In mir wohnt eine Einsamkeit, wie sie kein Mensch kennen mag. Dunkelheit umgibt mich, aber es ist nicht mein selbst gewähltes Exil, tief unter Erde, das mich ohne Licht leben lässt.
Meine Diener, mögen sie mir auch noch so treu ergeben sein, sind kein Trost für mich, denn sie können mich nur einen Teil des Weges begleiten, den ich gehen muss.
Ich bin ein Suchender und ich bin der Gesuchte. Ich bin der Anfang und das Ende.
Aus den Aufzeichnungen des Adam
Prolog „Ihr hättet nicht kommen sollen. Dies ist meine Welt.“
Zuerst sah er nichts, dann wurde aus den verschwommenen Lichtern der Schein unzähliger Kerzen.
Daniel Fischer wusste nicht, wo er sich befand. Seine Augen suchten vertraute Formen, aber da war nur grauer Stein. Er lag auf dem Rücken und starrte zur Höhlendecke empor, die sich wie die Kuppel einer mittelalterlichen Kirche über ihm erstreckte.
Wo bin ich?, fragte er sich.
Daniel konnte nicht bestimmen, wo er sich befand und scheinbar hatte er auch vergessen, wie er hierher gekommen war.
Träume ich?
Nein, dies war kein Traum. Er lag hart auf steinigem Boden und sein Kopf schmerzte, als versuche jemand, mit einer Stahlbürste sich bis zu seinem Gehirn durchzuscheuern.
Sein linkes Auge begann zu jucken. Er wollte die Hand heben, um sich zu kratzen. Es ging nicht. Aus einem Grund, den er nicht verstand, weigerte sich sein Arm den Befehl auszuführen. Als er versuchte den Kopf zu drehen, um der Ursache für seine Lähmung auf den Grund zu gehen, musste er feststellen, dass auch dies nicht möglich war.
Was war hier los?
Er lag in einer Höhle und konnte sich nicht bewegen. Ein Schatten fiel auf sein Gesicht. Aus dem Schatten wurde ein Schemen und dann wurde daraus ein menschliches Antlitz. Ein Mann beugte sich über ihn.
„Penacothalan“, sagte eine ihm unbekannte Stimme. „Ein Anästhetikum, das in der Medizin eingesetzt wird, wenn es nötig ist, dass der Patient bei Bewusstsein bleibt und Fragen beantworten kann. Die Lähmung betrifft nur die Extremitäten. Sie können hören, Lippen und Augen bewegen. Mehr nicht. Also versuchen sie es erst gar nicht.“
„Was ist hier los?“, ächzte Fischer mit kaum hörbarer Stimme.
„Vorübergehende Amnesie durch ein Schädeltrauma. Einer meiner Diener hat sie niedergeschlagen.“
„Diener?“
Das Schemen nickte mit dem Kopf in eine Richtung, aber so sehr Daniel auch mit den Augen in den Höhlen rollte, er konnte niemanden sehen.
„Wie komme ich hierher?“, fragte Fischer. „Was mache ich hier?“
Der Mann lächelte. Er war groß. Er war mächtig. Wog mindestens drei Zentner. Sein bleicher Körper bestand zum größten Teil aus Fettmassen, aber seine kräftigen Oberarme verrieten Daniel, dass er über außergewöhnliche körperliche Kraft verfügen musste. Seltsamerweise schien der Kopf des Mannes nicht zu seinem Körper zu passen. Er war klein, rund und kahl. Daniel erschrak, als ein Lichtschein auf das Gesicht des Mannes fiel. Er sah vernarbte Augenlider, die Tausende kleiner Falten bildeten. Nase und Ohren wirkten deformiert, wie bei einem Leprakranken und waren nur noch unvollständig vorhanden.
Daniel durchfuhr ein Schauer des Entsetzens, während er den Fremden anstarrte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Mann vollkommen unbehaart war. Es gab keine Körperbehaarung, keinen Bartwuchs, nicht einmal Augenbrauen. Fischer beobachtete die Schatten der flackernden Kerzen auf der Haut des Mannes, nur um festzustellen, dass es keine Schatten waren. Bläuliche Tätowierungen zogen sich vom Halsansatz bis zu den Füßen hinunter. Er erschrak, als ihm die Nacktheit des anderen bewusst wurde. Ein verschrumpelter Penis baumelte zwischen den baumstammdicken Schenkeln und wirkte, als habe man ihn dort fälschlicherweise angenäht.
„Ich bin Adam“, sagte der Fremde und entblößte kupferfarbene Zähne, so, als habe er gerade Blut getrunken. „Der erste Mensch und ich bin Gott.“ Seine Arme öffneten sich und mit einer anmaßenden Geste umfasste er den ganzen Raum. „Hier bin ich Gott! Ich bin das Licht und das Wort.“
Der Typ war eindeutig wahnsinnig, so wie er da stand, die Arme weit ausgestreckt, die Finger gespreizt, mit in den Nacken gelegtem Kopf. In einer fast anmutigen Bewegung ging der Mann neben Fischer in die Hocke. Seine Hand verschwand aus Daniels Blickfeld und kehrte kurz darauf zurück. Adam hatte etwas vom Boden aufgehoben. Eine Brieftasche. Seine Brieftasche. Daniel erkannte sie sofort. Es war das Geschenk seiner Frau zu seinem dreißigsten Geburtstag gewesen. Sarah. Der Name war ein Licht in der Dunkelheit. Ein erster Schimmer seiner wiederkehrenden Erinnerung. Seine Gedanken wurden durch Adam unterbrochen, der die Brieftasche aufklappte und einen in Folie geschweißten Ausweis herauszog.
„Daniel Fischer“, las er vor. „Polizeikommissar. Polizeirevier Lichtenfels.“
Es war sein Dienstausweis. Er war Kriminalbeamter. Bilder zuckten wie Blitze durch sein Gehirn. Daniel sah sein Büro, seine Kollegen, Frau Nebronn, die die Gänge des Reviers mit einem altmodischen Schrubber und einem Lächeln im Gesicht wischte.
„Sie sind vom Rauschgiftdezernat. Richtig?“ Adam ließ Daniel keine Zeit für eine Antwort. „Sie sind gekommen, um meiner kleinen Farm einen Besuch abzustatten.“
Mit Wucht kehrte alles zu Daniel zurück. Sie hatten einen Tipp von einem Junkie bekommen, der behauptete, dass unter der Erde der Stadt in alten Tunnelstollen und natürlichen Höhlen in großem Umfang Opium angebaut wurde. Zuerst hatten die vernehmenden Beamten gelacht, aber nach der Analyse des Heroins, das man bei dem Drogensüchtigen gefunden hatte, lachte niemand mehr. Es war von einzigartiger Qualität und Reinheit. Unmöglich aus Asien oder Südamerika stammend.
Fischer hatte den Auftrag bekommen der Sache nachzugehen und nach zweiwöchiger intensiver Ermittlung wusste er, dass der Junkie nicht log. Mit zwei weiteren Beamten und einer notdürftigen Höhlenausrüstung war er in die Kanalisation hinabgestiegen. Sie hatten aufgebrochene Tunnelgänge entdeckt und waren den Spuren menschlicher Anwesenheit in die Tiefe gefolgt. Stunden später waren sie auf die Plantage gestoßen. Weitgestreckte blühende Felder, die von starken Gasdampflampen beschienen wurden. Sie hatten die LKW-Batterien entdeckt, Hunderte davon, die in langen Reihen die Lampen mit Strom versorgten. Daniel und seine Kollegen waren verblüfft von ihrer Entdeckung gewesen und hatten dadurch jede Vorsicht vermissen lassen.
Der Angriff kam scheinbar aus dem Nichts. Kreischende und springende Schatten, die über sie herfielen. Menschen, die kaum noch Menschen ähnelten. Dunkle, schmutzstarrende Gesichter, in denen die Augen weiß leuchteten. Dreadlocks, die bis weit über die Schultern fielen. Eine Horde tobender Affen hätte nicht erschreckender aussehen können.
Hauptwachtmeister Tobias Rau hatte es noch geschafft seine Dienstwaffe zu ziehen, aber ob er sie abgefeuert hatte, wusste Daniel nicht, zu diesem Zeitpunkt war er längst bewusstlos gewesen. Der Gedanke an die Kollegen riss ihn aus der Erinnerung.
„Wo sind Rau und Schneider?“
Adam lächelte ein freundliches Lächeln. „Für sie ist gesorgt.“
Er packte Daniel an den Schultern und drehte ihn in eine seitliche Lage, so dass er die linke Höhlenwand sehen konnte.
Und dann sah er. Aber er begriff nicht. Als er begriff, begann er zu schreien.
Adam hatte Rau und Schneider pfählen lassen.
Die Pfähle, an denen sie wie zerbrochene Marionetten hingen, bestanden aus verwittertem Holz, von menschlichem Blut dunkel gefärbt. Daniel betrachtete die Kollegen, sah ihre schmerzverzerrten Gesichter, die geschundenen Leiber. Beiden Männern waren die Arme an den Schultern ausgekugelt worden, damit sie sich nicht befreien konnten. Der Anblick war mehr, als er verkraften konnte. Daniel weinte.
„Ihr hättet nicht kommen sollen. Dies ist meine Welt. Betreten verboten. Eltern haften für ihre Kinder.“ Adam grinste.
„Sie sind ein Monster“, schrie Fischer. „Wie kann man so etwas einem Menschen antun? Wie kann man nur?“ Die letzten Worte erstarben auf seinen Lippen, als fehle ihm die Kraft, sie auszusprechen.
Adams Grinsen verschwand. „Dies ist der Garten Eden. Ihr habt ihn entweiht und empfangt nun die gerechte Strafe für diesen Frevel.“
„Sie werden mich töten“, stellte Daniel ruhig fest. Jetzt, da ihm sein eigener Tod zur Gewissheit wurde, überkam ihn eine seltsame Ruhe. Er verstand nicht, warum ihn dieser Gedanke nicht in helle Aufregung versetzte, aber er war dankbar dafür.
„Ja, das werde ich.“ Adam wirkte fast ein wenig traurig. „Aber dein Tod wird länger dauern als ihrer.“ Sein wulstiger Finger deutete auf die Gepfählten. „Sie waren nur Handlanger, aber du...“ Der Finger richtete sich anklagend auf Daniel. „Du hast sie zu mir geführt.“
Die Ruhe und der Frieden zerstoben ihm Nichts. Panik nahm ihren Platz ein. Grenzenlose Panik und eine Furcht finsterer als die dunkelste Nacht.
„Bitte“, flehte er.
„Noch nicht. Wir haben noch Zeit. Lass uns ein wenig plaudern.“
Adam fingerte wieder an Daniels Brieftasche herum. Schließlich zog er ein altes verknittertes Foto heraus. Fischer wusste genau, welches Bild er nun in der Hand hielt. Auf der Fotografie war Sarah zu sehen, die einen Kussmund an die Kamera schickte. Er liebte dieses Foto, da es seine Frau zeigte, wie sie wirklich war. Lebenslustig und fröhlich.
Adam schwieg lange und betrachtete das Bild. In seinen Augen schimmerte ein merkwürdiger Glanz. Es dauerte einen Moment bis Daniel begriff, dass der dicke Mann weinte. Tränen liefen über das feiste Gesicht und vereinten sich schließlich mit den blauen Tätowierungen an seinem Hals. Daniel beobachtete ihn erstaunt und schwieg. Schließlich presste Adam seine Lippen in einem langen Kuss auf das abgegriffene Papier.
„Eva“, hauchte Adam ergriffen, nachdem er sich von dem Bild gelöst hatte. Dann wandte er sich an Daniel. „Wer ist diese Frau und lüg mich nicht an, ich werde wissen, wenn Du lügst und dann wird alles nur noch viel schlimmer für Dich.“
„Das ist Sarah. Meine Frau.“
„Eva“, wiederholte Adam andächtig, als habe er den Namen nicht gehört. „Du wirst meine Fürstin, meine Göttin sein. Der erste Mann und die erste Frau. Das Rad der Zeit dreht sich bald nicht mehr, aber wir werden bereit sein.“
„Geben Sie mir das Foto zurück“, verlangte Daniel.
Mit einer kindlichen Geste presste Adam die Fotografie an seine nackte Brust. „Nein.“ Seine Stimme war wie brüchiges Eis. „Sie gehört jetzt mir. Sie wird meine Fürstin sein.“
„Geben Sie mir das Bild zurück“, schrie Daniel.
Adam erhob sich aus seiner hockenden Position. Da der Halt verschwunden war, fiel Daniel zurück auf den Rücken.
„Da, wo du jetzt hingehst, mein Freund, brauchst du es nicht mehr.“ Adam legte Sarahs Bild vorsichtig auf den Boden und fasste nach hinten. Im Schein der Kerzen tauchte ein Messer auf. Die Klinge war kurz und schmal und sah einem Skalpell ähnlich. Als er sich tief über Daniel beugte, versuchte dieser auszuweichen, aber es war hoffnungslos. Er konnte sich nicht bewegen.
Sein Hemd wurde aufgerissen und die Brust entblößt. Als Adam zu schneiden begann, verlor Fischer erneut das Bewusstsein.
Er war nicht tot. Niemand, der tot war, konnte derartigen Schmerz empfinden. Daniel tauchte aus der Schwärze der Ohnmacht auf und sein Körper schrie mit jeder Faser. Was hatte dieser Irre mit ihm gemacht? Ohne dass er es bemerkte, drehte er den Kopf zur Seite, um nach seinem Peiniger zu sehen, aber da war niemand. Er war allein. Die Kerzen flackerten noch immer und ihr Licht spendete einen schwachen Trost.
Plötzlich wurde Daniel bewusst, dass er sich ein wenig bewegen konnte. Er drehte nochmals den Kopf. Neue Hoffnung keimte in ihm auf. Vielleicht würde er ja entkommen? Vielleicht konnte er dieser Hölle und diesem Wahnsinnigen entfliehen? Aber vorerst war daran nicht zu denken. Außer seinen Kopf konnte er nichts bewegen. Trotzdem, das Anästhetikum schien seine Wirkung zu verlieren. Er brauchte Zeit. Nur etwas Zeit und er würde notfalls hier auf Knien herauskriechen. Allerdings beunruhigten ihn seine Verletzungen. Sein Kopf schmerzte kaum mehr, aber da war dieses warme Gefühl von Blut, das über seinen Körper sickerte. Sein Blut. Wie viel hatte er schon davon verloren? Wie schwer waren seine Verletzungen? Konnte er überhaupt noch gehen?
Die nächsten Stunden lag Daniel da und glotzte zur Höhlendecke empor. Hoffnung und Verzweiflung wechselten sich mit wirren Tagträumen ab. Er sah Sarah am Tag ihrer Hochzeit. Ihr weißes Kleid, rein wie eine blühende Orchidee, das sich auffächerte, wenn sie sich drehte. Ihr Lächeln hielt ihn gefangen und als sie ihm einen innigen Kuss gab, verlor er sich in diesem Augenblick.
Immer neue Bilder drängten in seinen Geist. Sarah und er im Urlaub auf Rügen. Der Sternenhimmel über dem Meer, die Flasche französischen Rotwein und den Akt, als sie sich im warmen Sand geliebt hatten. Immer neue Phantasien leuchteten hinter seinen geschlossenen Lidern. Bald hatte er keine Vorstellung mehr davon, wie viel Zeit vergangen war. Möglicherweise war er schon seit Tagen hier unten gefangen.
Ein Lichtblick war der Umstand, als er irgendwann spürte, wie der kleine Finger seiner linken Hand zuckte. Ein Kribbeln durchlief seinen Körper, machte ihm neuen Mut.
Adam und seine Diener, waren nicht wieder gekommen. Sie hatten ihn in dem Glauben zurückgelassen, er würde verbluten oder verdursten, aber anscheinend wurde sein Körper mit dem unbekannten Wirkstoff besser fertig als sie gedacht hatte.
Ein Geräusch weckte Daniels Aufmerksamkeit. Ein heller Ton. Ein Fiepen. Dann war ein Rascheln zu hören. Und schließlich das Tippeln unzähliger, winziger Füße.
Daniel drehte den Kopf wie eine mechanische Puppe und blickte direkt in die Augen einer fast katzengroßen Ratte. Er schrie vor Entsetzen auf. Die Ratte huschte zurück in den Schatten und verharrte dort. Eine weitere Bewegung zu seiner Rechten versetzte Daniel in Panik. Da sich sein Kopf auf dieser Seite nicht so weit drehen ließ, konnte er nicht sehen, was sich ihm da näherte. Einen Moment lang war es still.
Plötzlich durchfuhr ihn ein greller Schmerz. Etwas hatte ihn gebissen. Die verdammte Ratte, die er nicht sehen konnte, hatte ihre spitzen Zähne in sein Fleisch geschlagen und fraß nun an ihm.
Daniel brüllte so laut er konnte, aber der Schmerz ließ nicht nach. Das Vieh fraß weiter an ihm. Und dann kamen die anderen. Dutzende von ihnen.
Und Daniel begriff, dass sich Adam mit der Wirkungsdauer des Betäubungsmittels nicht verrechnet hatte. Er sollte bei lebendigem Leib aufgefressen werden, während seine wiederkehrende Kraft ihm die immer neue Hoffnung vorspiegelte, er könne vielleicht doch noch entkommen.
Der Schmerz war ein schwarzer Fluss und Daniel trieb auf ihm dahin. Die Ratten fielen nun in Horden über ihn her. Mit eisernem Willen und fast übermenschlicher Anstrengung schaffte es Fischer, sich auf den Bauch zu wälzen.
Seine Arme lagen neben ihm wie die Flossen eines Seehundes. Durch die heftige Bewegung erschreckt, zogen sich die Ratten in den Schatten der Höhle zurück. Ihr aufgeregtes Fiepen kreischte in Fischers Ohren.
Daniel zog sein rechtes Bein an, stemmte den Fuß gegen den Höhlenboden und schob sich ein Stück vorwärts. Es waren nur zehn Zentimeter, aber es waren zehn Zentimeter Hoffnung. Sein linkes Bein lag ausgestreckt in unnatürlichem Winkel. Feuer und Eis flossen darin, aber es war nutzlos, nur noch Schmerz, der nach Linderung schrie.
Stirb nicht, dachte er. Kämpfe. Kämpfe um dein Leben.
Wieder zog er sein rechtes Bein an und kroch vorwärts. Beide Hände schrammten mit den Handrücken über den rauen Stein.
Bein anziehen. Abstoßen. Anziehen. Abstoßen. Die Haut in seinem Gesicht blätterte ab. Blutige Spuren wiesen den Weg, den er zurückgelegt hatte.
Nach dreißig Minuten hatte er vier Meter geschafft. Schweiß lief über sein verschmutztes, blutverschmiertes Gesicht. Er war vollkommen erschöpft, atmete hechelnd, stöhnte, ohne es zu bemerken.
Ausruhen, dachte er. Ich muss mich ausruhen.
Er wollte zurück in die Dunkelheit einer tröstenden Ohnmacht fliehen, dann hörte er einen durchdringenden Pfiff. Tippeln, kleine Pfoten, die über Stein kratzten. Die Ratten waren zurück.
Daniel krümmte in Panik seinen Körper und schnellte nach vorn, aber diesmal ließen sich die Ratten nicht davon beeindrucken. Ihr Angriff kam blitzartig und war gut koordiniert. Ein Teil der Nager fiel über seine Beine her, während die größere Gruppe sich Arme und Hände vornahm. Krämpfe durchzuckten Fischers Leib, während sich spitze Zähne über sein Fleisch hermachten.
