Kapitel 10

 

Smoky und Vanzir wollten nicht mitkommen, also machten nur Camille, Delilah und ich uns auf den Weg zu Harish. Wir kurvten durch die Straßen in Richtung der Gegend, wo Siobhan wohnte, unsere Wer-robben-Freundin. Die Feen hatten im vergangenen Jahr die Nordseite des Discovery Park übernommen, Land dort aufgekauft, Häuser und Wohnungen gemietet. Ich hegte den Verdacht, dass der große ImmobilienBoom in den letzten paar Monaten daher rührte, dass die Feenköniginnen ihr Reich wieder aufbauten. Plötzlich fühlten sich die Wohngebiete in der Nähe von Parks, Seen und Sumpfgebieten entschieden nach »Feenreich« an.

Wir fuhren durch den Discovery Park, wo Bäume die Straße beschatteten und uns die Sicht auf den Himmel nahmen. Dieser Park war freundlich. Delilah und Camille kamen oft hierher, um spazieren zu gehen, nachzudenken oder mit den Natur-Devas zu sprechen. Das vermisste ich, aber seit ich in einen Vampir verwandelt worden war, fühlten sich Naturgeister in meiner Gegenwart nicht wohl, und ich wollte sie nicht verschrecken.

Also hielt ich mich von ihnen fern, außer sie kamen von sich aus auf mich zu, um mit mir zu spielen. So viele Menschen warfen Feen, Elfen und Naturgeister in einen Topf, obwohl wir drei völlig verschiedene Arten waren.

Natur-Devas waren teils Fee, teils Pflanze, und sie lebten nur, um ihrer Pflanzenspezies zu dienen. Brombeer-Devas waren riesig und krochen über das Land, wobei sie Raum verschlangen wie ihr Dickicht. Baum-Devas konnten tausend Jahre alt sein, und sie waren zwar nicht direkt wie die Ents aus Tolkiens Welt, aber sie wachten tatsächlich wie Hirten über ihre Schützlinge und hielten ein Auge darauf, was die Zwei-und Vierbeiner in ihren Wäldern so anstellten. Blumengeister waren oft lebhaft, beinahe geschwätzig, bis auf einige wenige, wie die Devas von Waldhyazinthen, die tödlich sein konnten, wenn man in ihr Reich eindrang.

Camille bog nach links in die Lawtonwood Road ab und folgte ihr bis zur Cramer Street, wo sie erneut links abbog. Ein paar Querstraßen weiter hielten wir vor einem großen Haus. Camille stellte den Motor ab.

Ich sah mir das Haus an. Sämtliche Lichter brannten. »Wollen wir? «

»Geh du voran«, sagte Camille. »Du und Iris habt schließlich Sabeles Truhe entdeckt. Hast du ihren Anhänger und die Haarsträhne mitgebracht?«

Ich nickte und tätschelte meine Tasche. Aus irgendeinem Grund hatte ich mir angewöhnt, das Medaillon in einem Schächtelchen bei mir zu tragen. Ich war besorgt um die Elfe und kam nicht dahinter, warum eigentlich. »Was ist mit ihrem Tagebuch? Du hast es nicht zufällig dabei?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich habe ein gutes Gedächtnis. Ich weiß, wonach ich fragen muss.«

Der Weg zum Haus war gepflastert. Der Vorgarten war sehr gepflegt, er fühlte sich schon beinahe zu ordentlich an. Ich blickte mich nach irgendeinem Anzeichen von Unordnung um, nach einem Hauch der Wildheit, die viele Feen-Haushalte umgab. Unser eigener Vorgarten war ein Durcheinander von Pflanzen, Gräsern und Moos, aber Harish hatte entweder einen Gärtner angeheuert oder war ein Ordnungsfanatiker.

Das Haus sah genauso aus. Die Holzverkleidung schimmerte in verdächtigem Mangel an Schmutz für eine Gegend, die nur etwa sechzig Sonnentage im Jahr vorzuweisen hatte -der Rest war bewölkt, und oft nieselte oder regnete es. Aber hier sah alles makellos aus. Ich klopfte an die Tür, und Camille und Delilah traten neben mich.

