetzt als Lagerräume und Werkstätten genutzten Palästen. Die
Litanei der Glockenschläge von der Basilika Santa María del Mar
begleitete das Echo unserer Schritte. Kurz darauf drang ein
bitterer, penetranter Geruch durch die kühle Winterbrise.
»Was ist denn das für ein Gestank?«
»Wir sind da«, verkündete Fermín.
16
Ein morsches Holztor führte auf einen Innenhof, bewacht von Gaslampen, die ihr Licht auf Wasserspeier und steinerne Engel mit ausgewaschenen Gesichtszügen warfen. Eine breite Treppe führte zum ersten Stock hinauf, wo ein helles Rechteck den Haupteingang des Altenheims markierte. Das Gaslicht tönte den herausströmenden Giftnebel ockerfarben. Eine kantige Raubvogelsilhouette beobachtete uns im Türbogen. Im Halbdunkel konnte man ihren scharfen Blick erkennen, von derselben Farbe wie das Ordensgewand. Sie hielt einen dampfenden, unbeschreiblich stinkenden Holzeimer in der Hand.
»Avemariapurissimasinepeccatoconcepta«, sprudelte Fermín
begeistert hervor.
»Und der Sarg?« antwortete tief und argwöhnisch die Stimme von
oben.
»Der Sarg?« erwiderten Fermín und ich einstimmig.
»Sie kommen doch vom Beerdigungsinstitut, nicht wahr?«
Die Stimme der Nonne klang müde.
Ich war mir nicht sicher, ob das ein Kommentar zu unserem Aussehen
war oder eine wirkliche Frage.
Angesichts dieser von der Vorsehung geschenkten Gelegenheit leuchtete Fermíns Gesicht auf.
»Der Sarg ist noch im Lieferwagen. Wir möchten zuerst den Kunden
untersuchen. Reine Formalität.«
Ich spürte, wie mich Ekel packte.
»Ich dachte, Señor Collbató würde persönlich kommen«, sagte die
Nonne.
»Señor Collbató läßt sich entschuldigen, er hat in letzter Sekunde
eine höchst verzwickte Einbalsamierung vornehmen müssen – ein
Herkules aus dem Zirkus.«
»Arbeiten Sie mit Señor Collbató im Beerdigungsinstitut?«
»Wir sind seine rechte beziehungsweise linke Hand. Wilfredo
Velludo, zu dienen, und da zu meiner Seite mein Lehrling, der
Abiturient Sansón Carrasco.«
»Sehr erfreut«, ergänzte ich.
Die Nonne musterte uns flüchtig und nickte gleichgültig.
»Willkommen in Santa Lucía. Ich bin Schwester Hortensia, ich habe
Sie angerufen. Folgen Sie mir.«
Ohne einen Mucks von uns zu geben, folgten wir ihr durch einen
höhlenartigen Korridor, dessen Geruch mich an einen U-Bahn-Schacht
erinnerte. Zu beiden Seiten öffneten sich hinter türlosen Rahmen
von Kerzen erleuchtete Säle, an deren Wänden Betten aufgereiht
waren, über denen sich Moskitonetze wie Leichentücher bewegten. Man
hörte Wehklagen und erkannte zwischen dem Vorhanggewebe einzelne
Gestalten.
»Hier entlang«, sagte Schwester Hortensia, die ein paar Meter
vorausging.
Wir betraten ein geräumiges Gewölbe, in dem ich mir ohne große Mühe
den von Fermín beschriebenen Schauplatz des Tenebrariums vorstellen
konnte. Auf den ersten Blick hatte ich im Halbdunkel das Gefühl,
ich sähe eine Sammlung von Wachsfiguren, die mit glasig-toten, im
Kerzenlicht wie Messingmünzen glänzenden Augen in den Ecken saßen
oder dort liegengelassen worden waren. Ich dachte, vielleicht
handle es sich um Puppen oder Überbleibsel aus dem alten Museum.
Dann stellte ich fest, daß sie sich bewegten, wenn auch sehr
langsam und behutsam. Sie hatten kein bestimmtes Alter oder
Geschlecht und waren in aschfarbene Lumpen gehüllt.
»Señor Collbató hat gesagt, wir sollen nichts anrühren und
reinigen«, sagte Schwester Hortensia in entschuldigendem Ton. »So
haben wir den Ärmsten halt in eine der Kisten gelegt, die da
rumstehen, weil er schon zu tropfen angefangen hat, aber das ist ja
jetzt vorbei.«
»Das haben Sie gut gemacht. Man kann nicht vorsichtig genug sein«,
pflichtete Fermín bei.
Ich warf ihm einen verzweifelten Blick zu. Gelassen schüttelte er
den Kopf, womit er mir zu verstehen gab, ich solle alles ruhig ihm
überlassen.
Schwester Hortensia führte uns zu einer Art Zelle ohne Ventilation
noch Licht zuhinterst in einem engen Gang, nahm eine der
Gaslaternen von der Wand und reichte sie uns.
»Werden Sie lange brauchen? Ich habe zu tun.«
»Lassen Sie sich durch uns nicht stören. Gehen Sie nur an Ihre
Arbeit, wir werden ihn schon mitnehmen. Seien Sie unbesorgt.«
»Gut – wenn Sie etwas brauchen, ich bin im Keller, in der Galerie
der Bettlägerigen. Wenn es nicht zuviel verlangt ist, dann bringen
Sie ihn bitte hinten hinaus, damit ihn die andern nicht sehen. Es
ist schlecht für die Moral der Insassen.«
»Das ist uns klar«, sagte ich mit brüchiger Stimme.
Einen Augenblick schaute sie mich mit einer gewissen vagen Neugier
an. Von nahem sah ich, daß sie eine ältere, fast greise Frau war.
Nur wenige Jahre trennten sie von den übrigen Insassen des
Hauses.
»Hören Sie, ist der Lehrling nicht noch etwas jung für diese
Arbeit?«
»Die Wahrheiten des Lebens kennen kein Alter, Schwester«, sagte
Fermín.
Mit einem Nicken lächelte mir die Nonne sanft zu. In ihrem Blick
lag kein Argwohn, nur Traurigkeit.
»Trotzdem«, murmelte sie.
Sie ging im Dunkeln mit ihrem Eimer davon. Fermín drängte mich in
die Zelle hinein. Es war ein elendes, in die
feuchtigkeitschwitzenden Grottenmauern eingelassenes Räumchen, in
welchem Ketten mit einem Haken von der Decke hingen und dessen
gesprungener Boden von einem Abflußgitter gevierteilt wurde. In der
Mitte lag auf einem gräulichen Marmortisch eine Kiste, wie sie für
industrielle Verpackungen verwendet wurden. Fermín hob die Lampe,
und wir erkannten in der Holzwollefüllung den Toten und seine
ausgezackten, pergamentenen Züge. Die aufgedunsene Haut war
purpurfarben, die eierschalenweißen Augen offen.
Mir drehte sich der Magen um, und ich schaute weg.
»Kommen Sie, ans Werk«, sagte Fermín.
»Sind Sie wahnsinnig?«
»Ich meine, daß wir diese Jacinta finden müssen, bevor man unsere
List entdeckt.«
»Wie denn?«
»Wie wohl? Indem wir fragen.«
Wir spähten in den Korridor hinaus, um uns zu vergewissern, daß
Schwester Hortensia verschwunden war. Dann schlichen wir uns
vorsichtig zu dem Saal, den wir durchquert hatten. Die armseligen
Gestalten beobachteten uns noch immer mit neugierigen, ängstlichen
und in einem Fall sogar habgierigen Blicken.
»Sehen Sie sich vor, da gibt es einige, die, wenn sie Ihnen das
Blut aussaugen könnten, um noch einmal jung zu sein, sich Ihnen an
den Hals werfen würden«, sagte Fermín. »Das Alter läßt sie alle
lammfromm aussehen, aber hier gibt es ebenso viele Schweinehunde
wie draußen, wenn nicht noch mehr. Die da gehören nämlich zu denen,
die überlebt und die andern ins Grab gebracht haben. Sie brauchen
sie also nicht zu bemitleiden. Los, Sie fangen bei denen in der
Ecke dort an, die scheinen keine Zähne mehr zu haben.«
Die erste Runde meiner Befragungen über Jacinta Coronado trug mir
nichts als leere Blicke, Gewimmer, Rülpser und irre Reden ein. Nach
einer Viertelstunde strich ich die Segel und gesellte mich wieder
zu Fermín, um zu sehen, ob er mehr Glück gehabt hatte. Er war
vollkommen entmutigt.
»Wie sollen wir in diesem Loch Jacinta Coronado finden?«
»Ich weiß es nicht. Das ist ein Haufen Verrückter. Ich hab’s mit
Bonbons versucht, aber sie halten sie für Zäpfchen.«
»Und wenn wir Schwester Hortensia fragten? Wir sagen ihr die
Wahrheit, und basta.«
»Die Wahrheit wird erst gesagt, wenn alle Stricke reißen, Daniel,
vor allem bei einer Nonne. Erst verschießen wir unser Pulver.
Schauen Sie, diese Gruppe da, die wirken noch sehr munter. Gehen
Sie, fragen Sie sie.«
»Und Sie, was haben Sie vor?«
»Ich werde den Rückzug sichern, falls der Pinguin zurückkommt. Los,
gehen Sie schon.«
Mit wenig oder gar keiner Hoffnung auf Erfolg trat ich auf eine
Gruppe von Insassen in einer Ecke des Saals zu.
»Guten Abend«, sagte ich und merkte sogleich, wie absurd mein Gruß
war, hier war ja immer Abend oder Nacht. »Ich suche Señora Jacinta
Coronado. Co-ro-na-do. Kennt sie jemand von Ihnen oder kann mir
sagen, wo ich sie finde?«
Mir gegenüber vier von der Gier belebte Blickpaare. Da pulst noch
etwas, dachte ich, vielleicht ist nicht alles verloren.
»Jacinta Coronado?« wiederholte ich.
Die vier wechselten Blicke und nickten sich zu. Einer von ihnen,
dickbäuchig und ohne ein einziges sichtbares Haar am Leib, schien
der Anführer zu sein. Sein Gesicht und seine körperliche Präsenz
ließen mich an einen Nero denken, der Harfe spielte, während Rom zu
seinen Füßen verfaulte. Mit majestätischem Ausdruck lächelte mir
Kaiser Nero zu. Hoffnungsfroh erwiderte ich die Geste.
Er bedeutete mir, näher zu treten, als wollte er mir etwas ins Ohr
flüstern. Ich zögerte, doch dann kam ich seiner Aufforderung
nach.
»Können Sie mir sagen, wo ich Señora Jacinta Coronado finde?«
fragte ich zum letzten Mal.
Ich näherte das Ohr seinen Lippen, so daß ich seinen stinkig-lauen
Atem auf der Haut spüren konnte. Ich fürchtete schon, er werde mich
beißen, da ließ er unerwartet einen gewaltigen Wind fahren. Seine
Kollegen brachen in Gelächter aus und klatschten in die Hände. Ich
wich einige Schritte zurück, doch schon hatte mich der Blähungsduft
erreicht. Jetzt bemerkte ich neben mir einen in sich
zusammengesunkenen Alten mit dem Barte des Propheten, schütterem
Haar und feurigen Augen, der sich auf einen Stock stützte und die
andern verächtlich betrachtete.
»Sie verlieren Ihre Zeit, junger Mann. Juanito kann nichts als
furzen, und die andern erschöpfen sich darin, darüber zu lachen und
die Fürze einzuatmen. Wie Sie sehen, ist die Gesellschaftsstruktur
hier nicht groß anders als in der Außenwelt.«
Der greise Philosoph sprach mit tiefer Stimme und perfekter
Diktion. Er musterte mich von oben bis unten.
»Sie suchen die Jacinta, wenn ich richtig gehört habe?«
Ich nickte, verblüfft über die Erscheinung intelligenten Lebens in
diesem Horrorloch.
»Und warum?«
»Ich bin ihr Enkel.«
»Und ich der Marquis von Matoimel. Eine verlogene Vogelscheuche,
das sind Sie. Sagen Sie mir, warum Sie sie suchen, oder ich stelle
mich verrückt. Das ist einfach hier. Und wenn Sie vorhaben, diese
armen Teufel einen nach dem andern zu befragen, werden Sie auch
bald verstehen, warum.«
Juanito und seine Claque von Inhalierern schütteten sich noch immer
aus vor Lachen. Nun gab der Solist eine Zugabe von sich, gedämpfter
und länger als die erste Nummer, in Form eines Zischens, das einen
angestochenen Reifen imitierte und deutlich machte, daß Juanito
seinen Schließmuskel nahezu virtuos beherrschte. Ich beugte mich
den Tatsachen.
»Sie haben recht. Ich bin kein Verwandter von Señora Coronado, aber
ich muß mit ihr sprechen. Es ist überaus wichtig.«
Er hatte ein schelmisches Lächeln wie ein alt gewordener Junge, und
sein Blick glühte von Schlauheit.
»Können Sie mir helfen?« flehte ich ihn an.
»Das hängt ganz davon ab, wie weit Sie mir helfen
können.«
»Wenn es in meiner Hand liegt, mit Freuden. Soll ich Ihrer Familie
eine Mitteilung zukommen lassen?« Der Alte lachte bitter.
»Meine Familie ist es, die mich in dieses Loch verbannt hat. Diese
Meute von Blutsaugern ist imstande, einem die Unterhose noch warm
vom Leib zu klauen. Die können zur Hölle oder ins Rathaus fahren.
Ich habe sie lange genug ertragen und ausgehalten. Was ich will,
ist eine Frau.«
»Verzeihung?«
Der Alte schaute mich ungeduldig an.
»Ihre jungen Jahre sind keine Entschuldigung dafür, daß Sie ein
nicht eben helles Köpfchen sind, mein Lieber. Ich sage, ich will
eine Frau. Ein weibliches Wesen – Dienstmädchen oder Rasseweib. Das
ist es, junger Mann, jünger als fünfundfünfzig und gesund, ohne
Wunden und Brüche.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich Sie richtig verstehe …«
»Sie verstehen mich großartig. Ich will vor meiner Reise ins
Jenseits eine Frau vernaschen, die Zähne hat und sich nicht in die
Hosen macht. Es ist mir egal, ob sie sehr hübsch ist oder nicht.
Ich habe keine Adleraugen mehr, und in meinem Alter ist jedes
Mädchen eine Venus, wenn sie etwas hat, woran man sich festhalten
kann. Ist das deutlich genug?«
»Wie ein offenes Buch. Aber ich weiß nicht, wie ich eine Frau für
Sie finden soll …«
»Als ich in Ihrem Alter war, da gab es im Dienstleistungssektor so
was wie leichte Mädchen. Ich weiß zwar, daß sich die verändert,
aber nie in wesentlichen Belangen. Besorgen Sie mir eine, füllig
und geil, und wir kommen ins Geschäft. Und wenn Sie sich fragen
bezüglich meiner Fähigkeit, mit einer Dame zu schlafen, dann denken
Sie daran, daß ich mich damit zufriedengebe, sie in den Hintern zu
zwicken und ihre Schönheiten in den Händen zu wiegen. Vorteil der
Erfahrung.«
»Die technischen Einzelheiten sind Ihre Angelegenheit, aber jetzt
auf der Stelle kann ich Ihnen keine Frau herbringen.«
»Ich mag ja ein alter Bock sein, aber kein Dummkopf. Das weiß ich
natürlich auch. Es genügt mir, daß Sie’s mir versprechen.«
»Und wie wissen Sie, daß ich Ihnen nicht nur ja sage, damit Sie mir
verraten, wo Jacinta Coronado ist?«
Der Alte grinste verschlagen.
»Geben Sie mir Ihr Wort und überlassen Sie die Gewissensprobleme
mir.«
Ich schaute mich um. Juanito ließ den zweiten Teil seines
Repertoires verstreichen. Das Leben erlosch zusehends. Das Anliegen
des scharfen Opas war das einzige, was mir in diesem Fegefeuer Sinn
zu haben schien.
»Ich gebe Ihnen mein Wort. Ich werde tun, was ich kann.«
Der Alte grinste von Ohr zu Ohr. Ich zählte drei Zähne.
»Blond, auch wenn es wasserstoffblond ist. Mit zwei ordentlichen
Äpfeln und einer Schlampenstimme, wenn’s geht – von all meinen
Sinnen ist das Gehör noch der beste.«
»Ich werde sehen, was sich tun läßt. Jetzt sagen Sie mir, wo ich
Jacinta Coronado finde.«
17
»Sie haben diesem Methusalem was versprochen?« »Sie haben
es gehört.«
»Ich hoffe, das haben Sie im Scherz gesagt.«
»Einen Opa, der in den letzten Zügen liegt, lüge ich nicht an, mag
er noch so schamlos sein.«
»Das adelt Sie, Daniel, aber wie wollen Sie denn eine Nutte in
dieses heilige Haus reinschmuggeln?«
»Vermutlich zum dreifachen Preis. Die Details überlasse ich
Ihnen.«
Resigniert zuckte Fermín die Achseln.
»Nun ja, ein Abkommen ist ein Abkommen. Wir werden uns was
einfallen lassen. Aber wenn Sie das nächste Mal vor einer
Verhandlung dieser Art stehen, lassen Sie mich sprechen.«
»Einverstanden.«
Genau wie mir der alte Feinschmecker gesagt hatte, fanden wir Jacinta Coronado in einem Dachgeschoß, zu dem man nur über eine Treppe vom dritten Stock aus gelangte. Laut dem Alten war das Dachgeschoß das Refugium der wenigen Insassen, denen den Verstand zu nehmen die Parze nicht den Anstand gehabt hatte, was anderseits ein nicht allzu lange andauernder Zustand war. Jacinta Coronado saß, in eine Decke gehüllt, erschöpft in einem Korbstuhl.
»Señora Coronado?« fragte ich laut, weil ich befürchtete, die Arme sei taub, schwer von Begriff oder beides zusammen.
Sie betrachtete uns aufmerksam und ein wenig reserviert. Ihren Kopf bedeckten nur noch ein paar wenige weißliche Strähnen. Ich bemerkte, daß sie mich verwundert anschaute, als hätte sie mich schon früher gesehen und wüßte nicht mehr, wo. Ich fürchtete, Fermín würde mich gleich wieder als Carax’ Sohn vorstellen oder einen ähnlichen Kniff benutzen, aber er kniete nur neben der Greisin nieder und ergriff ihre zittrige, runzelige Hand.
»Jacinta, ich bin Fermín, und dieses Jüngelchen da ist mein Freund Daniel. Ihr Freund schickt uns, Pater Fernando Ramos, der heute nicht kommen konnte, weil er zwölf Messen lesen mußte, Sie wissen ja, wie das mit diesen Heiligen ist, aber er läßt Sie tausendmal grüßen. Wie geht es Ihnen?«
Sie lächelte ihn sanft an. Mein Freund strich ihr mit der Hand über Gesicht und Stirn. Sie war dankbar wie ein Schmusekätzchen für die Berührung einer andern Haut. Mir zog sich die Kehle zusammen.
»So eine dumme Frage, was?« fuhr Fermín fort. »Sie würden bestimmt gern irgendwo einen Schottisch aufs Parkett legen. Sie sehen nämlich aus wie eine Tänzerin, das sagen Ihnen sicher alle.«
Noch nie hatte ich ihn mit jemandem derart feinfühlig umgehen sehen, nicht einmal mit der Bernarda. Die Worte waren zwar pure Süßholzraspelei, aber der Ton und sein Gesicht waren aufrichtig.
»Was für schöne Dinge Sie da sagen«, murmelte sie mit vom
Nichtgebrauch brüchiger Stimme.
»Nicht halb so schön wie Sie, Jacinta. Glauben Sie, wir dürften
Ihnen ein paar Fragen stellen? Wie in den Rundfunkwettbewerben,
wissen Sie.«
Die alte Frau blinzelte nur.
»Ich würde sagen, das heißt ja. Erinnern Sie sich noch an Penélope,
Jacinta? Penélope Aldaya? Zu ihr möchten wir Ihnen ein paar Fragen
stellen.«
Jacinta nickte mit unversehens leuchtendem Blick.
»Meine Kleine«, flüsterte sie, und es sah aus, als wollte sie
gleich in Tränen ausbrechen.
»Genau. Sie erinnern sich, ja? Wir sind Freunde von Julián. Julián
Carax. Der mit den Schauergeschichten, an den erinnern Sie sich
ebenfalls, nicht wahr?«
Die Augen der Alten glänzten, als gäben ihr die Worte und die
Berührung auf der Haut zusehends das Leben zurück.
»Pater Fernando von der San-Gabriel-Schule hat uns gesagt, Sie
hätten Penélope sehr geliebt. Er liebt Sie auch sehr und erinnert
sich jeden Tag an Sie, wissen Sie. Wenn er nicht öfter kommt, dann,
weil ihn der neue Bischof, ein Emporkömmling, mit einem Pensum von
Messen plagt, daß er auf dem letzten Loch pfeift.«
»Und essen Sie auch genug?« fragte sie plötzlich beunruhigt.
»Ich schlinge wie ein Holzhacker, Jacinta, aber ich habe eben einen
sehr männlichen Stoffwechsel und verbrenne alles.
Aber schauen Sie mich an, unter diesen Kleidern ist alles nur
Muskel. Fassen Sie an, fassen Sie an. Wie Charles Atlas, nur
haariger.«
Jacinta nickte, etwas ruhiger. Sie hatte nur Augen für Fermín. Mich
hatte sie vollkommen vergessen.
»Was können Sie uns über Penélope und Julián sagen?« »Alle
gemeinsam haben sie sie mir weggenommen«, sagte sie. »Meine
Kleine.«
Ich wollte etwas sagen, doch Fermín warf mir einen Blick zu, der
mich schweigen hieß.
»Wer hat Ihnen Penélope weggenommen, Jacinta?
Können Sie sich noch erinnern?«
»Der Herr«, antwortete sie und schaute voller Angst empor, als
fürchtete sie, jemand könnte uns hören. Fermín folgte ihrem Blick
in die Höhe.
»Meinen Sie den allmächtigen Gott, Herrscher der Himmel, oder eher
den Herrn Vater von Señorita Penélope, Don Ricardo?«
»Wie geht’s Fernando?« fragte sie.
»Dem Geistlichen? Wie eine Rose. Eines schönen Tages wird er zum Papst gewählt und holt Sie zu sich in die Sixtinische Kapelle. Er läßt Sie vielmals grüßen.«
»Er kommt mich als einziger besuchen, wissen Sie. Er kommt, weil
er weiß, daß ich sonst niemand habe.«
Fermín warf mir einen verstohlenen Blick zu, als dächte er dasselbe
wie ich. Jacinta Coronado war sehr viel vernünftiger, als es den
Anschein machte. Der Körper erlosch, aber Geist und Seele
verbrannten in diesem Elendsloch nur langsam. Ich fragte mich, wie
viele weitere wie sie und das zügellose Alterchen hier noch
gefangen waren.
»Er kommt, weil er Sie sehr gern hat, Jacinta. Weil er sich
erinnert, wie sehr Sie sich um ihn als Jungen gekümmert und wie gut
Sie ihn ernährt haben, er hat uns alles erzählt. Wissen Sie noch,
Jacinta? Erinnern Sie sich an damals, als Sie Jorge jeweils von der
Schule abgeholt haben, erinnern Sie sich noch an Fernando und
Julián?«
»Julián …«
Ihre Stimme war ein schleppendes Flüstern, aber das Lächeln verriet
sie.
»Erinnern Sie sich an Julián Carax, Jacinta?«
»Ich erinnere mich an den Tag, an dem Penélope zu mir gesagt hat,
sie werde ihn heiraten …«
Fermín und ich schauten einander verdutzt an.
»Heiraten? Wann war das, Jacinta?«
»An dem Tag, als sie ihn zum ersten Mal sah. Sie war dreizehn und
wußte nicht, wer er war noch wie er hieß.«
»Wie konnte sie da wissen, daß sie ihn heiraten würde?«
»Sie hatte ihn gesehen. Im Traum.«
… Als Kind war María Jacinta Coronado überzeugt, jenseits der Stadtgrenzen von Toledo gebe es nur Dunkelheit und Feuermeere. Diese Vorstellung stammte aus einem Traum, den sie während einer Fiebererkrankung hatte, die ihrem Leben mit vier Jahren fast ein Ende bereitet hätte. In ihren späteren Träumen sah Jacinta die Vergangenheit und die Zukunft, und manchmal ahnte sie Geheimnisse und Mysterien der alten Straßen von Toledo. Einer der Dauerbesucher ihrer Träume war Zacharias, ein stets schwarzgekleideter Engel in Begleitung einer dunklen Katze mit gelben Augen und nach Schwefel stinkendem Atem. Zacharias wußte alles und hatte ihr auch die Todesstunde ihres Onkels prophezeit, des Salben- und Weihwasserkrämers Venancio. Er hatte ihr verkündet, in ihrem Bauch sitze etwas Ungutes fest, ein toter Geist, der ihr übelwolle, und sie werde nur eines einzigen Mannes Liebe kennenlernen, eine leere, egoistische Liebe, die ihr das Herz brechen werde. Er hatte ihr vorhergesagt, sie werde zu Lebzeiten alles zugrunde gehen sehen, was ihr lieb und teuer sei, und vor ihrer Ankunft im Himmel die Hölle besuchen. Am Tag ihrer ersten Menstruation verschwanden Zacharias und seine Schwefelkatze aus ihren Träumen, aber Jahre später erinnerte sie sich wieder an die Besuche des schwarzgekleideten Engels, denn all seine Prophezeiungen hatten sich erfüllt.
So war Jacinta nicht überrascht, als ihr die Ärzte sagten, sie werde nie Kinder bekommen, und, obwohl der Schmerz sie beinahe umbrachte, ebensowenig, als ihr Mann nach drei Jahren Ehe verkündete, er verlasse sie wegen einer andern, denn sie sei wie ödes Brachland, das keine Frucht trage. In Abwesenheit von Zacharias, den sie für einen Sendboten des Himmels hielt, sprach sie mit Gott. All ihre Monologe mit ihm kreisten um dasselbe Thema: Sie wünschte sich nur eines, Mutter und Frau zu sein.
Als sie einmal wie so oft in der Kathedrale betete, trat ein Mann zu ihr, in dem sie Zacharias erkannte. Er war angezogen wie immer und hatte seine Katze auf dem Schoß. Er war um keinen Tag gealtert und hatte noch immer diese prächtigen Herzoginnenfingernägel, lang und spitz. Er gestand ihr, er sei gekommen, weil Gott auf ihre Bittgebete nicht zu antworten gedenke. Sie solle sich aber nicht grämen, er werde ihr dennoch ein Kind schicken. Er beugte sich über sie, raunte ihr das Wort Tibidabo ins Ohr und küßte sie zärtlich auf die Lippen. Bei der Berührung mit diesen weichen Lippen hatte Jacinta eine Vision: Sie würde ein Kind haben, ein Mädchen, ohne einen Mann dafür zu brauchen. Dieses Mädchen würde in einer weit entfernten Stadt zu ihr kommen, die zwischen einem Mond aus Bergen und einem Meer aus Licht gefangen war, eine Stadt aus Häusern, welche nur im Traum existieren können. Sie zweifelte keinen Augenblick an der Wahrhaftigkeit der Prophezeiungen. Noch am selben Abend besprach sie sich mit dem Diakon der Kirchgemeinde, einem belesenen, weitgereisten Mann, der zu ihr sagte: »Jacinta, was du da gesehen hast, ist Barcelona, die große Zauberin, und die Sagrada-FamiliaKirche …« Zwei Wochen später machte sich Jacinta mit einem Bündel Wäsche, einem Meßbuch und ihrem ersten Lächeln in fünf Jahren auf den Weg nach Barcelona, in der festen Überzeugung, alles, was ihr der Engel Zacharias beschrieben habe, werde sich verwirklichen.
Sie durchlebte schwierige Monate, ehe sie in einem der Lager von Aldaya und Söhne, neben den Pavillons der ehemaligen Weltausstellung im Zitadellenpark, eine feste Anstellung fand. Das Barcelona ihrer Träume war zu einer feindlichen, finsteren Stadt mit geschlossenen Palästen und Fabriken geworden, aus denen giftiger Dunst drang. Sie lebte allein in einer Pension des Ribera-Viertels, wo ihr Lohn knapp für ein elendes, fensterloses Zimmer reichte, dessen Beleuchtung nur aus den Kerzen bestand, die sie in der Kathedrale entwendete und die ganze Nacht brennen ließ, um die Ratten fernzuhalten, welche Ohren und Finger des halbjährigen Babys der Ramoneta gefressen hatten, einer Prostituierten, die das angrenzende Zimmer gemietet hatte und nach elf Monaten Barcelona ihre einzige Freundin war.
Entschlossen zu überleben, ging sie täglich vor dem Morgengrauen ins Lager und verließ es erst wieder, wenn es längst dunkel war. Dort entdeckte zufällig Don Ricardo Aldaya sie, als sie sich um die Tochter eines der Vorarbeiter kümmerte, der vor Erschöpfung krank geworden war. Er sah, wieviel Eifer und Zärtlichkeit das Mädchen verströmte, und beschloß, sie zu sich nach Hause zu nehmen, damit sie seiner Frau beistünde, die mit seinem Erstgeborenen schwanger war. Ihre Gebete waren erhört worden. In dieser Nacht sah Jacinta Zacharias erneut im Traum. Er war nicht mehr schwarz gekleidet, sondern nackt, und seine Haut war schuppenbedeckt. Auch begleitete ihn nicht mehr seine Katze, sondern eine weiße, um den Oberkörper gerollte Schlange. Sein Haar war ihm auf die Taille hinuntergewachsen, und sein Lächeln war jetzt von dreieckigen, gezackten Zähnen geprägt, wie sie sie bei einigen Meerfischen gesehen hatte. In der Nacht, bevor sie aus der Pension im Ribera-Viertel auszog, um ins Aldaya-Haus überzusiedeln und dort ihre neue Stelle anzutreten, war ihre Freundin Ramoneta im Hauseingang erdolcht worden und ihr Baby in den Armen der Leiche erfroren.
Vier Monate später wurde Jorge Aldaya geboren, und obwohl sie ihm die ganze Liebe darbrachte, die ihm die Mutter nie geben konnte oder wollte, begriff die Kinderfrau, daß das nicht das von Zacharias versprochene Kind war. In diesen Jahren verlor sie ihre Jugend und wurde eine andere Frau, die einzig den Namen und das Gesicht von einst bewahrte. Die alte Jacinta hatte sie in der Pension des Ribera-Viertels zurückgelassen. Jetzt lebte sie im Schatten des Aldayaschen Luxus, fern der düsteren Stadt, die sie mittlerweile regelrecht haßte und in die sie sich nicht einmal mehr an ihrem einzigen freien Tag im Monat hinuntertraute. Sie lebte weiter in der Erwartung des Kindes, das ein Mädchen werden sollte und dem sie die ganze Liebe schenken wollte, mit der Gott ihr Herz gefüllt hatte.
Penélope Aldaya wurde im Frühling 1902 geboren. Damals hatte Don Ricardo Aldaya bereits das Haus in der Avenida del Tibidabo gekauft, diesen Kasten, von dem ihre Kollegen im Gesinde überzeugt waren, daß es dem Einfluß eines mächtigen Zauberers unterworfen war. Jacinta jedoch hatte keine Angst vor dem Haus, denn sie wußte, daß das, was andere für Verzauberung hielten, nichts weiter als eine Anwesenheit war, die nur sie im Traum sehen konnte: der Schatten von Zacharias, der kaum noch dem Mann glich, an den sie sich erinnerte und der ihr jetzt nur noch als aufrecht gehender Wolf erschien.