Ein besonders großes Exemplar, schwarz, mit kahler Stelle über der Schnauze, biss ihm ins Ohr. Fischer warf den Kopf herum. Er war nur noch ein Tier, das um sein Leben kämpfte. Eine Beute, die keine Beute sein wollte. Sein Mund öffnete sich, schnappte nach vorn. Daniels Zähne schlugen sich in den Körper der Ratte. Rasend vor Schmerz schüttelte er den schwarzen, haarigen Leib, bis ein deutliches Knacken ihm verriet, dass er seinem Feind die Wirbelsäule gebrochen hatte. Die Ratte schrie fast menschlich auf, dann starb sie zwischen Fischers Zähnen von denen bitter schmeckendes Blut troff. Wie auf einen nicht hörbaren Befehl hin, zog sich der Rest der Horde zurück.
Fischer ließ die tote Ratte fallen und erbrach sich würgend. Er weinte hemmungslos.
Als die Tränen versiegten, lachte er.
Dann gab er sich dem Wahnsinn hin.
1. Bewege Dich nicht. Sei ein Stein.
18 Monate später
Dr. Jan Neever, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalyse, stand am Fenster seines Büros und blickte hinaus in den strahlenden Sonnenschein eines heißen Junitages. Obwohl es erst 10.30 Uhr morgens war, zeigte das Thermometer in seinem Büro Temperaturen von über dreißig Grad an.
Er öffnete den obersten Knopf seines weißen Hemdes und rollte die Ärmel auf. Seinen nächsten Gesprächstermin hatte er in einer halben Stunde und bis dahin wollte er sich mit dem üblichen Bürokram beschäftigen, den seine Position als Chefarzt an der Psychotherapeutischen Klinik in Waldberg mit sich brachte, aber seine Gedanken schweiften ab, als sein Blick auf einen Patienten fiel, der auf einem weiß lackierten Rohrstuhl in der Sonne saß.
Daniel Fischer hatte die Augen geschlossen. Dr. Neever wusste, dies war keine Geste, um die warmen Sonnenstrahlen zu genießen. Fischer schloss die Welt aus seinen Gedanken aus, so, wie er es ständig tat, seit er vor sechs Monaten in die stationäre Behandlung eingeliefert worden war.
Der ehemalige Kriminalbeamte war noch immer ein Rätsel für ihn. Fischer hatte Unglaubliches durchlitten und Erfahrungen gemacht, die jenseits aller Vorstellungskraft lagen, aber er schien nicht, daran zerbrochen zu sein. Dennoch weigerte er sich beharrlich, über das Geschehene zu sprechen.
Neever kannte natürlich die Polizeiakten, die sich wie das Drehbuch zu einem Horrorfilm lasen. Daniel Fischer war vor achtzehn Monaten Hinweisen auf illegale, unterirdische Drogenfelder nachgegangen. Seine Suche hatte ihn und zwei begleitende Beamte tief unter die Erde der mittelalterlichen Stadt Lichtenfels geführt. Dort waren sie auf Plantagen gestoßen, in denen Opium im großen Stil angebaut wurde. Und sie waren auf einen Mann getroffen, der sich Adam nannte und über die Dunkelheit regierte. Adams Helfer hatte die Polizisten überwältigt.
Neever durchfuhr ein Schauer, als er an den Bericht dachte. In sachlichen Worten war dort beschrieben worden, was nicht beschrieben werden konnte. Die Beamten Rau und Schneider waren gefoltert und gepfählt worden. Für Daniel Fischer hatte sich Adam etwas Besonderes ausgedacht. Er injizierte ihm ein bekanntes Betäubungsmittel, das eine fast hundertprozentige Lähmung des Körpers hervorrief. Dann hatte er Fischer den Ratten überlassen.
Daniel Fischer hatte überlebt. Zwei Tage lang hatte er sich auf Händen und Knien durch Höhlengänge und alte Tunnel geschleppt. Immer wieder den Angriffen der Ratten ausgesetzt. Als ihn schließlich Kanalarbeiter bei der Routinekontrolle eines Tunnels entdeckten, hielten sie ihn zunächst für tot. Fischers Kleidung war zerfetzt, sein Gesicht und jede freie Stelle seines Körpers mit verkrustetem Blut und Dreck verschmiert. Er sah aus wie eine Leiche, die jemand in der Kanalisation verschwinden lassen wollte. Erst die hinzugerufenen Kriminalbeamten entdeckten, dass Fischer noch lebte und verständigten den Notarzt.
Fischers Gesundheitszustand war erbärmlich gewesen. Er war vollkommen dehydriert und hatte viel Blut verloren. Bisswunden bedeckten Gesicht und Körper. Er litt an Tollwut und in seinem Körper kämpften gleich mehrere Infektionen und eine starke Blutvergiftung um die Vorherrschaft. Die behandelnden Ärzte versetzten ihn in ein künstliches Koma und pumpten seinen Körper mit Antibiotika voll. Fischer überlebte, aber sein rechtes Bein konnten sie nicht retten. In einer vierstündigen Operation wurde es ihm oberhalb des Knies abgenommen.
Danach begann ein langer Weg der Rekonvaleszenz. Daniel Fischers Gesicht sah durch die unzähligen Nähte aus, wie eine schlecht gearbeitete Patchworkdecke, aber bevor sich die plastischen Chirurgen an die Arbeit machen konnten, mussten die Wunden verheilen.
Während all der Zeit hatte ein Psychologe Fischer auf seinem Leidensweg begleitet. Neever kannte den Kollegen von mehreren Fachseminaren, auf denen er Vorträge gehalten hatte. Er war ein Spezialist für schwere Traumata und zunächst hatte es den Anschein gehabt, als zeige seine Behandlung Erfolg.
Fischer hatte das Geschehen den Umständen entsprechend akzeptiert und war bereit, sich einer Psychoanalyse zu stellen, die ihm helfen sollte, seine inzwischen auftretenden Panikanfälle in den Griff zu bekommen. Die dabei verwendete Medikation war außerordentlich schwer gewesen, hatte sich aber als unerlässlich und hilfreich erwiesen. Fischer befand sich auf dem Weg der Besserung. Seine körperlichen Wunden heilten, dann kam der Rückfall.
Unerwartet brach Daniel Fischer die begonnene Therapie ab und weigerte sich weiterhin, über das Geschehene zu reden. Er wurde verschlossen und verfiel in ein wochenlanges Schweigen, das alle Menschen einschloss.
Sarah Fischer hatte versucht, ihrem Mann beizustehen. Anfangs besuchte ihn sie ihn täglich im Krankenhaus. Selbst als er im künstlichen Koma lag, hatte sie an seinem Bett gesessen, aber als schließlich die Verbände von seinem Gesicht abgenommen wurden, konnte sie das veränderte Aussehen ihres Mannes nicht ertragen. Er war ein Monster, aber schlimmer noch, er war ein Fremder für sie geworden. Nichts erinnerte mehr an den Mann, in den sie sich vor sieben Jahren verliebt hatte. Die Panikanfälle, die seinen Körper unkontrolliert zittern ließen, ängstigten sie und da war nichts mehr in seinem Aussehen oder Verhalten, das ihr hätte Trost spenden können.
Liebe, Mitleid und Abscheu kämpften in ihr miteinander und die Liebe verlor. Als sie es schaffte, ihre Abscheu vor ihm abzulegen, blieb nur noch das Mitleid und dieses Gefühl konnte keine Basis für eine Ehe sein. Eine Zeitlang hielt sie dieses Pflichtgefühl aufrecht, aber Daniel Fischer spürte ihr verändertes Verhalten und ließ sie gehen.
Sie wird sich für den Rest ihres Lebens Vorwürfe machen, ihn im Stich gelassen zu haben, dachte Neever, doch er konnte sie verstehen. Nicht viele Menschen konnten ertragen, was sie ertragen sollte.
Jan Neever hatte einmal mit Fischers Frau gesprochen. Er hatte sie in der Hoffnung angerufen, sie könne ihm helfen, Fischer zu verstehen.
„Daniel ist nicht mehr an die Oberfläche zurückgekehrt. Er ist dort unten geblieben. Alles, was er jemals war, was er jemals sein wollte, blieb dort.“
„Wie war es für Sie?“, hatte Neever gefragt und ihr Schluchzen gehört, als sie antwortete.
„Ich war kurz vor dem Zusammenbruch. Mein Mann war mir fremd geworden und dann die ständige Angst vor diesem Adam, der mein Foto hat und mich zu seiner Fürstin machen wollte, was immer das bedeuten sollte. Polizisten, die Tag und Nacht mein Haus bewachten, mich auf Schritt und Tritt verfolgten. Angst bei jedem Geräusch, Angst bei jedem Schatten. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Daniel ist dort unten geblieben, aber er hat Adam mit nach oben in mein Leben gebracht.“
„Werden Sie immer noch beschützt?“
„Nein, die Beamten sind schon vor Monaten abgezogen worden. Nachdem fast zehn Wochen nichts geschehen war, ging man wohl davon aus, dass vielleicht alles nur eine eingebildete Bedrohung war.“ Sie zögerte kurz. „Ich weiß, dass viele von Daniels Kollegen glauben, bei Adam handele es sich nur um das Hirngespinst eines Mannes, der Schreckliches durchgemacht hat. Selbst Andreas Dormark, sein bester Freund bei der Polizei, der wirklich alles versucht hat, um Adam aufzuspüren, ist sich inzwischen nicht mehr sicher, würde es vor Daniel aber nie zugeben.“
„Was denken Sie?“
„Ehrlich, ich weiß nicht, was ich glauben soll. Vielleicht gibt es diesen Adam, vielleicht auch nicht. Für Daniel ist er real und er kann sich nicht von ihm befreien. Mein Ex-Mann ist ein Süchtiger des Schmerzes und des Leidens geworden. Er will nicht vergessen.“
Diese letzten Worte hatten Neever bis ins Mark erschüttert. Sarah Fischer hatte in wenigen Worten zusammengefasst, was auch er als Fachmann erkannt hatte. Fischer wollte sich für den Tod seiner beiden Kollegen bestrafen. Sie waren an seiner Stelle gestorben und das konnte er sich nicht verzeihen.
Nach dem Weggang seiner Frau war Daniel Fischer in eine Art Agonie versunken. Er sprach auch weiterhin nicht mit dem Psychologen, spulte seine Rekonvaleszenzübungen nur noch halbherzig ab und weigerte sich, von den plastischen Chirurgen operiert zu werden, die ihm Hauttransplantationen für sein entstelltes Gesicht vorgeschlagen hatten.
Obwohl er nichts dafür tat, schritt seine körperliche Genesung voran, aber sein geistiger Zustand machte den behandelnden Ärzten Sorge. So war er schließlich in der Waldbergklinik gelandet.
Neever hatte fast täglich mit ihm Gespräche geführt, aber, wie er sich jetzt zähneknirschend eingestand, eigentlich nur Monologe geführt, denn Fischer hatte kaum etwas zur Therapie beigetragen. Zumeist saß er stumm auf dem bequemen Lederstuhl und starrte zum Fenster hinaus. Nur manchmal, in seltenen Augenblicken, war der Psychologe zu ihm durchgedrungen und die Einblicke, die er in Fischers Seele gewann, hatten ihn erschüttert.
Daniel Fischer hatte sich nicht nur mit seinem Zustand abgefunden, nein, auf eine selbstquälerische Art und Weise liebte er seine äußerliche Veränderung. Er genoss seine Isolation von anderen Menschen, sprach nicht mit den Patienten, denen er im Gang oder im Park der Klinik begegnete. Entweder hielt er sich in seinem Zimmer auf und las, oder er spazierte durch den naheliegenden Wald, saß auf einem Stuhl neben einem wild wuchernden Rhododendrenbusch und ließ sich von der Sonne bräunen. Seine ehemals weiße und an vielen Stellen rosafarbene Haut hatte inzwischen eine tiefbraune Farbe angenommen, die die Entstellungen etwas angenehmer machten, ohne sie verbergen zu können.
Was mache ich bloß mit dir?, fragte sich Neever im Stillen. Ich weiß, du leidest, aber noch ist dein Leid eine Mauer, die dich vor der Welt schützt. Was wird sein, wenn die Welt sich nicht mehr aussperren lässt? Du kannst nicht für immer mit geschlossenen Augen in der Sonne sitzen und dir vormachen, nichts und niemand existiere. Du existierst, dass Licht, das durch deine Lider dringt, existiert und das Leben will dich wieder haben. Dein Körper erholt sich und dein Geist muss ihm folgen oder du wirst nie wieder eins sein, nur noch zwei Teile eines ehemals größeren Ganzen. Sprich mit mir. Erzähl mir von deinem Leid. Lass mich teilhaben. Lass mich ein Stück deiner Traurigkeit tragen.
Aber Jan Neever wusste, dies würde nicht geschehen. So fasste er einen Entschluss. Seine Hand griff nach dem Telefonhörer und tippte eine Nummer ein, die er von einem handgeschriebenen Zettel ablas.
„Rauschgiftdezernat. Andreas Dormark“, meldete sich eine dunkle Stimme.
„Hier ist Neever.“
Ein Moment Schweigen. „Wer bitte?“
„Dr. Jan Neever von der...“
„Ah“, unterbrach ihn der andere. „Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie nicht gleich einordnen konnte.“
„Es geht um Fischer.“
Erneutes Schweigen. Neever wusste von der Freundschaft, die den Dezernatsleiter in der Landespolizeidirektion mit seinem Patienten verband. Dormark hatte Daniel Fischer mehrfach besucht und war stets frustriert nach wenigen Minuten wieder gegangen, da sich sein Freund weigerte, mit ihm zu sprechen.
„Was ist mit ihm?“, fragte er leise, fast schüchtern. „Geht es Daniel gut?“
„Nein“, erklärte Neever nüchtern. „Es geht ihm nicht besonders gut, auch wenn er selbst anderer Meinung ist.“
„Was meinen Sie damit?“
„Fischer ist glücklich. In seinen Augen glücklich, aber dies ist kein wahres Glück, sondern nur eine pervertierte Lust am eigenen Leid.“
„Ich verstehe nicht...“
„Er macht keine Forschritte, weil er keine machen will. Fischer will nur eines, leiden und das möglichst allein.“
„Sie klingen seltsam für einen Psychiater“, sagte Dormark. „Fast zornig.“
Nein, er war nicht zornig. Er war ohnmächtig und es war an der Zeit, sich diese Ohnmacht einzugestehen und zu handeln.
„Entschuldigen Sie bitte und nein, ich bin nicht zornig, aber ich habe einen Entschluss gefasst.“
„Welchen?“
„Ich möchte Daniel Fischer diensttauglich schreiben und entlassen.“
Dormark sog hörbar die Luft ein. „Glauben Sie, er ist schon soweit?“
„Nein, aber ausschlaggebend ist, dass er diesen Ort nutzt, um sich vor der Welt zu verstecken und ich möchte ihm diese Möglichkeit nehmen.“
„Ich verstehe, Sie denken, wenn er in seine gewohnte Umgebung zurückkehrt, bleibt ihm keine Wahl. Er muss sich mit dem Geschehenen auseinandersetzen, ob er daran gesundet oder zerbricht.“
„Sie haben ein gutes Gespür.“
„Kann er daran zerbrechen?“
„Ist er das nicht schon?“
„Aber hier sind andere Menschen von ihm abhängig. In diesem stressigen Beruf muss man funktionieren. Ich denke nicht...“
„Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich möchte nicht, dass er seinen gewohnten Dienst aufnimmt. Dazu wäre er gar nicht in der Lage, außerdem ist seine Medikation weiterhin sehr hoch. Nein, ich dachte an den Innendienst.“
„Sie kennen sich nicht besonders gut mit dem Polizeidienst aus, nicht wahr?“, fragte Dormark.
„Nein. Sagen Sie mir, was dagegen spricht.“
Dormark zögerte, aber seine Stimme klang fest, als er antwortete: „Daniel ist Ermittler, kein Innendienstmitarbeiter. Was soll er machen? Die Akten seiner Kollegen sortieren, Schreibtische abstauben und die Papierkörbe leeren? Glauben Sie, das würde ihm helfen, wieder auf die Beine zu kommen?“
„Natürlich nicht, aber ich bin mir sicher, in einer Dienststelle ihrer Größenordnung gibt es eine Tätigkeit, die es Fischer ermöglicht, wieder in die Sicherheit und Routine des Alltags zu finden. Außerdem glaube ich, der Umgang mit seinen alten Kollegen würde ihm gut tun.“
„Sie meinen, ihn aus der Reserve locken.“
„Nennen Sie es, wie Sie wollen.“
„Sie wissen, was Sie da von mir verlangen?“
„Ja.“
„Wenn Ihr kleines Experiment schief geht...“ Den Rest ließ Dormark unausgesprochen.
„Ja, ich weiß.“
„Gut, ich melde mich bei Ihnen.“
Die Verbindung wurde unterbrochen.
Daniel Fischer spürte die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Der intensive Geruch der blühenden Holunderbüsche kitzelte in seiner Nase. Irgendwo sang eine Amsel, verkündete mit ihrem Gesang den Anspruch auf dieses Gebiet. Zufrieden atmete er langsam ein und wieder aus. Seine Hände ruhten in seinem Schoß, als warteten sie darauf, benutzt zu werden, aber Daniel zwang sich stillzuhalten.
Bewege dich nicht, dachte er. Sei ein Stein.
Diese Übung machte er jeden Tag mindestens ein Mal. Es war sein Weg, mit dem Zittern umzugehen, das ihn von Zeit zu Zeit überfiel. Meist begann es mit einem leichten Vibrieren in seiner Brust. Das Schlagen seines Herzens wurde ihm bewusst und eine merkwürdige Schwäche befiel seine Beine. Danach folgten Schwindelgefühle und die Angst, die Kontrolle zu verlieren. Agoraphobie war ein nichtssagender, medizinischer Ausdruck für die Panikattacken, die dann durch seinen Körper rasten und er sich fühlte, als würde er ohne Halt durch die Luft gewirbelt.
Die Medikamente, die sie ihm gaben, waren lediglich eine Krücke, mit der er durch das Leben humpelte. Sie konnten die Angst nicht vertreiben, die Angst nicht besiegen. Also versuchte Fischer mit der Angst klarzukommen, indem er sich in einen Fels verwandelte. Reglos, unerschütterlich, trotzend.
Meine Arme sind aus Stein. Grau, schwarz gesprenkelt, kantig und zerklüftet. Das darin enthaltene Eisen oxidiert, verwandelt manche Stelle in blutrote Spuren. Moos wächst auf mir. Flechten bedecken mich. Meine Arme sind aus Stein.
Seine Ohren, die noch Ohren waren, verrieten ihm, dass sich Schritte näherten. Langsam Schritte. Ein Patient. Keiner dieser ständig gehetzten Ärzte. Jemand blieb vor ihm stehen. Fischer spürte, dass er betrachtet wurde.
„Hallo“, sagte eine Stimme. „Ist der Platz hier noch frei?“
Fischer erhob sich wortlos und hinkte davon. Er war kein Felsen mehr.