Gleich darauf wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet, und ein junger Mann lugte heraus. Er war ein Elf, unverkennbar, aber einer, der eine Brille trug und anscheinend fand, dass die Kostümbildner von Miami Vice den Dreh raushatten. Er sah aus wie ein Schönling, eine platinblonde Ausgabe von Don Johnson. Er musterte uns von oben bis unten und öffnete die Tür ein wenig weiter.

»Ja, was kann ich für euch tun?« Neutraler Tonfall. Weder freundlich noch unfreundlich.

»Bist du Harish? «

»Ja«, sagte er, und die Tür ging ein paar Fingerbreit weiter auf. »Was wollt ihr? «

»Wir suchen nach Sabele Olahava«, sagte ich langsam. »Wir dachten, du wüsstest vielleicht, wo sie ist.«

Er erstarrte. Die affektiert-gelangweilte Maske fiel von ihm ab, und dahinter kam ein ernster, trostloser Ausdruck zum Vorschein.

»Sie ist nicht hier«, sagte er und machte Anstalten, die Tür zu schließen.

»Warte - bitte. Wir müssen sie finden. Kannst du dich nur zehn Minuten lang mit uns unterhalten?«, fragte Delilah auf ihre gewinnendste Art und trat einen halben Schritt vor.

Harish sah sie einen Moment lang an und seufzte dann tief. »Na schön. Aber ich werde euch nicht hereinbitten - nicht solange die bei euch ist«, sagte er und zeigte auf mich. »Ich komme raus, und wir unterhalten uns auf der Veranda. «

»Wie unhöflich ...«, begann Delilah zu schimpfen, aber ich berührte sie am Arm und schüttelte den Kopf. Er schützte nur sein Haus, und es war sein gutes Recht, mir gegenüber misstrauisch zu sein.

»Er hat recht«, sagte ich. »Es ist eine ganz schlechte Idee, fremde Vampire in dein Haus einzuladen - das wäre wirklich dumm.« Ich wandte mich wieder ihm zu. »Das geht in Ordnung.

Wollen wir uns auf die Verandatreppe setzen?«

Wir ließen uns auf der überdachten Treppe nieder. Delilah funkelte ihn immer noch an, aber ich war nicht beleidigt. Harish wäre ein großes Risiko eingegangen, wenn er mich in sein Haus eingeladen hätte, und das wusste er auch. Wenn er sich damit nicht wohl fühlte, war es sein gutes Recht, mich draußen zu halten. Ich würde es genauso machen, wenn irgendein massiger Schlägertyp vor der Tür stünde, den ich nicht kannte. »Ich bin Menolly D'Artigo, und das sind meine Schwestern Camille und Delilah.«

Er seufzte erneut, lehnte sich ans Treppengeländer und schob die Ärmel seines sommerlichen Blazers ein Stück hoch. »Warum erkundigt ihr euch nach Sabele? «

»Sie hat früher im Wayfarer gearbeitet. Ich bin die neue Besitzerin. Ich habe den Laden übernommen, nachdem Jocko ermordet wurde.« Ich hielt den Blick fest auf ihn gerichtet.

Er zog leicht die Augenbrauen hoch. »Ich habe schon eine ganze Weile nicht mehr an die Bar gedacht. Seit Sabele verschwunden ist, bringe ich es nicht mal über mich, daran vorbeizugehen. «

»Verschwunden?« Camille beugte sich vor. »Wann? Wir dachten, ihr hättet vielleicht geheiratet und sie wäre hier bei dir.«

Seine Miene zuckte. »Geheiratet? Wie zum Teufel kommt ihr denn darauf? Wir waren verlobt, aber offenbar konnte sie den Gedanken doch nicht ertragen, mich auch tatsächlich zu heiraten. Sie ist bei Nacht und Nebel verschwunden, ohne sich auch nur zu verabschieden. Ich habe ein Jahr lang getrauert und mich danach ein Jahr lang gefragt, was ich falsch gemacht habe. Im vergangenen Jahr habe ich es endlich geschafft, ihre Zurückweisung zu vergessen, und jetzt steht ihr auf einmal vor der Tür und rührt das alles wieder auf.«

Ich warf Camille einen Blick zu, die ihn scharf beobachtete. Unser Glamour wirkte bei Elfen nicht so wie bei VBM, also konnten wir ihn nicht zwingen, die Wahrheit zu sagen, aber Elfen waren auch keine besonders guten Lügner. Sie konnten schummeln und Dinge verschleiern, die sie nicht preisgeben wollten, aber lügen - das lief ihrer Natur zuwider.