Penélope war ein anfälliges, blasses, federleichtes Mädchen. Jacinta sah sie wachsen wie eine Blume mitten im Winter. Jahrelang wachte sie Nacht für Nacht bei ihr, bereitete persönlich jede einzelne Mahlzeit für sie zu, nähte ihre Kleider, war an ihrer Seite, als sie tausendundeine Krankheiten hatte, als sie ihre ersten Worte sagte, als sie zur Frau wurde. Señora Aldaya war eine von vielen Gestalten des Bühnenbildes, eine Figur, die nach den Erfordernissen der Etikette auf- und abtrat. Vor dem Schlafengehen suchte sie ihre Tochter auf, um ihr eine gute Nacht zu wünschen und zu beteuern, sie liebe sie mehr als alles andere auf der Welt. Jacinta dagegen sagte Penélope nie, daß sie sie liebte. Sie wußte, daß, wer wirklich liebt, schweigend liebt, mit Taten und nie mit Worten. Insgeheim verachtete sie Señora Aldaya, dieses eitle, hohle Geschöpf, das in den Gängen des Hauses unter dem Gewicht der Juwelen, mit denen ihr Mann sie beschwichtigte, der seit Jahren in fremden Häfen anlegte, alt und älter wurde. Sie haßte sie, weil Gott von allen Frauen gerade sie erwählt hatte, um Penélope zu gebären, während ihr eigener Bauch, der Bauch der wahren Mutter, ödes Brachland blieb. Als wären die Worte ihres Mannes prophetisch gewesen, büßte sie mit der Zeit sogar ihre weiblichen Formen ein. Sie hatte an Gewicht verloren, und ihr Gesicht zeigte den barschen Ausdruck, den müde Haut und Knochen verleihen. Ihre Brüste waren bis auf ein Restchen Haut geschrumpft, die Hüften jungenhaft, und ihr dürres, kantiges Fleisch ließ sogar die Augen Don Ricardo Aldayas gleichgültig, der bloß einen Ansatz von Üppigkeit zu ahnen brauchte, um mit voller Kraft anzugreifen, wie alle Kammermädchen des Hauses und diejenigen befreundeter Häuser genau wußten. Besser so, sagte sich Jacinta. Sie hatte keine Zeit für Torheiten.
Ihre ganze Zeit galt Penélope. Sie las ihr vor, begleitete sie überallhin, badete sie, zog sie an und aus, kämmte sie, ging mit ihr spazieren, brachte sie zu Bett und weckte sie. Vor allem aber sprach sie mit ihr. Alle hielten sie für eine verrückte Kinderfrau, eine alte Jungfer ohne weiteres Leben als das ihrer Arbeit im Haus, aber niemand kannte die Wahrheit: Jacinta war nicht nur Penélopes Mutter, sie war auch ihre beste Freundin. Seit das Mädchen zu sprechen und Gedanken zu artikulieren begonnen hatte – sehr viel eher, als Jacinta es von irgendeinem andern Kind her in Erinnerung hatte –, teilten die beiden ihre Geheimnisse, ihre Träume, ihr Leben.
Mit der Zeit wurde die Verbindung immer fester. Als Penélope ins Jugendalter kam, waren sie schon unzertrennliche Freundinnen. Jacinta sah Penélope zu einer Frau erblühen, deren Schönheit und Leuchten nicht nur in ihren verliebten Augen offenkundig war. Penélope war Licht. Als der rätselhafte Junge namens Julián ins Haus kam, bemerkte Jacinta vom ersten Augenblick an, daß zwischen ihm und Penélope ein Strom floß. Etwas Ähnliches band sie aneinander wie sie und Penélope – und gleichzeitig etwas anderes, Intensiveres, Gefährliches. Anfänglich dachte sie, sie würde Julián Carax sicherlich hassen, doch bald stellte sie fest, daß sie ihn weder haßte noch je würde hassen können. Je stärker Penélope in Juliáns Bann geriet, desto mehr ließ auch sie sich mitreißen, und mit der Zeit wünschte sie nur noch, was auch Penélope sich wünschte. Niemand hatte es bemerkt, aber wie immer war das Maßgebliche bereits entschieden, bevor die Geschichte auch nur begonnen hatte, und da war es schon zu spät.
Es mußten noch Monate der Blicke und des vergeblichen Sehnens vergehen, ehe Julián Carax und Penélope miteinander allein sein konnten. Sie lebten vom Zufall, begegneten sich auf den Korridoren, beobachteten sich von den entgegengesetzten Tischenden aus, streiften sich schweigend, spürten sich in der Abwesenheit. Ihre ersten Worte wechselten sie in der Bibliothek des Hauses in der Avenida del Tibidabo an einem Gewitterabend, als die Villa Penélope sich mit Kerzenglanz füllte, ein paar wenige dem Halbdunkel abgerungene Sekunden, in denen Julián in den Augen des jungen Mädchens die Gewißheit zu lesen glaubte, daß beide dasselbe empfanden, daß dasselbe Geheimnis sie verzehrte. Niemand schien es zu beachten. Niemand außer Jacinta, die mit wachsender Unruhe das Blickspiel gedeihen sah, das Penélope und Julián im Schatten der Aldayas spielten. Sie fürchtete um sie.
Damals hatte Julián schon begonnen, die Nächte wachend zu verbringen und von Mitternacht bis zum frühen Morgen Erzählungen zu schreiben. Danach suchte er unter irgendeinem Vorwand das Haus in der Avenida del Tibidabo auf und wartete auf den geeigneten Moment, um sich heimlich in Jacintas Zimmer zu schleichen und ihr die Blätter zu überreichen, damit sie sie dem Mädchen gäbe. Manchmal hatte Jacinta eine Mitteilung von Penélope für ihn, und er las sie Tag um Tag immer wieder. Dieses Spiel dauerte Monate. Julián unternahm alles Menschenmögliche, damit er in Penélopes Nähe sein konnte. Jacinta half ihm dabei, um Penélope glücklich zu sehen, um dieses Licht am Leuchten zu erhalten. Julián anderseits spürte, daß die Unschuld des Zufalls aus der Anfangszeit verflog und er Boden preisgeben mußte. So begann er Don Ricardo Aldaya über seine Pläne zu belügen, einen pappenen Enthusiasmus für eine Zukunft im Bank- und Finanzwesen vorzugaukeln, eine Zuneigung und Anhänglichkeit für Jorge Aldaya zu spielen, die er nicht empfand, nur um seine fast dauernde Anwesenheit im Haus in der Avenida del Tibidabo zu rechtfertigen. Er sagte nur noch das, von dem er wußte, daß die andern es von ihm hören wollten, las ihre Blicke und Wünsche, opferte die Aufrichtigkeit der Fahrlässigkeit, spürte, daß er stückweise seine Seele verkaufte, und fürchtete, daß, wenn er eines Tages tatsächlich um Penélopes Hand anhalten sollte, nichts mehr von dem Julián übrig wäre, der sie zum ersten Mal gesehen hatte. Manchmal erwachte er am Morgen und glühte vor Wut, begierig, der Welt seine wahren Gefühle zu offenbaren, vor Don Ricardo Aldaya hinzutreten und ihm zu sagen, er sei nicht im geringsten an seinem Geld, seinen Zukunftsarrangements und seiner Gesellschaft interessiert, er wünsche sich nur seine Tochter Penélope, um sie so weit wie möglich von dieser leeren Totenwelt, in der er sie gefangenhalte, wegzubringen. Mit dem Tageslicht schwand sein Mut.
Gelegentlich sprach sich Julián bei Jacinta aus, die den Jungen allmählich lieber hatte, als ihr recht war. Oft trennte sie sich für kurze Zeit von Penélope und suchte unter dem Vorwand, Jorge von der San-Gabriel-Schule abzuholen, Julián auf, um ihm Botschaften von Penélope zu überbringen. So lernte sie Fernando Ramos kennen, der ihr Jahre später als einziger Freund noch bleiben sollte, als sie in der vom Engel Zacharias prophezeiten Santa-LucíaHölle auf den Tod wartete. Manchmal nahm sie Penélope mit und verschaffte so den beiden jungen Menschen eine kurze Begegnung; dabei sah sie zwischen ihnen eine Liebe wachsen, die ihr selbst versagt geblieben war.
Damals wurde Jacinta auch auf die düstere, verwirrende Erscheinung des schweigsamen Burschen aufmerksam, der Francisco Javier hieß, der Sohn des Pförtners von San Gabriel. Sie ertappte ihn dabei, wie er sie ausspionierte, aus der Ferne ihre Bewegungen las und Penélope mit den Augen verschlang. Sie hatte ein Bild, das der offizielle Fotograf der Aldayas von Julián und Penélope im Eingang der Hutmacherei in der Ronda de San Antonio gemacht hatte. Es war ein unschuldiges, mittags in Anwesenheit von Don Ricardo und Sophie Carax aufgenommenes Bild. Jacinta hatte es immer bei sich. Als sie eines Tages am Ausgang der San-Gabriel-Schule auf Jorge wartete, vergaß sie neben dem Brunnen ihre Handtasche, und als sie sie holte, sah sie den jungen Fumero dort herumstreichen und sie nervös beobachten. An diesem Abend suchte sie das Bild, fand es nicht und hatte die Gewißheit, daß der Junge es ihr gestohlen hatte. Ein andermal, Wochen später, näherte sich ihr Francisco Javier Fumero und fragte sie, ob sie Penélope etwas von ihm zukommen lassen könne. Als sie fragte, was es sei, zog er aus der Tasche ein Tuch mit etwas, was eine Pinienholzschnitzerei zu sein schien. Jacinta erkannte in der Figur Penélope, und es schauderte sie. Bevor sie etwas sagen konnte, ging der Junge davon. Auf dem Heimweg warf Jacinta die Schnitzerei aus dem Wagenfenster, als wäre es stinkendes Aas. Mehr als einmal sollte sie frühmorgens erwachen, schweißüberströmt und von Alpträumen verfolgt, in denen sich dieser trübäugige Junge wie ein Insekt auf Penélope stürzte.
An einigen Nachmittagen, wenn sie Jorge abholen ging und er sich verspätete, unterhielt sie sich mit Julián. Auch er begann diese Frau mit dem harten Gesicht zu lieben und ihr sein Vertrauen zu schenken. Wenn sich über seinem Leben irgendein Problem oder ein Schatten zusammenbraute, waren sie und Miquel Moliner bald die ersten – und manchmal die einzigen –, die es erfuhren. Einmal erzählte ihr Julián, er habe gesehen, wie sich im Hof mit den Brunnen seine Mutter und Don Ricardo Aldaya unterhalten hätten, während sie auf das Kommen der Schüler warteten. Don Ricardo schien sich an Sophies Gesellschaft zu ergötzen, und Julián empfand einen gewissen Kummer, denn er wußte, daß der Industrielle im Ruf eines Don Juan stand, dessen Appetit auf die Wonnen der Weiblichkeit, unabhängig von Stamm oder Stand, unersättlich war; nur seine Gattin schien dagegen immun zu sein.
»Ich habe eben zu deiner Mutter gesagt, wie sehr dir deine neue
Schule gefällt.«
Zum Abschied blinzelte Don Ricardo ihnen zu und ging dann laut
lachend davon. Seine Mutter sagte auf dem Rückweg kein Wort, ganz
offensichtlich beleidigt von den Bemerkungen, die Don Ricardo
Aldaya zu ihr gemacht hatte.
Nicht nur Sophie sah argwöhnisch, wie er sich immer stärker an die
Aldayas band und seine ehemaligen Freunde im Viertel und seine
Familie vernachlässigte. Aber wo seine Mutter traurig schwieg,
zeigte sein Vater Groll und Erbitterung. Die anfängliche
Begeisterung, seine Kundschaft auf die Barceloneser Crème
auszudehnen, war rasch verflogen. Er sah seinen Sohn fast nie, und
bald mußte er Quimet, einen Burschen aus dem Viertel und ehemaligen
Freund von Julián, als Gehilfen und Lehrling im Laden anstellen.
Antoni Fortuny war ein Mann, der nur über Hüte offen sprechen
konnte. Seine Gefühle schloß er monatelang tief in der Seele ein,
bis sie unheilbar vergiftet waren. Mit jedem Tag war er übler
gelaunt und reizbarer. Alles fand er schlecht, von den Bemühungen
des armen Quimet, der sein Herzblut in das Erlernen des Berufes
goß, bis zu der Neigung seiner Frau Sophie, dem Vergessen, zu dem
Julián sie verdammt hatte, keine so große Bedeutung
beizumessen.
»Dein Sohn hält sich für jemand Besonderes, weil ihn diese
Geldsäcke wie einen Zirkusaffen halten«, sagte er düster.
Eines schönen Tages, als sich Don Ricardo Aldayas erster Besuch im
Hutladen Fortuny & Söhne bald zum dritten Mal jährte, wurde der
Hutmacher kurzerhand in den Büros des Aldaya-Imperiums auf dem
Paseo de Gracia vorstellig und begehrte Don Ricardo zu
sprechen.
»Und wen habe ich die Ehre anzukündigen?« fragte ein hochnäsiger
Sekretär.
»Seinen persönlichen Hutmacher.«
Don Ricardo empfing ihn etwas überrascht, aber guter Dinge, im
Glauben, Fortuny bringe ihm vielleicht eine Rechnung. Die kleinen
Geschäftsleute werden das Protokoll des Geldes nie begreifen.
»Was kann ich denn für Sie tun, mein lieber Fortunato?«
Unverzüglich erklärte ihm Antoni Fortuny, Don Ricardo täusche sich
sehr in Julián.
»Mein Sohn, Don Ricardo, ist nicht das, was Sie glauben. Ganz im
Gegenteil, er ist ein unwissender, fauler Bursche ohne weiteres
Talent als die Flausen, die ihm seine Mutter in den Kopf gesetzt
hat. Er wird nie etwas erreichen, glauben Sie mir. Es fehlt ihm an
Ehrgeiz und Charakter. Sie kennen ihn nicht, und er kann sehr
geschickt sein, wenn es darum geht, Fremde einzuseifen, ihnen
weiszumachen, daß er alles kann, aber er kann überhaupt nichts. Er
ist ein Durchschnittsmensch. Ich jedoch kenne ihn besser als
irgendwer und hielt es daher für nötig, Sie ins Bild zu
setzen.«
Don Ricardo Aldaya hatte sich diesen Vortrag schweigend angehört
und kaum dazu geblinzelt.
»Ist das alles, Fortunato?«
Der Industrielle drückte auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch,
und sogleich erschien in der Tür der Sekretär, der ihn empfangen
hatte.
»Der liebe Fortunato möchte gehen, Balcells. Seien Sie so gut und
begleiten Sie ihn zum Ausgang.«
Der eisige Ton des Industriellen sagte dem Hutmacher gar nicht
zu.
»Mit Verlaub, Don Ricardo: Fortuny, nicht Fortunato.«
»Wie auch immer. Sie sind ein erbärmlicher Mensch, Fortuny. Ich
würde es Ihnen danken, wenn Sie nicht mehr herkämen.«
Wieder auf der Straße, fühlte sich Fortuny einsamer denn je und war
überzeugt, daß alle gegen ihn waren. Kurze Zeit später begann die
vornehme Kundschaft, zu der ihm seine Beziehung zu Aldaya verholfen
hatte, ihre Bestellungen schriftlich zu widerrufen und ihre
Rechnungen zu begleichen. Nach wenigen Wochen mußte er Quimet
entlassen, es gab nicht mehr genug Arbeit für beide im Laden. Aber
letztlich taugte der Bursche ohnehin nichts. Er war mittelmäßig und
faul, wie alle.
Nun begannen sich die Bewohner des Viertels darüber zu unterhalten,
daß Señor Fortuny älter, einsamer und unfreundlicher geworden sei.
Er sprach kaum noch mit jemandem und verbrachte lange Stunden
allein und untätig in seinem Laden und sah mit einem Gefühl der
Verachtung und gleichzeitig der Sehnsucht jenseits des Ladentisches
die Menschen vorbeigehen. Dann redete er sich ein, die Mode ändere
sich eben, die jungen Leute trügen keine Hüte mehr und wenn, dann
lieber solche aus andern Geschäften, wo sie in festen Größen und
mit aktuelleren, billigeren Dessins verkauft würden. Allmählich
versank der Hutladen Fortuny & Söhne in Lethargie.
Ihr wartet auf meinen Tod, sagte er zu sich selbst. Nun, vielleicht
tue ich euch den Gefallen.
Julián stürzte sich gänzlich in die Welt der Aldayas und Penélopes
und die einzige Zukunft, die er sich vorstellen konnte. So
verstrichen fast zwei Jahre seines Lebens im geheimen. Dunkle
Schatten sprenkelten seine Umgebung, und bald verengten sie den
Kreis immer mehr. Das erste Zeichen kam an einem Apriltag des
Jahres 1918. Jorge Aldaya wurde achtzehn, und Don Ricardo
inszenierte sich als großen Patriarchen und ließ ein riesiges
Geburtstagsfest arrangieren, das sein Sohn gar nicht wollte und auf
dem Don Ricardo selbst, wichtige Firmenangelegenheiten
vorschützend, fehlen würde, um sich in der blauen Suite des Hotels
Colón mit einer wonnigen, eben aus Sankt Petersburg gekommenen
Edelkurtisane zu treffen. Das Haus in der Avenida del Tibidabo
wurde für das große Ereignis in einen Zirkuspavillon verwandelt:
Hunderte von Lampions, Wimpeln und in den Gärten aufgestellten
Buden, um die Gäste zu bedienen.
Fast alle von Jorge Aldayas Schulkameraden waren eingeladen worden.
Auf Juliáns Empfehlung hatte Jorge auch Francisco Javier Fumero
miteinbezogen. Miquel Moliner machte sie darauf aufmerksam, daß
sich der Pförtnersohn in dieser aufgeblasenen, pompösen Umgebung
feiner Pinkel deplaziert fühlen würde. Francisco Javier bekam seine
Einladung, aber da ihm dasselbe ahnte, was Miquel Moliner
prophezeit hatte, wollte er das Angebot ausschlagen. Als Doña
Yvonne, seine Mutter, erfuhr, daß ihr Sohn vorhatte, eine Einladung
in die Prachtvilla der Aldayas abzulehnen, hätte sie ihm beinahe
die Haut über die Ohren gezogen. Was bedeutete das denn anderes,
als daß sie demnächst in die Gesellschaft aufgenommen würde? Der
folgende Schritt konnte nur noch eine Einladung zu Tee und Gebäck
bei Señora Aldaya und andern distinguierten Damen sein. So griff
sie zu den Ersparnissen, die sie seit längerem vom Lohn ihres
Mannes abgezwackt hatte, und kaufte ihrem Sohn einen
Matrosenanzug.
Francisco Javier war damals siebzehn, und dieser blaue Anzug mit
kurzer Hose sah an ihm grotesk und entwürdigend aus. Auf Druck
seiner Mutter nahm er an und schnitzte eine Woche lang an einem
Brieföffner, den er Jorge zu schenken gedachte. Als er am Tag des
Festes in den lächerlichen Seemannsanzug schlüpfen wollte,
entdeckte Francisco Javier, daß er ihm zu klein war. Doña Yvonne
beschloß, sogleich die notwendige Flickarbeit auszuführen. So kamen
sie zu spät; Doña Yvonne hatte es sich nicht nehmen lassen, ihren
Sohn zum Hause Aldaya zu begleiten. Sie wollte den Geruch nach
Pracht aufnehmen und die Ehre atmen, ihren Sohn durch die Türen
gehen zu sehen, die sich bald auch ihr öffnen würden. Inzwischen
hatte Julián das Festgetümmel und die Abwesenheit Don Ricardos
genutzt und sich vom Fest abgesetzt. Penélope und er hatten sich in
der Bibliothek verabredet, wo keine Gefahr bestand, einem
Angehörigen der oberen Zehntausend zu begegnen. Allzusehr damit
beschäftigt, sich gegenseitig mit den Lippen zu verschlingen, sahen
weder Julián noch Penélope das verrückte Paar, das sich dem Haus
näherte. Francisco Javier, im Aufzug eines Erstkommunionsmatrosen
und purpurrot vor Schmach, mußte beinahe mitgeschleift werden von
Doña Yvonne, die sich für diese Gelegenheit einen Florentinerhut
aufgesetzt und ein dazu passendes Faltenkleid mit Girlanden
angezogen hatte, in dem sie, in den Worten Miquel Moliners, der sie
schon von weitem erblickte, einem als Madame Récamier verkleideten
Bison glich. Zwei Bedienstete standen am Eingang Wache. Sie
schienen nicht sehr beeindruckt von den Besuchern. Doña Yvonne
verkündete, ihr Sohn, Don Francisco Javier Fumero de Sotoceballos,
halte seinen Einzug. Die beiden Angestellten erwiderten, der Name
sage ihnen nichts. Erzürnt, aber die Haltung einer vornehmen Dame
bewahrend, beschwor Doña Yvonne ihren Sohn, die Einladungskarte
vorzuweisen. Leider war diese bei der Kleideränderung auf dem
Nähtisch seiner Mutter liegengeblieben.
Francisco Javier versuchte diesen Umstand zu erläutern, geriet aber
ins Stammeln, und das Gelächter der beiden Diener trug nichts dazu
bei, das Mißverständnis zu klären. Sie wurden aufgefordert, sich
schleunigst davonzumachen. Glühend vor Wut sagte Doña Yvonne, sie
wüßten nicht, mit wem sie sich da einließen. Die Diener
antworteten, die Stelle der Putzfrau sei bereits besetzt. Vom
Fenster ihres Zimmers aus sah Jacinta, daß Francisco Javier sich
entfernte, aber plötzlich stehenblieb. Er wandte sich um, und da
sah er die beiden, jenseits des Schauspiels seiner aus voller Kehle
auf die beiden anmaßenden Bediensteten einschreienden Mutter. Im
großen Fenster der Bibliothek küßte Julián Penélope. Sie küßten
sich mit der Hingabe derer, die einander gehören, fern von der
Welt.
Am nächsten Tag erschien in der Mittagspause unvermutet Francisco
Javier. Die Nachricht vom Skandal am Tag zuvor hatte unter den
Schülern schon die Runde gemacht, aber die väterliche Jagdflinte in
der Hand des Jungen erstickte jedes mögliche Gelächter im Keim.
Alle zogen sich zurück – bis auf die Gruppe von Jorge Aldaya,
Moliner, Fernando und Julián, die Francisco Javier verständnislos
anstarrten. Wortlos legte der Junge an. Später sagten Zeugen, sein
Gesicht sei nicht wütend gewesen. Er zeigte dieselbe
Gleichgültigkeit, mit der er die Reinigungsarbeiten im Garten
erledigte. Der erste Schuß pfiff haarscharf an Juliáns Kopf vorbei.
Der zweite hätte ihm die Gurgel durchdrungen, wenn sich Miquel
Moliner nicht auf den Schützen gestürzt und ihm die Flinte
entrissen hätte. Julián Carax hatte die Szene verdutzt und wie
benommen verfolgt. Erst später, nachdem die Guardia civil den
Jungen schon mitgenommen hatte und das Pförtnerehepaar fast mit
Fußtritten aus seiner Wohnung geworfen worden war, trat Miquel
Moliner zu Julián und sagte ihm, er habe ihm das Leben
gerettet.
Das war für Julián und seine Kameraden das letzte Jahr an der
San-Gabriel-Schule. Alle unterhielten sich bereits über ihre Pläne
oder das, was ihre Familien im kommenden Jahr mit ihnen vorhatten.
Jorge Aldaya wußte, daß sein Vater ihn zum Studieren nach England
schicken wollte, und Miquel Moliner hielt es für ausgemacht, daß er
an die Universität Barcelona gehen würde. Fernando Ramos hatte mehr
als einmal erwähnt, er trete vielleicht ins Seminar des
Jesuitenordens ein, eine Perspektive, die seine Lehrer in seiner
besonderen Situation als die klügste betrachteten. Was Francisco
Javier Fumero betraf, so wußte man nur, daß er auf Fürsprache von
Don Ricardo Aldaya in eine abgelegene Besserungsanstalt im Valle de
Arán eingewiesen worden war, wo ihn ein langer Winter erwartete.
Als Julián all seine Kameraden auf einem vorbestimmten Weg sah,
fragte er sich, was wohl aus ihm würde. Seine literarischen Träume
und Ambitionen schienen ihrer Verwirklichung ferner denn je. Er
sehnte sich nach nichts anderem, als mit Penélope
zusammenzusein.
Während er sich Fragen zu seiner Zukunft stellte, planten andere
sie für ihn. Don Ricardo bereitete in seiner Firma schon eine
Stelle vor, um ihn ins Geschäft einzuführen. Der Hutmacher
anderseits hatte beschlossen, wenn sein Sohn nicht im
Familiengeschäft weitermachen wolle, könne er vergessen, es auf
seine Kosten zu etwas zu bringen. Aus diesem Grund hatte er in
aller Heimlichkeit Juliáns Eintritt in die Armee in die Wege
geleitet, wo ihm einige Jahre Militärleben den Größenwahn schon
austreiben würden. Als Julián endlich mitbekam, was die einen und
die andern für ihn vorbereitet hatten, war es bereits zu spät. In
seinen Gedanken hatte ausschließlich Penélope Platz, und die
vorgegaukelte Distanz und die flüchtigen Begegnungen von einst
befriedigten ihn nicht mehr. Er beharrte darauf, sie öfter zu
sehen, und die Gefahr, daß seine Beziehung zu dem jungen Mädchen
aufflog, wurde immer größer. Jacinta tat alles in ihrer Macht
Stehende, um sie zu decken: Sie log das Blaue vom Himmel herunter,
fädelte geheime Treffen ein und ersann tausend Listen, damit sie
einige Augenblicke für sich allein hatten. Selbst ihr war klar, daß
das nicht ausreichte, daß jede Minute des Zusammenseins Penélope
und Julián stärker aneinanderband. Längst hatte Jacinta gelernt, in
ihren Blicken die Herausforderung des Wunsches zu lesen: den
blinden Willen, entdeckt zu werden, ihr Geheimnis zum offenen
Skandal zu machen, um sich nicht mehr in Winkeln und Dachböden
verstecken und im Dunkeln lieben zu müssen. Manchmal, wenn Jacinta
Penélope ankleiden kam, löste sich diese in Tränen auf und gestand
ihr den Wunsch, mit Julián auszureißen, den erstbesten Zug zu
nehmen und an einen Ort zu fliehen, wo niemand sie kannte. Jacinta,
die noch genau wußte, wie die Welt jenseits der Tore der
Aldaya-Villa geartet war, erschauerte und versuchte, sie davon
abzubringen. Penélope war ein fügsamer Geist, und die Angst, die
sie in Jacintas Gesicht sah, genügte, um sie zu beschwichtigen.
Julián dagegen machte sich seine eigenen Gedanken.
In diesem letzten Frühling auf der San-Gabriel-Schule entdeckte er
beunruhigt, daß Don Ricardo Aldaya und seine Mutter Sophie sich
manchmal heimlich trafen. Anfangs befürchtete er, der Industrielle
betrachte Sophie als angenehme Eroberung zur Vervollständigung
seiner Sammlung, aber bald sah er, daß sich die Begegnungen, die
immer in Cafés im Zentrum und im Rahmen strengster Schicklichkeit
stattfanden, auf die Konversation beschränkten. Als Julián Don
Ricardo schließlich darauf ansprach und ihn fragte, was sich
zwischen ihm und seiner Mutter abspiele, lachte der
Industrielle.
»Dir entgeht wohl gar nichts, was, Julián? Ich wollte tatsächlich
mit dir auf das Thema zu sprechen kommen. Deine Mutter und ich
diskutieren über deine Zukunft. Vor einigen Wochen hat sie mich in
Sorge aufgesucht, weil dein Vater vorhat, dich nächstes Jahr in die
Armee zu schicken. Natürlich will sie das Beste für dich und ist zu
mir gekommen, um zu sehen, ob wir gemeinsam etwas unternehmen
können. Mach dir keine Sorgen, ich gebe dir Ricardo Aldayas Wort,
daß du kein Kanonenfutter sein wirst. Deine Mutter und ich haben
Großes vor mit dir. Vertraue uns.«
Julián wollte vertrauen, doch Don Ricardo flößte alles andere als
Vertrauen ein. Als er sich mit Miquel Moliner beriet, stimmte
dieser ihm zu.
»Wenn du wirklich mit Penélope fliehen willst, dann steh Gott dir
bei – was du brauchst, ist Geld.«
Geld hatte Julián keines.
»Das läßt sich regeln. Dafür gibt es reiche Freunde.«
So begannen Miquel und Julián die Flucht der Liebenden zu planen.
Auf Moliners Anregung sollte Paris das Ziel sein. Er war der
Meinung, wenn Julián sich schon anschicke, ein Bohemienkünstler und
Hungerleider zu sein, wäre die Kulisse von Paris unübertrefflich.
Penélope sprach ein wenig Französisch, das für Julián dank des
Unterrichts seiner Mutter eine zweite Sprache war.
»Zudem ist Paris groß genug, um sich zu verirren, aber klein genug,
um Chancen zu haben«, meinte Miquel.
Sein Freund häufte ein kleines Vermögen an, indem er seine
jahrelangen Ersparnisse zu dem schlug, was er unter den seltsamsten
Vorwänden aus seinem Vater herausholen konnte. Nur er wußte, wohin
die beiden gehen würden.
»Und ich werde verstummen, sobald ihr den Zug besteigt.«
Noch am selben Nachmittag, nachdem die letzten Einzelheiten mit
Miquel geklärt waren, ging Julián in die Avenida del Tibidabo, um
Penélope in den Plan einzuweihen.
»Was ich dir sagen werde, darfst du keinem Menschen erzählen.
Niemandem. Nicht einmal Jacinta«, begann er.
Das junge Mädchen lauschte sprachlos und verzaubert. Moliners Plan
konnte nicht schiefgehen. Miquel würde die Fahrkarten unter einem
falschen Namen kaufen und einen Dritten damit beauftragen, sie am
Bahnschalter abzuholen. Sollte die Polizei ihn finden, so würde er
ihnen als einziges die Beschreibung einer Person geben können, die
Julián nicht glich. Die Flucht sollte an einem Sonntagmittag
stattfinden. Julián und Penélope würden sich im Zug treffen – es
gäbe kein Warten auf dem Bahnsteig, damit niemand sie sehen konnte.
Julián käme allein zur Estación de Francia, wo ihn Miquel mit den
Fahrkarten und dem Geld erwartete.
Der heikelste war Penélopes Part. Sie mußte Jacinta belügen und sie
bitten, mit ihr unter einem Vorwand die Elf-Uhr-Messe zu verlassen
und sie nach Hause zu bringen. Unterwegs würde sie sie anflehen,
Julián treffen zu dürfen, mit dem Versprechen, zurück zu sein, ehe
die Familie nach Hause käme. Dann würde sie zum Bahnhof gehen.
Beide wußten, daß Jacinta, wenn sie ihr die Wahrheit sagte, sie
nicht würde gehen lassen. Sie liebte die beiden zu sehr.
»Ein guter Plan, Miquel«, hatte Julián gesagt, nachdem er sich die
Strategie seines Freundes angehört hatte.
Miquel nickte traurig.
»Außer einer Kleinigkeit. Daß ihr vielen Leuten weh tun werdet,
wenn ihr für immer geht.«
Julián hatte genickt und dabei an seine Mutter und Jacinta gedacht.
Es kam ihm nicht in den Sinn, daß Miquel Moliner sich selbst
meinte.
Am schwierigsten war es, Penélope von der Notwendigkeit zu
überzeugen, Jacinta nichts von dem Plan zu sagen. Miquel wüßte als
einziger die Wahrheit. Der Zug sollte um ein Uhr mittags fahren.
Wenn Penélopes Fehlen bemerkt würde, wären sie schon jenseits der
Grenze. In Paris würden sie unter falschem Namen als Mann und Frau
in einer Herberge absteigen. Dann würden sie Miquel Moliner einen
Brief für ihre Familien schicken, ihre Liebe gestehen und sagen,
daß es ihnen gutging, daß sie sie liebhätten, würden ihre
kirchliche Trauung ankündigen und sie um Verzeihung und Verständnis
bitten. Miquel Moliner würde den Brief in einen andern Umschlag
stecken, damit der Stempel aus Paris sie nicht verriete, und ihn
dann von einer Ortschaft in der Umgebung aus abschicken.
»Wann?« fragte Penélope.