Fischer betrat Neevers Besprechungszimmer auf die ihm eigene Art. Er öffnete Tür ohne anzuklopfen. Dann trat er mit drei großen Schritten ein, als gelte es, eine bestimmte Distanz schnell zu überbrücken. Sein rechtes Bein zog er dabei nach wie einen Fremdkörper, den er zufällig mit sich herumschleppte. Anschließend blieb er stehen und blickte sich um.
Sein Therapeut hatte an dem kleinen, runden Tisch Platz genommen, von dem Fischer vermutete, er solle eine gewisse räumliche Distanz schaffen. Nur ein Schreibblock mit jungfräulich unbefleckten Seiten und ein schwarzer Kugelschreiber lagen darauf bereit, sein Leben schriftlich festzuhalten. Hingekritzelte Worte sollten seine Angst, seinen Leidensweg und seine Fortschritte beschreiben, aber in Fischers Augen gab es nichts zu beschreiben. Er war vollkommen.
Das Zimmer war nüchtern und sachlich eingerichtet. Metallene Regale glänzten silbern im einfallenden Licht. Schwarze Lederstühle mit Stützen aus Chrom drängten sich wie eine verirrte Schafherde um einen weiteren Tisch in der Ecke des Zimmers. Gruppentherapie. An den Wänden hingen farbige Drucke bekannter Impressionisten. Eduard Monet, Claude Monet, Renoir, dazwischen Caspar Davids „Kreidefelsen“. Aus Daniels Sicht eine typisch geschmacklose Auswahl für ein Praxiszimmer.
Wie immer war es etwas kühl im Zimmer. Zum wiederholten Male stellte Daniel fest, dass dieser Raum keinen Geruch besaß. Es roch nach nichts, so als hätte niemand jemals eine Spur hinterlassen.
Dr. Neever blickte von den Unterlagen auf, die er eben noch durchgelesen hatte. „Sie sind zu früh.“
„Ich trage keine Uhr, wie Sie wissen. Soll ich draußen warten?“
„Nein. Nehmen Sie Platz.“
Daniel setzte sich auf den Stuhl, auf dem er stets saß. In seinem Rücken befand sich eine bequem aussehende Couch mit braunem Stoffbezug. Neever hatte ihn nie aufgefordert, sich hinzulegen, wenn sie ihre Gespräche führten und Daniel wusste nicht einmal, ob die Couch bei Therapiesitzungen tatsächlich genutzt wurde oder ob sie bloße Dekoration war, die dem sachlich nüchternen Raum eine wohnliche Note geben sollte.
Der Arzt schloss den Schnellhefter, erhob sich, ging zu ihm herüber und reichte ihm die Hand.
„Wie geht es Ihnen heute?“, fragte er, während er auf der anderen Seite des Tisches Platz nahm.
Das Ritual, dachte Fischer. Dem Ritual muss Genüge getan werden. Es geht mir wie gestern, wie letzte Woche und all die Wochen davor.
„Gut“, sagte Daniel knapp.
Neever hob eine Augenbraue, wie er es immer tat, wenn er eine seiner Aussagen bezweifelte, aber er behielt seine Meinung für sich.
„Heute ist unsere letzte Sitzung“, sagte er ruhig.
Fischer war überrascht, aber er verbarg seine Gefühle. „So?“
„Ich bin der Meinung, dass Sie hier bei uns keine weiteren Fortschritte machen und deshalb werde Sie aus der stationären Behandlung entlassen. Ambulant führen wir Ihre Therapie natürlich weiter.“
„Das bedeutet?“
„Ein Kollege von mir übernimmt Ihre Behandlung und Ihre Medikation.“
„Warum?“
„Es ist an der Zeit, etwas zu verändern und ich glaube, ein neuer Gesprächspartner könnte Ihnen helfen. Unsere gemeinsame Arbeit zeigt keinerlei Fortschritte. Wir drehen uns im Kreis.“
„Und wenn mir der andere Therapeut nicht zusagt?“
„Dann wechseln Sie ihn. Vorerst wurden drei Probesitzungen vereinbart, danach entscheiden Sie.“
Fischer legte den Kopf schief und sah den Arzt an.
„Ich gehe also nach Hause“, stellte er ruhig fest.
„Ja. Morgen unterschreibe ich Ihre Entlassungspapiere. Sie haben ausreichend Zeit zu packen und sich zu verabschieden, falls es jemanden gibt, von dem Sie sich verabschieden möchten.“
„Höre ich da Sarkasmus aus Ihrer Stimme?“
„Ich bin beruflich niemals sarkastisch. Derartige Gefühle gönne ich mir nur privat. Sind Sie mit meiner Entscheidung etwa nicht einverstanden?“
Fischer schwieg einen Moment, dann sagte er: „Und wenn ich hier bleiben möchte?“
Der Arzt lehnte sich im Stuhl zurück. Sein Blick verriet Verständnis.
„Dies ist nur ein winzig kleiner Teil der Welt. Sie können sich hier nicht auf Dauer vor dem Leben verstecken. Leben will gelebt werden. Und wenn Sie noch so oft die Augen schließen, die Welt verschwindet nicht.“ Seine Hand deutete auf das Fenster. „Das da draußen bleibt.“
„Sie denken, ich wäre unglücklich, aber Sie täuschen sich“, widersprach Daniel. „Ich bin frei.“
Neevers Augenbraue zuckte wieder nach oben.
„Sehen Sie mich an“, verlangte Fischer. „Mein Gesicht, mein Körper sind zerstört. Niemand will etwas von mir. Es ist egal, ob meine Haare ungekämmt sind oder ich nach Schweiß rieche. Nichts kann diese Hässlichkeit übertreffen, dahinter steht alles zurück. Ich bin ein Krüppel mit Beinprothese. Ich muss nicht mehr funktionieren. Die schöne Welt, von der Sie sagen, sie existiere da draußen weiter, interessiert sich nicht mehr für mich. Ich bin ein Neutrum, das man anblickt, um sich dann schnell wieder abzuwenden. Ich sehe nicht mehr wie ein Mensch aus, also bin ich auch keiner mehr. Meine Artgenossen erkennen mich nicht als einen der ihren und sie sehen weg, weil ich sie an die Sterblichkeit erinnere, die hinter allem Leben lauert. Also bin ich frei. Ich muss nicht mehr an all den Sorgen und Problemen da draußen teilnehmen.“
„Und das nennen Sie Freiheit?“, widersprach Neever heftig. „Sie haben sich ein Gefängnis erschaffen und sich selbst darin eingewiesen. Sie waren Richter und Verurteilter zugleich. Eine Chance auf Bewährung haben Sie von Anfang an abgelehnt. Woher wollen Sie wissen, ob sich die Welt noch für Sie interessiert? Sie haben es doch nie auf einen Versuch angekommen lassen. All ihre Freunde und Kollegen, die Sie besuchen wollten, haben Sie brüskiert. Die Welt hat Ihnen die Hand gereicht, aber Sie haben diese Hilfe ausgeschlagen, also kommen Sie mir jetzt nicht mit dieser verquerten Selbstmitleidstour.“
Daniel erhob sich. „Dann ist alles gesagt.“
Neever blieb ruhig sitzen. Seine Hände falteten sich vor seinem Bauch. „Ich habe Sie diensttauglich geschrieben und mit Ihrem Vorgesetzten gesprochen. Er wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen.“
Fischer zögerte, als wolle er noch etwas sagen, dann verließ er das Zimmer.
2. Dieses Monster in Menschengestalt.
Seine Wohnung roch muffig, als Daniel die Tür öffnete und ging den Flur entlang. Fast achtzehn Monate war er nicht mehr hier gewesen. Nun fühlte er sich wie ein Fremder, dem jemand für eine Übernachtung die Schlüssel in die Hand gedrückt hatte und der sich erst orientieren musste.
Die Vorhänge waren zugezogen, die Zimmertüren geschlossen. Fischer schaltete das Licht ein und blickte sich um. Als erstes fielen ihm die Lücken in der Bildergalerie an den Wänden auf. Das blasse Weiß der Raufasertapete wirkte anklagend. Er blieb stehen und glitt mit den Fingern über die Struktur. Hier hatten Bilder von Sarah, Bilder von ihnen beiden, gehangen. Sarah hatte die Erinnerungsfotos mitgenommen. Auf Daniel wirkte ihre Tat wie ein Versuch, die Spuren ihrer gemeinsamen Vergangenheit zu löschen. Er warf den Schlüssel auf die Kommode und betrat das Wohnzimmer.
Das rote Ledersofa war verschwunden. Seine Exfrau hatte es schon vor der Ehe gekauft, damals, als sie noch Studentin war und sich derartigen Luxus vom Mund absparen musste. Das fehlende Sofa schuf neuen Platz. Daniel hatte den Raum kleiner in Erinnerung. In seinem Kopf war das Bild von eng zusammengestellten Möbeln, die Gemütlichkeit ausstrahlen sollten und es auch taten. Nun war das Zimmer fast leer. Der Esstisch mit seinen vier Rattanstühlen, das Sideboard und die Schrankwand mit den vielen kleinen Regalen, in denen er seine CDs aufbewahrt hatte, waren verschwunden.
Er lächelte bei dem Gedanken. Sie waren nicht verschwunden, sie hatten sich nicht in Luft aufgelöst. Sie standen jetzt woanders. In einer neuen Wohnung. In einem neuen Leben.
Daniel horchte in sich hinein, ob ihn dieser Umstand traurig machte, aber da war nur die immer gleiche Leere, die er seit langer Zeit spürte.
In einer Ecke des Raumes stand die Stereoanlage. Sie war noch komplett und angeschlossen, auch wenn der ein Meter hohe Glastisch fehlte, auf dem sie gestanden hatte. Seine Musiksammlung lag in geordneten Stapeln daneben.
Daniel nahm eine CD und betrachtete sie. Genesis – Seconds Out. Er schob die silberne Scheibe in den CD-Schacht. Kurz darauf erfüllte die unverwechselbare Musik der berühmten englischen Rockgruppe das Zimmer.
Er bemerkte, dass er Durst hatte. Daniel ging in die Küche und warf einen Blick in den Kühlschrank. Leer. Geputzt, aber leer. Das war zu erwarten gewesen. Er öffnete den Wasserhahn der Spüle und trank in gierigen Zügen. Als sein Durst gestillt war, ging er zurück ins Wohnzimmer und setzte sich auf den Parkettboden, den früher ein indischer Teppich fast verborgen hatte. Sein Blick fiel auf den Anrufbeantworter. Ein helles, rotes Blinken zeigte ihm an, dass jemand eine Nachricht hinterlassen hatte.
Es waren sechsundzwanzig Nachrichten. Die meisten stammten von Sarahs Bekannten, die anscheinend nicht sofort gewusst hatten, dass sie ausgezogen war. Sieben Nachrichten waren für ihn bestimmt. Zweimal hatte sein Versicherungsvertreter angerufen und bat ihn, sich sofort zu melden, wenn er wieder daheim war. Die anderen Botschaften waren von Kollegen aus dem Revier und von Andreas Dormark, seinem Chef. Die Glückwünsche spulte er vor, ohne sie anzuhören. Dann drückte er wieder „Play“.
„Hallo Daniel“. Die Stimme war unverkennbar. Wie immer schwang ein dunkler, nicht definierbarer Ton mit. „Bitte sieh in deine Post. Du findest dort deine sofortige Versetzung zum Spezialeinsatzkommando nach Hellstadt. Melde dich bitte am Montag um 9.00 Uhr beim dortigen Kommandoführer Leonard Bodrig zum Dienst. Ich wünsche dir viel Glück.“
Ein Pfeifton zeigte an, dass alle Nachrichten abgehört worden waren. Daniel starrte auf das Gerät. Er sollte versetzt werden?
Dormark hatte seiner Versetzung zugestimmt, ohne ihn zu fragen, ob er überhaupt versetzt werden wollte. Er war Ermittler, ein Spürhund, ein Jäger, was zum Teufel sollte er beim SEK? Die Mitglieder des Kommandos zum Einsatzort fahren? Bei seiner Vergangenheit würden sie ihn bestimmt nicht ins Team aufnehmen. Also warum ließ ihn dieses Arschloch Dormark nach Hellstadt versetzen? Es ergab keinen Sinn. Scheiße, überhaupt nichts ergab mehr ein Sinn und am wenigsten seine Versetzung.
Fischer hob den Hörer vom Telefon und wählte die Kurzwahltaste für das Dezernat.
Als Dormark abhob, ließ er ihn gar nicht erst zu Wort kommen.
„Was soll dieser Mist mit meiner Versetzung“, zischte er.
„Dir auch einen schönen guten Tag, Daniel“, knurrte Dormark. „Ich nehme an, du hast deine Versetzung gefunden und willst dich bei mir bedanken.“
„Einen Scheißdreck werde ich tun. Was soll ich denn beim SEK?“
„Du hast das Schreiben also nicht gelesen“, stellte Dormark fest.
„Das brauche ich auch nicht. Ich gehe nicht nach Hellstadt. Wenn du mich loshaben willst, musst du dir schon etwas Besseres einfallen lassen.“
„Was ich jetzt sage, sage ich nur ein einziges Mal. Du liest jetzt deine Post durch und rufst mich dann wieder an.“
„Leck mich am...“ Aber da war die Verbindung schon unterbrochen.
Daniel hielt den Brief in der Hand, dessen unscheinbares Grau
keinen Hinweis auf die Schwere der Nachricht verriet. Er schob einen Finger unter die Verklebung und riss den Umschlag auf. Seine Augen flogen über das Papier und blieben an den Worten „Ausbilder für den Schusswaffengebrauch“ hängen.
Einen Augenblick lang war er so verblüfft, dass er nicht wusste, wie er auf die Nachricht reagieren sollte. Ausbilder für den Schusswaffengebrauch. Klang gar nicht so übel. Auf jeden Fall besser als irgendein Schreibtischjob. Dass er im Außendienst nicht mehr eingesetzt werden konnte, war ihm bewusst. Mit seinem Aussehen konnte er jede Hoffnung auf seine alte Tätigkeit vergessen. Ebenso alle Dezernate, die mit Tätern, Opfern und Zeugen zu tun hatten. Für den dienstlichen Umgang mit Menschen war er nun ungeeignet. Privat konnte er sich verstecken, aber im Job gab es diese Möglichkeit nicht. Als Ausbilder beim SEK hatte er es wenigstens nur mit Polizisten zu tun und die interessierten sich wahrscheinlich nicht für sein Äußeres.
Daniel griff zum Telefon und wählte die gleiche Nummer wie zuvor.
„Okay, so übel ist es nicht“, sagte er.
„Klingt wie eine Entschuldigung.“
„Ist so etwas Ähnliches.“ Er zögerte. „Warum ich?“ Warum das SEK?“
Dormark kicherte. „Mann, Daniel, was für eine dämliche Frage. Du warst zweimal hintereinander Deutscher Polizeimeister bei den Handfeuerwaffen und in den anderen Gattungen hast du ebenfalls sehr gut abgeschnitten. In Hellstadt sind sie froh, dass sie jemanden wie dich als Ausbilder kriegen.“
„Aber die fahren doch ein ganz anderes Programm“, warf Daniel ein. „Und sie werden auch an Waffen ausgebildet, mit denen ich keine Erfahrung habe.“
„Deswegen bist du ja auch nicht der Leiter der Schießausbildung, sondern nur einer der Trainer. Du wirst dich schon reinfinden. Auf jeden Fall denke ich, der Job ist genau das Richtige, damit du in Ruhe in einen geregelten Alltag zurückfindest. Später kannst du immer noch einen Versetzungsantrag in ein anderes Dezernat stellen.“
Dormark sprach nicht aus, was er wirklich meinte, aber Daniel wusste, was er sagen wollte. Lass dich operieren. Die Ärzte können dein Gesicht wieder soweit herstellen, das sich niemand mehr in die Hose macht, wenn er dich ansieht.
Der Deal war schlichtweg, neues Gesicht, alter Job.
Vergiss es, dachte Fischer und summte die Melodie aus dem Werbespot: ‚Ich will so blieben, wie ich bin.’
„Hast du etwas gesagt?“, wollte Dormark wissen.
„Nein.“
„Okay, ich muss weitermachen.“
„Alles klar... und danke.“
„Nicht dafür“, sagte Dormark und legte auf.
Daniel las den Brief noch zwei Mal durch. Eine leichte Vorfreude erfasste ihn. Es war nicht so, dass alles andere vergessen war, aber endlich geschah etwas Positives, zeigte sich ein Silberstreifen am Horizont.
Der Umgang mit Waffen hatte ihm stets Spaß gemacht. Aus sportlicher Sicht, denn in seinem Beruf hatte er die Dienstwaffe noch nie einsetzen müssen und darüber war er ausgesprochen froh. Der Gedanke, einen Menschen zu verletzen oder gar zu töten, hatte ihn viel beschäftigt. Er wusste, es gab Situationen, in denen der Schusswaffengebrauch ein Akt reiner Notwehr war, aber dennoch hatte er sich stets vor dem Moment gefürchtet, in dem er die Waffe gegen einen Verdächtigen richten musste.
In amerikanischen Spielfilmen zogen Polizisten ständig ihre Knarren und feuerten in der Gegend herum, streckten Kriminelle nieder oder lieferten sich Schusswechsel mit Straßengangs. Mit dem Alltag im deutschen Polizeidienst hatten solche Streifen nichts gemein und darüber war Daniel froh. Er war nicht in den Dienst eingetreten, um mit der Waffe in der Hand wie ein Sheriff für Recht und Ordnung auf der Straße zu sorgen. Seine Aufgabe war es, den geltenden Gesetzen Geltung zu verschaffen und das ging mit aufreibender, aber beharrlicher Ermittlungsarbeit wesentlich besser. Recht wurde nicht aus der Mündung einer Pistole, sondern aus dem Mund eines Richters gesprochen.
Trotzdem hatte ihn von Anfang an der Umgang mit Waffen fasziniert. Die mathematische Präzision, mit der sie funktionierten, machte sie zu etwas Stabilen in einer unstabilen Welt. Man nahm die Waffe in die Hand, lud sie, dann visierte die Zielscheibe an und feuerte. Wenn man es richtig gemacht hatte, erfolgte sofort eine Belohnung durch das Trefferresultat. Fehlschüsse waren ärgerlich, aber die musste man sich selbst zuschreiben, denn die Waffe war ein Neutrum, das weder belohnen noch strafen konnte. Daniel liebte den Vorgang des Schiessens. Den Geruch des Waffenöls. Ja, selbst der Kordhitgestank, über den sich so viele seiner Kollegen beschwerten, störte ihn nicht.
Nun würde er Ausbilder für den Schusswaffengebrauch werden. Er schnalzte mit der Zunge. Vielleicht machte dieser Umstand sein weiteres Leben erträglich. Mehr erwartete Daniel nicht.
War es früher anderes gewesen?
18 Monate zuvor
Der verdammte Junkie konnte rennen wie ein Hase. Daniel Fischer keuchte. Sein Herz schlug dumpf in der Brust und immer wieder zogen sich seine Lungen schmerzhaft zusammen, aber er gab nicht auf. Zwei Wochen lang hatte er dieses kleine Arschloch beobachtet und heute sollte der Zugriff erfolgen, aber irgendwie war er dem Typ aufgefallen und so rannten sie nun schon seit zehn Minuten durch die Innenstadt. Erschreckte Passanten brachten sich in Sicherheit, wenn der Flüchtige auf sie zustürmte und machten so Platz für Fischer, der langsam den Abstand verkürzte. Ungefähr zwanzig Meter trennten ihn noch von dem schlanken Mann mit den langen braunen Haaren und der Hakennase, der immer wieder einen Blick über die Schulter warf. Gehetzte, ängstliche Augen sahen sich nach ihm um, prüften, ob er bereit war, die Verfolgung abzubrechen.