»In ihrem Tagebuch steht, dass ihr verlobt wart«, erklärte Camille. »Sie hat dich sehr geliebt, nach allem, was sie geschrieben hat.«

Harish wurde blass, und zum ersten Mal brachen echte Gefühle durch die gelassene Fassade, die er davor errichtet hatte.

»Tagebuch?«

Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ihr habt ihr Tagebuch gefunden? Dieses Buch durfte niemand anrühren. Sabele hätte es niemals zurückgelassen. «

»Das dachten wir uns auch«, sagte ich und holte die Schach tel mit dem Medaillon und der Locke aus der Tasche. Ich öffnete sie und reichte sie ihm. »Erkennst du das wieder?«

Während der Elf das Medaillon langsam an der Kette herauszog, wich seine Sorge einem gebrochenen Ausdruck. »Ich habe ihr das geschenkt, eine Woche vor ihrem Verschwinden. Das war mein Verlobungsgeschenk. Und die Locke - das ist eine Strähne vom Haar ihrer Mutter. Die würde sie niemals und unter keinen Umständen aus der Hand geben. Ihre Mutter ist gestorben, kurz nachdem Sabele Erdseits kam. Ihr Vater hat ihr diese Locke geschickt, weil sie nicht zur Beisetzung nach Hause kommen konnte. «

»Du hast wirklich geglaubt, dass sie einfach fortgehen würde, ohne dir etwas zu sagen?«, fragte ich. Ich fand es schrecklich, so zudringlich zu sein. Aber irgendetwas war geschehen, und ich wollte der Sache auf den Grund gehen. »Warum sollte sie das tun? Ihr wart doch verlobt. «

»Ja«, sagte er leise und strich mit den Fingern über das Medaillon. »Wir haben eine große Hochzeit zu Hause in Elqaneve geplant. Als ich ihr das Medaillon geschenkt habe, hat sie gleich ein Foto von mir hineingesteckt und gesagt, dass sie es immer hüten würde wie ihren größten Schatz.« Seine Stimme brach. Im Licht der Wandlampe neben der Tür sah ich, dass seine Augen hellblau waren und vor Tränen schimmerten. »Dann, kurz danach, ist sie verschwunden. «

»Du hast doch sicher nach ihr gesucht?«, fragte Delilah atemlos und beugte sich vor. Sie hatte vor kurzem die Brontes für sich entdeckt, weil Camille sie dazu überredet hatte, Jane Eyre und Sturmhöhe zu lesen. Das hatte eine ganze Welle alter, tragischer Liebesgeschichten angestoßen. In letzter Zeit hatten romantische Filme am Freitagabend sogar Jerry Springer verdrängt.

»Natürlich habe ich sie gesucht«, erwiderte er. »Was glaubst du denn? Dass ich mir gedacht habe: Oh, da habe ich wohl meine Verlobte verloren, statt die ganze Stadt nach ihr abzusuchen?

Bitte beleidige mich nicht noch in meinem Kummer. «

»Entschuldigung«, murmelte Delilah.

Harishs Schultern bebten. »Nein, mir tut es leid. Ich vermisse sie immer noch, um ehrlich zu sein. Ich behaupte, dass ich über sie hinweg wäre und das Ganze nach drei Jahren als ›Schicksal‹ abgeschrieben hätte, aber ... in Wahrheit vermisse ich sie jeden Tag. Und jeden Tag frage ich mich, ob sie irgendwo ein wunderbares Leben hat. Ich bin immer noch verbittert, aber ich hoffe sehr, dass sie glücklich ist. «

»Erzähl uns, was passiert ist«, bat ich sanft.