»In sechs Tagen«, antwortete Julián. »Diesen Sonntag.«
Miquel war der Ansicht, um keinen Verdacht zu erwecken, sollte
Julián in den Tagen bis zur Flucht Penélope besser nicht mehr
besuchen. Sie sollten sich absprechen und dann nicht mehr treffen
bis zum Rendezvous im Zug nach Paris. Sechs Tage, ohne sie zu sehen
und zu berühren, das war eine Unendlichkeit für ihn. Sie
besiegelten den Pakt, eine geheime Ehe, mit einem Kuß auf die
Lippen. Danach führte Julián Penélope in Jacintas Zimmer im dritten
Stock des Hauses, wo sich nur die Dienstbotenräume befanden. Dort,
glaubte Julián, würde sie niemand entdecken.
Wie in Trance zogen sie sich aus und erkundeten ihre Körper. Penélope hatte jede Spur von Zerbrechlichkeit und Kindlichkeit verloren. Nachdem sie ihre Sehnsucht gestillt hatten, blieb Julián kaum Zeit, sich aufzurichten, als sich langsam die Tür öffnete und eine Frauengestalt auf der Schwelle erschien. Eine Sekunde lang dachte Julián, es sei Jacinta, aber sogleich wurde ihm klar, daß es Señora Aldaya war, die sie gebannt und ebenso fasziniert wie angewidert beobachtete. Endlich brachte sie stammelnd heraus: »Wo ist Jacinta?« Dann wandte sie sich ohne ein weiteres Wort ab und ging davon, während sich Penélope in stummer Verzweiflung auf dem Boden zusammenkauerte und Julián spürte, wie die Welt um ihn herum einstürzte.
»Geh jetzt, Julián. Geh, bevor mein Vater kommt.« »Aber …«
»Geh.«
Er nickte. »Was auch geschehen mag, ich erwarte dich am Sonntag im
Zug.«
Penélope brachte ein knappes Lächeln zustande. »Ich werde dort
sein. Und jetzt geh. Bitte …«
Sie war noch nackt, als er sie verließ und über die Dienstbotentreppe zu den Garagen hinunterglitt und dann in die kälteste Nacht hinaustrat, an die er sich erinnern konnte.
Die nächsten Tage waren die schlimmsten seines Lebens. Er hatte die Nacht schlaflos verbracht, in der Erwartung, jeden Augenblick kämen ihn Don Ricardos Killer holen. Aber nicht einmal der Schlaf wollte kommen. Am nächsten Tag in der San-Gabriel-Schule nahm er in Jorge Aldayas Verhalten keine Veränderung wahr. Er verging beinahe vor Angst und gestand Miquel Moliner, was geschehen war. Miquel schüttelte den Kopf.
»Du bist verrückt, Julián, aber das ist ja nichts Neues. Merkwürdig ist nur, daß es bei den Aldayas keinen Aufruhr gegeben hat. Wenn man es richtig bedenkt, ist es allerdings auch wieder nicht erstaunlich. Wenn euch, wie du sagst, Señora Aldaya entdeckt hat, dann weiß sie möglicherweise noch nicht einmal selbst, was tun. Ich habe mich in meinem Leben dreimal mit ihr unterhalten und daraus zwei Schlüsse gezogen: Erstens, daß sie geistig etwa zwölf Jahre alt ist, zweitens, daß sie an chronischem Narzißmus leidet, der es ihr unmöglich macht, irgend etwas zu sehen oder zu begreifen, was sie nicht sehen oder begreifen will, besonders wenn es sie selbst betrifft.«
»Erspar mir die Diagnose, Miquel.«
»Ich meine damit nur, daß sie wahrscheinlich noch darüber
nachdenkt, was und wie, wann und wem sie es sagen soll. Zuerst muß
sie ja an die Folgen für sich selbst denken – den möglichen
Skandal, die Wut ihres Mannes … Alles andere, wage ich anzunehmen,
läßt sie kalt.«
»Du meinst also, sie wird nichts sagen?«
»Vielleicht erst in einem oder zwei Tagen. Aber ich glaube nicht, daß sie fähig ist, so etwas vor ihrem Mann geheimzuhalten. Was ist mit dem Fluchtplan? Gilt er noch?«
»Mehr denn je.«
»Freut mich, das zu hören. Jetzt glaube ich nämlich wirklich, daß
es keine Umkehr mehr gibt.«
Diese Woche verging in tödlicher Langsamkeit. Die Ungewißheit auf den Fersen, ging Julián täglich in die San-Gabriel-Schule. Dort spielte er stundenlang den Anwesenden, doch er war kaum imstande, mit Miquel Moliner, der allmählich ebenso beunruhigt war wie er oder noch mehr, einige Blicke zu wechseln. Jorge Aldaya sagte nichts und war so höflich wie immer. Jacinta war ihn nicht mehr abholen gekommen. Dafür erschien jetzt jeden Nachmittag Don Ricardos Fahrer. Julián hatte das Gefühl, er sterbe, und wünschte sich, es möchte endlich geschehen, was geschehen mußte, dieses Warten möchte ein Ende haben. Am Donnerstagnachmittag nach dem Unterricht glaubte er langsam daran, daß das Glück auf seiner Seite stand. Señora Aldaya hatte nichts gesagt, vielleicht aus Scham, aus Dummheit oder aus irgendeinem der Gründe, die Miquel zu ahnen meinte. Das einzige, was zählte, war, daß sie das Geheimnis bis zum Sonntag für sich behielt. Zum ersten Mal seit mehreren Tagen konnte er an diesem Abend einschlafen.
Als er am Freitagmorgen zum Unterricht kam, erwartete ihn am
Eingangstor Pater Romanones.
»Ich habe mit dir zu reden, Julián.«
»Wie Sie wünschen, Pater.«
»Ich habe immer gewußt, daß dieser Tag kommen würde, und ich muß
dir gestehen, daß ich mich freue, daß ich es bin, der dir die
Nachricht überbringt.«
»Welche Nachricht denn, Pater?«
Julián Carax war nicht mehr Schüler der San-GabrielSchule. Seine
Anwesenheit auf dem Areal, in den Klassenzimmern und selbst in den
Gärten war ihm strikt untersagt. Seine Gerätschaften, Schulbücher
und sämtlichen andern Habseligkeiten gingen in den Besitz der
Schule über.
»Der Terminus technicus lautet blitzartige Relegation«, sagte Pater
Romanones zusammenfassend.
»Darf ich den Grund erfahren?«
»Es kommen mir ein Dutzend Gründe in den Sinn, aber ich bin sicher,
du wirst den passendsten aussuchen. Guten Tag, Carax. Viel Glück im
Leben. Du wirst es brauchen.«
In dreißig Meter Entfernung, im Hof mit den Brunnen, beobachtete
ihn eine Gruppe Schüler. Einige lachten und winkten auf
Wiedersehen. Andere schauten ihn erstaunt und mitleidig an. Nur
einer lächelte traurig: sein Freund Miquel Moliner, der bloß nickte
und unhörbar einige Worte murmelte, die Julián in der Luft zu lesen
meinte: »Bis Sonntag.«
Auf dem Heimweg in die Ronda de San Antonio sah Julián Don Ricardo
Aldayas Mercedes vor dem Hutladen parken. Er blieb an der Ecke
stehen und wartete. Kurz danach trat Don Ricardo aus dem Laden
seines Vaters und stieg in den Wagen. Julián versteckte sich in
einem Eingang, bis der Mercedes Richtung Plaza de la Universidad
verschwunden war. Erst jetzt stürmte er die Treppe zu seiner
Wohnung hinauf. Dort erwartete ihn weinend seine Mutter Sophie.
»Was hast du getan, Julián?« flüsterte sie ohne Zorn.
»Verzeihen Sie, Mutter …«
Sophie umarmte ihn fest. Sie hatte abgenommen und war gealtert, als
hätten ihr alle gemeinsam das Leben und die Jugend gestohlen.
»Hör mir gut zu, Julián. Dein Vater und Don Ricardo Aldaya haben
alles eingefädelt, um dich in ein paar Tagen in die Armee zu
schicken. Aldaya hat Beziehungen … Du mußt gehen, Julián. Du mußt
irgendwohin, wo dich keiner der beiden finden kann …«
Julián glaubte im Blick seiner Mutter einen Schatten zu sehen, der
sie innerlich aufzehrte.
»Ist noch was, Mutter? Etwas, was Sie mir nicht gesagt haben?«
Sophie schaute ihn mit zitternden Lippen an.
»Du mußt gehen. Wir müssen beide für immer von hier weg.«
Julián umarmte sie kräftig und flüsterte ihr ins Ohr:
»Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Mutter. Machen Sie sich
keine Sorgen.«
Den Samstag verbrachte er zurückgezogen in seinem Zimmer zwischen
seinen Büchern und den Zeichenheften. Der Hutmacher war noch im
Morgengrauen in den Laden hinuntergegangen und kam erst nach
Mitternacht wieder herauf. Er hat nicht einmal die Stirn, es mir
ins Gesicht zu sagen, dachte Julián. An diesem Abend verabschiedete
er sich mit Tränen in den Augen von den Jahren, die er in diesem
düsteren, kalten Zimmer verbracht hatte, in Träumen verloren, von
denen er jetzt wußte, daß sie sich nie erfüllen würden. Mit nur
einer Tasche und ein wenig Wäsche und einigen Büchern versehen,
küßte er am frühen Sonntagmorgen seine Mutter, die im Eßzimmer
unter einigen Decken zusammengekauert schlief, auf die Stirn und
ging. Über den Straßen lag bläulicher Dunst, und auf den Dächern
der Altstadt zeigten sich Kupferfunken. Er schritt langsam,
verabschiedete sich von jedem Eingang, von jeder Straßenecke und
fragte sich dabei, ob es wohl stimmte, daß die Zeit schwindelte und
er eines Tages fähig wäre, sich nur an das Gute zu erinnern und die
Einsamkeit zu vergessen, die ihn in diesen Straßen so oft verfolgt
hatte.
Die Estación de Francia war menschenleer; die Bahnsteige glänzten
im Morgenlicht und verloren sich dann im Nebel. Julián setzte sich
auf eine Bank unter dem Gewölbe und zog ein Buch hervor. Schon bald
ließ er die Stunden verstreichen und wechselte Haut und Namen, bis
er sich als ein anderer fühlte. Er ließ sich von den Träumen
schattenhafter Figuren mitreißen und dachte, es bleibe ihm keine
weitere Zuflucht außer dieser. Mittlerweile war ihm klar, daß
Penélope nicht käme, daß er den Zug einzig in Begleitung seiner
Erinnerung besteigen würde. Als pünktlich am Mittag Miquel Moliner
im Bahnhof auftauchte und ihm seine Fahrkarte und das ganze Geld
gab, das er hatte auftreiben können, umarmten sich die beiden
Freunde schweigend. Julián hatte Miquel Moliner noch nie weinen
sehen. Die Uhr zählte die entfliehenden Minuten und bedrängte
sie.
»Es ist noch Zeit«, murmelte Miquel und beobachtete den
Eingang.
Um ein Uhr fünf rief der Bahnhofsvorsteher zum letzten Mal die
Fahrgäste nach Paris auf. Der Zug begann schon den Bahnsteig
entlangzugleiten, als sich Julián seinem Freund zuwandte, um sich
zu verabschieden. Miquel Moliner schaute ihn von draußen an, die
Hände in den Taschen vergraben.
»Schreib«, sagte er.
»Sobald ich dort bin, schreibe ich dir.«
»Nein, nicht mir. Schreibe Bücher, nicht Briefe. Schreib sie für
mich, für Penélope.«
Julián nickte und merkte erst jetzt, wie sehr er seinen Freund
vermissen würde.
»Und bewahr dir deine Träume«, sagte Miquel. »Du kannst nie wissen,
wann du sie brauchst.«
»Immer«, murmelte Julián, doch das Fauchen des Zuges hatte ihnen
die Worte schon genommen.
»Penélope erzählte mir«, fuhr Jacinta fort, »was an dem Abend geschah, an dem Señora Aldaya die beiden in meinem Zimmer ertappt hatte. Am nächsten Tag bestellte mich die Señora zu sich und fragte mich, was ich von Julián wisse. Ich sagte, nichts, er sei ein guter Junge, ein Freund von Jorge … Ich mußte Penélope in ihrem Zimmer einschließen, bis sie ihr erlauben würde, es zu verlassen. Don Ricardo war nach Madrid gefahren und sollte erst am Freitag zurückkommen. Kaum war er da, erzählte ihm die Señora, was vorgefallen war. Ich war dabei. Don Ricardo schoß von seinem Sessel auf und verpaßte der Señora eine Ohrfeige, die sie zu Boden warf. Dann schrie er wie ein Wahnsinniger, sie solle wiederholen, was sie gesagt hatte. Die Señora war vollkommen verschüchtert. Noch nie hatten wir den Señor so gesehen. Nie. Es war, als wäre er von allen Teufeln besessen. Puterrot vor Zorn ging er in Penélopes Zimmer hinauf und zerrte sie an den Haaren aus dem Bett. Ich wollte ihn zurückhalten, doch er stieß mich mit Fußtritten weg. Noch in derselben Nacht ließ er den Familienarzt kommen, damit er sie untersuchte. Als der Arzt fertig war, sprach er mit dem Señor. Penélope wurde in ihrem Zimmer eingeschlossen, und die Señora sagte, ich solle mein Bündel schnüren.
Man ließ mich nicht zu Penélope, nicht einmal, um mich von ihr zu verabschieden. Don Ricardo drohte, mich bei der Polizei anzuzeigen, sollte ich jemandem etwas von dem Vorgefallenen erzählen. Noch in der Nacht wurde ich hinausgeworfen, ohne daß ich wußte, wohin ich gehen sollte, nach achtzehn Jahren ununterbrochenen Dienstes im Haus. Zwei Tage später kam mich in einer Pension in der Calle Muntaner Miquel Moliner besuchen und sagte, Julián sei nach Paris gefahren. Ich sollte ihm erzählen, was mit Penélope geschehen war, und herausfinden, warum sie nicht zum Bahnhof gekommen sei. Wochenlang ging ich immer wieder zu dem Haus und bat, Penélope besuchen zu dürfen, doch man ließ mich nicht einmal zum Tor hinein. Manchmal stellte ich mich ganze Tage an die Ecke gegenüber, in der Hoffnung, sie herauskommen zu sehen. Ich habe sie nie gesehen. Sie ging nicht aus dem Haus. Später rief Señor Aldaya die Polizei, und mit Hilfe seiner Freunde im Rathaus ließ er mich ins Irrenhaus Horta einweisen, indem er anführte, niemand kenne mich und ich sei eine Verrückte, die seiner Familie nachstelle. Zwei Jahre war ich wie ein Tier dort eingesperrt. Als ich herauskam, ging ich als erstes zum Haus in der Avenida del Tibidabo, um Penélope zu sehen.«
»Und, haben Sie sie gesehen?« fragte Fermín.
»Das Haus war verriegelt und zum Verkauf ausgeschrieben. Es lebte
keiner mehr dort. Man sagte mir, die Aldayas seien nach Argentinien
ausgewandert. Ich habe an die mir angegebene Adresse geschrieben,
aber die Briefe sind ungeöffnet zurückgekommen …«
»Was ist aus Penélope geworden? Wissen Sie das?« Jacinta schüttelte
den Kopf und sank in den Stuhl zurück.
»Ich habe sie nie wiedergesehen.«
Sie wimmerte und heulte Rotz und Wasser. Fermín nahm sie in die Arme und wiegte sie. Jacinta Coronados Körper war auf die Größe eines kleinen Mädchens geschrumpft, so daß Fermín neben ihr als Riese erschien. Tausend Fragen brodelten in meinem Kopf, aber mein Freund bedeutete mir unmißverständlich, das Gespräch sei zu Ende. Ich sah, wie er das schmutzige, kalte Loch betrachtete, in dem Jacinta Coronado ihre letzten Stunden verlebte.
»Los, Daniel. Wir brechen auf. Gehen Sie schon mal vor.«
Während ich mich entfernte, wandte ich mich einen Augenblick um und sah, daß Fermín vor der Greisin niederkniete und sie auf die Stirn küßte. Sie lächelte zahnlos.
»Sagen Sie, Jacinta«, hörte ich ihn sagen, »Sie mögen doch Lutschbonbons, nicht wahr?«
Auf unserem Irrweg zum Ausgang begegneten wir dem echten Vertreter des Bestattungsamtes und zwei affenhaft aussehenden Gehilfen, die mit einem Pinienholzsarg, Schnur und mehreren alten Laken zweifelhafter Anwendung daherkamen. Die drei verströmten einen unseligen Geruch nach Formol und billigstem Kölnisch Wasser, hatten eine durchscheinende Hautfarbe und zeigten ein lendenlahmes Lächeln. Fermín deutete bloß auf die Zelle, wo der Verstorbene harrte, und segnete das Trio, das mit zustimmendem Nicken antwortete und sich respektvoll bekreuzigte.
»Gehet hin in Frieden«, murmelte Fermín und zog mich zum Ausgang, wo uns eine Nonne mit einer Ölfunzel und vorwurfsvollem Leichenblick verabschiedete.
Als wir draußen waren, erschien mir der triste Hohlweg aus Stein und Schatten, der die Calle Montcada war, geradezu als Tal des Glanzes und der Hoffnung. Fermín neben mir atmete tief und erleichtert auf. Die Geschichte, die uns Jacinta erzählt hatte, lastete in unserem Bewußtsein schwerer, als wir uns eingestehen mochten.
»Hören Sie, Daniel, wie wäre es, wenn wir uns im Xampanyet da vorn einige Schinkenkroketten und ein paar Gläschen Sekt zu Gemüte führten?«
»Da hätte ich ehrlich nichts dagegen.«
»Sind Sie denn heute nicht mit Ihrem Mädchen verabredet?«
»Morgen.«
»Ah, Sie Schelm. Sie lassen sich bitten, was? Wie lernfähig wir
doch sind …«
Wir hatten noch keine zehn Schritte in Richtung der lauten Schenke ein paar Häuser weiter unten getan, als sich drei geisterhafte Gestalten aus dem Schatten lösten und auf uns zukamen. Zwei von ihnen postierten sich hinter uns, so nahe, daß ich ihren Atem im Nacken spüren konnte. Der dritte, kleiner, aber unendlich viel unheimlicher, verstellte uns den Weg. Er trug den gleichen Mantel, und sein öliges Grinsen schien ihm vor Vergnügen aus den Mundwinkeln zu quellen.
»Na, da schau her, wen haben wir denn da? Das ist doch mein alter Freund, der Mann mit den tausend Gesichtern«, sagte Inspektor Fumero.
Angesichts dieser Erscheinung gerann Fermíns Geschwätzigkeit zu einem erstickten Ächzen. Inzwischen hatten uns die beiden Kerle schon am Nacken und am rechten Handgelenk gepackt, um uns jederzeit beim geringsten Anzeichen einer Bewegung den Arm umdrehen zu können.
»Deinem überraschten Gesicht sehe ich an, daß du gedacht hast, ich hätte deine Spur längst verloren, was? Du hast doch wohl nicht angenommen, ein Stück dürre Scheiße wie du kommt so mir nichts, dir nichts aus der Gosse raus und kann als ehrbarer Bürger auftreten, oder? Du bist zwar verrückt, aber so sehr auch wieder nicht. Außerdem höre ich, daß du deine Nase, die in deinem Fall aus vielen Nasen besteht, in einen Haufen Dinge steckst, die dich einen feuchten Staub angehen. Schlechtes Zeichen … Was hast du da mit den Nönnchen für eine Mauschelei? Vernaschst du etwa eine von ihnen? Was nehmen die denn heute so?«
»Ich respektiere fremde Hintern, Herr Inspektor, vor allem, wenn sie in Klausur leben. Wenn Sie sich befleißigten, dasselbe zu tun, könnten Sie vielleicht eine Stange Geld für Penicillin sparen und hätten zudem einen besseren Stuhlgang.«
Fumero grinste wütend.
»So gefällt’s mir. Schneidig wie ein Kastriermesser. Ich sag’s ja. Wenn alle Gauner wären wie du, dann wäre meine Arbeit ein wahres Fest. Sag mal, wie nennst du dich denn jetzt, du kleiner Scheißer? Gary Cooper? Na los, erzähl mir, wozu du deinen Zinken ins Altenheim Santa Lucía steckst, und dann lass ich dich vielleicht mit ein paar blauen Flecken wieder laufen. Komm, schieß los. Was hat euch hergeführt?«
»Eine Privatangelegenheit. Wir haben eine Angehörige
besucht.«
»Ja, deine verdammte Mutter. Paß auf, heute bin ich gut aufgelegt,
sonst würd ich dich jetzt aufs Revier mitnehmen und noch mal mit
dem Lötkolben behandeln. Na komm, sei ein guter Junge und erzähl
dem lieben Inspektor Fumero ehrlich, was ihr verdammt noch mal hier
treibt, du und dein Freund. Sei ein bißchen hilfsbereit, zum
Teufel, so ersparst du’s mir, diesem verwöhnten Bürschchen da, das
du dir als Mäzen angelacht hast, ein neues Gesicht zu
verpassen.«
»Wenn Sie ihm auch nur ein Härchen krümmen, dann schwör ich Ihnen,
daß …«
»Du jagst mir ja richtig Angst ein, ehrlich. Da hab ich mir doch
glatt in die Hosen gemacht.«
Fermín schluckte und schien allen Mut zusammenzukratzen, der ihm
noch nicht aus den Poren geströmt war.
»Etwa in das Matrosenhöschen, das Ihnen Ihre ehrwürdige Frau Mutter
angezogen hat, die illustre Putze? Wäre zu schade, wo man mir doch
erzählt, daß Ihnen das hübsche Modell so fabelhaft gestanden
hat.«
Inspektor Fumero wurde blaß, und sein Blick verlor jeden
Ausdruck.
»Was hast du da gesagt, du Schwein?«
»Ich habe gesagt, daß Sie offensichtlich den Geschmack und die
Grazie von Doña Yvonne Sotoceballos geerbt haben, Dame der feinen
Gesellschaft …«
Der erste Faustschlag genügte, um den schmächtigen Fermín zu Boden
zu werfen. Er lag noch zusammengestaucht in der Pfütze, als Fumero
ihm Fußtritte in Magen, Nieren und Gesicht zu verpassen begann. Vom
fünften an zählte ich nicht mehr weiter. Fermín ging die Luft aus,
und einen Augenblick später konnte er keinen Finger mehr rühren, um
sich vor den Schlägen zu schützen. Die beiden Polizisten hielten
mich mit eiserner Hand fest und lachten aus Höflichkeit oder
Verpflichtung.
»Halt du dich da raus«, flüsterte mir der eine zu. »Ich habe keine
Lust, dir den Arm zu brechen.«
Ich versuchte mich vergeblich aus ihrem Griff zu lösen, und bei
diesem Gerangel erhaschte ich einen Blick auf sein Gesicht. Ich
erkannte ihn sogleich. Es war der Mann mit dem Mantel und der
Zeitung aus der Kneipe an der Plaza de Sarriá vor einigen Tagen,
derselbe, der uns im Bus gefolgt war und über Fermíns Witze gelacht
hatte.
»Weißt du, was mir in der Welt am meisten auf den Keks geht, sind
Leute, die in der Scheiße und der Vergangenheit rumwühlen«, rief
Fumero und ging um Fermín herum. »Was vergangen ist, ist vergangen,
verstehst du? Und das gilt für dich genauso wie für diesen Dämlack
da, deinen Freund. Und du, Junge, paß gut auf und lerne – du bist
als nächster dran.«
Ich schaute zu, wie Inspektor Fumero unter dem Licht einer
Straßenlampe Fermín mit Fußtritten fertigmachte. Die ganze Zeit
über brachte ich den Mund nicht auf. Ich erinnere mich an das
dumpfe Geräusch, mit dem die Schläge erbarmungslos auf meinen
Freund prasselten. Sie tun mir noch heute weh. Ich konnte nicht
anders, als mich, zitternd und feige Tränen vergießend, in den
willkommenen Griff der Polizisten zu flüchten.
Als Fumero es satt hatte, ein totes Gewicht zu malträtieren,
knöpfte er den Mantel auf, öffnete den Hosenschlitz und urinierte
auf Fermín. Mein Freund rührte sich nicht; er war bloß noch ein
Bündel alter Kleider in einer Lache. Während Fumero seinen satten,
dampfenden Strahl auf ihn abgab, brachte ich noch immer kein Wort
heraus. Als er fertig war, knöpfte er den Hosenstall wieder zu und
trat keuchend und schwitzend zu mir. Einer der Polizisten reichte
ihm ein Taschentuch, mit dem er sich Gesicht und Hals trocknete. Er
näherte sich mir bis auf wenige Zentimeter und starrte mich an.
»Du warst diese Tracht Prügel nicht wert, mein Junge. Das ist das
Problem deines Freundes – immer steht er auf der falschen Seite.
Nächstes Mal mach ich ihn ganz fertig, so wie noch nie, und ich bin
sicher, die Schuld daran wirst du tragen.«
Ich dachte, nun würde er mich ohrfeigen. Aus irgendeinem Grund
freute ich mich darüber, vielleicht weil mich die Schläge von der
Schande kurieren würden, keinen Finger gerührt zu haben, um Fermín
zu helfen.
Aber es fiel kein einziger Schlag. Nur der Peitschenhieb dieser
Augen voller Verachtung. Fumero tätschelte mir bloß die Backe.
»Nur ruhig, Kleiner. Ich mache mir die Hände nicht an Memmen
schmutzig.«
Die beiden Polizisten lachten liebedienerisch, jetzt entspannter,
als sie sahen, daß die Vorstellung zu Ende war. Sie hatten
sichtlich den Wunsch, von der Bildfläche zu verschwinden, und
gingen im Schatten davon. Als ich Fermín endlich zu Hilfe kommen
konnte, kämpfte er vergeblich, um sich aufzurichten und die Zähne
zu finden, die er in der Kloake verloren hatte. Er blutete aus
Mund, Nase, Ohren und Augen. Als er sah, daß ich wohlauf war,
versuchte er zu lächeln, und ich dachte, er würde auf der Stelle
den Geist aufgeben. Ich kniete neben ihm nieder und nahm ihn in die
Arme. Als erstes ging mir durch den Kopf, daß er leichter war als
Bea.
»Fermín, um Gottes willen, Sie müssen auf der Stelle ins
Krankenhaus.«
Energisch winkte er ab.
»Bringen Sie mich zu ihr.«
»Zu wem, Fermín?«
»Zur Bernarda. Wenn ich schon abkratzen muß, dann wenigstens in
ihren Armen.«
18
Zwei Gäste des Xampanyet, die die Prügelei vom Eingang aus verfolgt hatten, boten mir ihre Hilfe an, um Fermín zu einem Taxistand in der Calle Princesa zu bringen, während ein Kellner die von mir angegebene Nummer anrief und unser Kommen ankündigte. Die Taxifahrt zur Plaza Real, von der ich mir Jahre zuvor geschworen hatte, daß ich sie nie wieder betreten würde, kam mir endlos vor. Noch bevor sich der Wagen in Bewegung setzte, hatte Fermín das Bewußtsein verloren. Ich hielt ihn in den Armen und drückte ihn an die Brust, damit ihm warm würde. Ich spürte, wie sein lauwarmes Blut meine Kleider näßte, und flüsterte ihm ins Ohr, wir seien bald da, es sei nicht weiter schlimm. Im Rückspiegel warf mir der Fahrer mißtrauische Blicke zu.
»Hören Sie, ich will keine Scherereien, ja? Wenn der stirbt,
dann steigen Sie aus.«
»Geben Sie Gas, und halten Sie den Mund.«
In der Calle Fernando warteten Gustavo Barceló und die Bernarda
schon mit Dr. Soldevila vor der Haustür. Als sie uns so voller Blut
und Schmutz erblickte, schrie die Bernarda laut auf. Der Arzt maß
Fermín rasch den Puls und versicherte, er sei noch am Leben. Zu
viert trugen wir ihn die Treppe hinauf und ins Zimmer der Bernarda,
wo eine Krankenschwester, die mit dem Arzt gekommen war, schon
alles vorbereitete. Als Fermín auf dem Bett lag, begann sie ihn
auszuziehen. Dr. Soldevila schickte uns alle aus dem Zimmer, damit
sie arbeiten könnten. Mit einem kurzen »Er wird überleben« schloß
er vor unserer Nase die Tür.
Auf dem Flur weinte die Bernarda untröstlich und wimmerte, wenn sie
einmal einen guten Mann treffe, komme Gott und entreiße ihn ihr mit
Gewalt. Don Gustavo Barceló nahm sie in die Arme und brachte sie in
die Küche, wo er ihr Brandy einflößte, bis sie sich kaum noch auf
den Beinen halten konnte. Als ihre Worte unverständlich wurden,
schenkte sich der Buchhändler selbst ein Glas ein und leerte es in
einem Zug.
»Tut mir leid. Ich wußte nicht, wohin …«, hob ich an.
»Keine Sorge. Du hast das Richtige getan. Soldevila ist der beste
Traumatologe von Barcelona.«
»Danke«, murmelte ich.
Barceló seufzte und schenkte mir ein ordentliches Glas Brandy ein.
Ich lehnte das Angebot ab, das in den Händen der Bernarda landete
und im Nu zwischen ihren Lippen verschwand.
»Tu mir den Gefallen, nimm eine Dusche und zieh saubere Kleider
an«, sagte Barceló. »Wenn du in diesem Aufzug nach Hause kommst,
wird der Schreck deinen Vater umbringen.«
»Nicht nötig … Ich bin schon in Ordnung.«
»Dann hör auf zu zittern. Na los, geh, du kannst mein Bad benutzen,
es hat einen Boiler. Du kennst ja den Weg. Unterdessen ruf ich
deinen Vater an und sage ihm, du … , nun, ich weiß auch nicht, was
ich ihm sagen werde. Irgend etwas wird mir schon einfallen.«
Ich nickte.
»Du bist hier nach wie vor zu Hause, Daniel«, sagte er, als ich
durch den Korridor davonging. »Du bist vermißt worden.«
Zwar fand ich Gustavo Barcelós Bad, nicht aber den Lichtschalter.
Genaugenommen, dachte ich, dusche ich mich lieber im Halbdunkeln.
Ich zog die verschmutzten Kleider aus und stieg in Gustavo Barcelós
kaiserliche Wanne. Dunkelheit sickerte perlfarben durchs Fenster
herein, das auf den Innenhof des Hauses führte, so daß die Konturen
des Raums und die aufeinander abgestimmten glasierten Fliesen von
Boden und Wänden gerade eben angedeutet wurden. Das Wasser strömte
fast siedendheiß und mit einem Druck heraus, der mir, verglichen
mit unserem bescheidenen Bad in der Calle Santa Ana, äußerst
luxuriös vorkam. Mehrere Minuten blieb ich reglos unter dem
dampfenden Strahl der Dusche stehen.
Der Widerhall der Schläge, die auf Fermín landeten, hämmerte mir
weiter in den Ohren. Ich brachte Fumeros Worte nicht aus dem Kopf
und auch nicht das Gesicht des Polizisten, der mich festgehalten
hatte, wahrscheinlich, um mich zu beschützen. Kurz darauf spürte
ich, daß das Wasser kühler wurde, der Vorrat im Boiler schien zu
Ende zu gehen. Ich kostete den letzten lauwarmen Tropfen aus und
drehte den Hahn zu. Durch Dunst und Duschvorhang hindurch erkannte
ich eine reglose Gestalt. Ihr leerer Blick leuchtete wie der einer
Katze.
»Du kannst ohne Angst herauskommen, Daniel. Trotz all meiner
Bosheiten kann ich dich noch immer nicht sehen.«
»Hallo, Clara.«
Sie reichte mir ein Badetuch. Verschämt hüllte ich mich ein; sogar
im dunstigen Halbdunkel konnte ich Clara lächeln sehen, da sie
meine Bewegungen erriet.
»Ich habe dich nicht hereinkommen hören.«
»Ich habe auch nicht angeklopft. Warum duschst du denn im
Dunkeln?«
»Woher weißt du, daß das Licht nicht brennt?«
»Kein Summen von der Glühbirne. Du bist dich nie verabschieden
gekommen.«
Doch, ich bin gekommen, dachte ich, aber du warst zu beschäftigt.