Nichts da, dachte Fischer zwischen zwei Atemzügen. Ich kriege dich.
Seine Füße knallten ein Stakkato auf den Asphalt, als er weiter beschleunigte. Der Junkie bog um eine Ecke und prallte mit einer Frau in mittleren Jahren zusammen. Einkaufstüten aus weißem Plastik, mit dem Aufdruck eines nahe gelegenen Shoppingcenters, flogen durch die Luft und ergossen ihren Inhalt auf die Straße. Beide gingen zu Boden. Die Frau lag unter dem Junkie und kreischte hysterisch. Fischer konnte sie gut verstehen. Sein Opfer sah nicht nur heruntergekommen aus, er stank auch wie ein totes Schwein.
Der Junkie stieß sich vom Körper der Frau ab und wollte aufspringen, aber da war Daniel Fischer bereits heran. Er warf sich mit seinem vollen Gewicht auf den Drogenabhängigen. Das Kreischen der Frau wandelte sich in ein ersticktes Wimmern, als nun auch noch Fischers Körper auf ihr lastete. Daniel konnte im Augenblick keine Rücksicht auf sie nehmen. Er wusste nicht, ob der Mann bewaffnet war. Er stieß sein Knie in den Rücken des anderen. Der Widerstand wurde schwächer, als dem Junkie die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Fischer schnappte sich seine Handgelenke und bog sie auf den Rücken. Er verschob sein Gewicht und klemmte die Hände seines Widersachers ein, dann erst griff er nach den Handschellen und ließ sie um die Gelenke einrasten.
Fischer hatte Probleme aus dem Gewirr von Gliedmaßen aufzustehen und das Gleichgewicht zu finden. Als er schließlich sicher stand, packte er den Junkie grob und zog ihn auf die Füße. Sein Blick wanderte zu der Frau. Er sah, wie sie sich aufrappelte. Ihre Augen rollten panisch in den Höhlen und es sah aus, als würde sie wieder zu schreien beginnen, aber dann erkannte sie, das die Gefahr vorbei war. Mit einer Hand an die Hauswand gestützt, erhob sie sich langsam. Fischer sah ihr Zittern, das Beben ihrer Lippen, die Frau weinte stumm.
„Es ist alles in Ordnung“, versuchte er, sie zu beruhigen.
Ihr Blick hastete ziellos über den Boden und blieb an ihren, auf dem Gehweg verstreuten, Einkäufen hängen.
„Die Eier sind kaputt“, sagte sie mit erstickter Stimme. „Der Salat... in einer Stunde kommt mein Mann nach Hause...“
Schock, dachte Fischer. Die ist voll weg.
„Ich rufe einen Krankenwagen.“ Fischer, der mit der linken Hand die Kette zwischen den Handschellen des Junkies gepackt hatte, fischte mit der anderen Hand sein Handy aus der Jackentasche. Es war ein Diensttelefon und so musste er nur die Kurzwahltaste drücken.
„Ich bin’s“, sagte er, nachdem sich sein Dezernatsleiter Andreas Dormark gemeldet hatte. „Ich hab das Arschloch...“
„He, he, he“, meldete sich der Junkie zu Wort. „Nenn mich nicht Arschloch, du blöde Schwuchtel.“ Er begann herumzuzappeln. Daniel zog einmal ruckartig an der Kette und der Mann jaulte schmerzerfüllt auf.
„Scheiße, dass tut weh“, jammerte er.
„Halt die Schnauze“, fuhr ihn Fischer an.
„Du hast ihn also“, stellte Dormark ruhig fest. „Wieso rufst du an?“
„Der Typ hat versucht abzuhauen. Während ich ihn verfolgte, habe ich die Beamten verloren, die mich begleitet haben. Und nun stehe ich allein in der Hindenburgstraße/Ecke Alter Markt mit einem durchgeknallten Junkie und einer Frau da. Sie ist mit dem Flüchtigen zusammengeprallt und kann jeden Augenblick durchdrehen.“
„Wer ist die Frau?“
„Keine Ahnung.“
„Frag sie.“
„Die Frau steht unter Schock. Schick mir sofort Verstärkung und einen Krankenwagen.“
„Ist sie verletzt?“
Fischer warf einen Blick auf die Frau, die versuchte, ihre Einkäufe in die zerrissenen Tüten zu stopfen.
„Nein, sieht nicht so aus. Aber wie gesagt, der Vorfall hat sie ganz schön mitgenommen.“
„Okay. In fünf Minuten ist ein Wagen da.“ Dormark legte auf.
„He, was willst du überhaupt von mir?“ Die Stimme des Junkies hatte einen weinerlichen Klang. „Mann, ich hab’ überhaupt nix gemacht.“
„Ruhe, das klären wir auf dem Revier.“
„Und du packst mich einfach und knallst mich auf den Boden.“
„Hingefallen bist du selbst.“
„Shit, ich blute.“ Der Junkie betrachtete seine ausgeblichene Jeans auf der sich rote Flecke abzeichneten.
„Du blutest nicht. Das waren die Tomaten.“ Fischer nickte in Richtung der Sauerei auf dem Asphalt.
„Ich blute. Ich brauche Hilfe“, beharrte der Junkie, dann begann er zu schreien. Bisher hatten nur wenige Passanten das Geschehen mitverfolgt, aber nun drehten sich immer Menschen um, blieben stehen und kamen schließlich näher.
„Halt jetzt endlich deine Klappe“, befahl Fischer.
„Hilfe, ich ver...“
Daniel riss an den Handschellen, sodass der Mann aus dem Gleichgewicht geriet und taumelte. Fischer bremste seinen Sturz mit dem eigenen Körper.
„Sei jetzt still oder wir werden heute keine Freunde mehr“, flüsterte er dem anderen ins Ohr. „Okay?“
Der Junkie hörte auf zu schreien. Sein Kopf wandte sich nach hinten, aber er schaffte es nicht, Fischer in die Augen zu sehen.
„Aber dann musst du mir einen blasen“, grinste er.
Daniel Fischer seufzte. Ein verrückter Junkie und eine Hausfrau, die inzwischen auf den Knien herumrutschte, um auch noch das letzte Salatblatt aufzuheben.
Alltag!
Er hatte eine Stunde vertrödelt. Als er auf die Uhr sah, musste er feststellen, dass es kurz vor 19.00 Uhr war. Er hatte noch keine Lebensmittel eingekauft. Draußen verschwand die Sonne hinter einem blutroten Horizont. Die Häuser warfen dunkle, lange Schatten, die an Spielzeuge für Riesen erinnerten.
Der Supermarkt am Ortsrand hatte bis 20.00 Uhr geöffnet, somit war es noch nicht zu spät. Seine Beinprothese schmerzte von der ungewohnten Anstrengung. Selbst jetzt, nach über einem Jahr hatte sich Daniel noch nicht daran gewöhnt. Er konnte mit seinem künstlichen Bein fast natürlich gehen, aber ein leichtes Hinken verriet seine Behinderung.
Daniel schlüpfte in seine Windjacke und zog die Baseballmütze tief ins Gesicht. Die einsetzende Dunkelheit würde seine Hässlichkeit verbergen, solange er sich auf der Straße oder im Auto befand, aber ihn graute bei dem Gedanken, sich der hellen Beleuchtung des Einkaufszentrums aussetzen zu müssen.
Die Patienten im Krankenhaus und später in der Waldbergklinik hatten ihn auch angestarrt, doch an solchen Orten war sein Aussehen nicht allzu ungewöhnlich. Viele Menschen liefen dort mit Verbänden im Gesicht herum, bei anderen verrieten rosig glänzende Narben die Schwere ihrer Verletzungen. Aber hier, im Alltag war die Plattform die Normalität und der entsprach er nicht mehr. Die Menschen würden gaffen, ihn anstarren, miteinander flüstern oder betreten wegsehen, aber eines würden sie gewiss nicht tun, dieses Monster in Menschengestalt ignorieren.
Daniel wurde schlecht bei dem Gedanken, was ihn erwartete, doch ihm blieb keine Wahl. Er brauchte Lebensmittel, Getränke und Dinge für den täglichen Gebrauch. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, einen Freund anzurufen, um ihn zu bitten, den Einkauf zu erledigen, aber gleich darauf er verwarf die Idee wieder. Früher oder später musste er sich seiner Umwelt stellen. Und heute war ein genauso guter Tag wie jeder andere.
Er seufzte leise. Dann glitt seine Hand in die Jackentasche und er zog eine kleine, weiße Plastikdose heraus. Beruhigungsmittel. Er nahm zwei der kreisrunden Pillen und schluckte sie ohne Wasser herunter. Die Tabletten waren an sich geschmacklos, aber für ihn schmeckten sie nach Angst. Daniel hätte am liebsten vor Verzweiflung geweint, aber dann riss er sich zusammen.
Leben oder Sterben, alles ist eins, dachte er und ging zur Tiefgarage hinunter.
Das Einkaufszentrum mit seinen fast schmerzlich hellen Neonröhren an der Decke erwies sich für Daniel noch schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Trotz der vorgerückten Stunde herrschte eine lärmende Betriebsamkeit vor. Menschen jeder Altersklasse und jeder sozialen Schicht schienen einen Wettkampf auszutragen, für den es keine Regeln gab. Einkaufswagen ratterten über einen unnatürlich glänzenden Boden, Mütter riefen entnervt ihren Kindern hinterher, während eine sinnlich klingende Frauenstimme aus den Lautsprechern die neuesten Sonderangebote vorlas. Der Lärm im Center war nach der Ruhe in der Klinik ohrenbetäubend.
Daniel zögerte kurz, dann schob er seinen Einkaufswagen durch zwei, sich automatisch öffnende Sperrflügel. Zunächst schien ihn niemand zu bemerken und er entspannte sich ein wenig, aber dann blieb direkt vor ihm ein kleiner Junge stehen und sah zu ihm auf. Der Junge, er mochte zehn Jahre alt sein, öffnete seinen Mund und schluckte heftig. Daniel tat nichts, denn er wusste nicht, wie er in dieser Situation reagieren sollte. Ein Schrei löste sich aus dem Mund des Jungen. Köpfe wandten sich zu ihm um. Eine Frau in mittleren Jahren hetzte von einem nahen Regal herüber. Ihre langen roten Haare wehten wie Fahnen im Wind, als sie voll mütterlicher Sorge zu ihrem Sohn rannte.
„Was haben Sie...“
Die Worte erstarben auf ihren Lippen, als Daniel den Kopf anhob. Die Augen der Frau weiteten sich, ihr Gesicht wurde blass. Ohne ein weiteres Wort fasste sie nach der Hand des Jungen und zog ihn fort. Daniel sah, wie sie ein paar Meter weiter stehen blieb und ihren Sohn tröstend in die Arme schloss. Andere Käufer waren durch die Szene auf ihn aufmerksam geworden und gafften ihn an. Die Lärmkulisse hatte nicht abgenommen, trotzdem fühlte sich Daniel plötzlich, als wäre er in einer gigantischen Seifenblase gefangen, die alle Geräusche dämpfte. Er senkte den Kopf und schob seinen Einkaufswagen an. Seine Nervosität nahm weiter zu. Für einen Augenblick vergaß er sogar die korrekten Bewegungsabläufe, mit denen er seine Beinprothese bewegen musste. Er humpelte die Regalreihen entlang und warf wahllos Lebensmittel in den Metallkorb. Als er endlich an der Kasse anstand, war er scheißgebadet. Sein Hemd klebte feucht an seinem Körper. Schweiß rann ihm über die Stirn und brannte in seinen Augen. Er blinzelte heftig, aber es half nicht. Schließlich musste er sich mit dem Ärmel seiner Jacke über das Gesicht wischen. Eine Bewegung, die noch mehr Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Menschen, die vor ihm in der Schlange standen, wandten sich um. Wieder wurde er begafft. Daniel spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg. Ein säuerlicher Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Er schluckte, aber das Gefühl, sich gleich erbrechen zu müssen wurde noch schlimmer.
Bitte, flehte er innerlich. Alles, aber nicht das.
Die Leute vor ihm bildeten eine Gasse. Daniel zögerte nicht und schob seinen Einkaufswagen durch die sich auftuende Lücke.
Eine ältere Dame mit grauen Haaren, die zu einem Knoten zusammengefasst waren, raffte ihre Einkäufe, die bereits auf dem Laufband lagen, zusammen und warf sie zurück in den Einkaufswagen.
„Gehen Sie ruhig vor“, murmelte sie, ohne ihn direkt anzublicken.
Daniel flüsterte ein heiseres ‚Danke’ und drängte an ihr vorbei. Die Kassiererin starrte ihn zunächst an, dann senkte auch sie den Blick und zog hastig seine Einkäufe über den Strichcodeleser. Daniel bezahlte mit seiner EC-Karte und eilte zurück in die Tiefgarage des Supermarkts. Hinter einer wuchtigen Steinsäule, gab er seinen Widerstand auf und erbrach sich auf den grauen Asphalt.
3. Das Schweigen des Geistes
Die Papiertüten auf seinen Armen wogen schwer, während er die Treppe zum Hauseingang hinaufstapfte. Der Türschlüssel steckte in seiner Jacke. Als sich Daniel bückte um die Tüten abzustellen, riss das braune Papier der Tüte auf seinem linken Arm und der gesamte Inhalt platzte heraus. Flaschen zerbrachen, ein Gurkenglas zersplitterte mit einem Knall, Butter, Obst und Gemüse lagen verstreut zu seinen Füßen.
Daniel fühlte Tränen aufsteigen. Er stellte die zweite Tüte ab und ging in die Hocke, als eine Stimme hinter ihm sagte: „Das waren halt noch Zeiten, als es die guten alten Plastiktragetaschen gab. Da sind wenigstens nur die Henkel abgerissen und man hatte noch eine Chance, das Drama zu vermeiden.“
Daniel war so überrascht, dass er sich umwandte, ohne an seine Entstellung zu denken. Vor ihm stand eine hübsche Frau Anfang Dreißig. Sie hatte ein schmales, energisch wirkendes Gesicht mit breitem Mund und klugen Augen. Ihre dunklen Haare waren kurz geschnitten und standen wild vom Kopf ab. Sie trug tarnfarbene Armeehosen, die mindestens zwei Nummern zu groß für sie waren. Dafür war das schwarze T-Shirt mindestens eine Größe zu klein. Ein winziger Diamant funkelte im Schein der Hausbeleuchtung auf ihrer linken Nasenseite. Zusätzlich glänzte ein Augenbrauen-Piercing im Licht.
Was Daniel in diesem Moment verblüffte, war die Tatsache, dass die Frau ihn nicht anstarrte. Sie sah ihm geradewegs in die Augen, als würde sie seine Hässlichkeit nicht wahrnehmen.
„Soll ich Ihnen helfen?“
„Nein... es geht schon. Danke“, sagte Daniel.
„Sie müssen Daniel Fischer sein“, stellte die Frau fest. „Mein Name ist Jessica Neureuther. Ich bin ihre Nachbarin aus dem zweiten Stock.“
Eine schmale Hand streckte sich ihm entgegen. Daniel schüttelte sie, ohne nachzudenken.
„Sie...“
Die Frau erriet seine Gedanken. „Woher ich weiß, wer Sie sind?“ Ein Lächeln trat in ihr Gesicht. „Nun allzu viele Menschen mit Ihrem Aussehen wohnen nicht in diesem Haus. Außerdem war Ihr Foto in allen Zeitungen. Ich meine das alte Bild vor ihrem Unfall. Frau Müller, die Vermieterin hat es mir gezeigt und gesagt, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis Sie hier wieder wohnen würden. Ich habe die Artikel gelesen und dort war von Entstellungen die Rede. Nun weiß ich, was der Autor damit meinte.“
Daniel war vollkommen aus der Bahn geworfen. Da stand diese Frau vor ihm und plapperte in fast vergnügtem Tonfall über sein Äußeres, als handele es sich gerade mal um eine gebrochene Nase.
Ihr Zeigefinger deutete auf sein Gesicht. „Sieht wirklich schlimm aus. Kann man das richten?“
Ihre Offenheit machte Daniel sprachlos. Niemand, außer seinen Ärzten, hatte ihn bisher darauf angesprochen. Selbst Sarah hatte das Thema bei ihren Besuchen vermieden. Daniel spürte Zorn in sich aufwallen.
„Man kann es richten, muss man aber nicht“, knurrte er.
„He, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, sondern bloß ein bisschen Konversation machen.“
Daniel sah sie schweigend an, dann ging er auf die Knie und hob seinen Einkauf auf. Die beschädigten Sachen ließ er liegen. Er würde sie später zusammenkehren, zunächst wollte er dieser merkwürdigen Situation entfliehen.
Rote Turnschuhe mit den drei bekannten weißen Streifen traten in sein Blickfeld.
„Und Sie brauchen wirklich keine Hilfe?“
„Nein, danke.“ Verstand sie denn nicht, dass für ihn das Gespräch beendet war?
„Ich könnte...“
„Danke.“ Hart und kompromisslos kam das Wort aus seinem Mund.
„Dann noch einen schönen Abend“, sagte Jessica Neureuther vergnügt und verschwand im Hausgang.
Daniel erhob sich und schaute ihr hinterher.
Natürlich hatte Sarah auch die Schaufel und den Handbesen mitgenommen. Nun stand Daniel vor dem Problem, wie er die Sauerei vor der Haustür beseitigen sollte. Es gab zwei Möglichkeiten und beide behagten ihm nicht. Er konnte Frau Müller fragen, ob sie ihm aushalf, aber erstens mochte er sie nicht und zweitens würde sie ihn über die Geschehnisse vor 18 Monaten ausfragen, bis er ohnmächtig wurde. Die Frau kannte weder Taktgefühl noch Rücksichtsnahme. Außerdem schien sie mit ihrem Mann in den Urlaub gefahren zu sein, sein roter Sportwagen stand nicht auf dem Stellplatz. Blieb noch seine neue Nachbarin Jessica Neureuther. Nach ihrer Begegnung vor dem Haus war ihm zwar überhaupt nicht danach, sie um Hilfe zu bitten, aber was blieb ihm übrig. Der Hauseingang musste gesäubert werden, ansonsten bekam die alte Müller bei ihrer Rückkehr einen hysterischen Anfall.
Daniel wusch sich die verschmutzten Hände, dann ging er nach oben. Über dem Klingelschild war ein fröhliches Bild mit Haus, Sonne, Wiese und Kindern gemalt. Entweder Jessica Neureuther hatte ein Kind oder sie war keine besonders gute naive Malerin. Daniel klingelte. Ein melodischer Gong ertönte, kurz darauf vernahm er tappende Schritte. Die Tür öffnete sich. Jessica Neureuther stand vor ihm. Sie war in blaue Shorts und dem gleichen T-Shirt wie vorhin gekleidet. Ihre nackten Beine waren muskulös und leicht gebräunt. Früher einmal hätte Daniel diesen Beinen seine Aufmerksamkeit geschenkt, aber nun glitt sein Blick darüber, ohne hängen zu bleiben.
„Ah, Sie sind es“, sagte sie.