Seufzend begann er: »Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, hatten wir eine kleine Auseinandersetzung - nichts Dramatisches, aber Sabele ist nach dem Abendessen empört hinausgestürmt. So war sie eben - temperamentvoll. Normalerweise habe ich das an ihr geliebt. Jedenfalls habe ich mich deswegen mies gefühlt und sie am nächsten Morgen angerufen, um mich zu entschuldigen. Sie war nicht zu Hause, also habe ich ihr auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass es mir leid tut und ob sie bitte am Abend zu mir nach Hause kommen würde. Sie hat zurückgerufen, als ich schon zur Arbeit gegangen war, und die Nachricht hinterlassen, dass sie gegen zehn Uhr hier sein würde. «

»Und sie ist nicht gekommen?« Camille biss sich auf die Lippe, und wir wechselten einen Blick. Das hier war nicht leicht für ihn - es war ihm deutlich anzumerken. Er sah wahrhaftig aus wie von Erinnerungen verfolgt.

Harish schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe in der Bar angerufen, aber da hieß es, sie hätte schon Feierabend gemacht. Ich hatte keinen Grund, ihren Kollegen nicht zu glauben. Später, als sie immer noch nicht gekommen war, bin ich in die Bar und dann zu Fuß den Weg abgegangen, den sie normalerweise zu mir nach Hause genommen hätte. Aber ich konnte sie nirgends finden. «

»Hast du die Polizei eingeschaltet? Das AETT?« Das wäre der nächste logische Schritt gewesen, aber da Sabele AND-Agentin gewesen war, hatte Harish vielleicht die Anweisung gehabt, so etwas nicht zu tun, vermutete ich. Mein Gefühl erwies sich als richtig.

»Nein. Ich habe am nächsten Vormittag noch ein paarmal bei ihr angerufen, aber sie ist nicht drangegangen. Sobald die Bar geöffnet hat, war ich da und habe auf sie gewartet, aber an Sabeles Stelle war da ein anderer AND-Agent. Er wollte mich nicht in ihr Zimmer lassen und hat gesagt, ich solle das alles für mich behalten, sie würden sich schon darum kümmern. Er hat gesagt, falls irgendetwas schiefgegangen sei, könnte ich Sabele in Gefahr bringen, indem ich zur Polizei gehe. Also habe ich getan, was mir befohlen wurde - ich habe gewartet. Nach ein paar Tagen tauchte der Agent bei mir zu Hause auf. Er hat behauptet, Sabele wäre desertiert - ohne Erlaubnis nach Hause gegangen. «

»Hast du bei ihrem Vater nachgefragt? «

»Ich konnte nicht sofort weg, ich hatte dringende Termine einzuhalten, und so gern ich gleich gegangen wäre, konnte ich doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Drei Tage später bin ich hinübergereist.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin heim nach Elqaneve gegangen, um sie zu suchen, doch als ich bei ihr zu Hause ankam, war ihr Vater umgezogen. Er hatte keine neue Adresse hinterlassen. Die Nachbarn haben mir erzählt, dass er ein paar Monate zuvor umgezogen war, also habe ich angenommen, dass Sabele mit ihm weggegangen ist. Daraus konnte ich nur einen einzigen Schluss ziehen: Sie wollte sich vor mir verstecken, weil sie es nicht übers Herz brachte, mir zu sagen, dass sie mich doch nicht heiraten wollte. Also habe ich entschieden, sie gehen zu lassen, weil ich glaubte, dass sie das wollte.«

Camille stieß den Atem aus. »Hast du im Wayfarer nachgefragt, ob sie ihre Sachen mitgenommen hat?«

Harish zuckte mit den Schultern. »Ja, aber der neue Wirt - Jocko - war sehr merkwürdig. Er wollte mich nicht nach oben lassen.

Sonst hatte sie niemand gesehen. Ich bin wochenlang jeden Abend dorthin gegangen in der Hoffnung, irgendjemanden zu finden, der sie hatte abreisen sehen, oder der wusste, warum sie gegangen war. Aber bis jetzt ist es so, als hätte es sie nie gegeben.«

Ich stand auf und ging vor der Treppe auf und ab. »Irgendetwas stimmt da nicht. Wäre ihr Vater denn nicht hergekommen, um nach ihr zu suchen, wenn er eine Zeitlang nichts von ihr gehört hat? «

»Du kennst ihre Familie nicht«, entgegnete der Elf. Er stand ebenfalls auf. »Ich entschuldige mich für mein unhöfliches Verhalten vorhin. Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr alle hereinkommen und etwas mit mir trinken würdet.« Er hielt inne, biss sich auf die Lippe und sah mich an. »Ich meine ... «