Ich behielt die Worte für mich – Groll und Bitterkeit lagen schon
weit zurück und waren auf einmal lächerlich.
»Ich weiß. Entschuldige.«
Ich stieg aus der Wanne und trat auf den Plüschteppich. Die Aureole
des Dampfes glühte in silbernen Fäserchen, die schwache Helligkeit
des Oberlichts war ein weißer Schleier auf Claras Gesicht. Sie sah
kein bißchen anders aus als ihr Bild in meiner Erinnerung. Die vier
Jahre, in denen ich sie nicht gesehen hatte, hatten mir fast nichts
genützt.
»Deine Stimme hat sich verändert«, sagte sie. »Hast auch du dich
verändert, Daniel?«
»Ich bin noch genauso dumm wie früher, wenn es das ist, was du
wissen möchtest.«
Und dazu feiger, fügte ich für mich hinzu. Sie hatte noch immer
dasselbe gebrochene Lächeln, das sogar im Halbdunkeln schmerzte.
Sie streckte mir die Hand entgegen, und wie vor acht Jahren in der
Bibliothek des Athenäums begriff ich sogleich. Ich führte ihre
Finger an mein feuchtes Gesicht und spürte, wie sie mich
wiederentdeckten, während Claras Lippen stille Worte
zeichneten.
»Ich wollte dir nie weh tun, Daniel. Verzeih mir.«
Ich ergriff ihre Hand und küßte sie.
»Verzeihe du mir.«
Jeder Ansatz zum Melodrama zersplitterte, als die Bernarda,
sichtlich betrunken, zur Tür hereinschaute und mich nackt
erblickte, Claras Hand an den Lippen und ohne Licht.
»Um Gottes willen, Señorito Daniel, was für eine Schamlosigkeit.
Jesus, Maria und Josef. Manche Leute werden nie durch Schaden
klug.«
Erschrocken trat sie den Rückzug an, und ich baute darauf, daß die
Erinnerung an das Gesehene wie ein Traum aus ihrem Geist
verschwände, sobald die Wirkung des Brandys nachließe. Clara trat
ein paar Schritte zurück und reichte mir die Kleider, die sie unter
den linken Arm geklemmt hatte.
»Mein Onkel hat mir diesen Anzug für dich gegeben. Er hat ihn als
junger Mann getragen und sagt, du seist mächtig gewachsen, er werde
dir jetzt passen. Ich lasse dich allein, damit du dich anziehen
kannst. Ich hätte nicht hereinkommen sollen, ohne anzuklopfen.«
Ich nahm die Kleider entgegen und schlüpfte in die lauwarme,
parfümierte Unterwäsche, das rosa Baumwollhemd, die Strümpfe, die
Weste, die Hose und das Jackett. Der Spiegel zeigte einen
Hausierer, dem nur das Lächeln fehlte. Als ich in die Küche
zurückging, war Dr. Soldevila eben einen Augenblick aus dem Zimmer
gekommen, wo er Fermín behandelte, um die Anwesenden über dessen
Zustand zu informieren.
»Für den Moment ist das Schlimmste vorüber«, sagte er.
»Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Solche Dinge wirken immer
ernster, als sie wirklich sind. Ihr Freund hat sich den linken Arm
und zwei Rippen gebrochen, er hat drei Zähne verloren und hat viele
Quetschungen, Schnitte und Prellungen, aber zum Glück gibt es keine
innere Blutung oder Symptome einer Gehirnverletzung. Die
zusammengefalteten Zeitungen, die er gegen die Kälte und, wie er
sagt, um sich etwas Korpulenz zu geben, unter den Kleidern trug,
haben ihm die Schläge abgeschwächt. Vor kurzem hat er für ein paar
Minuten das Bewußtsein wiedererlangt und mich gebeten, Ihnen zu
sagen, daß er sich wie ein Zwanzigjähriger fühlt, daß er ein
Sandwich mit Blutwurst und jungem Knoblauch, ein
Schokoladenplätzchen und ein paar Zitronenbonbons möchte. Dagegen
spricht grundsätzlich nichts, aber ich glaube, im Moment fangen wir
besser mit einigen Fruchtsäften, Joghurt und vielleicht etwas
gekochtem Reis an. Außerdem hat er mich gebeten, Ihnen zur
Bestätigung seiner Kraft und Geistesgegenwart auszurichten, als
Schwester Amparito ihm eine Wunde am Bein genäht habe, habe er eine
Erektion wie einen Eiszapfen bekommen.«
»Er ist halt ein sehr männlicher Mann«, sagte die Bernarda
entschuldigend.
»Wann können wir ihn sehen?« fragte ich.
»Jetzt besser nicht. Vielleicht morgen früh. Etwas Ruhe wird ihm
guttun, und gleich morgen möchte ich ihn ins Hospital del Mar
bringen, um ein Enzephalogramm zu machen, damit wir ruhig sind,
aber ich glaube, wir können sicher sein, daß Señor Romero de Torres
in ein paar Tagen wieder wie neugeboren ist. Nach den Malen und
Narben zu schließen, die er am ganzen Körper hat, hat dieser Mann
schon schlimmere Gefahren überstanden und ist ein regelrechtes
Stehaufmännchen. Wenn Sie eine Kopie des Gutachtens brauchen, um
auf dem Revier Anzeige zu erstatten …«
»Das wird nicht nötig sein«, unterbrach ich ihn.
»Junger Mann, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß das sehr schlimm
hätte enden können. Man muß unverzüglich die Polizei
benachrichtigen.«
Barceló beobachtete mich aufmerksam. Ich erwiderte seinen Blick,
und er nickte.
»Für solche Formalitäten ist noch Zeit, Doktor, machen Sie sich
keine Sorgen«, sagte Barceló. »Wichtig ist jetzt, sicher zu sein,
daß es dem Patienten gutgeht. Gleich morgen früh werde ich selbst
die entsprechende Anzeige erstatten. Auch die Behörden haben
Anrecht auf etwas Frieden und Nachtruhe.«
Ganz offensichtlich war der Arzt nicht mit meinem Vorschlag
einverstanden, den Zwischenfall vor der Polizei geheimzuhalten,
aber als er sah, daß Barceló die Verantwortung übernahm, zuckte er
die Schultern und ging ins Zimmer zurück, um mit der Behandlung
fortzufahren. Sowie er verschwunden war, bedeutete mir Barceló, ihm
in sein Arbeitszimmer zu folgen. Den Brandy im Kopf und den
Schrecken in den Knochen, seufzte die Bernarda auf ihrem
Hocker.
»Bernarda, vertreiben Sie sich die Zeit. Machen Sie ein wenig
Kaffee, sehr stark.«
»Jawohl, Señor. Sofort.«
Ich folgte Barceló in sein Arbeitszimmer, eine Höhle, die sich in
Pfeifentabakschwaden zwischen Säulen von Büchern und Papieren
abzeichnete. In unrhythmischen Wellen erreichten uns die Klänge von
Claras Flügel. Maestro Neris Stunden hatten offenbar nicht viel
gebracht, wenigstens nicht auf musikalischem Gebiet. Der
Buchhändler wies mir einen Stuhl an und begann seine Pfeife zu
stopfen.
»Ich habe deinen Vater angerufen und ihm gesagt, daß Fermín einen
kleinen Unfall hatte und du ihn hierhergebracht hättest.«
»Hat er es Ihnen abgenommen?«
»Ich glaube nicht.«
»Hm.«
Der Buchhändler zündete seine Pfeife an und lehnte sich im
Schreibtischsessel zurück, zufrieden mit seiner mephistophelischen
Erscheinung. Am andern Ende der Wohnung beleidigte Clara Debussy.
Barceló rollte die Augen.
»Was ist eigentlich aus dem Musiklehrer geworden?« fragte ich.
»Ich hab ihn geschaßt. Mißbrauch der Lehrstelle.«
»Hm.«
»Hat man dich tatsächlich nicht ebenfalls vermöbelt? Du bist
ziemlich einsilbig. Als Junge warst du gesprächiger.«
Die Tür ging auf, und herein kam die Bernarda mit zwei dampfenden
Tassen und einer Zuckerdose auf einem Tablett. Angesichts ihres
Gangs befürchtete ich, in einen Regen kochendheißen Kaffees zu
geraten.
»Mit Verlaub. Trinkt ihn der Señor mit einem Schuß Brandy?«
»Ich glaube, die Lepanto-Flasche hat heute nacht eine Pause
verdient, Bernarda. Und Sie auch. Los, gehen Sie schlafen. Daniel
und ich bleiben für alle Fälle wach. Und da Fermín in Ihrem
Schlafzimmer liegt, können Sie meines benutzen.«
»Oh, kommt nicht in Frage, Señor.«
»Das ist ein Befehl. Keine Widerrede. Ich will, daß Sie in fünf
Minuten schlafen.«
»Aber, Señor …«
»Bernarda, Sie setzen Ihre Weihnachtszulage aufs Spiel.«
»Wie Sie wünschen, Señor Barceló. Aber ich schlafe auf der Decke.
Das fehlte noch.«
Barceló wartete zeremoniös, bis sich die Bernarda zurückgezogen
hatte. Er nahm sich sieben Stück Zucker, rührte um und grinste
süffisant zwischen den Wolken holländischen Tabaks hindurch.
»Da siehst du, ich muß das Haus mit harter Hand führen.«
»Ja, Sie sind ein richtiges Scheusal, Don Gustavo.«
»Und du ein lästiger Kerl. Sag, Daniel, jetzt, wo uns niemand hört,
warum findest du es keine gute Idee, der Polizei den Vorfall zu
melden?«
»Weil man es dort schon weiß.«
»Du meinst …«
Ich nickte.
»In was für Schwierigkeiten steckst du eigentlich, wenn ich fragen
darf?«
Ich seufzte.
»Etwas, wobei ich helfen kann?«
Ich schaute auf. Barceló lächelte mir ohne Bosheit zu, die
ironische Fassade hatte Pause.
»Hat das Ganze vielleicht aus irgendeinem Grund mit diesem Buch von
Carax zu tun, das du mir nicht hast verkaufen wollen, als du es
hättest tun sollen?«
Er sah sogleich, daß er mich überrascht hatte.
»Ich könnte euch helfen. Ich habe mehr als genug von dem, was euch
fehlt: Zeit und gesunden Menschenverstand.«
»Glauben Sie mir, Don Gustavo, ich habe schon zu viele Leute in die
Geschichte mit hineingezogen.«
»Dann kommt es auf einen mehr oder weniger nicht mehr an. Los, ganz
unter uns. Mach dich mit dem Gedanken vertraut, daß ich dein
Beichtvater bin.«
»Ich beichte seit Jahren nicht mehr.«
»Das sieht man dir an.«
19
Das Kinn auf die wie zum Beten gefalteten Hände und die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, hörte mir Gustavo Barceló zu. Hin und wieder nickte er, als würde er im Verlauf meiner Erzählung Details und kleine Fehler entdecken und sich sein eigenes Urteil über die Ereignisse bilden, die ich ihm auf dem silbernen Tablett servierte. Immer wenn ich innehielt, zog er forschend die Brauen in die Höhe und bedeutete mir mit der rechten Hand, in meiner wirren Geschichte fortzufahren, die ihn außerordentlich zu amüsieren schien. Gelegentlich machte er sich kurze Notizen oder schaute ins Unendliche, als wollte er die Bedeutung dessen abschätzen, was ich da erzählte. Meistens lächelte er sardonisch, was ich sogleich meiner Naivität oder meinen plumpen Vermutungen zuschrieb.
»Hören Sie, wenn Sie das blöd finden, schweige ich.« »Im Gegenteil. Der Tor spricht, der Feige schweigt, der Weise hört zu.«
»Wer hat das gesagt? Seneca?«
»Nein. Señor Braulio Recolons, der in der Calle Aviñón eine
Schweinemetzgerei hat und nicht nur für die Wurst, sondern auch für
den geistreichen Aphorismus eine sprichwörtliche Gabe besitzt.
Erzähle bitte weiter. Du hast eben von diesem temperamentvollen
Mädchen gesprochen …«
»Bea. Das geht nur mich etwas an und hat nichts mit allem andern
zu tun.«
Barceló lachte leise. Ich wollte gerade die Schilderung meiner
Abenteuer fortsetzen, als Dr. Soldevila vor Müdigkeit stöhnend den
Kopf zur Tür hereinstreckte.
»Entschuldigen Sie. Ich verziehe mich jetzt. Dem Patienten geht es
gut, und er sprüht vor Energie, wenn die Metapher erlaubt ist.
Dieser Herr wird uns noch alle überleben. Er behauptet doch
tatsächlich, die Beruhigungsmittel seien ihm in den Kopf gestiegen
und er sei ganz nervös. Er weigert sich, sich auszuruhen, und will
unbedingt mit Señor Daniel über Dinge sprechen, deren Natur er mir
nicht enthüllen mag.«
»Wir gehen gleich zu ihm. Und entschuldigen Sie den armen
Fermín.«
»Schon gut. Aber er will einfach nicht aufhören, die
Krankenschwester in den Hintern zu kneifen und Reime über die
straffen Rundungen ihrer Schenkel zum besten zu geben.«
Wir geleiteten den Arzt und die Schwester zur Tür und dankten ihnen
herzlich für ihre guten Dienste. Als wir das Zimmer betraten, sahen
wir, daß sich die Bernarda entgegen Barcelós Befehlen nun doch
neben Fermín ins Bett gelegt hatte, wo der Schrecken, der Brandy
und die Erschöpfung sie endlich hatten einschlafen lassen.
Eingepackt in Binden, Verbände und Schlingen, hielt Fermín sie
sanft in den Armen und streichelte ihr übers Haar. Sein Gesicht war
eine einzige Quetschung – allein das Anschauen tat weh. Man sah die
kolossale Nase, zwei Tellerohren und Augen wie von einem
geschlagenen Mäuschen; das zahnlose Lächeln war von Wunden
verzerrt, aber triumphierend, und als er uns eintreten sah, machte
er mit der Rechten das Siegeszeichen.
»Wie geht es Ihnen, Fermín?« fragte ich.
»Zwanzig Jahre jünger.« Er sprach leise, um die Bernarda nicht zu
wecken.
Ȇbertreiben Sie mal nicht, Sie sehen miserabel aus. Da kriegt man
ja einen Schreck. Sind Sie sicher, daß es Ihnen gutgeht? Dreht sich
Ihnen nicht der Kopf? Hören Sie keine Stimmen?«
»Jetzt, wo Sie es sagen, kommt’s mir vor, als hätte ich ab und zu
ein dissonantes, arhythmisches Gebrummel gehört, als wollte ein
Affe Klavier spielen.«
Barceló runzelte die Stirn. In der Ferne klimperte Clara noch
immer.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Daniel. Ich habe schon schlimmere
Prügel weggesteckt. Dieser Fumero kann ja nicht mal eine Briefmarke
aufkleben.«
»Dann hat Ihnen also dieser Inspektor Fumero ein neues Gesicht
verpaßt«, sagte Barceló. »Sie beide bewegen sich ja in gehobenen
Kreisen.«
»Soweit war ich mit meiner Geschichte noch gar nicht gekommen«,
sagte ich.
Fermín warf mir einen alarmierten Blick zu.
»Kein Grund zur Beunruhigung, Fermín. Daniel ist dabei, mir diesen
Schwank zu schildern, in dem Sie beide stecken. Ich muß gestehen,
die Sache ist hochinteressant. Und Sie, Fermín, wie steht es mit
Ihren Beichten? Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich zwei Jahre
Priesterseminar auf dem Buckel habe.«
»Ich hätte Ihnen mindestens drei gegeben, Don Gustavo.«
»Alles verliert sich, als erstes die Scham. Da kommen Sie zum
ersten Mal in mein Haus und landen gleich bei der Haushälterin im
Bett.«
»Schauen Sie sie doch an, das arme Geschöpfchen, mein Engel. Sie
sollen wissen, daß meine Absichten ehrenwert sind, Don
Gustavo.«
»Ihre Absichten sind Ihre Angelegenheit und die der Bernarda, die
ja kein kleines Mädchen mehr ist. Und nun sagen Sie mal – in was
für Nesseln haben Sie sich da gesetzt?«
»Was haben Sie ihm erzählt, Daniel?«
»Wir sind bis zum zweiten Akt gekommen: Auftritt der Femme fatale«,
erklärte Barceló.
»Nuria Monfort?« fragte Fermín.
Barceló schnalzte genüßlich mit der Zunge.
»Gibt es denn mehr als eine? Das ist ja wie die Entführung aus dem
Serail.«
»Sprechen Sie in Anwesenheit meiner Verlobten bitte leiser.«
»Seien Sie unbesorgt, Ihre Verlobte hat eine halbe Flasche
Lepanto-Brandy in den Adern, die bekämen wir nicht mal mit
Kanonendonner wach. Los, sagen Sie Daniel schon, er soll mir den
Rest erzählen. Drei Köpfe denken besser als zwei, vor allem wenn
der dritte mir gehört.«
Es sah aus, als zuckte Fermín zwischen Verbänden und Schlingen die
Schultern.
»Ich habe nichts dagegen. Entscheiden Sie, Daniel.«
Da ich mich damit abgefunden hatte, Don Gustavo an Bord Zu haben,
setzte ich meine Erzählung fort bis zu dem Punkt, an dem uns Fumero
und seine Leute in der Calle Montcada erwischt hatten, ein paar
Stunden zuvor. Als ich fertig war, stand Barceló auf und ging
grübelnd im Zimmer auf und ab. Fermín und ich beobachteten ihn
besorgt. Die Bernarda sägte Bretter.
»Das süße Kindchen«, raunte Fermín verzückt.
»Mehreres fällt mir auf«, sagte der Buchhändler schließlich.
»Ganz offensichtlich steckt Inspektor Fumero bis über beide Ohren
in der Sache drin, wenn ich auch nicht weiß, wie und warum. Auf der
einen Seite gibt es da diese Frau …«
»Nuria Monfort.«
»Dann gibt es den Aspekt von Julián Carax’ Rückkehr nach Barcelona
und seiner Ermordung mitten auf der Straße nach einem Monat, in dem
niemand etwas von ihm weiß. Die junge Dame lügt sogar übers Wetter
das Blaue vom Himmel herunter.«
»Das sage ich ja schon von Anfang an«, sagte Fermín. »Aber eben, da
ist viel jugendliche Geilheit im Spiel und wenig Überblick.«
»Hört, hört – der heilige Johannes vom Kreuz.«
»Das reicht, keinen Streit bitte. Halten wir uns an die Tatsachen.
Bei dem, was mir Daniel erzählt hat, gibt es etwas, was mir sehr
merkwürdig erscheint, mehr noch als alles andere, und nicht weil
diese ganze Geschichte so nach Hintertreppenroman riecht, sondern
wegen eines wesentlichen, obwohl scheinbar banalen Details«, sagte
Barceló.
»Lassen Sie uns staunen, Don Gustavo.«
»Daß Carax’ Vater sich weigerte, Carax’ Leiche zu identifizieren,
mit der Begründung, er habe keinen Sohn. Sehr merkwürdig,
widernatürlich. Kein Vater auf der Welt tut so etwas. Auch wenn sie
sich nicht gut vertrugen. Sobald der Tod im Spiel ist, erwacht bei
allen die Gefühlsduselei. Angesichts eines Sarges sehen wir nur
noch das Gute oder das, was wir sehen wollen.«
»Was für ein Bonmot, Don Gustavo«, sagte Fermín. »Darf ich es in
meine Sammlung aufnehmen?«
»Es gibt immer Ausnahmen«, warf ich ein. »Nach dem, was wir wissen,
war Señor Fortuny ein wenig eigen.«
»Alles, was wir über ihn wissen, stammt aus dritter Hand«, sagte
Barceló. »Das einzige, was bei alledem wirklich klar ist, ist, daß
Sie meine logistische und wahrscheinlich auch finanzielle Hilfe
brauchen, wenn Sie dieses Durcheinander lösen wollen, bevor Ihnen
Inspektor Fumero eine Suite in der San-Sebastián-Strafanstalt
reserviert. Fermín, ich nehme an, Sie gehen einig mit mir?«
»Ich unterstehe Daniels Kommando. Wenn er es befiehlt, spiele ich
sogar das Jesuskind.«
»Daniel, was meinst du?«
»Das liegt ganz bei Ihnen. Was schlagen Sie denn vor, Don
Gustavo?«
»Mein Plan ist folgender: Sobald Fermín wieder auf dem Damm ist,
stattest du, Daniel, Señora Nuria Monfort wie zufällig einen Besuch
ab und legst die Karten auf den Tisch. Du gibst ihr zu verstehen,
daß du weißt, daß sie dich angelogen hat und etwas vor dir verbirgt
– viel oder wenig, das werden wir ja dann sehen.«
»Wozu?« fragte ich.
»Um zu sehen, wie sie reagiert. Natürlich wird sie dir nichts
sagen. Oder sie wird dich erneut belügen. Entscheidend ist, die
Banderilla hineinzustoßen, um sie zu reizen, wenn ich einen
Vergleich aus dem Stierkampf brauchen darf, und dann zu sehen,
wohin uns der Stier beziehungsweise das Kälbchen führt. Nun treten
Sie auf den Plan, Fermín. Während Daniel der Katze die Schelle
umhängt, beziehen Sie diskret Posten, um die Verdächtige zu
überwachen, und warten, bis sie anbeißt. Und sobald sie das tut,
folgen Sie ihr.«
»Sie nehmen also an, sie wird irgendwohin gehen«, wandte ich
ein.
»Sie wird. Früher oder später, und irgend etwas sagt mir, daß es
eher früher als später sein wird. Das ist die Grundlage der
weiblichen Psychologie.«
»Und was gedenken Sie inzwischen zu tun, Dr. Freud?« fragte
ich.
»Das ist allein meine Sache, und zu gegebener Zeit wirst du es
erfahren. Und wirst mir dankbar sein dafür.«
Ich suchte Hilfe in Fermíns Blick, doch er war bei Barcelós letzten
Sätzen mit der Bernarda im Arm eingeschlafen. Sein Kopf war nach
links gefallen, und aus einem seligen Lächeln rann ihm der Speichel
auf die Brust. Die Bernarda gab tiefe, hohle Schnarcher von
sich.
»Hoffentlich ist der gut für sie«, murmelte Barceló.
»Fermín ist ein großartiger Kerl«, beteuerte ich.
»Muß er wohl – mit seinem hübschen Gesicht allein wird er sie kaum
erobert haben. Kommen Sie, gehen wir.«
Wir machten das Licht aus, gingen leise aus dem Zimmer und
schlossen die Tür, um die beiden Turteltauben ihrer Benommenheit zu
überlassen. Ich glaubte, in den Fenstern der Galerie hinten im
Korridor den ersten Morgenglanz zu sehen.
»Nehmen wir mal an, ich sage Ihnen nein«, sagte ich leise, »ich
sage, Sie sollen alles vergessen?«
Barceló lächelte.
»Da kommst du zu spät, Daniel. Du hättest mir dieses Buch schon vor
Jahren verkaufen sollen, als du noch die Chance dazu hattest.«
Den absurden geliehenen Anzug und die endlose Nacht durch feuchte,
vom Morgengrauen rötlich glänzende Straßen schleppend, machte ich
mich auf den Heimweg. Mein Vater schlief in seinem Sessel im
Eßzimmer, eine Decke auf den Beinen und sein Lieblingsbuch
aufgeschlagen in den Händen, Voltaires Candide, den er jedes
Jahr zweimal wiederlas, die zwei Male, die ich ihn von Herzen
lachen hörte. Ich betrachtete ihn schweigend. Sein schütteres Haar
war weiß, und um die Wangenknochen herum verlor seine Gesichtshaut
allmählich an Straffheit. Ich schaute diesen Mann an, den ich mir
einmal kräftig, fast unbesiegbar vorgestellt hatte, und sah, daß er
zerbrechlich und besiegt war, ohne es zu wissen. Vielleicht waren
wir beide besiegt. Ich beugte mich über ihn, um ihn mit dieser
Decke zuzudecken, die er schon seit Jahren der Wohlfahrt schenken
wollte, und küßte ihn auf die Stirn.
20
Fast den ganzen Vormittag gab ich mich im Hinterraum meinen Wachträumen hin und beschwor Bilder von Bea herauf. Immer wieder schaute ich auf die Uhr und stellte ohnmächtig fest, daß es noch mehrere Stunden dauerte, bis ich sie erneut sehen und berühren durfte. Ohne viel Erfolg versuchte ich, die Quittungen des Monats zu ordnen.
»Daniel, du bist geistesabwesend. Macht dir etwas Sorgen? Ist es wegen Fermín?« fragte mein Vater.
Beschämt nickte ich. Erst vor wenigen Stunden hatte mein bester Freund mehrere Rippen eingebüßt, um meine Haut zu retten, und meine Gedanken kreisten ausschließlich um ein Mädchen.
»Wenn man vom Teufel spricht …«
Ich schaute auf, und da war er. Fermín Romero de Torres, wie er leibte und lebte. In seinem besten Anzug, eine frische Nelke im Knopfloch und krumm wie eine Brissago, trat er strahlend zur Tür herein.
»Was machen Sie denn hier, Sie Unglücklicher? Sollten Sie nicht
das Bett hüten?«
»Das hütet sich von allein. Ich bin ein Mann der Tat.
Und wenn ich nicht hier bin, verkaufen Sie beide keinen müden
Katechismus.«
Sein Gesicht war gelblich und von blauen Flecken übersät, er hinkte
stark und bewegte sich insgesamt wie eine defekte Gliederpuppe.
»Sie legen sich sogleich wieder ins Bett, Fermín, um Himmels
willen«, sagte mein Vater erschrocken.
»Davon kann keine Rede sein. Die Statistiken beweisen, daß im Bett
mehr Leute sterben als im Schützengraben.« Fermíns Blick zeigte,
daß ihm zwar die Knochen bis in die Seele hinein weh taten, daß ihn
aber die Aussicht, allein in seinem Pensionszimmer zu liegen, noch
viel mehr schmerzte.
»Also gut, aber wenn ich Sie etwas heben sehe, was kein Bleistift ist, können Sie was erleben.«
»Zu Befehl. Sie haben mein Wort, daß ich heute nichts hebe außer
der Moral.«
Und kurzerhand schlüpfte er in seinen blauen Kittel und richtete
sich mit einem Lappen und einer Flasche Alkohol hinter dem
Ladentisch ein, um Einbanddeckel und Rücken der fünfzehn an diesem
Vormittag eingetroffenen antiquarischen Exemplare eines gesuchten
Titels auf Hochglanz zu bringen, Der Dreispitz: Geschichte der
Guardia, civil in Alexandrinern von Fulgencio Capón, einem
blutjungen, von der Kritik des ganzen Landes hochgelobten Autor. Ab
und zu warf er flüchtige Blicke auf mich und blinzelte mir zu.
»Ihre Ohren sind ja rot wie Pfefferschoten, Daniel.«
»Wahrscheinlich vom Anhören Ihres Geschwätzes.«
»Oder von der Geilheit, die Sie beherrscht. Wann treffen Sie denn
die junge Dame?«
»Scheren Sie sich zum Teufel.«
Es dämmerte bereits, als ich am Fuß der Avenida del Tibidabo aus dem U-Bahnhof trat. Zwischen blassen Nebelschwaden sah ich die Blaue Straßenbahn davonfahren. Ich beschloß, nicht zu warten, bis sie zurückkam, und marschierte los. Nach kurzer Zeit erkannte ich die Nebelburg. Ich zog den Schlüssel, den mir Bea gegeben hatte, aus der Tasche und schloß das ins Gittertor eingefügte Türchen auf, hinterließ es aber so, daß Bea ohne Schwierigkeiten hereinkonnte. Ich war absichtlich zu früh. Ich wußte, daß sie erst in einer halben oder einer dreiviertel Stunde einträfe. Ich wollte das Haus allein spüren und auskundschaften, bevor Bea es sich zu eigen machte. So blieb ich einen Augenblick stehen, um den Brunnen und die aus dem Wasser ragende Hand des Engels zu betrachten. Der anklagende Zeigefinger stach dolchartig hervor. Ich näherte mich dem Rand des Bassins. Das blick- und seelenlose Gesicht zitterte unter der Oberfläche.
Ich stieg die Eingangstreppe hinauf. Die große Tür stand einige Zentimeter offen. Ich fühlte einen beunruhigenden Stich, denn ich glaubte sie neulich abends beim Gehen geschlossen zu haben. Ich untersuchte das Schloß, das offensichtlich nicht aufgebrochen worden war, und vermutete, ich hätte sie doch zu schließen vergessen. Sacht stieß ich die Tür auf und spürte, wie mir der Hauch des Hauses übers Gesicht strich, ein Dunst nach verbranntem Holz, Feuchtigkeit und verwelkten Blumen. Ich zog die Streichholzschachtel aus der Tasche, die ich vor dem Verlassen der Buchhandlung eingesteckt hatte, und kniete nieder, um die erste der von Bea zurückgelassenen Kerzen anzuzünden. Eine gelbliche Blase entzündete sich unter meinen Händen und enthüllte die tanzenden Umrisse von feuchten Mauern, eingefallenen Decken und aus den Fugen gegangenen Türen.
Dann ging ich zur nächsten Kerze und zündete sie an. Langsam, wie in einem Ritual folgte Kerze um Kerze, so daß ein bernsteinfarbener Lichtschein in der Dunkelheit schwebte. Mein Weg endete neben dem Kamin der Bibliothek bei den Decken, die aschenbefleckt noch auf dem Boden lagen. Dort setzte ich mich hin, den großen Raum im Auge. Ich hatte Stille erwartet, doch das Haus offenbarte unzählige Geräusche. Knackendes Holz, der Wind in den Dachziegeln, tausendfaches Wispern zwischen den Mauern, unter dem Fußboden, sich hinter den Wänden bewegend.
Nach einer knappen halben Stunde merkte ich, daß mich das Halbdunkel einzuschläfern drohte. Ich stand auf und begann im Raum auf und ab zu gehen, damit mir warm würde. Im Kamin lagen nur noch die Reste eines Scheits, und ich machte mich auf die Suche nach etwas Brennbarem, um den Raum mit den beiden Decken wohnlicher zu gestalten, die jetzt vor dem Kamin zitterten, als hätten sie nichts mit den warmen Erinnerungen zu tun, die ich von ihnen bewahrte.
Meine Vorstellungen von viktorianischer Literatur legten mir nahe, die Suche vernünftigerweise im Keller zu beginnen, wo einmal die Küchen und ein großer Kohlenkeller gelegen haben mußten. Mit dieser Idee suchte ich etwa fünf Minuten nach einer in die Tiefe führenden Tür oder Treppe. Ich wählte eine große Holztür am Ende eines Korridors. Sie sah aus wie ein erlesenes Stück Tischlerarbeit mit Engelreliefs und einem großen Kreuz in der Mitte. Das Schloß befand sich genau unter diesem Kreuz. Erfolglos versuchte ich die Tür zu öffnen. Wahrscheinlich klemmte der Mechanismus oder war schlicht verrostet. Die einzige Lösung hätte darin bestanden, sie mit einem Hebel aufzubrechen oder mit der Axt einzuschlagen, was ich beides rasch verwarf. Ich untersuchte sie im Kerzenlicht und dachte, sie erinnere eher an einen Sarg als an eine Tür. Ich fragte mich, was sich auf der andern Seite verbergen mochte.
Schon wollte ich meine Suche nach einem Zugang zum Keller aufgeben, als ich am andern Ende des Gangs mehr oder weniger zufällig auf eine kleine Tür stieß, die ich zunächst für die einer Besenkammer hielt. Ich drehte versuchsweise am Griff, und er gab sogleich nach. Auf der andern Seite konnte man eine Treppe erahnen, die beinahe senkrecht in ein dunkles Loch hinabführte. Ein intensiver Geruch nach modriger Erde schlug mir entgegen. Als ich so in die Schwärze vor mir hinunterblickte, kam mir angesichts dieses seltsam vertrauten Geruchs schlagartig ein Bild in den Sinn, das ich seit meiner Kindheit halb unter der Angst begraben mit mir herumtrug.