„Ja.“ Eine saublöde Antwort, aber er wusste nicht, wie er das Gespräch beginnen sollte, nachdem er sie zuvor so unfreundlich abblitzen ließ.
Ihre Augenbrauen hoben sich, als wären sie zwei braune Vögel, die davon fliegen wollten.
„Kann ich Ihnen doch helfen?“, fragte sie.
„Ich brauche einen Besen und eine Schaufel.“
„Sie selbst haben keinen Besen und eine Schaufel?“
„Nein.“ Warum musste diese Frau ihm ständig Fragen stellen?
„Das wird die Müller aber gar nicht gern hören. Wie haben Sie bisher Ihre Kehrwoche gemacht?“
Daniel hob beide Hände. „Geben Sie mir nun die Sachen oder nicht?“
„Na klar.“ Sie schmunzelte, verschwand kurz in der Küche und kam mit dem Gewünschten zurück.
„Danke.“ Daniel nahm ihr die Sachen aus der Hand.
„Wiederbringen“.
„Natürlich.“
Ihr helles Lachen folgte ihm die Treppe hinunter.
Während Daniel den Hauseingang reinigte, fragte er sich, warum es Menschen wie Jessica Neureuther gab, die permanent gut gelaunt waren und dann auch noch glaubten, ihre Laune wäre ansteckend. Die Frau war nett, aber ihre Fröhlichkeit ging Daniel jetzt schon auf die Nerven.
Das Haus, in dem er wohnte, bot nun das komplette Kontrastprogramm. Über ihm die alte Müller, eine Cholerikerin wie sie im Buch stand, mit einem farblosen Ehemann, der seit seiner vorgezogenen Rente nur eine Beschäftigung kannte – handwerkliche Arbeiten in seiner Wohnung.
Noch einen Stock weiter oben lebte eine Frau in seinem Alter, die anscheinend glaubte, dass Leben sei ein einziger Vergnügenspark für Menschen, die sich ihre Kindlichkeit erhalten hatten.
Und im Erdgeschoss haust der Glöckner von Notre Dame, dachte er bissig. Eine tolle Hausgemeinschaft. Er kippte die letzte Schaufel in den Mülleimer und wischte die verschmutzte Metallfläche im feuchten Gras ab.
Leise stieg er die Treppen hinauf. Er wollte Besen und Schaufel vor der Wohnungstür seiner Nachbarin ablegen und ihr später einen Zettel mit einem schlichten ‚Danke’ in den Briefkasten werfen.
Als er oben ankam, stand die Wohnungstür weit offen.
„Kommen Sie herein“, rief es von drinnen.
Daniel blieb unschlüssig stehen. Sie hatte ihn bemerkt, also konnte er nicht einfach wortlos verschwinden.
„Ich lege die Sachen hierher“, rief er zurück.
„Das werden Sie nicht tun“, erklang es energisch. „Ich lade Sie auf ein Glas Wein ein. Auf gute Nachbarschaft und so.“
„Danke, das ist nicht nötig.“ Er drehte sich um.
„Sie lassen mich warten.“
Diese Frau war unglaublich. Was zum Teufel sollte das wieder? Er wollte keinen Wein und er wollte keine seichte Unterhaltung.
„Ich warte immer noch.“
Daniel gab seinen Widerstand auf. Gut, ein Glas Wein. Er würde es herunterstürzen und dann wieder gehen. Kein Smalltalk. Er betrat den Flur.
„Ich bin hier.“
Er folgte der Stimme vorbei an Wänden, die mit holzgeschnitzten Masken übersät waren. Manche der Masken waren noch hässlicher als sein Gesicht. Vielleicht reagierte die Frau aus diesem Grund so gelassen auf sein Aussehen. Sie war den ganzen Tag von abscheulichen Fratzen umgeben. Außer den Masken hingen keine Bilder an den Wänden. Ein niedriger Telefontisch mit Rohrstuhl versperrte ihm den Weg, ansonsten gab es im Flur keine Möbel. Nicht einmal eine Garderobe, an der man seine Jacke aufhängen konnte. Als er um die Ecke bog, öffnete sich der Gang zu einer großen Küche. Sanftes Licht aus einer alten Porzellanlampe beleuchtete Küchenschränke aus hellem Holz und einen Tisch mit Stühlen, der aussah, als habe er schon zu Bismarcks Zeiten als Essplatz gedient. Von der Decke hingen Bündel wohlduftender Kräuter und Gewürze, die sich im Luftzug des offenen Fensters bewegten. Jessica Neureuther sah ihn an.
„Schön, dass Sie mich besuchen.“ Sie deutete auf einen Stuhl. „Nehmen Sie Platz.“
Daniel setzte sich unbeholfen. Sein künstliches Bein ließ sich erst nach einigen Verrenkungen unter dem niedrigen Tisch verstauen. Die Situation war ihm peinlich, aber Jessica Neureuther ließ nicht erkennen, dass seine Unbeholfenheit sie verlegen machte. Sie hielt zwei Weinflaschen hoch.
„Weiß oder Rot?“, fragte sie.
„Rot.“
„Tun Sie mir einen Gefallen und öffnen Sie die Flasche.“ Jessica reichte ihm den Korkenzieher.
Wenige Augenblicke später schenkte sie ihm ein. „Auf gute Nachbarschaft.“
„Ja, auf gute Nachbarschaft. Und danke für den Besen und die Schaufel.“
Sie winkte ab und beide tranken. Der rauchige Geschmack des herben Weins legte sich schwer auf Daniels Gaumen. Zunächst schmeckte ihm der italienische Chianti nicht, aber nach zwei weiteren kleinen Schlucken genoss er das Gefühl, wie der Wein seine Kehle hinabrann.
Ihre Augen suchten seinen Blick. Daniel erkannte, dass sie von graugrüner Farbe waren.
„Sind Sie heute aus dem Krankenhaus entlassen worden?“
Daniel senkte den Kopf und studierte die Kerben auf der Holzplatte des Esstischs.
„Ist Ihnen die Frage peinlich?“, hakte sie nach.
„Nein, ich komme nicht aus dem Krankenhaus. Ich war in einer psychiatrischen Klinik.“ Seine ehrliche Antwort überraschte ihn mehr als sie.
„Es war schlimm“, stellte sie leise fest.
„Nein, es war mehr wie ein Kuraufenthalt.“
„Das meinte ich nicht.“
Daniel hob den Kopf wieder an. „Darüber möchte ich nicht reden.“
„Gut, reden wir von etwas anderem. Darf ich Sie fragen, ob Sie aus der Gegend stammen?“
„Ich bin hier geboren.“
„Merkwürdig“, sagte sie. „Sie sprechen vollkommen akzentfrei. Ich hätte schwören können, dass Sie aus dem Norden stammen.“
Er lächelte ein wenig und die Narben in seinem Gesicht verschoben sich wie Puzzleteile auf der Suche nach dem richtigen Platz. „Das denken viele. Meine Eltern kommen nicht von hier. Sie sind nach dem Krieg aus dem Osten geflohen.“
„Dann haben wir etwas gemeinsam. Meine Eltern lebten bis zum Bau der Mauer in Berlin. Im Ostteil.“
Daniel trank einen weiteren Schluck Wein und beobachtete die Lichtreflexionen auf dem Glas. Kleine rote Punkte, wie Sterne am Nachthimmel.
„Worüber denken Sie nach?“, fragte Jessica.
Er sah sie an. „Muss man immer über etwas nachdenken?“
Sie lachte. „Nein, da haben Sie Recht. Ich nenne es ‚Das Schweigen des Geistes’, aber es gelingt mir nicht allzu oft. In meinem Kopf ist immer etwas los.“
„Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Sozialpädagogin. Hauptsächlich habe ich mit schwer erziehbaren Kindern und Jugendlichen zu tun.“
„Da gibt es gewisse Parallelen zu meinem Beruf. Viele Jugendliche nehmen Drogen heutzutage oder handeln damit.“
„Ja, ich weiß“, sagte sie ernst. „Es sind die Straßenkinder. Vernachlässigte Jugendliche aus sozial schwachen Gegenden, die ständig sehen, was sie haben könnten und es auf ehrliche Art und Weise nie erreichen werden.“
„Eine sehr einfache Betrachtungsweise, die alles erklären will, es aber nicht tut.“
„So?“
Jessica wirkte verärgert. Ihre Augen fixierten ihn. Er mochte das Gefühl nicht, wie sie ihn ansah.
Er trank sein Glas in einem Zug leer und stellte es ab. Er erhob sich umständlich. „Danke für den Wein. Ich muss jetzt gehen.“
Dann verließ er die Wohnung.
Daniel lag auf dem Rücken, mitten auf dem Parkettboden im Wohnzimmer und sah zur Zimmerdecke hinauf, über die in unregelmäßigen Abstände Lichtfetzen vorbeifahrender Autoscheinwerfer tanzten. Seine Gedanken irrten umher. Er dachte an den vergangenen Tag, das Erlebnis im Supermarkt und die Begegnung mit Jessica Neureuther. Sie war eine ungewöhnliche Frau. Ihre Art ihn anzublicken, so als gäbe es seine Hässlichkeit nicht, versetzte ihn in Erstaunen. In ihrer Nähe hatte er für einen Moment vergessen, wer er war und was er war, aber dieses Gefühl war ebenso schnell verflogen, wie es gekommen war. Daniel wusste nicht einmal, ob er seine neue Nachbarin sympathisch fand. Auf der einen Seite hatte sie ein offenes Wesen, auf der anderen empfand er sie als zu aufdringlich und zu direkt. Nun ja, sie war eine Nachbarin. Mehr nicht. Und er konnte ihr aus dem Weg gehen.
Etwas anderes war wesentlich wichtiger! Daniel erhob sich und ging hinüber in das kleine Arbeitszimmer, das einmal ein Abstellraum gewesen war, bevor er es mit Sarah tapeziert und gestrichen hatte. Jetzt befand sich darin ein Schreibtisch, auf dem sein Computer und ein Drucker standen. Daniel setzte sich auf den drehbaren Bürostuhl und schaltete das Gerät ein. Kurz darauf klickte er das Explorericon an und loggte sich ins Internet ein.
Es war an der Zeit, nach Adam zu suchen.
Adam saß auf einem abgeflachten Felsblock und dachte nach. Es war eine mächtige Höhle, weit im Inneren des Berges, den die Gruppe als Wohnstatt nutzte. Die Grundfläche spannte sich über zwei Fußballfelder, aber wirklich beeindruckend war die Höhlenkuppel, die sich fünfzehn Meter in Höhe schwang. Riesige Stalaktiten ragten von der Felsendecke bis auf den Boden wie die steinernen Finger eines Riesen. Flackerndes Licht von unzähligen Fackeln erhellte die Umgebung mit goldenem Feuerglanz. Adam betrachtete seine Familie. Es war Schlafenszeit und die Gruppe hatte sich niedergelegt. In Ecken und Nischen, zwischen dicken Decken oder auf dem nackten Stein, schliefen die Menschen, die er liebte und die ihm vertrauten.
Adam spürte die Kälte nicht, die durch seine Glieder drang. Er lehnte jede Kleidung ab und saß nackt auf dem kühlen Stein. Seine Tätowierungen erwachten im Schein der Fackeln zum Leben und die blauen Muster schienen auf seiner Haut zu tanzen. Adam sah an seinem Arm hinab und beobachtete eine Zeit lang das Lichtspiel. Seine Gedanken flossen träge dahin. Er dachte an die Ereignisse vor vielen Monaten, die sie gezwungen hatten, tiefer im Schutz der Erde einen Platz zum Leben zu suchen. Die alten Drogenfelder waren abgeerntet und verbrannt, sämtliche Hinweise auf den Verbleib der Gruppe waren vernichtet worden. Niemand ging mehr hinauf zur Oberfläche, um Drogen an die Zwischenhändler zu liefern. Sie hatten alles, was sie brauchten und noch mehr. Kokain in einer unvorstellbaren Menge, aber der Verbrauch nahm beständig zu. Hier unten, fern ab jeder Ablenkung, begannen sich seine ‚Kinder’ zu langweilen und so schenkte er ihnen Träume, die sie Feuchtigkeit, Kälte und Einsamkeit vergessen ließen.
Zwei Dinge bereiteten ihm allerdings Sorgen. Ihre Lebensmittelvorräte gingen zur Neige. Die Gruppe verfügte nur noch über zwanzig Sack Mehl und das angepflanzte Gemüse wuchs trotz der Gasdampflampen nur kümmerlich. Adam sah die Mangelerscheinungen in den eingefallenen Gesichtern. Skorbut, die alte Seefahrerkrankheit, würde bald zu einer großen Belastung werden, denn schon jetzt fielen den ersten Haare und Zähne aus.
Aber immerhin hatten sie frisches Wasser von einem unterirdischen Fluss, der sich in einer Nebenhöhle träge durch den Berg fraß.
Ihr Fleischproblem hatten sie schon vor Monaten gelöst. Es gab hier unten Fleisch. Fleisch, das von Tieren mit nackten Schwänzen und spitzen Zähnen stammte. Selbst jetzt nahm er den Gestank der nahe gelegenen Zuchtfarm wahr. Das ständige Fiepen der Ratten war inzwischen zu einem monotonen Hintergrundgeräusch geworden, dem er keine Beachtung mehr schenkte. Die neuen Würfe waren außerordentlich zahlreich ausgefallen und so konnten sie einen Teil der Neugeborenen an die älteren Ratten verfüttern, die getrennt von den Familien gehalten wurden.
Bald müssen wir neue Ställe bauen, dachte Adam und ein zufriedenes Lächeln stahl sich in sein Gesicht. Ja, er war ein guter Vater für seine Kinder. Er sorgte für sie und gab ihnen die Wärme seiner Existenz. Er war ihr Licht in der Dunkelheit, der Weg in ein neues Leben.
Adam öffnete seine rechte Hand. Er betrachtete das Foto, das er dem Polizisten abgenommen hatte. Daniel Fischer war entkommen und wahrscheinlich war sie in diesem Augenblick bei ihm. Eine kalte Faust, die zu Feuer wurde, fasste nach seinem Herz.
Du gehörst mir!
Adam presste seine Lippen auf das Bild.
Bald!
4. Die Besten der Besten
Daniel saß auf der Bettkante, griff nach seinen Unterarm-Gehstützen und humpelte ins Bad, um ausgiebig zu duschen. Danach ging er geübt, aber vorsichtig zurück ins Schlafzimmer, weil er wusste, wie leicht man mit den Krücken auf dem feuchten Badezimmerfußboden ausrutschen konnte. Er setzte sich wieder auf das Bett.
Links neben ihm an der Wand stand seine Oberschenkelprothese. Es war ein sogenanntes "C-Leg", Computerized Leg, eine Prothese mit elektronischem Kniegelenksystem, dessen Hydraulik mikroprozessorgesteuert wurde. Eine komplexe Sensorik erfasste in jeder Phase des Gehens die Daten und optimierte die hydraulischen Bewegungswiderstände. Dadurch konnte er mit dieser Prothese so gut, sicher und unauffällig gehen, dass die Behinderung erst auf den zweiten Blick sichtbar wurde.
Die hochwertige Technik wurde von einem Schaumstoffüberzug verborgen, der ein menschliches Bein perfekt nachbildete.
Der Schaumstoffüberzug war mit einer Spezialbeschichtung versehen, einer "SuperSkin-Beschichtung", die exakt auf die Hautfarbe seines erhaltenen Beines abgestimmt war.
Daniel griff nach seiner grünen Anziehhilfe, steckte seinen Stumpf hinein und zog sich damit in den Prothesenschaft. Er war dabei sehr gewissenhaft, weil er wusste, dass die Prothese hundertprozentig sitzen musste, damit er gut gehen kann. Heute war er etwas nervös beim Anziehen und merkte sofort, dass die Prothese nicht richtig saß. Er zögerte kurz, dann zog er sie wieder aus und versuchte es erneut.
Er wollte gerade die Wohnung verlassen, als das Telefon klingelte. Zögernd stand er in der Tür, dann schloss er sie wieder und nahm den Hörer ab.
„Daniel Fischer.“
„Hallo.“
Nur ein Wort, aber sein Magen begann zu fliegen.
„Was willst du, Sarah?“
„Hören, wie es dir geht.“
„Gut. Woher weißt du, dass ich wieder da bin?“
„Andreas hat es mir erzählt.“
Fischer fluchte in Gedanken. Konnte Dormark nie seine Schnauze halten?
„Okay, jetzt weißt du, wie es mir geht. War es das?“
„Daniel“, ihre Stimme bat um Verständnis.
Fischer legte den Hörer auf die Station.
Die Kaserne der SEK Hellstadt befand sich etwas abseits einer stark frequentierten Landstrasse. Ulmen und knorrige Buchen säumten den Asphalt, als Daniel auf das geschlossene Tor zufuhr. Ein Wachmann kontrollierte seine Papiere, hielt kurz Rücksprache mit der Zentrale und wies ihm dann den Weg.
Daniel stellte den Wagen vor einem Ziegelbau ab, von dem er vermutete, dass er früher einmal als Fabrik gedient hatte. Eine Gruppe junger Männer in grünen Polizeitrainingsanzügen joggte an ihm vorbei. Daniel senkte den Kopf, als sie auf seiner Höhe waren, aber niemand beachtete ihn. Sein Versetzungsschreiben in der Hand haltend, betrat er das Gebäude.
Drinnen war es empfindlich kalt. Ohne es zu bemerken, zog Daniel die Schultern hoch. Der Geruch von feuchtem Papier und altem Holz drang ihn in die Nase, denn so roch es in jedem Amtgebäude. Daniel spürte vertraute Erinnerungen in sich hochsteigen.
Der Boden war mit den üblichen grauen Platten belegt, die mehr an die Pflasterung einer Außenanlage erinnerten, als an den Flur eines Verwaltungsgebäudes. Daniel hielt auf den verglasten Empfangsschalter zu. Ein ziviler Beamter hob in dem Moment den Kopf, in dem Daniel das Schreiben auf Höhe seines Gesichts gegen die Glasscheibe presste.
„Zweiter Stock. Zimmer 203. Sie sind angemeldet und können gleich raufgehen.“
Daniel wandte sich um und stieg eine breite, geschwungene Treppe nach oben. Am Ende der Stiegen erwartete ihn ein dunkler Gang, dem er nach links folgte. Schließlich stand er vor Zimmer 203. Kommandoführer Polizeioberrat L. Bodrig stand in weißen Lettern auf einem grauen Plastikschild neben der Tür. Daniel sog die Luft ein. Sein Herz klopfte vor Aufregung und ein bekanntes Schwindelgefühl erfasste ihn. Bevor die Angst sich ausbreiten konnte, klopfte er zweimal an.
„Kommen Sie rein“, erklang es von innen.
Daniel betrat ein Zimmer, durch dessen Ostfenster helles Sonnenlicht hereinfiel. Nach dem dunklen Flur blendete ihn das Licht und er musste sich orientieren. Der Raum maß fünf auf fünf Meter und wurde von einem mächtigen Schreibtisch aus massivem Holz dominiert. An einer Wand stand ein altes Metallregal, von dem der schwarze Lack abblätterte. Dutzende Leitzordner kämpften darin um jeden Zentimeter freier Fläche. An den Wänden hingen Urkunden von sportlichen Wettbewerben. In einer Ecke des Zimmers verkümmerte eine Birkenfeige, deren dürre, fast blattlose Äste verrieten, dass es der Büronutzer mit dem Pflanzengießen nicht so genau nahm.