»Keine Panik«, sagte ich. »Ich habe keinen Durst, und glaub mir, ich werde deine Einladung nicht ausnutzen. Ich verletze niemals jemanden, der es nicht verdient hat. Wenn wir gehen, kannst du deine Einladung widerrufen. Dann wirst du besser schlafen, und ich nehme es dir bestimmt nicht übel.«

Wir folgten ihm nach drinnen. Unser Haus war groß, seines hingegen weitläufig. Der Bungalow im Ranch-Stil war offen gestaltet und breitete sich über das große Grundstück aus. Vom Wohnzimmer aus blickte man aufs Wasser hinaus. Der Meeresarm lag zwar ein paar hundert Meter entfernt, aber der Ausblick dorthin war frei und atemberaubend. Das Haus war geschmackvoll, wenn auch ein wenig langweilig eingerichtet. Ich hielt den Mund, aber Delilah platzte wie üblich mit dem Erstbesten heraus, was ihr durch das dumme kleine Köpfchen ging.

»Du stehst auf Beige, was?«, bemerkte sie und schlug sich dann die Hand vor den Mund. »Entschuldigung - ich wollte damit nicht... «

»Kein Problem. Ich bin kein besonders abenteuerlustiger Mann«, entgegnete Harish und wies auf den großen Esstisch aus Eichenholz. »Bitte nehmt Platz.« Wir setzten uns, und auch er ließ sich auf einem Stuhl nieder und spielte wieder mit dem Medaillon. »Ihr Vater hat sie nicht darin bestärkt, zum AND zu gehen. Er war sogar strikt dagegen. Sabele hat mir gesagt, dass er an dem Tag, als sie sich verpflichtet hat, zu ihr gesagt hat: ›Wenn du dabei umkommst, werde ich mir nicht die Mühe machen, nach deinem Leichnam zu suchen, und ich werde auch deinen Namen nicht in die Liste der Ahnen eintragen‹ Das würde bedeuten, dass ihre Seele dazu verdammt ist, in der Schattenwelt umherzustreifen, bis sie zur Ruhe gebettet werden kann. «

»Grausam«, sagte Camille und wechselte einen Blick mit Delilah und mir. Unser Vater war mächtig stolz auf uns gewesen, als wir zum AND gegangen waren. Er hatte uns überhaupt in allem unterstützt, wofür wir uns entschieden. Na ja, in fast allem. Er war stinksauer gewesen, als Camille sich mit Trillian eingelassen hatte.

Ich runzelte die Stirn. »Hat er den Geheimdienst einfach nur gehasst, oder war er unglücklich, weil sie beschlossen hatte, für Feen zu arbeiten statt für Königin Asterias Hof?«

Zwar dienten einige Elfen im AND, doch die elfische Gesellschaft war gespalten in Puristen und jene, die nichts dagegen hatten, sich auch einmal mit anderen zusammenzutun. Elfen waren anderen Rassen gegenüber nicht so aufgeschlossen wie die meisten Feen.

Harish zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, ihr Vater ist Pazifist. Er lehnt jegliche militärische Organisation ab. Er wollte, dass sie Priesterin im Tempel der Araylia wird - das ist die Göttin der Heilung. Aber Sabele liebte das Abenteuer. Sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, in einem Tempel eingeschlossen zu sein und ein so stilles Leben im Dienst an anderen zu verbringen.« Er biss sich auf die Lippe. »Kann ich euch etwas zu trinken anbieten? Oder zu essen?«

Delilah und Camille nahmen gern eine Limonade an.

»Nein, danke sehr«, lehnte ich höflich ab. »Du sagst also, dass du bis heute Abend dachtest, sie wäre einfach vor eurer Hochzeit davongelaufen?«

Der Schmerz in seinen Augen war frisch und neu, als hätten wir eine Wunde aufgerissen, die nie wirklich verheilt war. »Genau das dachte ich. Ihr glaubt, dass ihr etwas zugestoßen ist, nicht wahr?«

Er stellte ein Tablett mit Gläsern, einem Krug Limonade und einem Tellerchen Haferkekse auf den Tisch. »Deshalb seid ihr hier.«

Ich lehnte mich zurück und streckte die Beine aus. »Wir waren nicht sicher, aber jetzt ... jetzt, denke ich, müssen wir davon ausgehen, dass ihr etwas zugestoßen ist. Warum der AND behauptet hat, sie sei nach Hause gegangen, ist mir ein Rätsel, aber vielleicht wollten sie auch nicht zugeben, dass sie nicht wissen, wohin eine ihrer Agentinnen verschwunden ist. «

»Weißt du irgendetwas über den Mann, der sie verfolgt hat?«, fragte Camille und beugte sich vor.