Ein Regennachmittag am Osthang des Montjuïc-Friedhofs, der Blick aufs Meer zwischen einem Wald unglaublicher Mausoleen hindurch, einem Wald von Kreuzen und gemeißelten Grabtafeln mit Gesichtern von Schädeln und Kindern ohne Lippen und Blick, ein Gestank nach Tod, die Gestalten von etwa zwanzig Erwachsenen, an die ich mich nur als schwarze, regennasse Anzüge erinnern kann, und die Hand meines Vaters, die meine zu fest drückt, als wollte er so seine Tränen ersticken, während die leeren Worte eines Priesters in dieses Marmorgrab fallen, in das drei gesichtslose Totengräber einen grauen Sarg hinunterstoßen, von dem der Platzregen wie geschmolzenes Wachs abfließt und in welchem ich die Stimme meiner Mutter zu hören meine, die mich ruft, die mich anfleht, sie aus diesem steinernen Gefängnis zu befreien, während ich nur zittern kann und meinem Vater mit schwacher Stimme zuflüstere, er solle meine Hand nicht so drücken, er tue mir weh, und dieser Geruch nach frischer Erde, Aschen- und Regenerde, verschluckt alles, Geruch nach Tod und Leere.
Ich öffnete die Augen wieder und stieg sozusagen im Dunkeln die Stufen hinunter, denn das Kerzenlicht vermochte der Schwärze nur wenige Zentimeter abzutrotzen. Unten angekommen, hielt ich die Kerze in die Höhe und schaute mich um. Ich entdeckte weder eine Küche noch eine Kammer mit trockenem Brennholz. Vor mir tat sich ein schmaler Gang auf, der in einen halbkreisförmigen Raum mündete, in dem eine Gestalt aufragte. Ihr Gesicht war von blutigen Tränen überströmt, die beiden schwarzen Augen waren leere Höhlen, die Arme wie Flügel ausgebreitet, und aus den Schläfen wuchs ihr eine Dornenschlange. Eine eisige Welle packte mich im Nacken. Plötzlich faßte ich mich wieder und begriff, daß ich eine holzgeschnitzte Christusfigur an der Wand einer Kapelle betrachtete. Ich tat einige weitere Schritte und sah ein gespenstisches Bild. In einer Ecke der ehemaligen Kapelle stapelten sich mitsamt ihren Ständern ein Dutzend nackte weibliche Oberkörper ohne Arme und Kopf. Jeder von ihnen hatte eindeutig andere Formen, und unschwer erkannte man die Umrisse von Frauen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Konstitution. Auf dem Bauch standen in Kohleschrift einzelne Namen: lsabel; Eugenia; Penélope. Diesmal halfen mir die viktorianischen Bücher, die ich gelesen hatte: Es handelte sich um ein Echo aus Zeiten, in denen die einzelnen Mitglieder reicher Familien über maßgeschneiderte Puppen zur Anfertigung von Kleidern und Aussteuern verfügten. Trotz des strengen, ja drohenden Blicks des Gekreuzigten konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, die Hand auszustrecken und die Puppe mit dem Namen Penélope Aldaya zu berühren.
Da glaubte ich im oberen Stock Schritte zu hören. Ich dachte, Bea sei gekommen und suche mich im ganzen Haus. Erleichtert verließ ich die Kapelle und ging wieder auf die Treppe zu. Ich wollte eben hinaufsteigen, als ich am andern Ende des Gangs einen Kessel und eine Heizanlage in einem offensichtlich guten Zustand erkannte, der nicht zum Rest des Kellers passen wollte. Ich erinnerte mich an Beas Worte, wonach die Immobiliengesellschaft, die jahrelang das Aldaya-Haus zu verkaufen versuchte, einige Ausbesserungsarbeiten durchgeführt hatte, um potentielle Käufer anzulocken, allerdings ohne Erfolg. Ich trat näher, um die Vorrichtung eingehender zu untersuchen, und stellte fest, daß es ein von einem kleinen Kessel gespeistes Radiatorsystem war. Zu meinen Füßen sah ich mehrere Eimer mit Kohle, Preßholz und einige Blechkanister, in denen ich Kerosin vermutete. Ich öffnete das Türchen des Kessels und schaute hinein. Alles schien in Ordnung. Diesen Apparat nach so vielen Jahren wieder zum Funktionieren zu bringen kam mir als hoffnungsloses Unterfangen vor, was mich aber nicht daran hinderte, den Kessel mit Kohlen- und Holzstücken zu füllen und das Ganze ordentlich mit Kerosin zu besprengen. Dabei glaubte ich ein Knarren von altem Holz zu hören und wandte mich kurz um. Wieder sprangen mir die blutigen, aus dem Kreuz ragenden Dornen ins Auge, und vor diesem Halbdunkel fürchtete ich, wenige Schritte entfernt die Gestalt Christi auftauchen und mit wölfischem Grinsen auf mich zukommen zu sehen.
Als ich die Kerze in den Kessel hielt, loderte er mit metallischem Getöse auf. Ich schloß das Türchen und trat einige Schritte zurück. Der Kessel schien nur schwer zu ziehen, und ich beschloß, wieder hinaufzugehen, um zu sehen, ob es warm wurde. Als ich in den großen Salon zurückkam, erwartete ich Bea zu sehen, fand aber keine Spur von ihr. Ich vermutete, seit meinem Eintreffen sei schon fast eine Stunde vergangen, und meine Befürchtungen, sie werde nie erscheinen, verstärkten sich. Um die Unruhe zu bekämpfen, machte ich mich auf die Suche nach Heizkörpern, die mir zeigen sollten, ob meine Heizbemühungen erfolgreich waren. Alle Radiatoren, die ich fand, waren kalt wie Eiszapfen. Alle außer einem. In einem kleinen Raum von höchstens vier oder fünf Quadratmetern, einem vermutlich genau über dem Kessel gelegenen Badezimmer, war ein wenig geheizt. Ich kniete nieder und stellte freudig fest, daß die Bodenfliesen lauwarm waren. So fand mich Bea, auf dem Boden hockend, wie ein Dummkopf die Fliesen eines Badezimmers abtastend.
Ich brauchte nur zwei Minuten, um sie zu überzeugen, daß wir die Decken aus dem Salon holen und uns mit nichts als zwei Kerzen und einigen museumsreifen Wandleuchten in diesem winzigen Raum einschließen sollten. Mein Hauptargument, die Kälte, beeindruckte sie schnell, und angesichts der warmen Fliesen vergaß sie ihre Angst, meine verrückte Erfindung könnte das Haus in Brand stecken. Während ich sie im Kerzenlicht mit zitternden Fingern auszog, suchte sie lächelnd meine Augen und zeigte mir, daß ihr alles, was immer mir einfiel, schon vorher eingefallen war.
Ich erinnere mich, wie sie dasaß, an die geschlossene Tür gelehnt, erinnere mich an ihr herausfordernd erhobenes Gesicht, während ich mit den Fingerspitzen ihren Hals streichelte. Ich erinnere mich, wie sie meine Hände ergriff und sich auf die Brüste legte, wie mich ihre weißen Schenkel empfingen.
»Hast du so etwas schon einmal erlebt, Daniel?« »Im Traum.«
»Und richtig?«
»Nein. Und du?«
»Nein. Auch nicht mit Clara Barceló?«
»Was weißt du denn von Clara Barceló?«
»Nichts.«
»Ich noch weniger.«
»Das glaube ich nicht.«
Ich beugte mich über sie und schaute ihr in die Augen. »Ich habe
das noch nie mit jemandem gemacht.«
Bea lächelte. Meine Hand glitt zwischen ihre Schenkel, und ich stürzte mich auf ihre Lippen.
»Daniel?« sagte Bea beinahe unhörbar.
»Was?«
Plötzlich pfiff ein kalter Luftzug unter der Tür hindurch, und in
dieser unendlichen Sekunde, bevor der Wind die Kerzen ausblies,
trafen sich unsere Blicke, und wir spürten, wie sich die Erwartung
dieses Moments zerschlug. Wir wußten, daß sich jemand auf der
andern Seite der Tür befand. Ich sah die Angst auf Beas Gesicht,
und plötzlich hüllte uns Dunkelheit ein. Dann kam der Schlag an die
Tür, als hätte eine stählerne Faust mit voller Wucht dagegen
gehämmert.
Ich spürte, wie Bea in der Dunkelheit aufsprang, und nahm sie in die Arme. Wir wichen ans andere Ende des Raums zurück, gerade noch bevor der zweite Schlag die Tür traf und sie mit unglaublicher Gewalt an die Wand schleuderte. Bea schrie auf und barg ihren Kopf an mir. Einen Moment lang konnte ich nur die aus dem Korridor fließende blaue Dunkelheit und den spiralförmig aufsteigenden Rauch der erloschenen Kerzen sehen.
Ich spähte in den Korridor hinaus, in der Befürchtung –
vielleicht auch im Wunsch –, daß da nur ein Fremder wäre, ein
Vagabund, der sich in ein halbzerfallenes Haus hineingewagt hatte,
um in unfreundlicher Nacht eine Zuflucht zu haben. Doch da war
niemand, und ich sah bloß den bläulichen Schein der Fenster. Bea
kauerte in einem Winkel des Bades und flüsterte zitternd meinen
Namen.
»Da ist niemand«, sagte ich. »Vielleicht war’s nur ein
Windstoß.«
»Der Wind hämmert nicht mit der Faust an Türen, Daniel. Laß uns
gehen.«
Ich hob unsere Kleider auf.
»Da, zieh dich an. Wir wollen mal einen Blick riskieren.«
»Wir gehen besser gleich.«
»Sofort. Ich möchte nur eines herausfinden.«
Schnell zogen wir uns im Dunkeln an. Ich nahm eine der Kerzen vom
Boden auf und zündete sie wieder an. Ein kalter Luftzug wehte
durchs Haus, als hätte jemand Türen und Fenster geöffnet.
»Siehst du? Es ist der Wind.«
Bea schüttelte nur den Kopf. Die Flamme mit der Hand schirmend,
gingen wir in den großen Saal zurück. Bea blieb dicht hinter mir,
fast ohne zu atmen.
»Was suchen wir denn, Daniel?«
»Es dauert bloß eine Minute.«
»Nein, laß uns endlich gehen.«
»Also gut.«
Wir kehrten zum Eingang zurück, da sah ich es. Die Holztür am Ende
eines Gangs, die ich eine oder zwei Stunden zuvor vergeblich zu
öffnen versucht hatte, war angelehnt.
»Was ist?« fragte Bea.
»Warte hier auf mich.«
»Daniel, bitte …«
Mit der Kerze, die im kalten Windzug flackerte, ging ich in den
Korridor hinein. Bea seufzte und folgte mir widerwillig. Vor der
Tür blieb ich stehen. Man konnte marmorne Stufen erahnen, die in
die Schwärze hinunterführten. Ich trat auf die Treppe. Bea blieb
mit der Kerze auf der Schwelle stehen.
»Bitte, Daniel, laß uns endlich gehen …«
Stufe um Stufe stieg ich die Treppe hinunter. Der geisterhafte Schein der Kerze in der Höhe ließ den Umriß eines rechteckigen Raums mit ungetünchten Steinwänden voller Kruzifixe erkennen. Die klamme Kälte in diesem Raum verschlug einem den Atem. Vor mir zeichnete sich eine Marmorplatte ab, und darauf sah ich nebeneinander zwei gleiche, aber verschieden große weiße Gegenstände, in denen sich die flackernde Kerzenflamme stärker als sonst im Raum reflektierte. Nach einem weiteren Schritt begriff ich: Es handelte sich um zwei weiße Särge. Der eine war kaum drei Spannen breit. Die Nackenhaare sträubten sich mir. Es war ein Kindersarg, und ich befand mich in einer Krypta.
Ich trat so nahe an die Marmorplatte heran, daß ich den Arm ausstrecken und sie berühren konnte. Nun sah ich, daß auf beiden Särgen ein Name und ein Kreuz eingraviert waren. Eine dicke Staubschicht lag darüber. Ich legte die Hand auf den größeren und wischte ganz langsam, fast in Trance, den Staub vom Sargdeckel. Im Kerzenschimmer konnte ich knapp entziffern:
PENÉLOPE ALDAYA 1902-1919 Ich war wie gelähmt. In der Dunkelheit kam etwas oder jemand näher. Ich spürte die kalte Luft über meine Haut streichen, und erst jetzt wich ich ein paar Schritte zurück.
»Raus hier«, murmelte die Stimme aus dem Dunkel. Ich erkannte sie sogleich. Laín Coubert. Die Stimme des Teufels.
Ich stürzte die Treppe hinauf, und sowie ich wieder im Erdgeschoß war, packte ich Bea am Arm und zog sie hastig Richtung Ausgang. Wir hatten die Kerze verloren und rannten blind. Ich dachte, jeden Augenblick könnte etwas aus dem Schatten springen und uns den Weg versperren, doch am Ende des Gangs erwartete uns die Eingangstür, deren Ritzen ein Rechteck aus Licht zeichneten.
»Sie ist zu«, flüsterte Bea.
Ich tastete meine Taschen nach dem Schlüssel ab. Für einen Sekundenbruchteil schaute ich zurück und war sicher, daß zwei glänzende Punkte hinten im Gang langsam auf uns zukamen. Augen. Meine Finger fanden den Schlüssel. Verzweifelt steckte ich ihn ins Schlüsselloch, öffnete und stieß Bea heftig hinaus. Da sie merkte, wie erschrocken ich war, eilte sie durch den Garten aufs Gattertor zu und blieb erst stehen, als wir atemlos und mit kaltem Schweiß bedeckt auf dem Gehsteig der Avenida del Tibidabo standen.
»Was war da unten los, Daniel? War da jemand?« »Nein.«
»Du bist bleich.«
»Ich bin immer bleich. Komm, gehen wir.«
»Und der Schlüssel?«
Den hatte ich im Schloß steckenlassen. Mir war nicht danach, ihn
jetzt zu holen.
»Ich glaube, ich habe ihn beim Hinausgehen verloren. Wir werden ihn
ein andermal suchen.«
Wir eilten die Straße hinunter, wechselten die Seite und verlangsamten unsere Schritte erst, als wir gut hundert Meter von dem alten Haus entfernt waren und seine Umrisse in der Nacht aus den Augen verloren. Da sah ich, daß meine Hand noch immer voller Staub war, und dankte es der nächtlichen Dunkelheit, daß sie die Tränen, die mir über die Wangen kullerten, vor Bea versteckte.
Wir gingen die Calle Balmes hinunter bis zur Plaza Núñez de Arce, wo wir ein einsames Taxi fanden. Darin fuhren wir fast wortlos bis zur Calle Consejo de Ciento. Bea nahm meine Hand, und ein paar Mal sah ich, wie sie mich mit starrem, undurchdringlichem Blick musterte. Ich beugte mich über sie, um sie zu küssen, doch sie öffnete die Lippen nicht.
»Wann werde ich dich wiedersehen?«
»Ich ruf dich morgen oder übermorgen an«, sagte sie.
»Versprochen?«
Sie nickte.
»Du kannst mich zu Hause oder im Laden anrufen, es ist dieselbe
Nummer. Du hast sie doch, nicht wahr?«
Sie nickte abermals. Ich bat den Fahrer, an der Ecke Muntaner/Diputación einen Augenblick anzuhalten, und erbot mich, Bea zu ihrer Haustür zu begleiten, doch sie schlug es aus und ging davon, ohne daß ich sie noch einmal küssen oder auch nur ihre Hand berühren konnte. Sie begann zu laufen, und ich schaute ihr aus dem Taxi nach. In der Aguilar-Wohnung brannte Licht, und ich konnte deutlich sehen, wie mich Tomás vom Fenster seines Zimmers aus beobachtete, in dem wir so manchen Nachmittag verplaudert oder Schach gespielt hatten. Mit einem gezwungenen Lächeln, das er wahrscheinlich nicht sehen konnte, winkte ich ihm zu. Er erwiderte den Gruß nicht. Seine Gestalt blieb reglos, dicht an der Scheibe, und betrachtete mich frostig. Ein paar Sekunden später zog er sich zurück, und die Fenster wurden dunkel. Er hatte wohl auf uns gewartet.
21
Als ich nach Hause kam, standen die Reste eines Abendessens für zwei Personen auf dem Tisch. Mein Vater hatte sich schon zurückgezogen, und ich fragte mich, ob er sich am Ende dazu durchgerungen hatte, die Merceditas zum Essen einzuladen. Ohne das Licht anzumachen, trat ich in mein Zimmer. Als ich mich auf die Bettkante setzte, bemerkte ich, daß noch jemand im Raum war beziehungsweise mit auf der Brust gefalteten Händen totengleich im Halbdunkeln auf dem Bett lag. Wie einen Peitschenhieb spürte ich die Kälte im Magen, aber dann erkannte ich rasch das Schnarchen und das Profil einer unvergleichlichen Nase. Ich knipste die Nachttischlampe an und sah Fermín Romero de Torres, der auf der Bettdecke ein behagliches Seufzen von sich gab. Ich räusperte mich, und er öffnete die Augen. Als er mich erblickte, schien er sich zu wundern. Offensichtlich erwartete er eine andere Gesellschaft. Er rieb sich die Augen und schaute sich um, als wollte er sich über die Umstände nähere Klarheit verschaffen.
»Hoffentlich habe ich Sie nicht erschreckt. Die Bernarda sagt, im Schlaf sehe ich aus wie ein spanischer Boris Karloff.«
»Was machen Sie denn in meinem Bett, Fermín?« Er schloß halb die
Augen.
»Von Carole Lombard träumen. Wir waren in Tanger in einem
türkischen Bad, und ich habe sie vollkommen mit Öl eingerieben, mit
diesem Öl, das man für Babypos braucht. Haben Sie je eine Frau mit
Öl eingeschmiert, von oben bis unten – bewußt?«
»Fermín, es ist halb eins, und ich bin zum Umfallen müde.«
»Entschuldigen Sie, Daniel. Ihr Herr Vater hat mich halt
eingeladen, zum Abendessen raufzukommen, und dann bin ich so
schläfrig geworden, weil Rindfleisch auf mich regelrecht
narkotisierend wirkt. Ihr Vater hat mir vorgeschlagen, mich eine
Weile hier hinzulegen, und gesagt, es würde Ihnen nichts ausmachen
…«
»Es macht mir auch nichts aus, ich war nur sehr überrascht. Bleiben Sie hier im Bett, und kehren Sie zu Carole Lombard zurück, bestimmt erwartet sie Sie. Und schlüpfen Sie richtig unter die Decke, es ist ein Hundewetter, sonst lesen Sie noch was auf. Ich gehe ins Eßzimmer.«
Fermín nickte gefügig. Die Quetschungen in seinem Gesicht entzündeten sich immer mehr, und sein Kopf sah mit dem Zweitagebart und dem schütteren Haar aus wie eine Kokosnuß. Ich nahm eine Decke aus der Kommode und gab auch Fermín eine. Dann knipste ich das Licht aus und ging ins Eßzimmer, wo meines Vaters Lieblingssessel auf mich wartete. Ich hüllte mich in die Decke ein und kuschelte mich so gut wie möglich in den Sessel, fest davon überzeugt, daß ich kein Auge schließen würde. Der Anblick der beiden weißen Särge im Dunkeln schmerzte in meinem Kopf. Ich schloß die Augen und konzentrierte mich ganz darauf, dieses Bild zu verdrängen. Dafür beschwor ich das Bild der nackten Bea auf den Decken in jenem Badezimmer bei Kerzenlicht herauf. Diesen glücklichen Bildern hingegeben, glaubte ich in der Ferne das Meer murmeln zu hören und fragte mich, ob mich der Schlaf übermannt hatte, ohne daß ich es gemerkt hatte. Vielleicht war ich mit dem Schiff unterwegs nach Tanger. Aber gleich darauf wurde mir klar, daß es nur Fermíns Schnarchen war, und einen Augenblick später erlosch die Welt. Nie in meinem ganzen Leben habe ich besser und tiefer geschlafen als in jener Nacht.
Bei Tagesanbruch goß es wie aus Kübeln, die Straßen waren überschwemmt, und der Regen trommelte wütend an die Fenster. Um halb acht klingelte das Telefon. Mit bis zum Hals schlagendem Herzen sprang ich aus dem Sessel, um abzuheben. Fermín, in Schlafrock und Pantoffeln, und mein Vater, die Kaffeekanne in der Hand, wechselten einen dieser Blicke, die allmählich zur Gewohnheit wurden.
»Bea?« flüsterte ich mit dem Rücken zu den andern in den
Hörer.
Ich glaubte einen Seufzer in der Leitung zu vernehmen.
»Bea, bist du es?«
Ich bekam keine Antwort, und einige Sekunden später wurde
eingehängt. Eine ganze Minute lang beobachtete ich das Telefon in
der Hoffnung, es würde noch einmal klingeln.
»Man wird schon wieder anrufen, Daniel. Und jetzt komm
frühstücken«, sagte mein Vater.
Sie wird später noch einmal anrufen, sagte ich mir. Jemand muß sie
überrascht haben. Es war wohl nicht leicht, sich über Señor
Aguilars Ausgangssperre hinwegzusetzen. Kein Grund zur Panik also.
Mit diesem und andern Argumenten schleppte ich mich zum Tisch, wo
ich so tat, als leistete ich meinem Vater und Fermín bei ihrem
Frühstück Gesellschaft. Vielleicht war es der Regen, aber das Essen
hatte jeden Geschmack verloren.
Es schüttete den ganzen Vormittag, und kurz nach dem Öffnen der
Buchhandlung suchte uns ein allgemeiner, bis zum Mittag andauernder
Stromausfall im ganzen Viertel heim.
»Das hat uns gerade noch gefehlt«, seufzte mein Vater.
Um drei begann das Wasser durchzusickern. Fermín erbot sich, zur
Merceditas hinaufzugehen, um ein paar Eimer, Teller oder sonst
geeignete Gefäße zu borgen. Mein Vater untersagte es ihm strikt.
Die Sintflut hielt an. Um gegen die Beklemmung anzukämpfen,
erzählte ich Fermín die Ereignisse der letzten Nacht, behielt aber
für mich, was ich in der Krypta gesehen hatte. Er hörte mir
fasziniert zu, aber trotz seines ungeheuren Drängens weigerte ich
mich, ihm Form und Textur von Beas Busen zu beschreiben. Der Tag
löste sich im Regen auf.
Unter dem Vorwand, mir ein wenig die Beine zu vertreten, überließ
ich meinen Vater nach dem Abendessen seiner Lektüre und ging zu
Beas Haus. Dort angekommen, blieb ich an der Ecke stehen, schaute
zu den Fenstern ihrer Wohnung hinauf und fragte mich, was ich hier
eigentlich tat. Spionieren, schnüffeln und mich lächerlich machen –
das ging mir so etwa durch den Kopf. Aber mit wenig Würde und noch
weniger der eisigen Temperatur angemessener Kleidung stellte ich
mich auf der andern Straßenseite in einen Hauseingang, um mich vor
dem Wind zu schützen, und harrte dort etwa eine halbe Stunde aus.
In den Fenstern sah ich die Schatten von Señor Aguilar und seiner
Frau vorbeigehen. Von Bea keine Spur.
Es war beinahe Mitternacht, als ich heimkehrte, schlotternd und die
ganze Welt auf dem Buckel. Sie wird morgen anrufen, wiederholte ich
mir tausendmal, während ich einzuschlafen versuchte. Am nächsten
Tag rief sie nicht an. Am darauffolgenden ebensowenig. Die ganze
Woche nicht, die längste und letzte meines Lebens.
In sieben Tagen würde ich tot sein.
22
Nur jemand, der noch knapp eine Woche zu leben hat, ist fähig, seine Zeit so zu verschwenden, wie ich es in diesen Tagen tat. Ich lauerte auf einen Anruf und zerquälte mir die Seele, so gefangen in meiner Blindheit, daß ich kaum ahnen konnte, was im Grunde schon eine Selbstverständlichkeit war. Am Montag mittag ging ich in die Philosophische Fakultät auf der Plaza Universidad, um Bea zu sehen. Ich wußte, daß sie es gar nicht lustig finden würde, wenn ich dort aufkreuzte und man uns zusammen sah, aber lieber nahm ich ihren Zorn auf mich, als daß ich in dieser Ungewißheit weiterlebte.
Vor dem Hörsaal von Professor Velázquez wartete ich, bis die Studenten herauskamen. Nach etwa zwanzig Minuten öffneten sich die Türen, und ich sah den Professor mit arrogantem, gelecktem Gesicht vorbeigehen, wie immer inmitten eines Grüppchens von Bewunderinnen. Fünf Minuten später noch immer keine Spur von Bea. Ich trat an die Türen des Hörsaals, um einen Blick hineinzuwerfen. Ein Mädchentrio mit Sonntagsschulgesichtern unterhielt sich und tauschte Notizen oder Vertraulichkeiten aus. Die, die die Anführerin zu sein schien, sah mich, unterbrach ihren Monolog und durchbohrte mich mit einem forschenden Blick.
»Verzeihung, ich suche Beatriz Aguilar. Wißt ihr, ob sie diese
Vorlesung besucht?«
Die Mädchen wechselten einen Blick und unterzogen mich dann einer
Röntgenaufnahme.
»Bist du ihr Verlobter?« fragte eine von ihnen. »Der Leutnant?«
Ich lächelte bloß hohl, was als Zustimmung aufgefaßt wurde. Nur das
dritte Mädchen lächelte zurück, schüchtern und den Blick abgewandt.
Herausfordernd kamen ihr die beiden andern zuvor.
»Ich habe mir dich anders vorgestellt«, sagte die Anführerin.
»Und die Uniform?« fragte die zweite mißtrauisch.
»Ich bin auf Urlaub. Wißt ihr, ob sie schon gegangen ist?«
»Beatriz ist heute nicht in die Vorlesung gekommen«, sagte die
Anführerin.
»Ach nein?«
»Nein. Als ihr Verlobter müßtest du das eigentlich wissen.«
»Ich bin ihr Verlobter, kein Zivilgardist.«
»Kommt, wir gehen, der ist ja ’ne Witzfigur«, sagte die
Anführerin.
Mit scheelem Blick und angewidertem Grinsen gingen die beiden an
mir vorüber. Die dritte, die Nachzüglerin, blieb einen Augenblick
stehen, bevor sie den Hörsaal verließ, und flüsterte mir, ohne daß
die andern es sahen, zu:
»Beatriz ist schon am Freitag nicht gekommen.«
»Weißt du, warum?«
»Du bist nicht ihr Verlobter, stimmt’s?«
»Nein. Nur ein Freund.«
»Ich glaube, sie ist krank.«
»Krank?«
»Das hat eines der Mädchen gesagt, das bei ihr angerufen hat. Jetzt
muß ich aber gehen.«
Bevor ich mich für ihre Hilfe bedanken konnte, war sie schon den
beiden andern nachgegangen, die sie am entgegengesetzten Ende des
Kreuzgangs mit zornigen Augen erwarteten.
»Da muß etwas geschehen sein, Daniel. Eine Großtante, die gestorben ist, ein Papagei mit Mumps, eine Erkältung vor lauter entblößtem Hintern, weiß Gott, was. Die Welt kreist nicht um das, wonach es Sie im Hosenzwickel gelüstet. Andere Faktoren beeinflussen das Werden der Menschheit.«
»Meinen Sie, ich weiß das nicht? Sie kennen mich offenbar nicht,
Fermín.«
»Ach, mein Lieber, Sie könnten mein Sohn sein, so gut kenne ich
Sie. Hören Sie auf mich. Kommen Sie aus Ihrem Kopf heraus und
schöpfen Sie frische Luft. Warten ist Rost für die Seele.«
»Sie finden mich also lächerlich.«
»Nein, ich finde Sie besorgniserregend. Ich weiß natürlich, daß
einem solche Dinge in Ihrem Alter als das Ende der Welt erscheinen,
aber alles hat seine Grenzen. Heute abend besuchen wir beide ein
Lokal in der Calle Platería, das offenbar sehr im Schwange ist, und
gehen auf Schnepfenjagd. Man hat mir gesagt, da gibt es einige eben
aus Ciudad Real gekommene nordische Mäuschen, die einen aus den
Schuhen hauen. Ich lade Sie ein.«
»Und was wird die Bernarda dazu sagen?«
»Die Mädchen sind für Sie. Ich gedenke mit einer Zeitschrift im
Salon zu warten und die Chose von fern zu verfolgen. Ich habe mich
nämlich zur Monogamie bekehrt, wenn nicht in mente, so doch de
facto.«
»Ich danke Ihnen, Fermín, aber …«
»Ein Bursche von achtzehn Jahren, der ein solches Angebot
ausschlägt, ist nicht ganz bei Trost. Da muß man sogleich etwas
tun. Da, nehmen Sie.«
Er wühlte in seinen Taschen und gab mir einige Münzen. Ich fragte
mich, ob er damit den Besuch in einem Prachtharem finanzieren
wollte.
»Dafür wünscht man uns nicht mal eine gute Nacht, Fermín.«
»Sie gehören zu denen, die vom Baum fallen und gar nie am Boden
ankommen. Glauben Sie allen Ernstes, ich bringe Sie in ein Bordell
und gebe Sie nachher mit Gonorrhö vollgepumpt Ihrem Herrn Vater
zurück – dem heiligsten Mann, den ich je kennengelernt habe? Das
mit den Mädchen habe ich nur gesagt, um zu sehen, ob Sie reagieren,
wenn ich an den einzigen Teil Ihrer Person appelliere, der zu
funktionieren scheint. Damit sollen Sie zum Telefon an der Ecke
gehen und in etwas privaterem Rahmen Ihr Liebchen anrufen.«
»Bea hat mir ausdrücklich gesagt, ich soll sie nicht anrufen.«
»Sie hat Ihnen auch gesagt, sie werde am Freitag anrufen. Und jetzt
ist Montag. Aber ganz, wie Sie wollen. Es ist eines, an die Frauen
zu glauben, und ein anderes, zu glauben, was sie sagen.«
Ich verließ die Buchhandlung, ging zum öffentlichen Fernsprecher an
der Ecke und wählte die Nummer der Aguilars. Nach dem fünften
Klingeln nahm jemand ab und horchte schweigend, ohne etwas zu
sagen. Fünf endlose Sekunden verstrichen.
»Bea?« flüsterte ich. »Bist du es?«
»Du Schweinehund, ich schwöre dir, ich prügle dir die Seele aus dem
Körper«, schlug es mir entgegen.
Die Stimme war kalt und beherrscht. Das machte mir am allermeisten
Angst. Ich konnte mir Señor Aguilar in der Diele seiner Wohnung an
dem Telefon vorstellen, das ich so oft benutzt hatte, um meinem
Vater zu sagen, ich würde später kommen, nachdem ich den Nachmittag
mit Tomás verbracht hatte. Stumm hörte ich Beas Vater atmen, und
fragte mich, ob er mich wohl an der Stimme erkannt hatte.
»Ich sehe, du hast nicht genug Mumm, um zu sprechen, du Mistkerl.
Jedes Stück trockene Scheiße ist imstande, zu tun, was du getan
hast, aber ein Mann würde wenigstens nicht kneifen. An deiner
Stelle würde ich mich in Grund und Boden schämen, wenn ich wüßte,
daß ein neunzehnjähriges Mädchen mehr Schneid hat als ich. Sie hat
nämlich nicht sagen wollen, wer du bist, und sie wird es auch nicht
sagen. Ich kenne sie. Und weil du nicht den Mut hast, für Bea den
Kopf hinzuhalten, wird sie für das büßen, was du getan hast.«
Als ich einhängte, zitterten meine Hände. Ich war mir meines Tuns
nicht bewußt gewesen, bis ich die Telefonzelle verließ und mich
wieder zur Buchhandlung zurückschleppte. Das hatte ich nicht
bedacht – daß mein Anruf Beas Lage nur noch verschlimmern würde.