„Sie sind Fischer“, stellte der Mann hinter dem Schreibtisch fest. Sein massiger Körper verdeckte vollkommen den Stuhl, auf dem er saß. Er hatte hellblonde Haare, die zu einem Bürstenschnitt geschnitten waren, helle, strahlend blaue Augen und ein kantiges Gesicht, dem man ansah, dass er sich viel im Freien aufhielt. Sein Mund verzog sich zu einem unfreundlichen Grinsen und entblößte dabei blendend weiße Zähne.
„Sie sind Fischer“, wiederholte er. Er erhob sich nicht, um ihn zu begrüßen. Daniel hatte schon nach diesen ersten Sekunden das Gefühl, hier nicht willkommen zu sein.
„Hauptkommissar Bodrig?“
„Ja“, antwortete der Polizeioberrat knapp und deute auf das Schreiben in Fischers Hand. „Her damit.“
Daniel übergab ihm den Versetzungsbefehl. Bodrig ließ sich Zeit beim Lesen. Er bot Daniel nicht an, Platz zu nehmen, obwohl auf seiner Seite des Schreibtisches ein weiterer Stuhl stand. Schließlich blickte Bodrig ihn an. In seinen Augen lag keine Spur von Freundlichkeit.
„Den Scheiß, der hier drin steht, können Sie vergessen.“ Er knüllte das Papier achtlos zusammen und warf es auf den Boden. „Ich weiß nicht, wie Sie angestellt haben, hierher versetzt zu werden und es interessiert mich auch nicht. Sie gehören nicht zum SEK und werden auch nie dazugehören. Ich habe mir Ihre Personalakte angesehen. Nett.“ Sein Körper schob sich nach vorn. „Aber es interessiert mich einen Dreck, was mit Ihnen vor 18 Monaten geschehen ist. Das hier ist kein Kurhotel für psychisch labile Polizisten kurz vor der frühzeitigen Pensionierung. Das hier ist das SEK Hellstadt. Ein Spezialeinsatzkommando, in dem nur die Besten der Besten ihren Dienst tun.“ Bodrig rutschte in seinem Stuhl zurück. Seine Stimme verlor an Schärfe. „Und die werden auch nur von den Besten ausgebildet.“
Daniel schluckte schwer. Die unverhohlene Aggression des anderen hatte ihn emotional aus der Bahn geworfen. Sein Magen zog sich krampfhaft zusammen. Heftige Schwindelgefühle tobten durch seinen Körper. Er stand kurz vor einer Panikattacke.
„Dann... gehe ich wieder“, brachte er mühsam hervor.
Bodrig sah ihn ruhig an. „Nein.“
„Was? Ich...“
„Sie bleiben hier. Dies ist ein gültiger Versetzungsbefehl, dem ich mich nicht widersetzen kann, aber niemand schreibt mir vor, wie ich meine Leute einsetze. Sie tun Dienst in der Waffenkammer. Nichts Aufregendes, also genau das Richtige für jemanden wie sie. Ein Büro weiter finden Sie Hauptkommissar Nebaum, der Sie instruieren wird.“
Daniel stand da und starrte Bodrig an. Seine Beine zitterten. Seine Zehen versuchten sich durch die Schuhsohle in den Boden zu krallen, um Halt zu finden. Er brachte kein Wort heraus.
„Und jetzt einen schönen Tag“, knurrte Bodrig und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Der Tag neigte sich dem Ende und eine verblassende Sonne sandte ihre letzten Strahlen über den Horizont, als Daniel Fischer seinen Dienst beendete und nach Hause fuhr. Hauptkommissar Nebaum hatte sich im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten als umgänglicher Typ erwiesen, der ihn herumgeführt und ihm die Örtlichkeiten erklärt hatte. Die Waffenkammer war in einem flachen Nebengebäude untergebracht. Eine schwere Metalltür sicherte den Eingang. Sämtliche Fenster waren vergittert. Das Gebäude strahlte einen kalten und bedrohlichen Eindruck aus und Daniel hatte bei dem Gedanken gefröstelt, hier seinen Dienst zu tun.
Zu seiner Überraschung gab es zwei weitere Beamte, die in der Waffenkammer ihren Aufgaben nachgingen. Ein kleiner, hagerer Mann Anfang vierzig mit mürrischem Gesichtsausdruck und einem unmodernen Schnauzbart leitete die Ausgabe und Aufbewahrung der Waffen. Ihm war ein ebenso kleiner, aber dafür übergewichtiger Wachtmeister mit glatten, pausbäckigen Gesicht und freundlichen Augen zugeteilt. Sie stellten sich als Bernhard Hüger und Christoph Zahner vor.
Hüger, der Mürrische, hatte kurz darauf die Waffenkammer verlassen und war erst spät am Nachmittag wieder aufgetaucht. Er hatte es Zahner überlassen, Daniel sein künftiges Tätigkeitsfeld zu erklären.
Christoph Zahner war ein Wachtmeister, der bereits nach wenigen Worten zugab, dass ihn normaler Polizeidienst nicht interessierte. Seine Liebe galt den Waffen und er konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als sie zu reinigen und zu pflegen. Am Schießen hatte er keinen besonderen Gefallen gefunden. Zu laut, hatte er verschmitzt erklärt und auf seine fleischigen Ohren gedeutet.
Den Rest des Tages hatte ihm der Beamte die verschiedenen Waffentypen vorgeführt, die beim SEK eingesetzt wurden. Sein Lieblingsbaby, wie er es nannte, war ein großkalibriges Repetiergewehr für weite Entfernungen, das vorwiegend von Scharfschützen benützt wurde. Accuracy „Artic Warfare“ im Kaliber .338 Lapua Magnum. Eine Waffe mit einer Mündungsgeschwindigkeit von 900m/Sek., die 16 Gramm schwere Munition verschoss. Später hatte ihm Zahner noch die französische Hecaté II im Kaliber .50 BMG gezeigt, deren Geschosse es sogar auf 43 Gramm brachten.
Alles in allem war der Tag gar nicht so schlecht gewesen. Seine neue Tätigkeit schien interessant und er hatte nicht viel mit Menschen zu tun, da Hüger die Waffenausgabe persönlich erledigte. Ein Umstand, der ihm recht war. Einzig Bodrig, der sich nicht einmal die Mühe machte, seine Ablehnung zu verbergen, bereitete ihm Sorgen.
Was soll’s, dachte Daniel. Er würde den Leiter des SEK kaum zu Gesicht bekommen und somit konnte ihm sein Benehmen egal sein.
Daniel fuhr in die Tiefgarage und musste ärgerlich feststellen, dass sein Parkplatz vom roten Mazda MX-3 Cabrio seines Vermieters belegt war. Reinhard Müller hatte die Angewohnheit seinen Wagen auf Daniels Parkplatz abzustellen, aus Angst er könne beim Einparken auf seinen eigenen Stellplatz mit dem Kotflügel an der Wand hängen bleiben. Daniel zischte wütend, setzte zurück und stellte sein Fahrzeug daneben. Die aufkommende gute Laune war verflogen. Müllers waren aus dem Urlaub zurück. Bald würde das Hämmern und Bohren wieder losgehen.
5. Ist das mein Problem?
Daniel Fischer stand in seiner kleinen Küche und schlug drei Eier in eine Pfanne. Das heiße Fett brutzelte und er beeilte sich, Salz und Pfeffer auf die Eier zu streuen. Kurz bevor er sein Abendessen aus der Pfanne hob, schnitt er sich dicke Scheiben Brot von einem Leib und bestrich sie mit Butter. Der Geruch des Essens ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen, als er den Teller in das Wohnzimmer trug und sich dort auf den Fußboden setzte.
Genüsslich kauend dachte er noch mal an den vergangenen Tag und die Veränderungen in seinem Leben. Die Angst und Unsicherheit, die ihn lange Zeit begleitet hatten, waren schwächer geworden. Vielleicht war dies alles der Beginn von etwas Neuem. Daniel konnte sich nicht freuen, geschweige denn, dass er glücklich war, aber eine gewisse Zufriedenheit machte sich in ihm breit. Als er mit dem letzten Stück Brot das Fett vom Teller aufwischte, hörte er ein Geräusch auf der Terrasse. Zunächst konnte er es nicht einordnen, aber dann erkannte er das leise, jammernde Miauen einer Katze. Verblüfft schob er den Teller beiseite und stand auf.
Direkt vor der Glastür, die auf seine Terrasse und in den Garten führte, saß eine kleine, schwarze Katze und starrte ihn durch die Scheibe hindurch an. Ihre leuchtend gelben Augen verfolgten zwar gebannt, wie sich Daniel näherte, aber sie floh nicht, als er die Tür öffnete, sondern sah stumm zu ihm auf.
Daniel blickte auf das Tier hinunter. Die Katze schien noch sehr jung zu sein, keine zehn Wochen alt. Ihr schwarzes Fell glänzte im Lichtschein der Wohnzimmerlampe.
Eine Weile lang geschah nichts. Daniel sah die Katze an und sie erwiderte seinen Blick. Dann miaute die Katze und brach den Bann, der Mensch und Tier für einen Moment gefangen gehalten hatte.
„Geh weg“, sagte Daniel und deutete auf das Gartentor.
Die Katze rührte sich nicht.
„Weg hab’ ich gesagt.“ Er fuchtelte mit den Händen. Die Katze antwortete mit einem Miauen. „Geh dahin, wo du hergekommen bist.“
Nichts geschah. Das Tier bewegte sich nicht.
„Ich mag keine Katzen.“ Selbst in seinen Ohren klang das dämlich.
„Weg jetzt“, versuchte er, sie zu verscheuchen. Zwecklos. Die gelben Augen blickten ihn bittend an.
„Dann mach, was du willst. Ich lass dich nicht herein.“
Daniel schloss die Tür, nahm die Tageszeitung und setzte sich wieder auf den Parkettboden. Keine Minute später erklang das Miauen erneut. Diesmal war es fordernd. Zunächst versuchte Fischer das Geräusch zu ignorieren, aber schließlich musste er feststellen, dass er den gleichen Satz zum viertel Mal las. Verärgert riss er die Terrassentür auf.
„Was soll das?“
Die Katze wich ein Stück zurück, machte aber keine Anstalten zu fliehen. Daniel stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Das Tier kauerte sich nun in einer Ecke der niedrigen Mauer zusammen, die die Terrasse vom Garten trennte.
„Hau ab.“ Drohend ging er auf die Katze zu, die sich nicht rührte. Seine vernarbte Hand fasste unter den weichen Bauch und hob den Winzling hoch. Mit ausgestrecktem Arm trug er die Katze zum Gartentor und setzte sie dahinter ab.
„Und jetzt verschwinde. Wage es ja nicht wiederzukommen.“
Als er den Weg über die Sandsteinplatten zurückging, folgte ihm die Katze erneut.
„Himmelherrgott, verstehst du mich nicht. Weg hab’ ich gesagt.“
Die Katze schnurrte und rieb sich an seinem Bein. Daniel platzte der Kragen. Er hob die Katze wieder hoch, ohne auf ihre schmerzhafte Proteste zu hören und trug sie ein Stück die Straße hinauf. Hier an einer stark befahrenen Kreuzung setzte er sie neben einem Busch ab. Als er wegging, blickte er noch mal über die Schulter und sah, wie sich das kleine Tier ängstlich zusammenkauerte, als ein Lastwagen donnernd vorbeifuhr.
Mist, fluchte er innerlich. Keine fünf Minuten und die Katze würde an einem Autoreifen kleben. Er war zwar kein ausgesprochener Tierfreund, aber das mickrige Wesen tat ihm leid. Sich selbst beschimpfend ging er zurück, nahm die Katze auf den Arm und trug sie in den Garten.
„Warte hier“, befahl er, bevor er die Wohnung verließ und zu seiner neuen Nachbarin hinaufging. Nach dem zweiten Klingeln schwang die Tür auf. Jessica Neureuther stand im Türrahmen und blickte ihn verärgert an. Offensichtlich hatte sein gestriger Besuch keinen guten Eindruck hinterlassen. Na ja, verständlich, wenn er an seinen unfreundlichen Abgang dachte.
„Was möchten Sie?“
Daniel trat von einem Fuß auf den anderen. „Haben Sie eine Katze?“
„Was?“
„Ob Sie eine Katze haben?“
„Nein, warum fragen Sie?“
„Unten auf meiner Terrasse sitzt ein Häufchen Elend und jammert mir die Ohren voll.“
„Und?“
„Vielleicht könnten Sie sich um...“
„Nein.“
„...das Tier kümmern“, vollendete Daniel den Satz.
„Ich will keine Katze.“
„Ich auch nicht.“
„Ist das mein Problem?“ Ihre Stirn legte sich in Falten.
„Natürlich nicht, aber ich dachte...“
Die Tür wurde ihm vor der Nase zugeschlagen. Daniel klopfte wütend gegen das Holz. „Ich habe eine verdammte Katzenallergie.“ Keine Antwort. „He, hören Sie mich?“
„Klar höre ich Ihr Geschrei“, kam es gedämpft hinter der Tür zurück. „Wenn Sie kein Haustier wollen, bringen Sie die Katze ins Tierheim. Und jetzt will ich meine Ruhe.“
Fischer wandte sich um. Die Narben in seinem Gesicht glühten vor Zorn. Polternd stampfte er die Treppe hinunter. Seine Hoffnung, die Katze könnte inzwischen das Weite gesucht haben, erfüllte sich nicht.
Ohne Zögern hob er den Hörer ab und ließ sich von der Telefonauskunft die Nummer des örtlichen Tierheims geben. Dort meldete sich jedoch nur der Anrufbeantworter, der ihm die Öffnungszeiten mitteilte.
Schimpfend knallte er den Hörer auf die Gabel. Als er den Kopf wandte und nach der Katze sah, fasste diese es als Signal auf, erneut zu jammern.
„Was ist?“
Die Katze erhob sich und ging langsam auf ihn zu.
„Du hast Hunger?“
Zur Bestätigung intensivierte das Tier seine Bemühungen. Fischer, dem das Miauen auf die Nerven ging, gab auf. Er trottete in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Keine Milch darin. „Okay, also keine Milch“, sagte er zu sich selbst. „Was könnte ich ihr sonst geben?“
Sein Blick fiel auf eine Büchse Leberwurst. Das Etikett verriet ihm, dass der Inhalt noch haltbar war. Er musste die Dose im Supermarkt gekauft haben, konnte sich aber nicht daran erinnern. Nun ja, Leberwurst war bestimmt das Richtige. Viel Fleisch und alles weich, sodass die Katze nicht viel kauen musste. Ihre Zähne sahen ziemlich spitz, aber auch zerbrechlich aus.
Daniel öffnete die Büchse und klopfte den Inhalt auf einen Teller. Dann nahm er eine Gabel und zerkleinerte die feste Masse. Zufrieden mit sich brachte er die Mahlzeit auf die Terrasse. Die Katze schlich näher, schnupperte kurz und stürzte sich dann auf die Wurst, als habe sie seit Wochen nichts mehr gefressen. Daniel lauschte ihrem leisen, zufriedenen Schmatzen und fühlte sich auf sonderbare Art und Weise glücklich.
Als die Katze den letzten Krümel vom Teller geschleckt hatte, trabte sie leichtfüßig zu Fischer und strich ihm um die Beine.
„Okay, das war es. Mehr gibt es nicht und jetzt verschwinde.“
Das Tier schlüpfte durch den Spalt in der Tür in die Wohnung hinein.
„Oh, nein“, rief Daniel. „Das kannst du vergessen.“ Er hob die Katze hoch und trug sie auf die Terrasse zurück. „Geh jetzt nach Hause.“ Dann schloss er die Tür und widmete sich wieder seiner Zeitung.
Daniel wusste nicht, ob er träumte oder schon wach war. Auf jeden Fall drang das Miauen der Katze in seinen Schlaf. Er schlug die Augen auf. Die Leuchtziffer des Weckers verriet ihm, dass es erst 3.00 Uhr morgens war. Wütend warf er sich im Bett herum und versuchte wieder einzuschlafen. Zwecklos. Je mehr er sich bemühte das Miauen zu ignorieren, desto lauter schien es zu werden. Daniel schlug die Bettdecke zurück und tapste barfuss ins Wohnzimmer. Im Schein des schwachen Mondlichts sah er die Katze vor seiner Terrassentür hin und herschleichen.
Womit habe ich das verdient?, fragte er sich still. Er öffnete die Tür und die Katze huschte herein. Diesmal ließ sie sich nicht so einfach fangen, sondern flitzte ins Schlafzimmer und versteckte sich unter dem Bett. Daniel versuchte zehn Minuten lang vergebens, sie herauszulocken, aber schließlich gab er auf. Sollte das Mistvieh unter dem Bett bleiben. Morgen würde er sie ins Tierheim bringen und dann herrschte endlich wieder Ruhe. Wenige Minuten später war er eingeschlafen und merkte nicht, wie die Katze zu ihm ins Bett kroch und sich zufrieden an seinen Füßen zusammenrollte.
6. Diese Geschichte willst du nicht hören.
„Nein, so nicht“, sagte Christoph Zahner freundlich und nahm ihm das Gewehr aus der Hand. „Das Modell R93 ‚Tactical’ von Blaser ist eine Winchester im Kaliber .308 und hat einen Gradverzugverschluss, wenn du es auseinander nehmen willst, fang’ mit der Schaftkappe an.“
Daniel nahm die Waffe entgegen und ließ seinen Blick über die elegante Form gleiten. Die R93 war eine außergewöhnliche Schönheit im matten Schwarz mit kurzem Lauf und abgewinkelter Schulterstütze. Das aufmontierte Zielfernrohr war ungewöhnlich groß und verlieh dem Gewehr ein bedrohliches, gedrungenes Aussehen. Wirkt wie ein Pitbull, dachte Daniel und zog das Magazin heraus.
„Hey“, rief Zahner herüber, der zum Waffenregal gegangen war. „Sieh dir das mal an.“ Er schwenkte eine kurze Repetier-Schrotflinte durch die Luft, dann ließ er sie an die Hüfte gleiten und erschoss einen imaginären Gegner, wobei er übertrieben den Rückstoss der Waffe simulierte. „Remington M870 mit einklappbarer Schulterstütze. Wenn das Ding abgefeuert wird, gibt es mächtig große Löcher.“ Er grinste zufrieden. „Ich habe mal damit auf eine Tür geschossen. Junge, ich kann dir sagen, davon blieben nur Splitter übrig, für die nicht einmal die Zahnstocherindustrie noch Verwendung gehabt hätte.“
Daniel nickte ihm zu. Wenn er jetzt antwortete, würde Zahner die nächsten zwei Stunden über Schrotflinten im Allgemeinen und diese hier im Besonderen referieren.
„Kann ich dich mal etwas fragen?“
Daniel sah hoch. In Zahners Stimme schwang ein persönlicher Ton mit. Er konnte sich denken, was jetzt kam.
„Frag mich.“
„Dein Gesicht. Hm, und die anderen Narben, die du hast, woher sind die?“
„Du weißt es nicht?“
„Nun ja, du arbeitest jetzt seit vier Tagen hier und natürlich gibt es eine Menge Gerüchte.“ Er lachte laut auf. „Im Augenblick steht die Meinungsmehrheit unserer Kollegen bei ‚schwerem Autounfall’, knapp gefolgt von ‚Abgerutscht beim Rasieren.“
„Ihr sprecht über mich?“
„Was hast du erwartet?“
Daniel schwieg einen Moment. „Die Minderheit hat Recht. Ich bin mit dem Rasierer abgeglitten.“
„Nun sei nicht beleidigt. Ist doch nur natürlich, dass man sich fragt, woher solche Verletzungen stammen könnten.“
„Und Hüger kennt die Antwort auch nicht?“, fragte Daniel.