Harish blinzelte. »Sie verfolgt? Jemand hat sie verfolgt?«

Ich zögerte, die nächste Frage zu stellen. Wir konnten nicht wissen, was Harish tun würde, wenn er glaubte, Harold könnte Sabele etwas angetan haben. Aber wir mussten alles erfahren, was er uns sagen konnte. Ich beschloss, das Risiko einzugehen. Elfen waren meistens recht vernünftig.

»Hat sie jemals einen Mann namens Harold Young erwähnt?« Der Elf lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, und ein argwöhnischer Ausdruck breitete sich über sein Gesicht. »Harold Young? Ich kenne diesen Namen. Sabele hat ihn ein paarmal erwähnt. Sie hat gesagt, er sei ihr unheimlich. Er kam regelmäßig in die Bar. Aber ich dachte eben ...« Seine Stimme sank zu einem erstickten Flüstern hinab. »Ich dachte, er sei nur irgendein aufdringlicher Gast, also habe ich ihr gesagt, sie solle ihn einfach ignorieren. «

»Wusstest du, dass sie ihn bei der Polizei als Stalker angezeigt hat? Ein Polizist hat daraufhin mit ihm gesprochen, er hat es geleugnet, und da sie nie wieder von Sabele gehört haben, wurde der Fall zu den Akten gelegt.«

Wieder dieser Blick, wie ein Reh im Scheinwerferkegel. »Nein. Sie hat mir nicht gesagt, dass sie zur Polizei gegangen ist. Warum habe ich sie nur nicht ernst genommen? Glaubt ihr, dieser Kerl hat ihr etwas getan?« Er starrte auf den Boden. »Als sie mir von ihm erzählt hat, habe ich gesagt, sie würde überreagieren. Was, wenn er ihr tatsächlich etwas antun wollte? Ich habe sie im Stich gelassen, indem ich ihr nicht geglaubt habe.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Delilah und Camille blieben ebenso stumm wie ich. Nach einem weiteren Augenblick unbehaglichen Schweigens räusperte ich mich.

»Mach dir keine Vorwürfe. Manchmal kann man so etwas einfach nicht wissen. Und wir sind ja noch gar nicht sicher, dass ihr etwas zugestoßen ist. Es sieht nur danach aus. «

»Könnt ihr das herausfinden? Ich bezahle euch auch für eure Arbeitszeit«, murmelte er. »Ganz gleich, was es kostet.«

Delilah öffnete den Mund, doch ich kam ihr zuvor. Wir brauchten das Geld, ja, aber er sollte nicht den Eindruck bekommen, dass wir uns wie Ghule von den Toten ernährten.

»Hör zu, wir werden uns mal umsehen. Wenn sich herausstellt, dass die Sache kostenintensiv wird, können wir über Geld sprechen. Delilah ist eine professionelle Privatdetektivin, das verschafft uns schon einen kleinen Vorsprung. Fürs Erste hilfst du uns am meisten, indem du uns alles sagst, was du weißt. Wohin sie gern ausging, was sie gern tat, und alles, was du von diesem Harold weißt. Könntest du uns bis morgen früh eine Zusammenstellung schreiben?«

Harish seufzte leise. »Natürlich. Gebt mir eure Adresse, dann lasse ich sie gleich morgen vorbeibringen.« Er stand auf und sah auf einmal viel älter aus als vorhin, als er uns die Tür geöffnet hatte. »Ich danke euch. Hoffentlich stellt sich am Ende heraus, dass sie doch nur von mir gelangweilt war und nach Hause gegangen ist. Ich bete darum. Aber, wisst ihr ... «

»Was?«, fragte Camille.