Meine einzige Sorge war es gewesen, meine Anonymität zu wahren,
mich zu verstecken und diejenigen zu verleugnen, die ich zu lieben
vorgab, die ich in Wahrheit aber nur benutzte. Das hatte ich schon
getan, als Inspektor Fumero Fermín verprügelt hatte, ich hatte es
wieder getan, als ich Bea ihrem Schicksal überließ, und ich würde
es erneut tun, sobald sich Gelegenheit dazu böte. Zehn Minuten
blieb ich auf der Straße und versuchte, mich zu beruhigen, bevor
ich den Laden wieder betrat. Vielleicht sollte ich noch einmal
anrufen und Señor Aguilar sagen, ja, ich bin es, ich bin bis über
beide Ohren in Ihre Tochter verschossen, das ist es. Wenn er dann
in seiner Kommandantenuniform kommen und mich vermöbeln will – soll
er!
Ich war schon beinahe wieder im Laden, als ich feststellte, daß
mich von einem Hauseingang auf der andern Straßenseite aus ein Mann
beobachtete. Ich blieb stehen, um ihn ebenfalls anzuschauen, und zu
meiner Überraschung nickte er, als wollte er mich grüßen und mir
bedeuten, es störe ihn nicht im geringsten, daß ich ihn gesehen
hatte. Das Licht einer Straßenlampe fiel seitlich auf sein Gesicht,
das mir bekannt vorkam. Er trat einen Schritt vor, knöpfte seinen
Mantel bis oben zu, lächelte und ging zwischen den Passanten
Richtung Ramblas davon. Da erkannte ich in ihm den Polizisten, der
mich festgehalten hatte, während Inspektor Fumero Fermín angriff.
Als ich in den Laden trat, schaute Fermín auf und warf mir einen
fragenden Blick zu.
»Was machen Sie denn für ein Gesicht?«
»Fermín, ich glaube, wir haben ein Problem.«
Am selben Abend setzten wir den Plan in Gang, den wir einige Tage
zuvor mit Don Gustavo Barceló ausgeheckt hatten.
»Zuerst müssen wir uns vergewissern, daß wir tatsächlich Gegenstand
polizeilicher Überwachung sind. Also machen wir so ganz beiläufig
einen Spaziergang zum Els Cuatre Gats, um zu sehen, ob dieser Kerl
noch da draußen steht und uns auflauert. Aber kein Wort von alledem
zu Ihrem Vater, sonst bekommt er noch einen Nierenstein.«
»Was soll ich ihm denn sagen? Er traut dem Frieden schon seit einer
Weile nicht mehr.«
»Sagen Sie ihm, Sie gehen Sonnenblumenkerne holen oder
Puddingpulver.«
»Und warum müssen wir ausgerechnet ins Els Cuatre Gats?«
»Weil es dort die besten Schlackwurstsandwiches im Umkreis von fünf
Kilometern gibt, und irgendwo müssen wir uns ja unterhalten. Seien
Sie kein Spielverderber und tun Sie, was ich sage, Daniel.«
Da ich jede Unternehmung begrüßte, die mich von meinen Gedanken
abhielt, gehorchte ich, und zwei Minuten später trat ich auf die
Straße hinaus, nachdem ich meinem Vater versichert hatte, ich sei
zum Abendessen zurück. Fermín erwartete mich an der Ecke zur Puerta
del Ángel. Sowie ich mich zu ihm gesellte, gab er mir mit einer
Bewegung der Augenbrauen zu verstehen, ich solle
losmarschieren.
»Wir führen den Blödmann etwa zwanzig Meter weit. Drehen Sie sich
nicht um.«
»Der von vorhin?«
»Ich glaube nicht, es sei denn, er ist bei der Feuchtigkeit
eingelaufen. Der hier scheint wirklich ein Gimpel zu sein. Hat eine
sechs Tage alte Sportzeitung bei sich. Fumero rekrutiert seine
Lehrlinge offenbar an Eliteschulen.«
Als wir im Els Cuatre Gats anlangten, setzte sich unser Mann wenige
Meter von uns entfernt an einen Tisch und tat so, als läse er die
Ereignisse des Liga-Spieltags von der Vorwoche. Alle zwanzig
Sekunden schielte er zu uns herüber.
»Armes Kerlchen, schauen Sie nur, wie er schwitzt«, sagte Fermín
und schüttelte den Kopf. »Sie sehen etwas zerstreut aus, Daniel.
Haben Sie mit dem Mädchen gesprochen oder nicht?«
»Ihr Vater hat abgenommen.«
»Und Sie haben ein freundschaftliches, herzliches Gespräch mit ihm
geführt?«
»Eher einen Monolog.«
»Ich sehe. Muß ich daraus also schließen, daß Sie ihn noch nicht
als Papa ansprechen?«
»Er hat mir versichert, daß er mir die Seele aus dem Körper
rausprügeln wird.«
»Das wird wohl eine rhetorische Figur gewesen sein.«
Die Gestalt des Kellners beugte sich über uns. Fermín bestellte
Essen für ein ganzes Regiment und rieb sich erwartungsfroh die
Hände.
»Und Sie wollen nichts, Daniel?«
Ich schüttelte den Kopf. Als der Kellner mit zwei Tabletts voller
Tapas, Sandwiches und einer Flasche Wein zurückkam, gab ihm Fermín
eine große Münze und sagte, der Rest sei für ihn.
»Chef, sehen Sie den Typ dort am Tisch neben dem Fenster, der den
Kopf in die Zeitung steckt, als wär’s eine Papiertüte?«
Der Kellner nickte verschwörerisch.
»Wären Sie so gut und würden Sie ihm sagen, Inspektor Fumero
beauftragt ihn dringend, unverzüglich auf den Boquería-Markt zu
gehen und für fünfundzwanzig Peseten gekochte Kichererbsen zu
kaufen und schleunigst ins Präsidium zu bringen (wenn nötig per
Taxi), oder er soll sich darauf vorbereiten, den Hodensack auf dem
Tablett zu präsentieren? Soll ich’s wiederholen?«
»Das ist nicht nötig, mein Herr. Für fünfundzwanzig Peseten
gekochte Kichererbsen oder der Hodensack.«
Fermín gab ihm noch eine Münze.
»Gott segne Sie.«
Der Kellner nickte respektvoll und ging zum Tisch unseres
Verfolgers, um ihm die Nachricht zu überbringen. Als der Mann die
Befehle vernahm, geriet sein Gesicht aus den Fugen. Er blieb
fünfzehn Sekunden sitzen, rang mit unergründlichen Kräften und
stürzte dann auf die Straße hinaus. Fermín nahm sich nicht einmal
die Mühe, mit der Wimper zu zucken. Unter andern Umständen hätte
ich die Episode genossen, aber an diesem Abend war ich nicht
imstande, Bea aus meinen Gedanken zu verbannen.
»Kommen Sie auf den Boden, Daniel, wir haben eine Arbeit zu
besprechen. Gleich morgen besuchen Sie Nuria Monfort, genau so wie
ausgemacht.«
»Und wenn ich dort bin, was soll ich ihr dann sagen?«
»An Gesprächsstoff wird es Ihnen nicht mangeln. Es geht darum, das
zu tun, was Señor Barceló so treffend vorgeschlagen hat. Sie sagen
ihr, Sie wissen, daß sie Sie in bezug auf Carax perfid angelogen
hat, daß ihr angeblicher Mann Miquel Moliner nicht wie behauptet im
Gefängnis sitzt, daß Sie herausgefunden haben, daß sie die Frau im
Hintergrund ist, welche die Korrespondenz für die ehemalige Wohnung
der Familie Fortuny-Carax von einem Postfach abgeholt hat, das auf
den Namen einer nicht existierenden Anwaltskanzlei lautet. Sie
sagen ihr alles, was dienlich ist, um ihr die Hölle heiß zu machen
– und all das ganz melodramatisch und mit biblischem Gesicht. Dann
treten Sie mit einem Knalleffekt ab und lassen sie eine Weile im
eigenen Saft schmoren.«
»Und unterdessen …«
»Unterdessen halte ich mich bereit, ihr zu folgen, was ich mit
Hilfe avancierter Tarnungstechniken zu tun gedenke.«
»Das wird nicht funktionieren, Fermín.«
»Ungläubiger Thomas. Was hat Ihnen der Vater dieses Mädchens bloß
gesagt, daß Sie sich so anstellen? Ist es wegen der Drohung?
Beachten Sie sie einfach nicht. Sagen Sie, was hat Ihnen dieser
Verrückte gesagt?«
Ich antwortete, ohne nachzudenken.
»Die Wahrheit.«
»Die Wahrheit nach dem heiligen Daniel, dem Märtyrer?«
»Machen Sie sich lustig, soviel Sie wollen. Geschieht mir ganz
recht.«
»Ich mache mich nicht lustig, Daniel. Es tut mir nur leid, Sie in
dieser Selbstgeißelungsstimmung zu sehen. Man könnte wirklich
glauben, Sie stecken im härenen Büßerhemd. Sie haben nichts
Unrechtes getan. Im Leben gibt es schon genügend Henker, als daß
man noch sich selbst gegenüber den Großinquisitor spielen muß.«
»Sprechen Sie aus Erfahrung?«
Fermín zuckte die Schultern.
»Sie haben mir nie erzählt, wie Sie Fumero begegnet sind«, sagte
ich.
»Wollen Sie eine Geschichte mit Moral hören?«
»Nur, wenn Sie sie mir erzählen mögen.«
Er schenkte sich ein Glas Wein ein und trank es in einem Zug
aus.
»Amen«, sagte er zu sich selbst. »Was ich Ihnen von Fumero erzählen
kann, ist allgemein bekannt. Das erste Mal habe ich von ihm gehört,
als der künftige Inspektor noch ein Pistolenheld im Dienst des
Anarchistischen Verbandes Spaniens war. Er hatte sich einen großen
Ruf erworben, weil er weder Angst noch Skrupel kannte. Er brauchte
bloß einen Namen, um die Person auf offener Straße mittags um zwölf
mit einem Schuß in die Stirn zu liquidieren. Solche Talente sind in
bewegten Zeiten sehr geschätzt. Was er ebensowenig kannte, waren
Treue und Grundsätze. Die Sache, der er diente, war ihm schnurz,
solange sie seinem Aufsteigen förderlich war. Es gibt massenweise
solches Gesindel auf der Welt, aber wenige mit Fumeros Begabung.
Von den Anarchisten lief er zu den Kommunisten über, und von dort
zu den Faschisten war es nur noch ein Schritt. Er spionierte und
verkaufte Informationen der einen Seite an die andere und nahm von
jedermann Geld. Ich hatte schon seit einiger Zeit ein Auge auf ihn
geworfen. Damals habe ich für die Regierung der Generalität
gearbeitet.«
»Was haben Sie denn gemacht?«
»Ein bißchen alles. In den Fernsehserien von heute wird das, was
ich machte, Spionage genannt, aber in Zeiten des Krieges sind wir
alle Spione. Ein Teil meiner Arbeit bestand darin, über Leute wie
Fumero Bescheid zu wissen. Es sind die gefährlichsten. Sie sind wie
Vipern, farb- und gewissenlos. Im Krieg schießen sie überall wie
Pilze aus dem Boden. In Friedenszeiten tragen sie eine Maske, aber
sie sind weiterhin da. Zu Tausenden. Jedenfalls habe ich sein Spiel
irgendwann durchschaut – eher zu spät, würde ich sagen. Barcelona
fiel in wenigen Tagen, und die Situation hatte sich um
hundertachtzig Grad gewendet. Ich war auf einmal ein gesuchter
Verbrecher, und meine Vorgesetzten sahen sich gezwungen, sich wie
Ratten zu verstecken. Natürlich hatte Fumero bereits das Kommando
über die Operation Säuberung, die mit Schüssen durchgeführt
wurde, auf offener Straße oder im Kastell des Montjuïc. Mich haben
sie im Hafen verhaftet, als ich auf einem griechischen Frachter
Schiffskarten zu lösen versuchte, um meine Chefs nach Frankreich zu
schicken. Sie brachten mich auf den Montjuïc und schlossen mich
zwei Tage in einer stockdunklen Zelle ein, ohne Wasser und
Ventilation. Als ich wieder Licht zu sehen bekam, war es die Flamme
eines Lötkolbens. Fumero und ein Kerl, der nur Deutsch sprach,
hängten mich an den Füßen auf, den Kopf nach unten. Zuerst hat mir
der Deutsche die Kleider mit dem Lötkolben weggebrannt. Er schien
Übung darin zu haben. Als nur noch Fetzen an mir hingen und
sämtliche Haare des Körpers abgesengt waren, sagte Fumero, wenn ich
ihm nicht verrate, wo sich meine Vorgesetzten versteckt hielten,
fange der Spaß erst richtig an. Ich bin kein mutiger Mann, Daniel.
Ich bin es nie gewesen, aber mit dem bißchen Mumm, das ich habe,
verfluchte ich ihn und schickte ihn zum Teufel. Auf ein Zeichen von
Fumero hin spritzte mir der Deutsche irgendwas in den Schenkel und
wartete ein paar Minuten. Dann, während Fumero rauchte und mich
grinsend beobachtete, begann er mich gewissenhaft mit dem Lötkolben
zu braten. Sie haben die Male ja gesehen …«
Ich nickte. Fermín sprach in gelassenem, emotionslosem Ton.
»Diese Brandmale sind noch das Harmloseste. Die schlimmsten bleiben
innen zurück. Eine Stunde habe ich es unter dem Lötkolben
ausgehalten. Vielleicht war’s auch nur eine Minute, ich weiß es
nicht. Aber schließlich hab ich die Verstecke genannt – die Namen
der Helfer und sogar die von Leuten, die es gar nicht waren. Sie
ließen mich nackt und mit verbrannter Haut in einer Gasse des
Pueblo Seco liegen. Eine gute Frau hat mich zu sich genommen und
zwei Monate lang gepflegt. Die Kommunisten hatten ihren Mann und
ihre beiden Söhne in der Tür ihres Hauses erschossen. Sie wußte
nicht, warum. Als ich wieder aufstehen und hinausgehen konnte,
erfuhr ich, daß alle meine Vorgesetzten festgenommen und
hingerichtet worden waren, wenige Stunden nachdem ich sie verraten
hatte.«
»Fermín, wenn Sie mir das nicht erzählen mögen …«
»Nein, nein. Besser, Sie hören es und wissen, mit wem Sie es zu tun
haben. Als ich in meine Wohnung zurückging, wurde mir mitgeteilt,
sie sei von der Regierung enteignet worden, ebenso wie meine ganze
Habe. Über Nacht war ich zum Bettler geworden. Ich habe versucht,
Arbeit zu kriegen. Ich bekam keine. Das einzige, was ich beschaffen
konnte, war eine Flasche offenen Weins für ein paar Céntimos. Das
ist ein langsames Gift, das die Innereien zerfrißt wie Säure, aber
ich vertraute darauf, daß es früher oder später Wirkung zeigen
würde. Ich dachte, eines Tages würde ich nach Kuba zu meiner
Mulattin zurückkehren. Gerade als ich versuchte, an Bord eines
Frachters nach Havanna zu gehen, wurde ich verhaftet. Ich habe
längst vergessen, wieviel Zeit ich im Gefängnis verbracht habe.
Nach dem ersten Jahr beginnt man alles zu verlieren, auch den
Verstand. Als ich rauskam, fing das Leben auf der Straße an, wo Sie
mich eine Ewigkeit später gefunden haben. Es gab viele wie mich,
Kollegen aus dem Gefängnis oder der Amnestie. Wer Glück hatte,
kannte draußen jemand – jemand oder etwas, wohin er zurückkonnte.
Wir andern schlossen uns im Heer der Parias zusammen. Wenn man in
diesem Klub einmal Mitglied ist, bleibt man es für immer. Die
meisten von uns wagten sich nur nachts hinaus, wenn die Welt nicht
hinschaut. Viele von denen, die ich kannte, habe ich nie
wiedergesehen. Das Leben auf der Straße ist kurz. Die Leute blicken
einen angewidert an, selbst diejenigen, die einem ein Almosen
geben, aber das ist nichts im Vergleich zu dem Widerwillen, den man
vor sich selbst empfindet. Es ist, als wäre man in einer wandelnden
Leiche gefangen, die Hunger leidet, stinkt und sich zu sterben
weigert. Ab und zu haben mich Fumero und seine Leute verhaftet und
mich irgendeines absurden Diebstahls angeklagt oder gesagt, ich
hätte am Ausgang einer Klosterschule kleine Mädchen verführt.
Erneut ein Monat im ModeloGefängnis, Prügel und dann wieder auf die
Straße. Ich habe nie begriffen, welchen Sinn diese Farcen hatten.
Anscheinend fand die Polizei es zweckmäßig, über eine Gruppe
Verdächtiger zu verfügen, auf die man notfalls zurückgreifen
konnte. Bei einer meiner Begegnungen mit Fumero, der mittlerweile
ein wichtiger Mann war, habe ich ihn gefragt, warum er mich nicht
umgebracht habe wie alle andern. Er lachte und sagte, es gebe
Schlimmeres als den Tod. Einen Verräter töte er nie, er lasse ihn
bei lebendigem Leib verfaulen.«
»Sie sind kein Verräter, Fermín. Jeder an Ihrer Stelle hätte
dasselbe getan. Sie sind mein bester Freund.«
»Ich verdiene Ihre Freundschaft nicht, Daniel. Sie und Ihr Vater
haben mir das Leben gerettet, und mein Leben gehört Ihnen beiden.
Was immer ich für Sie tun kann, das werde ich tun. An dem Tag, an
dem Sie mich von der Straße weggeholt haben, ist Fermín Romero de
Torres neu geboren worden.«
»Das ist nicht Ihr richtiger Name, nicht wahr?«
Er schüttelte den Kopf.
»Den habe ich auf einem Plakat auf der Plaza de las Arenas gesehen.
Der andere ist begraben. Der Mann, der vorher in diesen Knochen
gelebt hat, ist gestorben, Daniel. In Alpträumen kehrt er manchmal
zurück. Aber Sie haben mich gelehrt, ein anderer Mann zu sein, und
haben mir einen Grund gegeben, noch einmal zu leben – meine
Bernarda.«
»Fermín …«
»Sagen Sie nichts, Daniel. Verzeihen Sie mir einfach, wenn Sie das
können.«
Ich umarmte ihn schweigend und ließ ihn weinen. Die Leute sahen uns
verstohlen an, und ich schaute mit blitzenden Augen zurück. Nach
einer Weile beachtete man uns nicht mehr. Später, als ich ihn zu
seiner Pension begleitete, fand Fermín die Stimme wieder.
»Was ich Ihnen heute erzählt habe … , die Bernarda soll das bitte
…«
»Weder die Bernarda noch sonst jemand. Kein Wort, Fermín.«
Mit einem Händedruck sagten wir uns auf Wiedersehen. Die ganze
Nacht lag ich bei brennendem Licht wach auf meinem Bett und
betrachtete meinen glänzenden Montblanc-Füllfederhalter, mit dem
ich jahrelang nicht mehr geschrieben hatte und der allmählich das
beste Paar Handschuhe wurde, das man je einem Einarmigen geschenkt
hat. Mehr als einmal wäre ich beinahe zu den Aguilars gegangen, um
mich gleichsam zu stellen, aber nach langem Nachdenken nahm ich an,
am frühen Morgen in Beas Elternhaus einzudringen würde ihre Lage
nicht eben verbessern. Als der Tag anbrach, kehrte mit der
Müdigkeit und der Zerstreuung mein Egoismus zurück, und ich
brauchte nicht lange, bis ich zur Überzeugung kam, die Zeit werde
die Wunden schon heilen.
Am Vormittag gab es in der Buchhandlung wenig zu tun, was ich
nutzte, um im Stehen zu schlummern. Am Mittag gab ich, wie am
Vorabend mit Fermín vereinbart, vor, einen Spaziergang zu machen,
und Fermín sagte, er habe einen Termin in der Poliklinik, um sich
einige Fäden ziehen zu lassen. Soweit ich sah, glaubte mein Vater
beide Schummeleien. Der Gedanke, ihn systematisch zu belügen,
trübte mir langsam das Gemüt, was ich Fermín am Vormittag auch
gesagt hatte, als mein Vater rasch eine Besorgung machen ging.
»Daniel, die Beziehung zwischen Vater und Sohn gründet auf
Tausenden kleiner, gütiger Lügen. Das hier ist eine weitere. Sie
brauchen keine Schuldgefühle zu haben.«
Als es soweit war, log ich abermals und machte mich auf zu Nuria
Monfort, deren Berührung und Geruch noch in meinem Gedächtnis
hafteten. Das Pflaster der Plaza de San Felipe Neri war von einem
Schwarm Tauben eingenommen worden. Ich hatte gehofft, Nuria Monfort
in Gesellschaft ihres Buches anzutreffen, doch der Platz war
menschenleer. Von Dutzenden Tauben überwacht, überquerte ich ihn
und sah mich dabei suchend nach dem als weiß Gott was getarnten
Fermín um, vergeblich – er hatte die List nicht preisgeben mögen,
die er im Kopf hatte. Ich trat ins Treppenhaus und stellte fest,
daß Miquel Moliners Name noch immer am Briefkasten stand. Ich
fragte mich, ob das wohl das erste Loch in Nuria Monforts
Geschichte sei, auf das ich sie hinweisen könnte. Während ich im
Halbdunkel die Treppe hinaufstieg, wünschte ich mir beinahe, sie
nicht zu Hause anzutreffen. Nie hat man soviel Mitgefühl für einen,
der lügt, wie wenn man sich in derselben Lage befindet. Auf dem
Treppenabsatz des vierten Stocks blieb ich stehen, um meinen Mut
zusammenzunehmen und mir irgendeinen Vorwand zur Rechtfertigung
meines Besuchs auszudenken. Das Radio der Nachbarin auf der
gegenüberliegenden Seite dröhnte noch immer, diesmal mit der
Übertragung eines Wettbewerbs zu religiösen Fragen mit dem Titel
Zum Himmel schreien, der jeden Dienstagmittag die
Zuhörerschaft ganz Spaniens in Atem hielt.
Als im Studio von Radio Nacional der Applaus des Publikums
losbrach, trat ich entschlossen vor Nuria Monforts Tür und
klingelte mehrere Sekunden lang. Ich hörte, wie sich das Echo im
Innern verlor, und seufzte erleichtert auf. Schon wollte ich mich
wieder davonmachen, als ich Schritte vernahm, die näher kamen, und
das Guckloch in einer Andeutung von Licht aufleuchtete. Ich
lächelte. Als sich der Schlüssel im Schloß drehte, holte ich tief
Atem.
»Daniel«, flüsterte sie.
Der blaue Rauch der Zigarette umschleierte ihr Gesicht. Die Lippen
leuchteten dunkelrot und feucht und hinterließen auf dem Filter
blutige Spuren. Es gibt Menschen, an die man sich erinnert, und
andere, von denen man träumt. Für mich hatte Nuria Monfort die
Glaubwürdigkeit einer Fata Morgana: Man stellt sie nicht in Frage,
man folgt ihr einfach, bis sie sich auflöst oder einen vernichtet.
Ich folgte ihr in den engen, halbdunklen Raum, wo sich ihr
Schreibtisch, ihre Bücher und die Sammlung der streng
ausgerichteten Bleistifte befanden.
»Ich dachte, ich würde dich nicht wiedersehen.«
»Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen.«
Sie setzte sich auf den Schreibtischstuhl, schlug die Beine
übereinander und lehnte sich zurück. Ich riß die Augen von ihrem
Hals los und konzentrierte mich auf einen Feuchtigkeitsfleck an der
Wand. Dann trat ich ans Fenster und warf einen raschen Blick auf
den Platz. Keine Spur von Fermín. Hinter mir konnte ich Nuria
Monfort atmen hören, ihren Blick spüren. Ich sprach, ohne vom
Fenster wegzuschauen.
»Vor einigen Tagen hat ein guter Freund von mir herausgefunden, daß
der Liegenschaftenverwalter, der für die ehemalige Wohnung der
Familie Fortuny-Carax zuständig ist, die Korrespondenz an ein
Postfach auf den Namen einer Anwaltskanzlei geschickt hatte, die
offensichtlich nicht existiert. Derselbe Freund hat herausgefunden,
daß die Person, die jahrelang die Sendungen für dieses Postfach
abgeholt hatte, Ihren Namen benutzte, Señora Monfort …«
»Schweig.«
Ich wandte mich um und sah, daß sie sich in die Schatten
zurückzog.
»Du richtest mich, ohne mich zu kennen«, sagte sie.
»Dann helfen Sie mir, Sie kennenzulernen.«
»Wem hast du das erzählt? Wer weiß sonst noch, was du da gesagt
hast?«
»Mehr Leute, als man denkt. Die Polizei folgt mir schon seit
längerem.«
»Fumero?«
Ich nickte. Ich hatte den Eindruck, ihre Hände zitterten.
»Du weißt nicht, was du angerichtet hast, Daniel.«
»Sagen Sie es mir«, antwortete ich mit einer Härte, die ich nicht
empfand.
»Du meinst, bloß weil du über ein Buch gestolpert bist, hast du das
Recht, ins Leben von Menschen einzudringen, die du nicht kennst, in
Dinge, die du nicht verstehen kannst und die dich nichts
angehen.«
»Jetzt gehen sie mich etwas an, ob ich will oder nicht.«
»Du weißt nicht, was du sagst.«
»Ich war im Aldaya-Haus. Ich weiß, daß sich Jorge Aldaya dort
versteckt. Ich weiß, daß er es war, der Carax ermordet hat.«
Sie schaute mich lange an und maß ihre Worte ab.
»Weiß das Fumero?«
»Ich weiß es nicht.«
»Es wäre besser, du wüßtest es. Ist dir Fumero hierher
gefolgt?«
Die Wut, die in ihren Augen loderte, verbrannte mich. Ich war in
der Rolle des Anklägers und Richters gekommen, aber mit jeder
weiteren Minute fühlte ich mich mehr als der Schuldige.
»Ich glaube nicht. Haben Sie es gewußt? Sie haben gewußt, daß Jorge
Aldaya es war, der Julián umgebracht hat und sich in diesem Haus
versteckt – warum haben Sie es mir nicht gesagt?«
Sie lächelte bitter.
»Du verstehst nichts, nicht wahr?«
»Ich verstehe, daß Sie gelogen haben, um den Mann zu schützen, der
den ermordet hat, den Sie als Ihren Freund bezeichnen, den Mann,
der dieses Verbrechen jahrelang verheimlicht hat, einen Mann,
dessen einziges Ziel es ist, jede Spur von Julián Carax’ Existenz
zu beseitigen, der seine Bücher verbrennt. Ich verstehe, daß Sie
mich bezüglich Ihres Mannes belogen haben, der nicht im Gefängnis
ist und offensichtlich auch nicht hier. Das ist es, was ich
verstehe.«
Nuria Monfort schüttelte langsam den Kopf.
»Geh, Daniel. Verlaß diese Wohnung und komm nicht wieder. Du hast
schon genug angerichtet.«
Ich ließ sie im Eßzimmer zurück und ging auf die Tür zu. Auf halbem
Weg blieb ich stehen und kehrte um. Nuria Monfort saß auf dem
Boden, den Rücken an die Wand gelehnt. Der ganze Zauber um ihre
Erscheinung war dahin.
Den Blick starr auf den Boden gerichtet, ging ich über die Plaza de San Felipe Neri. Ich schleppte den Schmerz mit, den ich von den Lippen dieser Frau genommen hatte, einen Schmerz, als dessen Komplize und Instrument ich mich jetzt fühlte, ohne jedoch zu begreifen, wie und warum. ›Du weißt nicht, was du angerichtet hast, Daniel.‹ Ich wollte nur noch weg von hier. Als ich an der Kirche vorüberging, bemerkte ich den hageren Priester mit der großen Nase kaum, der mich, Meßbuch und Rosenkranz in der Hand, vor dem Eingang bedächtig segnete. Erst einige Minuten später ging mir ein Licht auf.
25
Ich kam mit beinahe einer dreiviertel Stunde Verspätung in die Buchhandlung zurück. Als mein Vater mich erblickte, runzelte er vorwurfsvoll die Stirn und schaute auf die Uhr.
»Ziemlich spät. Ihr wißt, daß ich zu einem Kunden nach Sant
Cugat muß, und laßt mich hier allein.«
»Und Fermín? Ist er noch nicht zurück?«
Mein Vater schüttelte mürrisch den Kopf.
Ȇbrigens, du hast einen Brief. Ich hab ihn dir neben die Kasse
gelegt.«
»Entschuldige, Papa, aber …«
Mit einer Handbewegung bedeutete er mir, ich solle mir die Entschuldigungen sparen, bewehrte sich mit Mantel und Hut und ging grußlos zur Tür hinaus. So, wie ich ihn kannte, würde sich sein Ärger verflogen haben, noch bevor er am Bahnhof war. Was mich erstaunte, war Fermíns Ausbleiben. Ich hatte ihn auf der Plaza de San Felipe als Priester gesehen, wo er darauf wartete, daß Nuria Monfort herausgeschossen käme und ihn zum großen Geheimnis des Komplotts führte. Mein Glaube an diese Strategie war zu Asche geworden, und ich stellte mir vor, falls Nuria Monfort wirklich aus dem Haus käme, würde ihr Fermín am Ende zur Apotheke oder Bäckerei folgen. Ein vortrefflicher Plan. Ich ging zur Kasse, um einen Blick auf den von meinem Vater erwähnten Brief zu werfen. Der Umschlag trug einen aufgedruckten Absender, der mir das bißchen Mut zunichte machte, das mir noch geblieben war, um den Tag zu überstehen. MILITÄRBEZIRK BARCELONA MUSTERUNGSBÜRO »Halleluja«, murmelte ich.
Ich wußte, was der Umschlag enthielt, ohne ihn öffnen zu müssen, aber ich tat es trotzdem, um mich im Schlamm zu suhlen. Das Schreiben war knapp gehalten, zwei Absätze in dieser Prosa zwischen glühender Proklamation und Operettenarie, die charakteristisch ist für das militärische Briefwesen. Es wurde mir verkündet, ich, Daniel Sempere Martín, hätte in zwei Monaten die Ehre und den Stolz, mich der heiligsten und erbauendsten Aufgabe anzuschließen, welche das Leben dem hispanischen Manne anzubieten habe: der Heimat zu dienen und die Uniform des nationalen Kreuzzuges zur Verteidigung des geistigen Bestands des Abendlandes anzuziehen. Ich baute darauf, daß Fermín der Sache wenigstens eine Pointe abringen und uns mit seiner Versversion von Der Fall des jüdisch-freimaurerischen Trutzbündnisses eine Weile zum Lachen bringen könnte. Zwei Monate. Acht Wochen. Sechzig Tage. Ich konnte die Zeit immer weiter unterteilen, bis ich zu den Sekunden und damit auf eine immense Zahl kam. Es blieben mir noch fünf Millionen hundertvierundachtzigtausend Sekunden Freiheit.
Vielleicht konnte mir Don Federico, der nach Ansicht meines Vaters in der Lage war, eigenhändig einen Volkswagen zu bauen, eine Uhr mit Scheibenbremsen machen. Vielleicht erklärte mir jemand, wie ich es anstellen sollte, um Bea nicht für immer zu verlieren. Als ich die Türglocke hörte, dachte ich, Fermín sei endlich zurückgekommen, in der Überzeugung, unsere detektivischen Bemühungen seien nicht einmal für einen Witz gut.
»Nanu, der Erbe bewacht das Schloß, wie es seine Pflicht und Schuldigkeit ist, wenn auch mit Leichenbittermiene. Mach ein heiteres Gesicht, Junge, du siehst ja aus wie ein Karpfen mit Migräne«, sagte Gustavo Barceló, angetan mit einem Kamelhaarmantel und einen Elfenbeinstock in der Hand, den er nicht brauchte und wie einen Weihwasserwedel schwang. »Ist dein Vater nicht da, Daniel?«
»Tut mir leid, Don Gustavo. Er ist zu einem Kunden gegangen und
kommt wahrscheinlich erst …«
»Sehr gut. Ich will nämlich nicht zu ihm, und es ist besser, er
hört nicht, was ich dir zu sagen habe.«
Er blinzelte mir zu, während er aus den Handschuhen schlüpfte und
verdrießlich den Laden betrachtete.