„Wenn er etwas weiß, dann rückt er jedenfalls nicht damit heraus. Also, nun sag schon.“
Fischer blickte ihm direkt in die Augen. „Glaub mir, diese Geschichte willst du nicht hören.“
„Und wenn doch?“
„Dann muss sie dir ein anderer erzählen. Ich tue es nicht.“ Fischer wandte sich wieder dem Gewehr zu und Christoph Zahner sah ein, dass er heute nicht weiterkommen würde. Brummelnd stellte er die Schrotflinte in die Halterung und nahm sich ein Präzisions-Schützengewehr PSG 1 der Firma Heckler Koch vor.
Fischer ging mit Christoph Zahner und Bernhard Hüger in die Kantine. Der Geruch des Essens schlug ihnen schon an der Tür entgegen. Daniel fragte sich insgeheim, ob er sich das überhaupt antun sollte. Er war erst einmal beim Essen gewesen und die Erinnerung an diesen Spießrutenlauf durch neugierige Blicke ließ seinen Magen verkrampfen.
Sie stellten sich in der Schlange an, nahmen jeder ein Tablett und warteten darauf, dass die Menge zur Essensausgabe vorrückte. Das Geklapper von Geschirr und des Besteck war merklich leiser geworden, nachdem er den Raum betreten hatte. Nur noch leises, geflüstertes Stimmengemurmel erfüllte die Luft. Daniel wusste, worüber seine neuen Kollegen sprachen und er wusste auch, auf wen sie starrten. Unsicher trat er einen Schritt vor und wieder zurück, so als wolle er fliehen und finde keine Lücke. Er schwitzte wieder.
„Vergiss die Leute einfach“, raunte ihm Zahner, der hinter ihm stand, ins Ohr. „Heute gibt es Königsberger Klopse, dafür lohnt sich die Sache.“
Fischer war ihm für seine Worte dankbar, trotzdem fühlte er sich nicht wohl. Magensäure stieg seine Speiseröhre hinauf und ließ ihn schlucken. Er zwang sich die Angst zu ignorieren und konzentrierte sich auf den Rücken seines Vordermannes.
Während die Schlange vorrückte ließ seine Anspannung langsam nach und als er schließlich seinen gefüllten Teller auf das Tablett stellte, verspürte er zu seiner Überraschung sogar Hunger. Hüger, Zahner und er setzten sich an einen Tisch in der hinteren Ecke des Saales. Christoph machte sich sofort heißhungrig über seine Mahlzeit her, während Bernhard Hüger nachdenklich in seinem Essen herumstocherte. Plötzlich sagte er zu Daniel: „Warum sind Sie hier?“
Es war das erste Mal, dass ihn sein Vorgesetzter privat ansprach. Bisher hatten sich Hügers Worte stets darauf reduziert, ihm berufliche Anweisungen zu geben. Daniel ließ seine Gabel auf den Teller sinken.
„Warum fragen Sie?“
Hüger sah ihn direkt an. „Ich weiß, dass Sie früher beim Rauschgiftdezernat waren und ich frage mich, wie ein Polizeikommissar in die Waffenkammer des SEK kommt? Das ist nicht ihr Job. Sie sind total überqualifiziert. Außerdem reichen zwei Mann für die Arbeit.“
Daniel klopfte mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand gegen seine Wange. „Das ist der Grund.“
„Erklären Sie es mir.“
Fischer zögerte. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass Zahner mit dem Kauen aufgehört hatte und gebannt auf seine Antwort wartete.
„Mit diesem Aussehen kann ich nicht mehr im Außendienst arbeiten und auf einen Bürojob habe ich keinen Bock.“
„Und so sind Sie zum SEK gekommen?“
„Mein ehemaliger Vorgesetzter hat den Kontakt hergestellt.“
„Sie sind Polizeikommissar, das bedeutet, Sie haben noch immer Ihre alte Besoldungsstufe, obwohl Sie nur Dienst in der Waffenkammer schieben.“
„Stört es Sie?“
Hüger zögerte kurz. „Nein.“
„Dann lassen wir es dabei.“
Der Rest der Mittagspause verlief in einem unangenehmen Schweigen. Als Daniel zurück in die Waffenkammer marschierte, grübelte er darüber nach, ob die Sache hier überhaupt Sinn machte. Vielleicht sollte er alles hinschmeißen und sich krankschreiben lassen. Bei diesem Gedanken fiel ihm ein, dass er sich noch nicht bei seinem neuen Therapeuten gemeldet hatte. Velten wartete bestimmt schon auf seinen Anruf. Zwar war Daniel nicht danach in endlosen Sitzungen über Dinge zu sprechen, über die er gar nicht sprechen wollte, aber wenn er die Therapie vernachlässigte, würde Neever seine verschreibungspflichtigen Medikamente gegen ihn als Druckmittel einsetzen. Keine Therapie, keine Beruhigungstabletten. Ein einfacher, sauberer Deal, der nur einen Nachteil hatte – er musste sich fügen.
Als er die Waffenkammer betrat, musste er feststellen, dass Kommandoführer Bodrig am Ausgabetresen stand und ihn offensichtlich erwartete. Hüger und Zahner tranken noch einen Kaffee in der Kantine und Daniel war nicht wohl dabei mit Bodrig allein zu sein.
„Haben Sie den Schlüssel?“ Bodrig deutete auf das abgeschlossene Stahlgitter, das die Waffen vor unberechtigtem Zugriff sicherte.
„Ja.“
„Dann geben Sie mir eine P7.“
Daniel öffnet das Gitter und klappte es auf. Er nahm eine achtschüssige Heckler Koch Pistole heraus, die Standardwaffe der Polizei, und reichte sie Bodrig.
„Munition“, verlangte Bodrig.
„Wie viel Schuss?“
„Eine Packung sollte reichen.“
Fischer gab ihm eine Patronenschachtel. Anschließend füllte er den Anforderungsbogen aus und ließ ihn von Bodrig unterschreiben. Bodrig öffnete eine mitgebrachte schwarze Sporttasche aus schlichtem Nylon und ließ die Waffe samt Patronen hineinfallen.
„Gehen wir.“
„Was?“, fragte Daniel verblüfft.
„Sie kommen mit.“
„Wohin?“
„Auf den Schießstand natürlich.“
„Aber ich muss hier warten, bis Hüger und Zahner zurück sind.“
„Quatsch. Schließen Sie alles ab und jetzt genug geredet. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“
Bodrig hatte die Waffe geladen und stand breitbeinig mit zusammengekniffen Augen auf der Schießbahn und fixierte das in fünfzehn Metern Entfernung stehende Ziel. Die Sonne schien in Daniels Gesicht. Ein leichter Wind wehte. Er hatte das Gefühl, diese Szene schon einmal erlebt zu haben. Bodrigs Gestalt, die sich vor dem nahe liegenden Wald, wie ein schwarzer Scherenschnitt abhob, seine Art, die Knie zu beugen und mit gestreckten Armen zu zielen, das alles kam ihm merkwürdig bekannt vor. Und dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Berlin, die Polizeimeisterschaften. Er und Bodrig waren sich im Finale gegenüber gestanden. Es war ein harter Wettkampf gewesen. Vier Runden lang hatten sie beide die Höchstpunktzahl geschossen, bevor im letzten Durchgang beide das Schwarze der Zielscheibe nur um Haaresbreite verfehlten. Beide Einschusslöcher berührten fast identisch den mittleren Ring, aber nach fünfminütiger Beratung wurde Fischer schließlich zum Wettkampfsieger erklärt. Sein Gegner hatte sich wortlos und ohne zu gratulieren abgewandt und war gegangen.
Bodrig, dachte Daniel. Warum hat mir der Name nichts gesagt? Und warum habe ich ihn nicht erkannt?
Daniel forschte in seiner Erinnerung, aber alles, was er sah, war eine schemenhafte Gestalt mit Baseballkappe auf dem Kopf und einer verspiegelten Sonnenbrille.
Wusste Bodrig, dass er sein Gegner von damals war? Bestimmt. Sein ablehnendes Verhalten bei Ihrem ersten Gespräch ließ keinen anderen Schluss zu.
Na toll, fluchte Daniel stumm. Und der Typ ist jetzt mein Vorgesetzter.
Das trockene Bellen eines Schusses erklang. Bodrig hatte gefeuert. Kurz darauf zerrissen sieben weitere Schüsse die Stille. Daniel musste sich nicht einmal anstrengen, um das Ergebnis zu erkennen. Volltreffer! Alle acht Schüsse waren ins Schwarze gegangen.
Die nächsten zwanzig Minuten schoss Bodrig ohne Unterlass. Daniel wechselte nach jeder Runde die Scheibe aus. Sein Vorgesetzter leistete sich auch weiterhin keinen Fehlschuss und als alle Patronen verschossen waren, konnte er auf ein fast unglaubliches Schießergebnis blicken. Bodrig war gut. Mehr als das, er war der beste Schütze, den Daniel je gesehen hatte.
Der Geruch von Kordhit zog in dichten Wolken über die Schießanlage. Kein Vogel sang mehr im nahe gelegenen Wald und selbst die Geräusche der nahen Landstraße schienen leiser geworden zu sein. Während Daniel die leeren Patronenhülsen ein sammelte, stellte sich Bodrig neben ihn.
„Wissen Sie nun wer ich bin?“
Daniel kniete auf dem Boden und überdachte seine Antwort. Schließlich sagte er: „Ja, ich erinnere mich.“
„Eine knappe Angelegenheit. Damals in Berlin.“
„Ja, das war es.“
„Ich habe die Scheiben heute noch und sehe sie mir manchmal an.“
Daniel schwieg.
„Was haben Sie damals zum Wettkampfrichter gesagt, bevor er seine Entscheidung bekannt gegeben hat?“
Fischer wusste, worauf Bodrig anspielte. Da er bereits ein Jahr zuvor die Polizeimeisterschaften gewonnen hatte, war er zum Wettkampfrichter gegangen und hatte ihm gesagt, er solle seinen Gegner zum Sieger erklären, aber der Mann hatte davon nichts hören wollen und anders entschieden.
„Ich habe ihn gefragt, wie lange die Sache noch dauert“, log Fischer.
Bodrigs Augen waren dunkle Seelen voll stillem Zorn. „Das glaube ich Ihnen nicht, aber belassen wir es dabei.“
Daniel erhob sich und klopfte sich das Gras von der Hose. „Ich muss zurück in die Waffenkammer.“
Dann ging er ohne ein weiteres Wort.
7. Blicke suchten seinen Blick.
„Raus oder rein? Entscheide dich.“
Daniel blickte auf die Katze hinab, die vor der offenen Terrassentür saß und maunzte. Seit vier Tagen kam und ging das Tier, wie es ihm gefiel. Er hatte es nicht über das Herz gebracht, das Tierheim anzurufen und so musste er sich mit dem Gedanken anfreunden, einen neuen Mitbewohner zu haben. Obwohl er die meiste Zeit mit dem Tier schimpfte, hatte er sich doch an dessen Anwesenheit gewöhnt. Ohne dass er es zugeben konnte, freute er sich, wenn er abends nach Hause kam und die Katze auf der Treppe saß, so als warte sie auf ihn.
Inzwischen hatte er ein Katzenklo und Streu besorgt, da sich das Tier nachts nicht dazu bewegen ließ, die Wohnung zu verlassen und er das Risiko nicht eingehen wollte, am nächsten Morgen einen Haufen zu finden.
Fischer sah die Katze noch einmal streng an, aber es half nicht. Er ging in die Küche, öffnete eine Dose Futter und füllte den Wassernapf. Dann zog er die neuen Haushaltshandschuhe aus gelbem Plastik an. Er das Futter auf den Boden stellte und die Katze machte sich gewohnt gierig darüber her. Daniel streichelte sie vorsichtig. Ohne die Handschuhe war seine Furcht vor einem allergischen Ausschlag zu groß. Natürlich war diese Sorge vollkommen unbegründet, denn eine mögliche Allergie hätte sich längst gezeigt, da die Katze nachts in seinem Bett schlief. Nun gut, es war irrational, wie er selbst zugab, aber er konnte nicht anders. Wenn die Katze hier bleiben wollte, musste sie sich an die Handschuhe gewöhnen.
Nachdem das Tier versorgt war, ging Daniel in sein Büro und schaltete den Computer ein. Während der Rechner hochfuhr, betrachtete Daniel den Stapel Ausdrucke neben der Tastatur. Inzwischen hatte er Tausende von Internetseiten durchforstet, die sich mit Adam und den Vorfällen vor achtzehn Monaten beschäftigten. Er hatte sämtliche Zeitungsmeldungen von damals gelesen, in Archiven gewühlt und nun glaubte er auf dem neuesten Stand zu sein, doch Adam blieb verschwunden.
Nach seiner Flucht aus dem unterirdischen Labyrinth hatte die Polizei eine Hundertschaft schwer bewaffneter Beamte in den Untergrund geschickt. Suchhunde waren eingesetzt worden. Aber alles, was man gefunden hatte, waren abgeerntete Drogenfelder gewesen, die keinen Hinweis darauf gaben, wo Adam und seine Jünger geblieben waren. Sämtliche Spuren verliefen im Nichts oder in Höhlen, die Sackgassen bildeten und aus denen es kein Entkommen gab. Es war ein Rätsel.
Zwar bemühten sich die Behörden auch weiterhin, Adams Identität zu lüften und sein Versteck zu finden, aber nach anderthalb Jahren war die Aussicht, seiner habhaft zu werden, nur noch gering. Um Adam war es still geworden. Seine Drogen waren vom Markt verschwunden und wenn da nicht die zwei toten Beamten und ein verstümmelter Polizeikommissar gewesen wären, konnte man glauben, es habe ihn nie gegeben.
Daniel zweifelte allerdings keinen Augenblick daran, dass Adam irgendwo da draußen lauerte. Er hatte sich zurückgezogen. Vielleicht war ihm ein Teil seiner Macht geraubt worden, aber es gab ihn noch und er würde sein Ziel weiterfolgen. Welches Ziel es auch immer sein mochte. Fischer dachte viel über ihn nach. Er rief sich jedes Wort in Gedanken, das Adam zu ihm gesagt hatte. Sein Geist beschwor das Bild dieses unförmigen, nackten Mannes mit den zahllosen Tätowierungen. Adam war ein Mensch, der glaubte, eine Mission zu haben. In seinen Augen war ein Fanatismus gestanden, der weit über das Streben nach Reichtum eines normalen Drogendealers hinausging. Adam wollte Macht. Aber warum will er diese Macht?, dachte Daniel. Was ist sein Ziel?
Die Bildschirmoberfläche des Monitors hatte sich vollständig aufgebaut und Daniel begann wie jede Nacht seine Suche, die ihn bis zum Morgengrauen beschäftigen würde.
Ich werde dich finden, dachte er. Ich finde dich.
Adam saß in mitten seiner Jünger und sang mit ihnen das Lied, das er sie gelehrt hatte. Sie sangen es in der alten Sprache, deren Worte außer ihm niemand verstand. Die nackten Körper schwangen im Rhythmus vor und zurück, während der Klang ihrer Stimmen durch die Höhle wanderte und zu einem fernen Echo wurde. Alle hielten die Augen geschlossen. Adam hatte seinen Geist geöffnet, um die Ausstrahlung des Mannes zu empfangen, der neben ihm saß.
Er nannte sich selbst Gabriel. Adam kannte seinen richtigen Namen nicht und er war ihm auch egal. Gabriel drohte zu einer Gefahr für die Gemeinschaft zu werden. Der hagere Mann mit dem faltigen Gesicht, das ihn älter als seine dreißig Jahre wirken ließ, hatte sich zu einem Unruhestifter entwickelt. Adam vermutete hinter Gabriels Aufsässigkeit das Streben nach einer neuen Position in ihrer bestehenden Hierarchie. Gabriel wollte mehr als nur ein Mitläufer sein.
Vielleicht will er sogar meinen Platz, sinnierte Adam.
Er machte sich zwar keine Sorgen wegen der Ambitionen des kleinen Mannes, aber jeder Stein konnte eine Lawine auslösen und es war besser, ihn im Auge zu behalten. Gabriel hatte begonnen, hinter seinem Rücken gegen ihn zu agieren. Regelmäßig beobachtete Adam, wie er mit kleinen Gruppen oder einzelnen Personen in Nebenhöhlen verschwand und erst nach Stunden wieder auftauchte. Die Stimmung innerhalb der Gruppe hatte sich merklich verändert und immer mehr seiner Jünger trugen einen missmutigen Ausdruck im Gesicht. Der Drogenkonsum war deutlich zurückgegangen, ein Umstand, den Adam ebenfalls Gabriel anlastete, der ein entschiedener Gegner des Rauschgiftes war.
Und da war noch etwas. Gabriel schien nach Blut zu lechzen. Er forderte bei jeder Versammlung das Ritual zu wiederholen, mit dem sie sich auf den großen Tag der Wiedergeburt vorbereiteten, doch Adam konnte niemanden zur Oberfläche schicken, der neue Opfer besorgte. Noch war nicht genug Zeit vergangen. Noch war das Risiko entdeckt zu werden enorm. Der Gesang endete und Adam bemerkte, dass er die letzten Worte nicht mitgesungen hatte. Blicke suchten seinen Blick.
„Lasst uns beten“, sagte Adam. Und dann sprachen alle die Worte aus längst vergangener Zeit.
8. Achtzehn Monate war ich nicht hier.
Zehn Tage waren vergangen und Daniel begann, sich an sein neues Leben zu gewöhnen. Jeden Morgen stand er kurz nach sechs Uhr auf, machte Dehnübungen vor der offenen Terrassentür, um seinen Körper nach den Monaten des Nichtstuns wieder geschmeidig zu machen. Nach der Gymnastik duschte er ausgiebig und rieb seine Haut mit einer speziellen Creme ein, damit das Narbengewebe weich blieb. Duschen und Eincremen war wegen seines fehlenden Unterschenkels eine mühselige Angelegenheit und ließ sich nur im Sitzen bewältigen, aber nach und nach kam er immer besser mit seiner Behinderung zurecht.
So gegen sieben Uhr fütterte er die Katze und ließ sie hinaus in den Garten, bevor er sich auf den Weg nach Hellstadt machte. Die Neugier seiner Kollegen hatte merklich nachgelassen. Inzwischen hatten sie ihn alle ausgiebig angestarrt und der Reiz des Neuen war verflogen. Zwar spürte Daniel noch immer forschende Blicke, aber die Zeitdauer des Gaffens hatte stark abgenommen. Einige seiner Kollegen grüßten ihn nun, wenn er morgens in der Kantine seinen Kaffee trank oder zum Mittagessen kam. Mit manchen von ihnen hatte er in der Waffenkammer unverbindliche Unterhaltungen geführt, wobei beide Seiten ein bestimmtes Thema vermieden.
Bodrig war nicht mehr in der Waffenkammer aufgetaucht und bei den täglichen Übungen auf dem Schießplatz war er nur selten anwesend. Falls er doch anwesend war, hielt er sich abseits der Ausbildungsgruppen und beobachtete schweigend das Schießen.