»Ich hatte immer das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte. Ich bin es nie ganz losgeworden, aber es kam mir ... na ja, ich dachte, ich würde überreagieren. Schließlich habe ich es einfach verdrängt und meinem verletzten Ego zugeschrieben. «

»Eine letzte Frage«, sagte ich. »Weißt du, warum Sabele ihr Tagebuch in Melosealför verfasst hat? Das ist eine ungewöhnliche Sprache, die nur wenige Leute sprechen, geschweige denn schreiben.«

Harish lächelte zärtlich. »Als wir noch jung waren, waren wir mit einem Einhorn befreundet. Er gehörte nicht zu den DahnsEinhörnern, sondern kam aus dem Goldenen Wald. Er hat uns die gesprochene Sprache gelehrt, und der Geist, mit dem er unterwegs war, hat uns die Schrift beigebracht. Sabele und ich haben es jahrelang als Geheimsprache benutzt, als Möglichkeit, unsere Gedanken vor anderen geheim zu halten. Ich nehme an, für sie war das immer noch eine Möglichkeit, den Rest der Welt aus ihren Angelegenheiten herauszuhalten. «

»Danke«, sagte ich, und bei der Traurigkeit in seinem Blick bekam ich ein hohles Gefühl im Bauch.

»Also, dann gehen wir jetzt. Hier ist meine Karte«, sagte Delilah und reichte sie ihm, als wir zur Tür gingen. »Ich habe dir unsere Privatnummer und alle Handynummern hinten drauf geschrieben. Bitte stell uns alle Informationen so schnell wie möglich zusammen. Du kannst sie dann in den Wayfarer schicken oder in den Indigo Crescent, das ist Camilles Buchhandlung, oder in mein Büro gleich darüber.«

Damit verabschiedeten wir uns von ihm und gingen zurück zum Auto.

Wir kamen nach Mitternacht zu Hause an. Als Camille langsam die Einfahrt hochfuhr, sah ich nach den Bannen. Die Kreise aus großen Quarzkristallen waren im Boden eingelassen, leuchteten sanft, und sie waren mit den Kristallen in unserer Küche verbunden. Ihr elfenbeinweißer Schimmer zeigte mir, dass alles in Ordnung war. Zumindest im Augenblick waren keine Ghule zu Besuch.

Als wir die Küche betraten, saß Iris im Schaukelstuhl neben dem Herd. An ihren Wimpern hingen Tränen, und ihr Make-up war verlaufen. Sie krallte die Finger in ein Taschentuch, und ihr wunderschönes Kleid lag als Häuflein auf dem Boden. Sie hatte ihren Morgenmantel übergezogen, und das Haar fiel ihr offen über die Schultern.

Rozurial machte ihr gerade eine Tasse Tee. Er warf uns einen Blick zu und schüttelte mit ärgerlicher Miene den Kopf. Camille und Delilah eilten zu Iris, während ich Roz den Tee abnahm und ihn ihr brachte.

»Was ist passiert?«, fragte Delilah und strich eine Strähne der langen, goldenen Locken zurück, auf die Iris so stolz war.

Iris errötete. »Bruce ist passiert. Ein paar seiner Kumpels sind in dem Restaurant aufgetaucht und haben dafür gesorgt, dass wir alle rausgeworfen wurden. Bruce schien das ziemlich egal zu sein, und sie haben beschlossen, in eine Bar weiterzuziehen. Ich wollte nicht, aber sie haben mich gedrängt, nicht so ein Spielverderber zu sein, also bin ich mitgegangen. Sobald wir da waren - in Clancy's Pub - hat Bruces Freund Hans sich über mich übergeben. Nachdem er versucht hatte, mich anzugrabschen. Ich habe ihm eine runtergehauen, als er mir an den Hintern gefasst hat. Da hat er sich über mich übergeben, und dieser verfluchte Bruce hat über die ganze Sache nur gelacht. Das war mir alles so peinlich. Am liebsten wäre ich im Boden versunken.«

Der Schmerz in ihrer Stimme weckte in mir die Lust, ein bisschen auf Leprechaun-Jagd zu gehen. Es juckte mir förmlich in den Fingern danach, den kleinen Scheißer aufzuspüren und zu verprügeln, weil er Iris so verletzt hatte. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben.