»Und unser Kollege Fermín? Ist er auch irgendwo?«
»Im Gefecht verschwunden.«
»Vermutlich bei der Anwendung seiner Talente auf die Lösung des
Falles Carax.«
»Mit Leib und Seele. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, trug
er eine Soutane und erteilte den Segen urbi et orbi.«
»Hm … Es ist meine Schuld, weil ich euch aufgehetzt habe. Hätte ich
doch den Schnabel gehalten.«
»Ich sehe, Sie sind etwas unruhig. Ist etwas geschehen?«
»Nicht direkt. Oder doch, in gewisser Hinsicht schon.«
»Was wollten Sie mir erzählen, Don Gustavo?«
Er lächelte mir sanft zu. Sein üblicher hochmütiger Ausdruck und
seine Salonarroganz waren einem gewissen Ernst, einem Anflug von
Vorsicht und nicht geringer Besorgnis gewichen.
»Heute morgen habe ich Don Manuel Gutiérrez Fonseca kennengelernt,
59, Junggeselle und seit 1924 Angestellter des städtischen
Leichenschauhauses. Dreißig Jahre Dienst auf der Schwelle zur
Finsternis – das stammt von ihm, nicht von mir. Don Manuel ist ein
Herr alter Schule, höflich, nett und entgegenkommend. Er wohnt seit
fünfzehn Jahren zur Untermiete in einem Zimmer in der Calle de la
Ceniza, das er mit zwölf Wellensittichen teilt, die den
Trauermarsch zu trällern gelernt haben. Er hat ein Abonnement für
den Olymp des Liceo-Theaters und mag Verdi und Donizetti. Er hat
mir gesagt, das Entscheidende an seiner Arbeit sei es, das
Reglement zu befolgen. Im Reglement ist alles vorgesehen,
insbesondere bei Situationen, in denen man nicht mehr weiterweiß.
Ein Beispiel: Vor fünfzehn Jahren hat Don Manuel einmal einen von
der Polizei gebrachten Leinensack geöffnet und sich dem besten
Freund seiner Kindheit gegenübergesehen. Der Rest der Leiche kam in
einem separaten Sack. Don Manuel hat sich über die Erschütterung
hinweggesetzt und das Reglement befolgt.«
»Möchten Sie einen Kaffee, Don Gustavo? Sie werden ja ganz
gelb.«
»Ich bitte darum.«
Ich holte die Thermoskanne und schenkte ihm eine Tasse mit sieben
Stück Zucker ein. Er trank sie in einem Zug aus.
»Besser?«
»Es geht gleich wieder. Also, Don Manuel hatte Dienst an dem Tag,
an dem Julián Carax’ Leichnam in die Nekropsie kam, im September
1936. Natürlich erinnerte sich Don Manuel nicht mehr an den Namen,
aber ein Nachsuchen in den Archiven und eine Spende von zwanzig
Duros für seinen Ruhestandfonds haben sein Gedächtnis bemerkenswert
aufgefrischt. Kannst du mir folgen?«
Ich nickte, fast in Trance.
»Don Manuel erinnert sich an die Einzelheiten jenes Tages, weil
das, wie er mir erzählte, eines der wenigen Male war, wo er sich
über das Reglement hinweggesetzt hat. Laut Polizei war der Tote in
einer Gasse des Raval gefunden worden, kurz vor Tagesanbruch. Gegen
zehn Uhr vormittags gelangte er ins Leichenhaus. Er hatte nur ein
Buch und einen Paß bei sich, der ihn als Julián Fortuny Carax
auswies, gebürtig aus Barcelona, geboren im Jahr 1900. Der Paß wies
einen Stempel des Grenzübergangs La Junquera auf, woraus
hervorging, daß Carax das Land einen Monat zuvor betreten hatte.
Offensichtlich war die Todesursache eine Schußwunde. Don Manuel ist
zwar nicht Arzt, aber mit der Zeit hat er das Repertoire
kennengelernt. Seiner Meinung nach war der Schuß – direkt über dem
Herzen – aus nächster Nähe abgegeben worden. Dank des Passes konnte
man Señor Fortuny, Carax’ Vater, ausfindig machen, der noch am
selben Abend ins Leichenhaus kam, wo er den Toten identifizieren
sollte.«
»Bis dahin paßt alles zu dem, was Nuria Monfort erzählt hat.«
Barceló nickte.
»So ist es. Was dir Nuria Monfort nicht gesagt hat, ist, daß er,
mein Freund Don Manuel, als er argwöhnte, die Polizei sei nicht
allzusehr an dem Fall interessiert, und nachdem er festgestellt
hatte, daß das Buch, das man in den Taschen des Toten gefunden
hatte, dessen Namen trug – daß also Don Manuel die Initiative zu
ergreifen beschloß und noch am selben Nachmittag, während er auf
Señor Fortuny wartete, den Verlag anrief, um über den Vorfall
Bericht zu erstatten.«
»Nuria Monfort hat mir gesagt, der Angestellte des
Leichenschauhauses habe drei Tage später angerufen, nachdem die
Leiche schon in einem Massengrab beigesetzt worden war.«
»Laut Don Manuel hat er am selben Tag angerufen, an dem der Tote
eingeliefert wurde. Er hat gesagt, er habe mit einer Señorita
gesprochen, die sich für seinen Anruf bedankte. Er erinnert sich,
daß ihn ihr Verhalten schockiert hat. Nach seinen Worten ›war es,
als wüßte sie es bereits‹.«
»Und was ist mit Señor Fortuny? Stimmt es, daß er sich geweigert
hat, seinen Sohn zu identifizieren?«
»Darauf war ich am allermeisten gespannt. Don Manuel erklärt, bei
Einbruch der Dunkelheit sei in Begleitung von zwei Polizisten ein
zittriges Männchen gekommen. Es war Señor Fortuny. Das sei, wie er
sagt, das einzige, woran man sich nie gewöhnen könne – der Moment,
in dem die Angehörigen kommen, um die Leiche eines geliebten
Menschen zu identifizieren. Das sei eine heikle Situation, die er
niemandem wünsche. Am schlimmsten sei es, wenn der Tote ein junger
Mensch sei, der von den Eltern oder einer frisch angetrauten Person
identifiziert werden müsse. Don Manuel erinnert sich noch genau an
Señor Fortuny. Er sagt, als er ins Leichenhaus gekommen sei, habe
er sich kaum auf den Beinen halten können, er habe geweint wie ein
Kind und die beiden Polizisten hätten ihn an den Armen führen
müssen. Er habe nicht aufgehört zu wimmern: ›Was hat man mit meinem
Sohn gemacht? Was hat man mit meinem Sohn gemacht?‹«
»Hat er die Leiche denn überhaupt gesehen?«
»Don Manuel hat mir erzählt, er sei drauf und dran gewesen, den
Polizisten nahezulegen, auf die Formalität zu verzichten. Das sei
das einzige Mal gewesen, daß es ihm in den Sinn gekommen sei, das
Reglement in Frage zu stellen. Die Leiche war in üblem Zustand.
Wahrscheinlich war der Mann schon seit über vierundzwanzig Stunden
tot, als er ins Leichenhaus kam, nicht erst seit dem frühen Morgen,
wie die Polizei angab. Don Manuel fürchtete, wenn dieses alte
Männchen ihn sähe, würde er zerbrechen. Señor Fortuny hörte nicht
auf zu sagen, es könne nicht sein, sein Julián könne nicht tot sein
… Da schlug Don Manuel das Leichentuch zurück, und die beiden
Polizisten fragten formell, ob das sein Sohn Julián sei.«
»Und?«
»Señor Fortuny blieb stumm und betrachtete die Leiche fast eine
Minute lang. Dann machte er kehrt und ging.«
»Er ging?«
»In aller Eile.«
»Und die Polizei? Hat sie ihn nicht daran gehindert? Waren sie
nicht da, um die Leiche zu identifizieren?«
Barceló lächelte böse.
»Theoretisch schon. Aber Don Manuel erinnert sich, daß noch jemand
anders im Raum war, ein dritter Polizist, der leise hereingekommen
war, als die andern Señor Fortuny vorbereiteten, und der die Szene
schweigend verfolgt hatte, an die Wand gelehnt und eine Zigarette
im Mund. Don Manuel erinnert sich an ihn, weil ihn, als er sagte,
das Reglement verbiete das Rauchen im Leichenschauhaus
ausdrücklich, einer der Polizisten zum Schweigen brachte. Kaum war
Señor Fortuny gegangen, sei der dritte Polizist hinzugetreten, habe
einen Blick auf die Leiche geworfen und ihr ins Gesicht gespuckt.
Dann habe er den Paß an sich genommen und angeordnet, die Leiche
nach Can Tunis zu bringen und dort am frühen Morgen in einem
Massengrab zu beerdigen.«
»Das ergibt keinen Sinn.«
»Das dachte Don Manuel auch. Vor allem, weil das nicht mit dem
Reglement zu vereinbaren war. ›Aber wir wissen doch gar nicht, wer
dieser Mann ist‹, sagte er. Die beiden Polizisten zuckten mit den
Schultern. Wütend wies Don Manuel sie zurecht: ›Oder wissen Sie es
nur allzu gut? Niemand kann ja übersehen, daß er schon mindestens
einen Tag tot ist.‹ Don Manuel berief sich aufs Reglement – für
dumm wollte er sich nicht verkaufen lassen. Als er seinen Protest
gehört habe, sei der dritte Polizist zu ihm getreten, habe ihm fest
in die Augen geschaut und ihn gefragt, ob er etwa dem Verstorbenen
auf seiner letzten Reise Gesellschaft leisten wolle. Don Manuel hat
mir erzählt, er sei sehr erschrocken. Dieser Mann habe die Augen
eines Verrückten gehabt und er habe keinen Moment daran gezweifelt,
daß er es ernst meine. Er habe geflüstert, er versuche doch nur,
das Reglement zu erfüllen, niemand wisse, wer dieser Mann sei und
darum könne man ihn noch nicht beerdigen. ›Dieser Mann ist der, von
dem ich sage, er ist es‹, erwiderte der dritte Polizist. Dann nahm
er das Registerblatt, unterschrieb es und erklärte den Fall für
abgeschlossen. Don Manuel sagt, diese Unterschrift werde er nie
vergessen – in den Kriegsjahren und noch lange Zeit später habe er
sie auf Dutzenden von Registerblättern und Totenscheinen von
Leichen wiedergefunden, die weiß Gott woher kamen und die niemand
identifizieren konnte …«
»Inspektor Francisco Javier Fumero …«
»Stolz und Bollwerk der Polizeidirektion. Weißt du, was das
bedeutet, Daniel?«
»Daß wir bisher ziemlich blauäugig waren.«
Barceló nahm Hut und Stock und wandte sich zur Tür. Dabei verneinte
er leise.
»Nein, daß wir unser blaues Wunder erst noch erleben werden.«
26
Den ganzen Nachmittag starrte ich den unheilbringenden Brief an, der mir meine Einberufung verkündete, und wartete auf ein Lebenszeichen von Fermín. Es war bereits eine halbe Stunde nach Ladenschluß, und ich hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Da rief ich in der Pension in der Calle Joaquín Costa an, wo mir Doña Encarna mit Anislikörstimme sagte, sie habe Fermín seit dem Morgen nicht mehr gesehen.
»Wenn er in einer halben Stunde nicht da ist, wird er kalt zu Abend essen, wir sind hier nicht im Ritz. Es ist ihm doch nichts zugestoßen, oder?«
»Seien Sie unbesorgt, Doña Encarna. Er hatte noch eine Besorgung zu erledigen und wird sich verspätet haben. Aber falls Sie ihn vor dem Zubettgehen sehen, wäre ich Ihnen auf jeden Fall sehr dankbar, wenn Sie ihm sagen könnten, er soll mich anrufen. Daniel Sempere, Nachbar Ihrer Freundin Merceditas.«
»Keine Angst, aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß ich
um halb neun in die Klappe gehe.«
Danach rief ich bei Barceló an in der Hoffnung, vielleicht sei
Fermín dort aufgekreuzt, um der Bernarda die Speisekammer zu leeren
oder sie im Bügelzimmer zu kosen. Ich war nicht auf den Gedanken
gekommen, Clara könnte antworten.
»Daniel – das ist aber eine Überraschung.«
Finde ich auch, dachte ich. Weitschweifig ließ ich den Grund meines
Anrufs zu unbedeutender Beiläufigkeit schrumpfen.
»Nein, Fermín ist heute nicht vorbeigekommen. Und die Bernarda war
den ganzen Nachmittag mit mir zusammen, ich müßte es also wissen.
Wir haben von dir gesprochen, weißt du.«
»Was für ein langweiliges Gesprächsthema.«
»Die Bernarda sagt, du siehst sehr gut aus, ein richtiger
Mann.«
»Ich nehme viel Vitamine.«
Langes Schweigen.
»Daniel, glaubst du, wir können eines Tages wieder Freunde sein?
Wie viele Jahre wird es brauchen, bist du mir verzeihst?«
»Wir sind schon Freunde, Clara, und ich habe dir nichts zu
verzeihen. Das weißt du.«
»Mein Onkel sagt, du forschst immer noch Julián Carax nach.
Vielleicht kommst du eines Tages zum Nachmittagskaffee und erzählst
mir Neuigkeiten. Auch ich habe dir einiges zu erzählen.«
»In den nächsten Tagen einmal, ganz gewiß.«
»Ich werde heiraten, Daniel.«
Ich starrte den Hörer an und hatte das Gefühl, mein Skelett laufe
ein paar Zentimeter ein.
»Bist du noch da, Daniel?«
»Ja.«
»Das hat dich überrascht.«
Ich schluckte hart.
»Nein. Was mich überrascht, ist, daß du nicht längst geheiratet
hast. An Freiern wird es ja nicht gefehlt haben. Wer ist denn der
Glückliche?«
»Du kennst ihn nicht. Er heißt Jacobo und ist ein Freund meines
Onkels Gustavo. Leitender Angestellter in der Bank von Spanien. Wir
haben uns bei einem Opernkonzert kennengelernt, das mein Onkel
organisiert hat. Jacobo ist ein großer Opernliebhaber. Er ist älter
als ich, aber wir sind sehr gute Freunde, und das ist doch das
Wichtige, meinst du nicht auch?«
Mein Mund wollte Boshaftigkeiten von sich geben, aber ich biß mir
auf die Zunge. Sie schmeckte nach Gift.
»Natürlich … Nun denn, herzlichen Glückwunsch.«
»Du wirst mir nie verzeihen, was, Daniel? Für dich werde ich immer
Clara Barceló die Treulose sein.«
»Für mich wirst du immer Clara Barceló sein, Punktum. Auch das
weißt du.«
Wieder trat eine dieser Pausen ein, die heimtückisch weiße Haare
geben.
»Und du, Daniel? Fermín sagt, du hast eine wunderhübsche
Freundin.«
»Ich muß jetzt einhängen, Clara, ein Kunde ist gekommen. Ich ruf
dich diese Woche mal an, und wir sehen uns zum Kaffee. Noch einmal
herzlichen Glückwunsch.«
Mit niedergeschlagenem Ausdruck und nicht sehr gesprächslustig kam
mein Vater von seinem Kundenbesuch zurück. Während ich den Tisch
deckte, machte er das Abendessen, ohne mich nach Fermín oder dem
Tag in der Buchhandlung zu fragen. Beim Essen starrten wir auf
unsere Teller und verschanzten uns hinter dem Geschwätz der
Rundfunknachrichten. Mein Vater hatte kaum etwas zu sich genommen,
nur in seiner wäßrigfaden Suppe gerührt, als suchte er auf dem
Grund nach Gold.
»Du hast ja gar nichts gegessen«, sagte ich.
Er zuckte die Schultern. Das Radio bombardierte uns weiter mit
Unsinn, und mein Vater stand auf und schaltete es aus.
»Was stand denn in dem Brief von der Armee?« fragte er
schließlich.
»Ich trete in zwei Monaten meinen Dienst an.«
Ich hatte das Gefühl, sein Blick altere um zehn Jahre.
»Barceló sagt, durch Vitamin B werde er erreichen, daß man mich
nach der Grundausbildung in den Militärbezirk Barcelona versetzt.
So könnte ich sogar zu Hause übernachten.«
Mein Vater nickte kraftlos. Es tat mir weh, seinen Blick
auszuhalten, und ich stand auf, um den Tisch abzuräumen. Er blieb
sitzen, den Blick ins Unbestimmte gerichtet und die Hände unter dem
Kinn gefaltet. Ich wollte eben das Geschirr spülen, als ich im
Treppenhaus Schritte hörte. Zielstrebige, eilige Schritte, die den
Stufen zusetzten und eine unheilvolle Botschaft verhießen. Ich
schaute auf und wechselte einen Blick mit meinem Vater. Die
Schritte hielten auf unserem Treppenabsatz inne. Unruhig stand mein
Vater auf. Eine Sekunde später wurde mehrmals an die Tür gehämmert,
und eine donnernde Stimme rief:
»Polizei! Aufmachen!«
Tausend Dolche drangen mir in den Kopf. Unter einer neuen Salve von
Schlägen wankte die Tür. Mein Vater ging auf die Schwelle zu und
klappte das Guckloch auf.
»Was wollen Sie um diese Zeit?«
»Entweder machen Sie auf, oder wir treten die Tür ein, Señor
Sempere. Ich möchte es nicht wiederholen müssen.«
Es war Fumeros Stimme, und mir wurde eiskalt. Mein Vater warf einen
forschenden Blick auf mich. Ich nickte. Mit einem unterdrückten
Seufzer öffnete er. Im gelblichen Licht des Treppenhauses
zeichneten sich die Gestalten von Fumero und seinen beiden
Trabanten ab.
»Wo ist er?« rief Fumero, während er meinen Vater mit harter Hand
wegschob und sich ins Eßzimmer drängte.
Mein Vater machte Anstalten, ihn zurückzuhalten, aber einer der
beiden Polizisten, die dem Inspektor den Rücken deckten, packte ihn
am Arm, drückte ihn gegen die Wand und hielt ihn so gefühllos und
bestimmt fest wie eine dafür eingerichtete Maschine. Es war
derselbe Mann, der Fermín und mir gefolgt war, derselbe, der mich
festgehalten hatte, während Fumero vor dem Altenheim Santa Lucía
meinen Freund zusammengeschlagen hatte, derselbe, der mich vor zwei
Tagen beschattet hatte. Er warf mir einen leeren, unerforschlichen
Blick zu. Ich trat zu Fumero, so ruhig, wie ich mich irgend geben
konnte. Die Augen des Inspektors waren blutunterlaufen. Über seine
linke Backe zog sich, gesäumt von trockenem Blut, eine frische
Kratzwunde.
»Wo ist er?«
»Wer?«
Fumero blickte zu Boden, schüttelte den Kopf und murmelte etwas vor
sich hin. Als er wieder aufschaute, waren seine Lippen zu einer
Grimasse verzogen, und er hatte einen Revolver in der Hand. Ohne
seine Augen von meinen abzuwenden, gab er der Blumenvase auf dem
Tisch mit dem Kolben einen Schlag. Die Vase barst, die welken
Stengel schwammen im Wasser auf der Tischdecke. In der Diele
zeterte mein Vater, beide Polizisten hielten ihn nun fest wie in
einem Schraubstock. Ich konnte seine Worte kaum verstehen. Alles,
was ich zu verarbeiten vermochte, war der eisige Druck des
Revolverlaufs, der sich mir in die Wange grub.
»Mich verarschst du nicht, du Scheißbengel, oder dein Vater kann
dein Hirn auf dem Boden zusammenkratzen, kapiert?«
Ich nickte zitternd. Fumero preßte den Revolverlauf fest an meinen
Backenknochen. Ich spürte, daß er mir in die Haut schnitt, wagte
aber nicht mit der Wimper zu zucken.
»Ich frage dich zum letzten Mal: Wo ist er?«
Ich sah, wie ich mich in den schwarzen Pupillen des Inspektors
spiegelte, die sich langsam verengten, während er mit dem
Zeigefinger den Abzug spannte.
»Nicht hier. Ich habe ihn seit Mittag nicht mehr gesehen. Das ist
die Wahrheit.«
Eine halbe Minute lang rührte sich Fumero nicht, sondern bohrte mir
nur den Revolver ins Gesicht und leckte sich die Lippen.
»Lerma«, befahl er, »schauen Sie sich um.«
Eilig machte sich einer der Polizisten daran, die Wohnung zu
inspizieren. Mein Vater rangelte vergebens mit dem andern
Polizisten.
»Wenn du mich angelogen hast und wir ihn in dieser Wohnung finden,
schwöre ich dir, daß ich deinem Vater beide Beine breche«, zischte
Fumero.
»Mein Vater weiß nichts. Lassen Sie ihn in Frieden.«
»Nein, du weißt nicht, worauf du dich da eingelassen hast.
Aber sobald ich deinen Freund umgeblasen habe, ist das Spiel aus.
Keine Richter, keine Krankenhäuser, kein gar nix. Diesmal übernehme
ich es persönlich, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Und ich werde es
genießen, glaub mir. Ich werde mir viel Zeit nehmen. Das kannst du
ihm sagen, wenn du ihn siehst. Denn ich werde ihn finden, auch wenn
er sich unter den Pflastersteinen versteckt. Und du bist als
Nächster dran.«
Der Polizist Lerma erschien wieder im Eßzimmer, tauschte einen
Blick mit Fumero und schüttelte den Kopf. Fumero ließ den Abzug los
und senkte den Revolver. »Schade«, sagte er.
»Wessen bezichtigen Sie ihn denn? Warum suchen Sie ihn?«
Fumero kehrte mir den Rücken zu und trat zu den beiden Polizisten,
die auf ein Zeichen von ihm meinen Vater losließen.
»Daran werden Sie sich noch erinnern«, warf ihm mein Vater an den
Kopf.
Fumero faßte ihn ins Auge. Instinktiv wich mein Vater einen Schritt
zurück. Ich fürchtete, das sei erst der Anfang von Fumeros Besuch
gewesen, aber unversehens schüttelte er den Kopf, lachte leise und
verließ ohne weitere Worte die Wohnung. Lerma folgte ihm. Der
dritte Polizist, meine Dauerwache, blieb einen Augenblick auf der
Schwelle stehen. Er schaute mich schweigend an, als wollte er mir
gleich etwas sagen.
»Palacios!« brüllte Fumero mit vom Echo des Treppenhauses
verzerrter Stimme.
Palacios senkte die Augen und verschwand durch die Tür. Ich ging
auf den Absatz hinaus. Wie Messerklingen drang das Licht aus den
einen Spaltbreit geöffneten Türen mehrerer Nachbarn, die mit
erschreckten Gesichtern ins Halbdunkel herausspähten. Die drei
grauen Mäntel verschwanden treppab, und ihre rabiaten Schritte
verebbten allmählich und hinterließen eine Spur der Angst.
Etwa um Mitternacht hörten wir erneut Schläge an der Tür, diesmal
schwächer, fast ängstlich. Mein Vater, der mir mit
Wasserstoffperoxid die Quetschung von Fumeros Revolver reinigte,
hielt abrupt inne. Unsere Blicke trafen sich. Drei neue
Schläge.
Einen Moment dachte ich, es sei Fermín, der den ganzen Zwischenfall
vielleicht von einem dunklen Winkel des Treppenhauses aus verfolgt
hatte.
»Wer da?« fragte mein Vater.
»Don Anacleto, Señor Sempere.«
Mein Vater seufzte. Wir öffneten die Tür, und vor uns stand der
Lehrer, blasser denn je.
»Was ist denn, Don Anacleto? Geht es Ihnen nicht gut?« fragte mein
Vater und bat ihn herein.
Der Lehrer hatte eine zusammengefaltete Zeitung in der Hand. Mit
einem erschrockenen Blick und wortlos reichte er sie uns. Die
Druckerschwärze war noch frisch.
»Das ist die Ausgabe von morgen früh«, flüsterte er. »Seite 6.«
Als erstes sah ich die beiden Fotos unter der Schlagzeile. Das eine
zeigte einen fülligeren Fermín mit dichterem Haar, der fünfzehn
oder zwanzig Jahre jünger sein mochte. Auf dem zweiten war das
Gesicht einer Frau mit geschlossenen Augen und Marmorhaut zu sehen.
Ich erkannte sie erst nach einigen Sekunden, da ich sie immer nur
im Halbdunkel gesehen hatte.
BETTLER ERMORDET FRAU AM HELLICHTEN TAGE
Barcelona (Agenturen/Redaktion). Die Polizei sucht den Bettler, der gestern abend Nuria Monfort Masdedeu, 37, wohnhaft in Barcelona, erstochen hat.
Das Verbrechen wurde gegen halb sechs Uhr abends im Viertel San Gervasio verübt, wo das Opfer ohne offensichtlichen Grund von dem Bettler überfallen wurde, welcher ihr anscheinend und laut Angaben der Polizeidirektion aus noch nicht geklärten Gründen gefolgt war.
Offenbar ist der Mörder, Antonio José Gutiérrez Alcayete, 51 und aus Villa Inmunda, Provinz Cáceres, stammend, ein bekannter Vagabund mit einer langen Geschichte geistiger Verwirrung, der vor sechs Jahren aus dem Modelo-Gefängnis geflohen ist und sich seither dank verschiedener Identitäten den Behörden entziehen konnte. Im Moment des Verbrechens trug er eine Soutane. Er ist bewaffnet, und die Polizei bezeichnet ihn als sehr gefährlich. Man weiß noch nicht, ob sich das Opfer und sein Mörder kannten oder welches das Motiv für das Verbrechen sein mochte, obwohl Quellen der Polizeidirektion darauf hinweisen, daß alles eine solche Hypothese zu stützen scheint. Dem Opfer wurden mit der blanken Waffe sechs Wunden in Bauch, Hals und Brust beigebracht. Der Überfall, der ganz in der Nähe einer Schule stattfand, wurde von mehreren Schülern verfolgt, die den Lehrkörper benachrichtigten, welcher seinerseits die Polizei und einen Krankenwagen rief. Nach den Informationen der Polizei waren die Wunden für das Opfer tödlich. Dieses wurde um 18.15 Uhr tot ins Hospital Clínico von Barcelona eingeliefert.
27
Den ganzen nächsten Tag hörten wir nichts von Fermín. Mein Vater bestand darauf, die Buchhandlung wie jeden Tag zu öffnen und die Fassade zu wahren. Die Polizei hatte einen Beamten vor dem Hauseingang postiert, und ein zweiter überwachte die Plaza Santa Ana im Schutz des Kirchenportals. Im starken Regen, der am frühen Morgen eingesetzt hatte, sahen wir die beiden vor Kälte zittern, ihr dampfender Atem wurde immer durchsichtiger, die Hände waren tief in den Manteltaschen vergraben. Mehr als ein Nachbar ging vorüber und schielte durchs Schaufenster herein, aber kein einziger Käufer wagte sich in den Laden.
»Die Nachricht muß schon die Runde gemacht haben«, sagte ich.
Mein Vater nickte nur. Den ganzen Morgen hatte er kein Wort zu mir gesagt, sondern sich nur mit Gesten mitgeteilt. Die Zeitungsseite mit der Meldung von Nuria Monforts Ermordung lag auf dem Ladentisch. Alle zwanzig Minuten nahm er sie und las sie mit undurchdringlichem Ausdruck. Wortlos häufte er so den Tag über Zorn in sich an.
»Du kannst den Artikel noch so oft lesen, dadurch wird er nicht
wahrer«, sagte ich.
Mein Vater blickte mich ernst an.
»Hast du diese Person gekannt? Nuria Monfort?«
»Ich habe zweimal mit ihr gesprochen.«
Meine Unaufrichtigkeit schmeckte ekelhaft. Noch verfolgten mich ihr
Geruch und die leichte Berührung ihrer Lippen, das Bild des
säuberlich aufgeräumten Schreibtischs und ihr trauriger, wissender
Blick.
»Warum hast du denn mit ihr sprechen müssen? Was hatte sie mit dir
zu tun?«
»Sie war eine alte Freundin von Julián Carax. Ich bin zu ihr
gegangen, um sie zu fragen, was sie von Carax noch in Erinnerung
hatte. Das ist alles. Sie war die Tochter von Isaac, dem Aufseher.
Er hat mir ihre Adresse gegeben.«
»Hat Fermín sie gekannt?«
»Nein.«
»Wie kannst du da so sicher sein?«
»Wie kannst du an ihm zweifeln und diesen Verleumdungen in der
Zeitung Glauben schenken? Das einzige, was Fermín von dieser Frau
wußte, ist das, was ich ihm erzählt habe.«
»Und darum ist er ihr gefolgt?«
»Ja.«
»Weil du ihn darum gebeten hast.«
Ich schwieg. Mein Vater seufzte.
»Du verstehst es nicht, Papa.«
»Natürlich nicht. Ich verstehe weder dich noch Fermín, noch …«
»Papa, auf Grund dessen, was wir von Fermín wissen, kann nicht
sein, was da steht.«
»Und was wissen wir von Fermín, na? Zunächst einmal haben wir nicht
einmal seinen richtigen Namen gekannt, wie sich jetzt
herausstellt.«
»Du irrst dich in ihm.«
»Nein, Daniel. Du bist es, der sich irrt, und zwar in vielem. Wer
heißt dich denn im Leben der Leute herumwühlen?«
»Ich bin frei, zu sprechen, mit wem ich will.«
»Vermutlich fühlst du dich auch frei von den Konsequenzen.«
»Willst du etwa andeuten, ich sei verantwortlich für den Tod dieser
Frau?«
»Diese Frau, wie du dich ausdrückst, hatte einen Vor- und einen
Familiennamen, und du hast sie gekannt.«
»Du brauchst mich nicht daran zu erinnern«, antwortete ich mit
Tränen in den Augen.
Mein Vater schaute mich traurig an.
»Mein Gott, ich mag nicht daran denken, wie dem armen Isaac zumute
ist«, murmelte er zu sich selbst.
»Ich bin nicht schuld an diesem Tod«, sagte ich mit dünner Stimme
und dachte, wenn ich es nur oft genug wiederholte, würde er es mir
am Ende vielleicht glauben.
Kopfschüttelnd zog sich mein Vater in den Hinterraum zurück.
»Du wirst wissen, wofür du verantwortlich bist und wofür nicht,
Daniel. Manchmal weiß ich nicht mehr, wer du bist.«
Ich nahm meinen Mantel und ging auf die Straße in den Regen hinaus,
wo mich niemand kannte und in meiner Seele lesen konnte.
Ziellos überließ ich mich dem eisigen Regen. Ich ging mit gesenkten
Augen dahin, das Bild Nuria Monforts im Kopf, die leblos und den
Körper voller Dolchstiche auf einer kalten Marmorfliese lag. Bei
jedem Schritt verflüchtigte sich die Stadt um mich herum. An einer
Kreuzung in der Calle Fontanella achtete ich nicht einmal auf die
Ampel. Plötzlich sah ich eine dröhnende Wand aus Licht auf mich
zustürzen, spürte einen kalten Windstoß im Gesicht. Im letzten
Moment riß mich ein Passant hinter mir zurück. Wenige Zentimeter
vor meinen Augen sah ich den blitzenden Rumpf des Busses, den
sicheren Tod um eine Zehntelsekunde an mir vorbeirasen. Als mir
bewußt wurde, was geschehen war, ging der Passant, der mir das
Leben gerettet hatte, schon auf dem Fußgängerstreifen davon, eine
Gestalt in grauem Mantel. Ich blieb atemlos und wie angewurzelt
stehen. Im trügerischen Regen konnte ich erkennen, daß mein Retter
auf der andern Straßenseite stehengeblieben war und mich
beobachtete. Es war der dritte Polizist, Palacios. Eine Mauer von
Verkehr rauschte zwischen uns hindurch, und als ich wieder
hinschaute, war Palacios nicht mehr da.
Ich schlug den Weg zu Bea ein, unfähig, noch länger zu warten. Ich
mußte mich unbedingt an das wenige Gute in mir erinnern, das, was
sie mir gegeben hatte. Ich hastete die Treppe hinauf und blieb
atemlos vor der Tür der Aguilars stehen. Kräftig ließ ich den
Klopfer dreimal gegen die Tür fallen. Beim Warten wappnete ich mich
mit Mut, und mir wurde bewußt, wie ich aussah – naß bis auf die
Knochen. Ich strich mir die Haare aus der Stirn und dachte, jetzt
gibt es kein Zurück mehr. Wenn Señor Aguilar erscheint, um mir die
Beine zu brechen und den Schädel einzuschlagen, dann am besten
gleich. Erneut klopfte ich, und kurz darauf hörte ich Schritte
näher kommen. Das Guckloch ging ein wenig auf. Ein dunkler,
argwöhnischer Blick beobachtete mich.
»Wer ist da?«
Ich erkannte die Stimme Cecilias, eines der Dienstmädchen der
Familie Aguilar.
»Ich bin’s, Daniel Sempere, Cecilia.«
Das Guckloch schloß sich, und nach einigen Sekunden setzte das
Konzert von Schlössern und Riegeln ein, die den Eingang panzerten.
Langsam ging die schwere Tür auf, und Cecilia empfing mich in Haube
und Schürze und mit einer dicken Kerze in einem Halter. Aus ihrem
alarmierten Gesicht schloß ich, daß ich einen leichenhaften Anblick
bot.
»Guten Tag, Cecilia. Ist Bea da?«
Verständnislos schaute sie mich an. Im bekannten internen Protokoll
wurde mein Erscheinen, in letzter Zeit ohnehin ein unübliches
Ereignis, einzig mit Tomás assoziiert, meinem ehemaligen
Schulkollegen.
»Señorita Bea ist nicht da …«
»Ist sie ausgegangen?«
Cecilia, lebenslänglich an ihre Schürze geheftete Verschüchterung,
nickte.
»Weißt du, wann sie zurückkommt?«
Sie zuckte die Achseln.
»Sie ist vor etwa zwei Stunden mit den Herrschaften zum Arzt
gegangen.«
»Zum Arzt? Ist sie krank?«
»Ich weiß es nicht, Señorito.«
»Zu welchem Arzt sind sie denn gegangen?«
»Das weiß ich nicht, Señorito.«
Ich mochte das arme Mädchen nicht weiter quälen. Die Abwesenheit
von Beas Eltern eröffnete mir andere Wege der Nachforschung.
»Und Tomás, ist er zu Hause?«
»Ja, Señorito. Kommen Sie herein, ich melde Sie an.«
Ich trat in die Diele und wartete. In andern Zeiten wäre ich direkt
ins Zimmer meines Freundes gegangen, aber ich war schon so lange
nicht mehr hergekommen, daß ich mich wieder als Fremder fühlte.
Cecilia verschwand im Licht des Flurs und ließ mich im Dunkeln
stehen. Ich glaubte, in der Ferne Tomás’ Stimme zu hören und dann
Schritte, die näher kamen. Ich improvisierte eine Entschuldigung,
um vor meinem Freund den unvorhergesehenen Besuch zu rechtfertigen.
Die Gestalt, die auf der Schwelle zur Diele erschien, war abermals
das Dienstmädchen. Cecilia blickte mich zerknirscht an, und mein
plumpes Lächeln löste sich in nichts auf.
»Señorito Tomás sagt, er sei sehr beschäftigt und könne Sie jetzt
nicht empfangen.«
»Hast du ihm gesagt, wer ich bin? Daniel Sempere.«
»Ja, Señorito. Er hat gesagt, ich soll Ihnen sagen, Sie sollen
gehen.«
In meinem Magen breitete sich eine Kälte aus, die mir den Atem
abschnitt.
»Es tut mir leid, Señorito«, sagte Cecilia.
Ich nickte und wußte nicht, was sagen. Das Mädchen öffnete die Tür
der Wohnung, die ich vor nicht allzu langer Zeit noch als mein
zweites Zuhause betrachtet hatte.
»Möchte der Señorito einen Schirm?«
»Nein, danke, Cecilia.«
»Es tut mir leid, Señorito«, wiederholte sie.
Ich lächelte ihr kraftlos zu.
»Mach dir keine Sorgen, Cecilia.«
Die Tür ging zu, und ich stand im Dunkel. Ich verharrte einige
Sekunden und schleppte mich dann treppab. Draußen goß es immer
stärker. Ich ging die Straße hinunter. Als ich an die Ecke kam,
blieb ich stehen und schaute einen Moment zurück, zur Wohnung der
Aguilars hinauf. Im Fenster seines Zimmers zeichnete sich die
Silhouette meines alten Freundes Tomás ab. Er schaute mich reglos
an. Ich winkte ihm zu, doch er erwiderte den Gruß nicht. Nach
kurzer Zeit zog er sich ins Innere zurück. Ich wartete etwa fünf
Minuten in der Hoffnung, ihn noch einmal erscheinen zu sehen, aber
umsonst. Der Regen wischte mir die Tränen vom Gesicht.
28
Auf dem Rückweg in die Buchhandlung kam ich am Kino Capitol vorbei, wo zwei Maler auf einem Gerüst verzweifelt zuschauten, wie das Plakat, dessen Farbe noch nicht trocken war, im Regen zerfloß. Aus der Ferne erkannte ich das stoische Bild der diensttuenden Wache vor der Buchhandlung. Als ich mich Don Federico Flaviás Uhrmacherei näherte, sah ich, daß der Inhaber auf der Schwelle seines Ladens stand, um den Wolkenbruch zu betrachten. Noch immer war sein Gesicht von den Narben seines Aufenthalts im Präsidium gezeichnet. Er trug einen tadellosen grauen Wollanzug und hatte eine Zigarette in der Hand, die er nicht einmal angezündet hatte. Ich winkte ihm zu, und er lächelte.
»Hast du etwas gegen Regenschirme, Daniel?« »Was gibt es
Schöneres als den Regen, Don Federico?« »Die Lungenentzündung. Na,
komm rein, dein Auftrag ist fertig.«
Ich sah ihn verständnislos an. Er blickte mir fest in die Augen und
lächelte weiter. Ich nickte bloß und folgte ihm in seinen
Wunderbazar hinein. Drinnen reichte er mir eine kleine
Packpapiertüte.
»Geh gleich wieder raus, der Hanswurst da, der die Buchhandlung
überwacht, hat uns nicht aus den Augen gelassen.«
Ich guckte in die Tüte hinein. Sie enthielt ein Büchlein mit
Ledereinband, ein Meßbuch. Das Meßbuch, das Fermín in den Händen
gehalten hatte, als ich ihn zum letzten Mal sah. Während mich Don
Federico auf die Straße zurückschob, verschloß er mir mit einem
ernsten Nicken die Lippen. Draußen setzte er wieder seine heitere
Miene auf und sagte laut:
»Und denk daran, überdrehe die Krone nicht, wenn du sie aufziehst,
sonst springt sie wieder raus, ja?«
»Keine Bange, Don Federico – und vielen Dank.« Ich ging mit einem
Knoten im Magen davon, der sich mit jedem Schritt, den ich dem
Polizisten vor der Buchhandlung näher kam, mehr zusammenzog. Als
ich an ihm vorbeiging, grüßte ich ihn mit derselben Hand, in der
ich Don Federicos Tüte trug. Er schaute sie mit unbestimmtem
Interesse an. Ich wischte hinein. Mein Vater stand noch immer
hinter dem Ladentisch, als hätte er seit meinem Weggang keine
Bewegung gemacht.
Bekümmert schaute er mich an.
»Hör zu, Daniel, wegen vorhin …«
»Mach dir keine Sorgen. Du hattest recht.«
»Du zitterst ja …«
Ich nickte, worauf er die Thermoskanne holen ging. Das nutzte ich,
um das kleine WC im Hinterraum aufzusuchen und mir das Meßbuch
anzuschauen. Fermíns Notiz flatterte wie ein Schmetterling durch
die Luft, und ich fing sie auf. Die Nachricht war in winziger
Schrift auf ein beinahe durchsichtiges Stück Zigarettenpapier
geschrieben, so daß ich es ins Gegenlicht halten mußte, um sie zu
entziffern.
Lieber Daniel, glauben Sie kein Wort von dem, was die Zeitungen über den Mord an Nuria Monfort schreiben. Es ist wie immer
reiner Schwindel. Ich bin gesund und wohlbehalten und an einem sicheren Ort versteckt. Versuchen Sie nicht, mich zu finden oder mir eine Nachricht zukommen zu lassen. Vernichten Sie diese Notiz, sobald Sie sie gelesen haben. Sie brauchen sie nicht zu verschlucken, es reicht, wenn Sie sie verbrennen oder zerreißen. Ich werde mich mittels meiner Erfindungsgabe und der guten Dienste Dritter im Bunde mit Ihnen in Verbindung setzen. Bitte geben Sie das Wesentliche dieser Botschaft verschlüsselt und mit aller Diskretion meiner Liebsten weiter. Unternehmen Sie nichts. Ihr Freund, der dritte Mann,
FRdT
Eben wollte ich das Blatt noch einmal durchlesen, als jemand an
die WC-Tür klopfte.
»Darf man eintreten?« fragte eine unbekannte Stimme.
Das Herz schlug mir bis zum Hals. Da ich nicht wußte, was ich sonst
tun sollte, zerknüllte ich das Zigarettenpapier und steckte es in
den Mund. Ich spülte und nutzte das Rauschen von Leitungen und
Spülkasten, um das Papierkügelchen hinunterzuschlucken. Es
schmeckte nach Wachs und Sugus. Als ich die Tür öffnete, erblickte
ich das kriecherische Lächeln des Polizisten, der noch vor
Augenblicken vor der Buchhandlung gestanden hatte.
»Verzeihen Sie. Ich weiß nicht, ob es wegen dem Regen ist, den ich
den ganzen Tag höre, aber ich muß mal dringend, um es so zu sagen
…«
»Aber selbstverständlich«, sagte ich und ließ ihn durch.
»Fühlen Sie sich wie zu Hause.«
»Vielen Dank.«
Der Polizist, der im Licht der Glühbirne wie ein Wiesel aussah,
schaute mich von oben bis unten an. Sein Kloakenblick fiel auf das
Meßbuch in meinen Händen.
»Ohne irgendwas zu lesen, geht es bei mir einfach nicht«, sagte
ich.
»Genau wie bei mir. Und dann heißt es, die Spanier lesen nicht.
Borgen Sie es mir?«
»Da oben auf dem Spülkasten ist die letzte Empfehlung des
nationalen Kulturrats. Damit liegen Sie goldrichtig.«
Ohne die Haltung zu verlieren, ging ich zu meinem Vater zurück, der
dabei war, mir eine Tasse Milchkaffee zu machen.
»Was will der denn?« fragte ich.
»Er hat mir geschworen, er scheißt gleich in die Hose. Was sollte
ich tun?«
»Ihn auf der Straße lassen – so wäre ihm warm geworden.«
Mein Vater runzelte die Stirn.
»Wenn es dir nichts ausmacht, geh ich gleich nach oben.«
»Ja, natürlich. Und zieh dir trockene Sachen an, sonst kriegst du
noch eine Lungenentzündung.«
In der Wohnung war es kalt und still. Ich ging in mein Zimmer und
spähte aus dem Fenster. Die zweite Wache stand noch immer da unten,
vor dem Eingang zur Kirche Santa Ana. Ich zog die nassen Kleider
aus und schlüpfte in einen warmen Pyjama und einen Morgenmantel,
der meinem Großvater gehört hatte. Dann legte ich mich aufs Bett,
ohne auch nur das Licht anzuknipsen, und überließ mich dem
Halbdunkel und dem Prasseln des Regens auf den Scheiben. Ich schloß
die Augen und versuchte Beas Bild, Berührung und Geruch
heraufzubeschwören. In der vergangenen Nacht hatte ich kein Auge
zugetan, und bald übermannte mich die Müdigkeit.
Als ich erwachte, dämmerte durch die beschlagenen Scheiben grau der
Morgen herein. Ich zog mich warm an, mit halbhohen Stiefeln. Dann
ging ich leise auf den Gang hinaus, tastete mich durch die Wohnung
und glitt auf die Straße hinaus. In der Ferne leuchteten schon die
Lichter der Kioske auf den Ramblas. An dem bei der Einmündung zur
Calle Tallers kaufte ich die erste Ausgabe des Tages, die noch nach
frischer Farbe roch. Eilig blätterte ich mich durch die Seiten zu
den Todesanzeigen. Nuria Monforts Name stand unter einem Kreuz, und
ich spürte, wie mir die Augen flackerten. Mit der
zusammengefalteten Zeitung unter dem Arm machte ich mich auf die
Suche nach Dunkelheit. Die Beerdigung fand an diesem Nachmittag auf
dem Friedhof des Montjuïc statt. Auf einem Umweg ging ich wieder
nach Hause. Mein Vater schlief noch. In meinem Zimmer setzte ich
mich an den Schreibtisch und zog den Füllfederhalter aus seinem
Etui. Ich nahm ein weißes Blatt Papier und wünschte mir, er möchte
mich lenken. Doch in meinen Händen hatte er nichts zu sagen.
Umsonst suchte ich nach den Worten, die ich Nuria Monfort anbieten
wollte, aber ich war unfähig, irgend etwas zu schreiben oder zu
empfinden außer der unerklärlichen Angst, die mir ihr Fehlen
verursachte. Schattenhaft gehst du hin, dachte ich. So, wie du
gelebt hast.
29
Kurz vor drei Uhr nachmittags stieg ich auf dem Paseo de Colón in den Bus, der mich zum Friedhof des Montjuïc bringen sollte. Durchs Fenster sah man den Wald von Masten und flatternden Wimpeln im Hafenbecken. Der fast leere Bus fuhr um den Montjuïc-Hügel herum und nahm dann die Straße hinauf zum Eingang dieses großen Stadtfriedhofs. Ich war der letzte Fahrgast.
»Wann kommt denn der letzte Bus vorbei?« fragte ich den
Fahrer.
»Um halb fünf.«
Vor dem Friedhofseingang stieg ich aus. Eine Zypressenallee erhob
sich im Dunst. Sogar von hier aus, zu Füßen des Hügels, erkannte
man die unendliche Totenstadt, die immer weiter den Hang
hinaufgewachsen war, bis sie die Kuppe überschritten hatte. Ein
Labyrinth aus Gräbern, Grabsteinen, monumentalen Mausoleen, von
Feuerengeln gekrönten Türmen, bemoosten Steinstatuen, die im Morast
versanken. Ich atmete tief durch und ging hinein. Meine Mutter war
etwa hundert Meter von diesem Weg entfernt begraben. Bei jedem
Schritt spürte ich die Kälte dieses Ortes, den Schrecken der in
vergilbten Fotomedaillons zwischen Kerzen und verwelkten Blumen
festgehaltenen Gesichter. Kurz danach konnte ich in der Ferne die
um das Grab herum angezündeten Gaslaternen sehen. Ein halbes
Dutzend Menschen standen vor einem aschfarbenen Himmel. Ich
beschleunigte meine Schritte und blieb stehen, sobald ich die Worte
des Priesters vernehmen konnte.
Der Sarg, eine Kiste aus unpoliertem Pinienholz, lag auf dem Lehm.
Auf ihre Schaufeln gestützt, bewachten ihn zwei Totengräber. Ich
betrachtete mir die Anwesenden. Der alte Isaac, der Aufseher des
Friedhofs der Vergessenen Bücher, war nicht zur Beerdigung seiner
Tochter gekommen. Ich erkannte Nuria Monforts Etagennachbarin, die
unter Kopfschütteln weinte, während ihr ein abgehärmter Mann
tröstend den Rücken streichelte, vermutlich ihr Mann. Neben ihnen
stand eine etwa vierzig Jahre alte Frau, die einen Blumenstrauß
trug. Sie weinte lautlos und mit zusammengepreßten Lippen, den
Blick vom Grab abgewandt. Ich hatte sie noch nie gesehen. Etwas
abseits der Gruppe befand sich in seinem grauen Mantel, den Hut auf
dem Rücken, der Polizist, der mir am Vortag das Leben gerettet
hatte, Palacios. Er schaute auf und beobachtete mich einige
Sekunden, ohne mit der Wimper zu zucken. Die blinden,
sinnentleerten Worte des Priesters waren das einzige, was uns von
der schrecklichen Stille trennte. Ich betrachtete den mit Lehm
besprenkelten Sarg und stellte mir vor, wie Nuria Monfort drin lag,
und merkte nicht, daß ich weinte, bis die Unbekannte in Grau zu mir
trat und mir eine Blume aus ihrem Strauß gab. Ich blieb stehen, bis
sich die Gruppe zerstreute und die Totengräber auf ein Zeichen des
Priesters ihre Arbeit zu verrichten begannen. Ich steckte die Blume
in die Manteltasche und ging, unfähig, das Lebewohl auszusprechen,
das ich mitgebracht hatte.
Es begann zu dämmern, als ich zum Friedhofseingang kam, und ich
nahm an, ich hätte den letzten Bus verpaßt, so daß ich mich darauf
einrichtete, eine lange Wanderung zu machen, und auf der Straße
losmarschierte, die den Hafen entlang nach Barcelona zurückführte.
Etwa zwanzig Meter vor mir parkte ein schwarzes Auto mit
eingeschaltetem Licht. Im Innern rauchte jemand eine Zigarette. Als
ich näher kam, öffnete mir Palacios die Beifahrertür.
»Komm, ich bring dich nach Hause. Um diese Zeit wirst du hier weder
einen Bus noch ein Taxi finden.«
Ich zögerte einen Augenblick.
»Ich geh lieber zu Fuß.«
»Red keinen Unsinn. Steig ein.«
Er sprach mit dem schneidenden Ton dessen, der zu befehlen gewohnt
ist und sofortigen Gehorsam erwartet.
»Bitte«, fügte er hinzu.
Ich stieg ein, und er ließ den Motor an.
»Enrique Palacios«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen.
Ich ergriff sie nicht.
»Wenn Sie mich auf dem Paseo de Colón absetzen, ist mir schon
gedient.«
Mit einem Ruck fuhr der Wagen an. Wir legten ein gutes Stück
zurück, ohne ein Wort zu sagen.
»Ich möchte, daß du weißt, daß mir das mit Señora Monfort sehr leid
tut.«
Aus seinem Mund kamen mir diese Worte wie eine Obszönität, als
Beleidigung vor.
»Ich danke Ihnen, daß Sie mir neulich das Leben gerettet haben,
aber ich muß Ihnen sagen, daß es mich einen Dreck interessiert, was
Sie empfinden, Señor Enrique Palacios.«
»Ich bin nicht das, was du denkst, Daniel. Ich möchte dir
helfen.«
»Wenn Sie erwarten, daß ich Ihnen sage, wo Fermín ist, können Sie
mich gleich hier absetzen.«
»Es interessiert mich einen feuchten Staub, wo dein Freund ist. Ich
bin jetzt nicht im Dienst.«
Ich sagte nichts.
»Du hast kein Vertrauen zu mir, und ich kann es dir nicht
verdenken. Aber hör mir wenigstens zu. Das alles ist schon zu weit
gediehen. Diese Frau hätte nicht zu sterben brauchen. Ich bitte
dich, die ganze Geschichte fahrenzulassen und diesen Mann, Carax,
für immer zu vergessen.«
»Sie reden, als wäre das, was da geschieht, mein Wille. Ich bin nur
Zuschauer. Die Vorstellung bestreitet Ihr Chef mit Ihnen und Ihren
Kollegen.«
»Ich habe die Beerdigungen satt, Daniel. Ich möchte nicht auch noch
deiner beiwohnen müssen.«
»Um so besser, Sie sind nämlich nicht eingeladen.«
»Ich meine es ernst.«
»Ich auch. Würden Sie bitte hier anhalten und mich aussteigen
lassen.«
»In zwei Minuten sind wir auf dem Paseo de Colón.«
»Ist mir egal. Dieses Auto riecht nach Toten, wie Sie. Lassen Sie
mich aussteigen.«
Palacios verlangsamte und hielt am Randstein an. Ich stieg aus,
schlug die Tür zu, ohne den Polizisten anzusehen, und wartete, daß
er davonführe, doch er blieb stehen. Ich wandte mich um und sah,
daß er das Fenster herunterkurbelte. Ich hatte das Gefühl,
Aufrichtigkeit, ja Schmerz auf seinem Gesicht zu lesen, aber ich
mochte nicht daran glauben.
»Nuria Monfort ist in meinen Armen gestorben, Daniel«, sagte er.
»Ich glaube, ihre letzten Worte waren eine Botschaft an dich.«
»Was hat sie gesagt? Hat sie meinen Namen genannt?«
»Sie hat deliriert, aber ich glaube, sie hat dich gemeint. In einem
bestimmten Moment sagte sie, es gebe schlimmere Gefängnisse als
Worte. Dann hat sie mich, bevor sie gestorben ist, gebeten, dir zu
sagen, du sollst sie gehen lassen.«
Ich schaute ihn an, ohne zu verstehen.
»Ich solle wen gehen lassen?«
»Eine gewisse Penélope. Ich habe mir gedacht, das sei deine
Freundin.«
Er senkte die Augen und fuhr in der Dämmerung davon.
Verwirrt sah ich, wie die Rückleuchten in der blauroten Dunkelheit
verschwanden. Dann ging ich langsam zum Paseo de Colón, während ich
diese letzten Worte von Nuria Monfort wiederholte, ohne ihnen einen
Sinn abzugewinnen. Auf der Plaza del Portal de la Paz blieb ich
stehen und betrachtete die Molen neben der Landungsbrücke der
Ausflugsboote. Ich setzte mich auf die Stufen, die sich im trüben
Wasser verloren, am selben Ort, wo ich vor vielen Jahren einmal
nachts zum ersten Mal Laín Coubert gesehen hatte, den Mann ohne
Gesicht.
»Es gibt schlimmere Gefängnisse als Worte«, murmelte ich.
Erst jetzt begriff ich, daß Nuria Monforts Botschaft nicht an mich
gerichtet war. Nicht ich sollte Penélope freigeben. Ihre letzten
Worte hatten nicht einem Fremden gegolten, sondern dem Mann, den
sie insgeheim fünfzehn Jahre lang geliebt hatte: Julián Carax.
30
Als ich auf der Plaza de San Felipe Neri ankam, war es völlig dunkel geworden. Die Bank, auf der ich Nuria Monfort zum ersten Mal gesehen hatte, stand unter einer Straßenlaterne, leer und mit Taschenmessertätowierungen übersät – Namen von Verliebten, Beschimpfungen und Versprechungen. Ich schaute zu den Fenstern von Nuria Monforts Wohnung im dritten Stock hinauf und sah einen flackernden Schein. Eine Kerze.
Ich trat ins grottenartige Erdgeschoß und stieg im Dunkeln die Treppen hinauf. Meine Hände zitterten, als ich den Absatz des dritten Stocks erreichte. Unter der angelehnten Tür drang ein rötlicher Schimmer hervor. Ich legte die Hand auf die Klinke und blieb reglos stehen, um zu lauschen. Aus dem Innern glaubte ich ein Murmeln, einen stockenden Atem zu vernehmen. Einen Augenblick dachte ich, wenn ich diese Tür öffne, werde ich sie erblicken, wie sie mich erwartet, rauchend neben der Balkontür, in der Hocke an der Wand lehnend, am selben Ort verankert, an dem ich sie verlassen habe. Sachte, wie um sie nicht zu stören, öffnete ich die Tür und betrat die Wohnung. Die Balkonvorhänge flatterten im Zimmer. Die Gestalt saß am Fenster, reglos und mit einer brennenden Wachskerze in den Händen. Mit tränenüberströmtem Gesicht wandte sich Isaac Monfort zu mir um.
»Ich habe Sie heute nachmittag bei der Beerdigung nicht
gesehen«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf und trocknete sich mit dem Ärmel die
Augen.
»Nuria war nicht dort«, murmelte er nach einer Weile. »Tote gehen
nie auf ihre eigene Beerdigung.«
Er warf einen Blick in den Raum, als wollte er mir damit zu
verstehen geben, daß seine Tochter hier bei uns im Halbdunkeln säße
und uns zuhörte.
»Wissen Sie, daß ich noch nie in dieser Wohnung war?« fragte er.
»Immer, wenn wir uns getroffen haben, war es Nuria, die zu mir kam.
›Für Sie ist es einfacher, Vater‹, sagte sie. ›Wozu sollen Sie
Treppen steigen?‹ Ich habe immer zu ihr gesagt: ›Na schön, wenn du
mich nicht einlädst, komme ich auch nicht‹, und sie hat
geantwortet: ›Ich brauche Sie nicht zu mir einzuladen, Vater,
einladen tut man Fremde. Sie können kommen, wann immer Sie wollen.‹
In über fünfzehn Jahren habe ich sie nicht ein einziges Mal
besucht. Immer habe ich zu ihr gesagt, daß sie ein übles Viertel
ausgewählt hat. Wenig Licht. Ein altes Haus. Sie hat nur genickt.
Ebenso, wenn ich ihr sagte, daß sie ein schlechtes Leben ausgewählt
hat. Wenig Zukunft. Einen Mann ohne feste Arbeit. Merkwürdig, wie
wir die andern beurteilen und nicht merken, wie elend unsere
Geringschätzung ist – bis sie uns fehlen, bis man sie uns wegnimmt.
Man nimmt sie uns weg, weil sie uns nie gehört haben …«
Isaacs einst so bärbeißige Stimme klang brüchig.
»Nuria hat Sie sehr geliebt, Isaac. Daran dürfen Sie keinen
Augenblick zweifeln. Und glauben Sie mir, sie wußte sich auch von
Ihnen geliebt«, stotterte ich.
Wieder schüttelte er den Kopf. Er lächelte durch die Tränen
hindurch.
»Vielleicht hat sie mich geliebt, auf ihre Weise, so, wie ich sie
geliebt habe, auf meine Weise. Aber gekannt haben wir uns nicht.
Vielleicht weil ich nie zugelassen habe, daß sie mich kennenlernte,
oder nie einen Schritt getan habe, um sie kennenzulernen. Wir haben
das Leben wie zwei Fremde gelebt, die sich täglich sehen und sich
aus Höflichkeit grüßen. Und vielleicht ist sie gestorben, ohne mir
zu verzeihen.«
»Isaac, ich versichere Ihnen …«
»Ach, Daniel, Sie sind jung und bemühen sich, aber obwohl ich
getrunken habe und nicht weiß, was ich sage, haben Sie noch nicht
gut genug lügen gelernt, um einen alten Mann mit vergiftetem Herzen
zu täuschen.«
Ich schaute zu Boden.
»Die Polizei sagt, der Mann, der sie umgebracht hat, sei ein Freund
von Ihnen«, sagte Isaac.
»Die Polizei lügt.«
Er nickte.
»Ich weiß.«
»Ich versichere Ihnen …«
»Nicht nötig, Daniel. Ich weiß, daß Sie die Wahrheit sagen.«
Er zog einen dicken Umschlag aus der Manteltasche.
»Am Abend vor ihrem Tod hat Nuria mich besucht, wie sie es vor
Jahren immer getan hatte. Ich erinnere mich, daß wir dann in ein
Café in der Calle Guardia essen gegangen sind, wo ich sie als Kind
hingeführt hatte. Immer sprachen wir über Bücher, alte Bücher.
Manchmal hat sie mir Dinge von der Arbeit erzählt, aber kein
einziges Mal habe ich mich wirklich nach ihrem Leben
erkundigt.«
»Isaac, bei allem Respekt, Sie haben getrunken wie ein
Bürstenbinder und wissen nicht, was Sie sagen.«
»Der Wein macht den Weisen zum Narren und den Narren zum Weisen. Am
letzten Abend, als wir uns sahen, hat sie mir diesen Umschlag
gebracht. Sie war sehr unruhig, voller Sorge über etwas, was sie
mir nicht erzählen wollte, und hat mich gebeten, diesen Umschlag
für Sie zu verwahren und Ihnen zu geben, sollte etwas
geschehen.«
»Sollte etwas geschehen?«
»So hat sie gesagt. Sie war so erregt, daß ich ihr vorschlug,
gemeinsam zur Polizei zu gehen, wir würden schon eine Lösung
finden, was für ein Problem es auch sein mochte. Da hat sie gesagt,
die Polizei sei der letzte Ort, wo sie hin könne. Ich habe sie
gebeten, sie soll mir sagen, worum es sich handelt, aber sie hat
gesagt, sie müsse jetzt gehen. Und ich mußte ihr versprechen, Ihnen
diesen Umschlag zu geben, wenn sie ihn in zwei Tagen nicht wieder
abhole. Sie bat mich, ihn nicht zu öffnen.«
Er gab mir den Umschlag. Er war geöffnet.
»Ich habe sie belogen, wie immer«, sagte er.
Ich schaute hinein. Er enthielt ein Bündel handgeschriebene
Blätter.
»Haben Sie sie gelesen?« fragte ich.
Der Alte nickte langsam.
»Was steht denn drin?«
Er schaute auf. Seine Lippen zitterten. Ich hatte den Eindruck, er
sei um Jahre gealtert seit dem letzten Mal, wo ich ihn gesehen
hatte.
»Es ist die Geschichte, die Sie gesucht haben, Daniel. Die
Geschichte einer Frau, die ich nie kennengelernt habe, obwohl sie
meinen Namen trug und mein Blut hatte. Jetzt gehört sie Ihnen.«
Ich steckte den Umschlag in die Manteltasche.
»Ich muß Sie bitten, mich allein zu lassen. Vor einer Weile, als
ich diese Seiten las, habe ich gedacht, ich finde sie wieder.
Sosehr ich mich auch bemühe, ich kann mich an sie nur erinnern, als
sie noch ein Mädchen war. Als Kind war sie sehr schweigsam, wissen
Sie. Am meisten haben ihr Märchen gefallen. Immer hat sie mich
gebeten, ihr Märchen vorzulesen, und ich glaube nicht, daß je ein
Kind früher lesen gelernt hat. Sie wollte auch Geschichten erfinden
und Schriftstellerin werden. Ihre Mutter sagte, das alles ist deine
Schuld, Nuria betet dich an, und da sie denkt, du liebst nur
Bücher, will sie eben Bücher schreiben, damit du auch sie
liebst.«
»Isaac, ich halte es nicht für eine gute Idee, daß sie heute nacht
allein bleiben. Warum kommen Sie nicht mit mir? Sie verbringen die
Nacht bei uns und leisten erst noch meinem Vater Gesellschaft.«
Wieder schüttelte er den Kopf.
»Ich habe zu tun, Daniel. Gehen Sie nach Hause und lesen Sie diese
Seiten. Sie gehören Ihnen.«
Der Alte wandte sich ab, und ich ging zur Tür. Ich stand bereits
auf der Schwelle, als seine Stimme mich rief, beinahe
flüsternd.
»Daniel?«
»Ja?«
»Seien Sie sehr vorsichtig.«
Auf der Straße war es, als schleppe sich die Schwärze übers
Pflaster, dicht auf meinen Fersen. Ich ging schneller und behielt
dieses Tempo bei, bis ich zu unserer Wohnung in der Calle Santa Ana
kam. Beim Eintreten sah ich meinen Vater mit einem Buch auf seinem
Sessel sitzen. Es war ein Fotoalbum. Als er mich erblickte, stand
er mit so erleichtertem Ausdruck auf, als wäre ihm ein gewaltiger
Stein vom Herzen gefallen.
»Ich habe mir schon Sorgen gemacht«, sagte er. »Wie war die
Beerdigung?«
Ich zuckte die Schultern, und er nickte ernst, womit das Thema
abgeschlossen war.
»Ich habe dir etwas zu essen gemacht. Wenn du magst, wärme ich es
auf, und …«
»Ich habe keinen Hunger, danke. Ich habe unterwegs etwas Kleines
gegessen.«
Er schaute mir in die Augen, nickte wieder und begann die Teller
vom Tisch abzuräumen. Da trat ich, ohne recht zu wissen, warum, zu
ihm und umarmte ihn. Überrascht umarmte er mich ebenfalls.
»Daniel, ist dir nicht gut?«
Ich drückte ihn kräftig.
»Ich habe dich lieb«, sagte ich leise.
Die Glocken der Kathedrale schlugen Mitternacht, als ich Nuria
Monforts Manuskript zu lesen begann. Ihre kleine, ordentliche
Schrift erinnerte mich an die Reinlichkeit ihres Schreibtischs, als
hätte sie in den Worten den Frieden und die Sicherheit gesucht, die
ihr das Leben versagt hatte.