»Was hast du dann getan? «

»Was hätte ich schon tun können? Ich habe Bruce gesagt, dass ich sofort nach Hause will, und statt mich zu begleiten oder zum Bleiben zu überreden, hat er nur schallend gelacht. Ja, er war betrunken, aber deshalb brauchte er nicht gleich so gemein zu sein.« Sie begann wieder zu weinen, und ich sah rot.

»Soll ich mich mal mit ihm unterhalten?«

Iris schniefte und putzte sich die Nase. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nicht mit ausgefahrenen Reißzähnen, kommt gar nicht in Frage«, erwiderte sie.

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass meine Reißzähne sich hervorgeschoben hatten, und ich bemühte mich um Selbstbeherrschung. »Entschuldigung. Ich werde ihn auch nicht beißen. Versprochen.«

Camille hob das Kleid auf und verzog das Gesicht, als der Gestank von schaler Bierkotze zu uns aufstieg. »Ich versuche, den Fleck rauszubekommen. Wenn es sein muss, lassen wir es eben reinigen.« Sie ging zur Waschküche.

Delilah tätschelte Iris die Hand und küsste sie auf die Wange.

»Männer können ja so frustrierend sein. Ich hätte Chase wegen Erika am liebsten umgebracht.«

Roz ließ sich mit einer Tasse Tee und einem Truthahn-Sandwich am Tisch nieder. »Wir sind nicht alle so, Iris. Ich zum Beispiel ich war noch nie in meinem ganzen Leben grob zu einer Dame. «

»Nein, du verführst sie nur und schleichst dich dann hintenrum raus, wenn sie gerade nicht hinschauen«, sagte ich und warf ihm einen Blick zu. Doch als er mich anlächelte, konnte ich nicht anders, als das Lächeln zu erwidern.

»Natürlich. Das ist mein Job, Liebes. Das weißt du doch. Aber ich gebe mir immer die größte Mühe, sie glücklich und zufrieden und ohne ein gebrochenes Herz zurückzulassen.« Ohne seinen Staubmantel sah er aus wie ein ganz gewöhnlicher, lockenköpfiger, etwas zu hübscher Junge, obwohl er immer noch diese leicht irre Ausstrahlung hatte, die seine Augen gefährlich anziehend machte. Er trug eine schwarze Jeans, ein Muskelshirt aus schwarzem Netzstoff und einen schwarzen australischen Hut, der schnurstracks aus Crocodile Dundee hätte stammen können. Er stand ihm ausgesprochen gut.

Iris wischte sich die Augen. »Es ist wohl albern von mir, wegen so etwas zu weinen. Aber es sollte ein ganz besonderer Abend werden, und nun seht euch an, was passiert ist. Ich habe ... ich hatte eben gehofft ...« Ihre Stimme erstarb, und sie rieb sich die Nasenwurzel. »Ich habe furchtbare Kopfschmerzen. Danke für den Tee, Rozurial.«

Er schob seinen Stuhl zurück und kniete sich neben sie. »Gib ihn noch nicht ganz auf, hübsches Mädchen. Hinter Bruces rüpelhaftem Äußeren steckt ein guter Kerl. Morgen sagst du ihm ordentlich die Meinung, und ich wette mit dir, dass er sich von jetzt an mustergültig verhalten wird.« Er beugte sich vor und streifte ihre Lippen mit einem zarten Kuss, und Iris errötete, protestierte jedoch nicht. »Du bist viel zu wunderbar, innerlich, und viel zu hübsch äußerlich, um lange allein zu bleiben. Gib ihm noch eine Chance, und wenn er die vermasselt, verprügele ich ihn höchstpersönlich für dich.«

Ich wollte gerade etwas sagen, als die Banne wieder ausgelöst wurden und die Kristalle auf dem Tisch klimperten und blitzten. Camille kam hereingerannt, die Hände mit Seifenschaum bedeckt. »Verdammt, da ist schon wieder irgendetwas durchgebrochen. «

»Der Ghul?«, fragte Delilah.

Ich verdrehte die Augen. »Wir werden es nicht herausfinden, indem wir hier herumstehen. Roz, du bleibst bei Iris und Maggie. Wir gehen raus und sehen nach, ob wir irgendwem in den Hintern treten müssen.«