Hüger und Zahner erwiesen sich als umgängliche Kollegen. Zwar redete Christoph Zahner den ganzen Tag über Waffen und Munition, aber Daniel hatte erkannt, dass er viel von ihm lernen konnte und so hörte er aufmerksam zu, wenn Zahner die Waffen und ihre Einsatzmöglichkeiten beschrieb. Hüger war nach wie vor ein mürrischer Zeitgenosse. Er sprach nur wenig, wurde nie persönlich und gab ruhig seine Anweisungen. Wenn Zahner sich einmal nicht in der Waffenkammer aufhielt, setzte sich Hüger zu Daniel und sie arbeiteten schweigend, ohne einander mit sinnlosem Geplauder auf die Nerven zu gehen.
Langsam begann Daniel Gefallen an seinem neuen Leben zu finden. Die Tage vergingen ohne Aufregung. Seine Arbeit war interessant und der Umgang mit Menschen tat ihm gut.
Heute allerdings war er ein wenig aufgeregt. Seine erste Therapiestunde mit Velten stand an. Fischer saß im Wartezimmer. Mit feuchten Händen wartete auf einem modernen, aber unbequemen Stuhl darauf, dass man ihn ins Besprechungszimmer rief.
Zwei Minuten später ging die Tür auf und ein schlanker Mann, Ende vierzig oder Anfang fünfzig, kam auf ihn zu. Veltens Lächeln war aufrichtig, als er ihm die Hand entgegenstreckte.
„Guten Morgen, Herr Fischer.“
„Guten Morgen.“
Velten hatte kurze, schwarze Haare, dunkle Augen und ein sonnengebräuntes Gesicht. Auf Daniel wirkte er mehr wie ein Fitnesstrainer und weniger wie ein Therapeut. Trotzdem war ihm der Arzt auf Anhieb sympathisch.
„Gehen wir rein“, schlug Velten vor.
Daniel betrat einen Raum, in dem ein großes schwarzes Sofa und ein bequem aussehender schwarzer Lederstuhl dominierten. Rechts von der Tür stand ein Schreibtisch mit Computer und überdimensional großem Monitor. In Regalen an der Wand reihten sich medizinische Fachbücher aneinander und strahlten Kompetenz aus. Die Sohlen von Fischers Turnschuhen quietschten auf dem Parkettboden, während er das Zimmer durchschritt, um sich anschließend auf das Sofa zu setzen. Velten nahm in dem Lederstuhl Platz. Er rutschte wie ein kleiner Junge mit dem Hintern hin und her, bis er eine bequeme Stellung gefunden hatte. Dann schlug er die Beine übereinander und sah Fischer direkt an.
„Ich freue mich, Sie persönlich kennenzulernen“, sagte er. „Dr. Neever hat mir Ihre Unterlagen geschickt.“
„Dann wissen Sie Bescheid?“, fragte Daniel.
„Nur in groben Zügen. Ich mache mir gerne selbst ein Bild.“ Er hob entschuldigend die Hände. „Das soll keine Abwertung der Arbeit meines Kollegen sein, aber ich handhabe es immer so.“
Daniel fuhr sich verlegen durch die Haare. „Wie werden diese Sitzungen vonstatten gehen?“
„Nun, im Großen und Ganzen werden sich unsere Gespräche natürlich um die Ereignisse vor achtzehn Monaten drehen. Ich bin aber offen für jedes Thema. Wir können über alles sprechen, was Ihnen auf dem Herzen liegt. Meine Erfahrung lehrt mich, dass es wenig hilfreich ist, über etwas aus der Vergangenheit zu reden, mag es auch noch so schlimm gewesen sein, wenn gerade ganz andere Probleme anstehen.“
„Dann bin ich also frei in der Wahl der Themen über die wir sprechen?“
„Ja, reden Sie, worüber Sie wollen.“ Velten faltete die Hände. „Zunächst gilt es aber ein paar Dinge abzuklären. Da wäre zunächst die Frage nach Ihrer Krankenversicherung. Ich brauche Ihren Versicherer, damit ich die Therapie beantragen kann. Ich würde zunächst sechzig Sitzungen veranschlagen. Danach sehen wir weiter. Jetzt, im Anfangsstadium, schlage ich vor, dass wir uns mindestens zwei Mal die Woche sehen.“
„So oft?“, fragte Daniel.
„Ja. Vor uns liegt ein langer Weg, es macht nur wenig Sinn, wenn wir bestimmte Themen ansprechen und dann eine längere Pause haben, ohne dass ich weiß, was diese Themen bei Ihnen auslösen.“
Velten zog einen winzigen Taschenkalender aus seiner hinteren Hosentasche. „Die ersten drei Termine sind praktisch ein Kennenlernen und dienen dazu, herauszufinden, ob wir miteinander arbeiten können. Mein Vorschlag ist, dass wir uns zukünftig dienstags und freitags treffen.“ Er nannte Uhrzeiten, denen Fischer zustimmte. „Wenn etwas Akutes anliegt, können wir uns auch zwischendurch sehen oder wir telefonieren miteinander. Ist das in Ordnung für Sie?“
„Ja.“
„Dann lassen Sie uns beginnen.“
Daniel hinkte zügig die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Als er oben ankam, hörte er Marianne Müller rufen: „Sind Sie das, Herr Fischer?“
Daniel knurrte ein ‚Ja’.
„Können Sie mal eben zu mir kommen. Ich möchte Ihnen etwas sagen." Ihre Stimme hatte diesen quietschenden Klang, den Fischer so verabscheute. Die Geräusche, die sie beim Sprechen von sich gab, erinnerten Daniel immer an einen Gummifrosch, aus dem man gerade die Luft herauspresste.
„Muss das jetzt sein?“, fragte Daniel nach oben.
„Ja. Es ist wichtig.“
Daniel schüttelte ohnmächtig den Kopf und ging zu ihr hinauf. Marianne Müller trug eine lappige, dunkelblaue Jogginghose, deren Knie schon fast durchgescheuert waren. Über ihren schlaffen Brüsten wölbte sich ein unförmiges, graues T-Shirt. Die nackten Füße steckten in Badeschlappen. Sie zuckte sie zusammen, als sie Daniel die Treppe heraufkommen sah. Kurz darauf hatte sie sich aber wieder im Griff.
„Herr Fischer, ich möchte Ihnen das hier geben.“ Sie reichte ihm einen unbeschrifteten Briefumschlag.
„Was ist das?“, fragte Daniel.
Ihre Hand zuckte hoch, als habe sie plötzlich die Kontrolle darüber verloren.
„Es ist die Kündigung für Ihre Wohnung.“
„Wie bitte?“
„Herr Fischer, es tut mir wirklich leid...sie und Ihre Frau waren immer nette Mieter, aber es ist nun einmal so, dass wir die Wohnung für meine gehbehinderte Schwägerin brauchen. Sie möchte nicht in ein Heim und Wohnungen im Erdgeschoss sind heutzutage nur schwer zu finden.“ Sie machte eine kleine Pause, so als überlege sie, ob sie die nächsten Worte überhaupt aussprechen dürfe. „Besonders wenn man behindert ist.“
Und was bin ich?, dachte Daniel wütend. Er spürte, wie er die Selbstbeherrschung verlor.
„Sie sind uns doch nicht böse? Es wäre schade, wenn wir nach all den Jahren...“
„Achtzehn Monate war ich nicht hier“, unterbrach sie Daniel. „Da haben Sie mir nicht gekündigt, sondern brav die Miete kassiert, die jeden Ersten von meinem Konto abgebucht wurde. Und jetzt, kaum das ich drei Tage zurück bin, kündigen Sie mir die Wohnung.“ Daniel starrte die alte Frau wütend an. „Aber machen Sie sich keine Sorgen. Natürlich bleiben wir Freunde. Wann muss ich ausziehen?“
„Herr Fischer, ich muss doch...“
„Wann?“ Das Wort zerschnitt wie eine Klinge die Luft.
„Durch Ihr Mietverhältnis ergibt sich eine Kündigungsfrist von sechs Monaten. Sie haben also genug Zeit...“
„Danke.“ Er drehte sich um und ließ sie stehen.
9. Hüte Dich vor unseren Feinden.
Daniel beobachtete interessiert die Kommandoschiessübung der Gruppe 3, die aus sechs Männern bestand und in wenigen Tagen ihre Abschlussprüfung bestritt.
Die Anforderungen, die das SEK an seine Beamten stellte, waren enorm. Während der zehnwöchigen Basisausbildung waren die Teilnehmer permanentem Stress ausgesetzt. Einsatzlehre und Taktik, Waffen-, Schieß- und Sportausbildung, Technische Ausbildung und Fahrtraining hielten die freiwilligen Bewerber von morgens bis abends beschäftigt. Dazu kamen noch Unterrichtstunden in Rechtskunde, Erster Hilfe, angewandter Psychologie, Kriminologie, Fernmeldeausbildung und politische Bildung. Eine harte Lehrzeit mit einer ungeheuren Ausfallquote. Nur zwei Drittel aller Teilnehmer bestanden den Lehrgang und den mörderischen, vierzehn Stunden dauernden Abschlusstest.
Fischer sah hinüber zum taktischen Schiessausbilder, Richard Meier, einem mittelgroßen Mann von zähem Körperbau. Er erklärte gerade der Gruppe die Aufgabenstellung. Daniel hatte sich einmal mit ihm in der Waffenkammer unterhalten und erfahren, dass es Meiers Stelle war, für die ihn seine Versetzung vorgesehen hatte. Bodrig hatte dazwischen gefunkt und ihn abgelehnt. Nun würde bald ein Kollege aus München eintreffen und die Schiessausbildung leiten.
Daniel spürte bei diesem Gedanken Zorn in sich aufwallen. Er war zufrieden mit seinem derzeitigen Job, aber dies war keine Tätigkeit, mit der er die Zeit bis zu seiner Pensionierung verbringen wollte. Taktischer Schiessausbilder, das wäre genau das Richtige für ihn gewesen, aber daraus wurde nun nichts mehr.
Laute Kommandos erklangen. Die jungen Beamten machten sich bereit und nahmen in Zweiergruppen Aufstellung. Das Schiessen begann.
Daniel beobachtete die ersten beiden, die auf das Startsignal hin, mit einer P7-Pistole, in vierzig Meter Entfernung losrannten. An der Zehn-Meter-Marke öffneten sie ein Klappfenster. Gleichzeitig ging eine zweite Klappe am Ende der Schiessbahn auf und ein bewegliches Ziel erschien, das mit zwei Schüssen bekämpft werden musste. Das Ziel hatte eine Farbe, die sich die Schützen merken mussten. Zusätzlich wurde jeder Fehlschuss mit einem Zeitaufschlag von 30 Sekunden bestraft.
Nachdem die Schüsse abgefeuert waren, steckten die Beamten ihre Waffe ins Holster und rannten zur Vierzig-Meter-Linie zurück. An dieser zweiten Station lag ein Schnellfeuergewehr der Marke Steyr AUG, dessen Magazin mit fünf Patronen gefüllt werden musste. Das Ziel waren diesmal fünf frei aufgehängte Tennisbälle in vierzig Meter Entfernung. Fischer sah, wie einer der Polizisten seine Tennisbälle komplett abräumte, während der andere sich zwei Fehlschüsse leistete. Das gibt eine komplette Minute drauf, dachte er.
Nun liefen die Beamten zur Fünfundzwanzig-Meter-Marke vor. Daniel hielt die dritte Station für die schwierigste. Die Schützen füllten zunächst fünf Schuss in ein Maschinenpistolenmagazin und feuerten auf fünf Luftballons. Danach wurde eine MP5 mit sechs Patronen geladen, wobei fünf Schuss auf einen oben angebrachten 10er Ringspiegel abgegeben wurden. Der letzte Schuss auf den unteren 10er Ringspiegel diente als Multiplikator für die vorangegangene Schussserie. Aus seiner Position heraus konnte Daniel gut beobachten, wie die beiden Schützen vorgingen. Während der eine Teilnehmer schnell feuerte und dadurch Fehlschüsse in Kauf nahm, ließ sich andere mehr Zeit und zielte genauer. Der Sorgfältigere erledigte seine Aufgabe bravourös, wohingegen der Hastige sich gleich drei Fehlschüsse erlaubte.
Beide Beamten erreichten mit großem Abstand die vierte Station an der Fünfzehn-Meter-Linie. Hier musste zunächst eine zerlegte P7 zusammengesetzt und mit fünf Patronen geladen werden. Die Schützen mussten nun stehend und einhändig fünf Luftballone abschießen, die die gleiche Farbe haben mussten, wie das Ziel an der ersten Station. Diesmal gab es nicht nur für Fehlschüsse Zeitstrafen, sondern auch für den Fall, dass ein andersfarbiger Ballon getroffen wurde. Die Zeitnahme stoppte beim letzten Schuss.
Reuter, der Langsamere, hatte zwar 47 Sekunden länger als sein Kollege gebraucht, sich aber keinen Fehlschuss geleistet. Andreas Wismuth hingegen hatte sechs Mal das Ziel verfehlt und stand nun mit hängendem Kopf und pumpendem Brustkorb an der Startlinie und durfte sich vor versammelter Mannschaft eine Predigt anhören.
Daniel musste grinsen, als er sah, wie Wismuths Gesicht rot vor Scham anlief. Nimm es nicht persönlich, dachte er. Morgen ist ein neuer Tag. Aber innerlich wusste er, dass Wismuth beim SEK fehl am Platz war. Der junge Beamte war zu eifrig und neigte zu hektischer Aktivität, wenn er nervös wurde. Beides Eigenschaften, die in einem Spezialkommando unerwünscht waren. Überlegt handelnde Männer waren gefragt, denn von ihren Entscheidungen würde es bei einem Einsatz abhängen, ob Menschen zu Schaden kamen oder nicht.
Leon Bodrig tauchte plötzlich hinter ihm auf. Daniel erschrak. Er hatte ihn nicht kommen gesehen. Bodrigs Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammen gekniffen. Seine Mundwinkel bleckten seine weißen Zähne. Er trat vor Daniel und warf ihm ein Scharfschützengewehr Mauser 66 SP mit aufmontiertem Zielfernrohr vor die Füße.
„Was haben Sie mit der Waffe gemacht?“, brüllte er. Die Gespräche der auszubildenden Beamten verstummten. Ebenso wie Richard Meier wandten sich alle um und verfolgten das Geschehen.
„Wieso? Was ist damit?“, brachte Fischer mühsam hervor.
„Der Lauf ist total verzogen.“
Er kam noch einen Schritt näher. Daniel konnte den Atem seines Vorgesetzten spüren, wie er über sein Gesicht strich.
„Sie haben mir diese Waffe ausgehändigt und Sie sind für den ordnungsgemäßen Zustand verantwortlich. Ich war in der Waffenkammer. Hüger hat mir bestätigt, dass Ihnen das Gewehr gestern beim Reinigen aus der Hand gerutscht und auf den Boden gefallen ist. Sie hätten die Waffe sofort aussortieren müssen, damit sie neu vermessen wird.“
Daniel bekam kaum noch Luft. Angst und Wut schnürten seinen Brustkorb zusammen. Es war richtig, die Waffe war auf den Boden gefallen, aber nicht derart, dass sich der Lauf verzogen haben konnte. Bodrig hatte sich diesen Vorfall ausgesucht, um ihn vor allen zu demütigen und Hüger war sein williger Helfer. Wie sonst sollte er von seinem Missgeschick erfahren haben?
„Haben Sie damit geschossen?“, fragte er mit bebenden Lippen.
„Sonst wäre ich ja wohl nicht hier“, knurrte Bodrig.
Ohne ein weiteres Wort hob Daniel die Waffe auf. Er zog das Magazin heraus und lud es mit sechs Schuss. Dann ging er das Gewehr locker im Arm haltend über den Schiessplatz. Ihm war schwindlig, aber er kämpfte mit sich, um nicht zu hinken. Mit zusammengebissenen Zähnen schritt er bis ans Ende der Schiessanlage und legte sich auf den Boden. Sein Körper war fast rechtwinklig zum Gewehr positioniert, die Beine gespreizt. Er visierte eine winzig wirkende Täter-Geisel-Scheibe in fast zweihundert Meter Entfernung an. Das weiße Gesicht simulierte die Geisel, das schwarze stand für den Täter, auf ihm waren zwei Ringe mit einem weißen Kreis in der Mitte angebracht. Der Schweiß lief ihm in die Augen. Sein Herzschlag pochte laut in seinen Ohren. Daniel zwang sich ruhig ein- und wieder auszuatmen. Mit dem letzen Atemstoß feuerte er kurz hintereinander sechs Schüsse ab.
Als das Echo verklungen war, erhob er sich umständlich und ging zu Bodrig zurück. Ohne das Ziel eines Blickes zu würdigen, reichte er seinem Vorgesetzten das Gewehr.
„Und jetzt lecken Sie mich“, sagte er leise zu Bodrig, bevor er sich umwandte und ihn stehen ließ.
Bodrig sah dem Beamten entgegen wie dieser mit Fischers Zielscheibe zurückkam. Der junge Mann konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wortlos reichte er dem Leiter des SEK Hellstadt die Scheibe.
Sechs Einschusslöcher bildeten exakt in der Mitte des weißen Kreises einen Buchstaben.
Es war ein „A“ wie „Arschloch“.
In der Waffenkammer herrschte angespanntes Schweigen, als Daniel eintrat. Er ging hinüber zu seinem Arbeitsplatz, auf dem sich ein Dutzend Pistolen stapelten, die gereinigt werden mussten. Er beachtete weder Zahner noch Hüger, sondern begann mit seiner Arbeit.
Er nahm gerade eine P7 auseinander und legte die Einzelteile in ein Bad aus Waffenöl, als Bernhard Hüger zu ihm herüberkam.
„Gab es Ärger mit Bodrig?“, fragte er.
Daniel sah nicht auf. „Das wissen Sie ganz genau.“
„Bodrig war hier und hat nach Ihnen gefragt. Er wollte wissen, wie Sie Ihre Arbeit machen. Ich habe ihm gesagt, dass Sie sehr sorgfältig sind und dass Ihnen bisher erst ein Missgeschick passiert ist. Bodrig fragte danach und ich sagte ihm, Ihnen wäre ein Gewehr aus der Hand geglitten und zu Boden gefallen, aber es wäre nicht weiter schlimm gewesen. Er wollte das Gewehr sehen.“
„Und dann hat er es mitgenommen, um damit zu schießen“, sagte Daniel verärgert.
„Er hat es mitgenommen, richtig. Aber da er sich keine Munition hat ausgeben lassen, konnte er wohl kaum damit in der Gegend rumballern.“
Bodrig, dieses miese Schwein, hatte also gelogen. Er hatte überhaupt nicht geprüft, ob der Lauf verzogen war, sondern darauf spekuliert, dass er vor ihm in die Knie ging, wenn er ihn öffentlich beschuldigte.
„Es tut mir leid, wenn Sie Schwierigkeiten hatten“, sagte Hüger.
Daniel blickte auf. Er sah, dass Hüger es ehrlich meinte. Trotzdem...
„Sie hätten ihm nichts von dem Gewehr sagen müssen.“
Hüger legte die Stirn in Falten. „Richtig.“
„Dann stecken Sie sich Ihre Entschuldigung sonst wo hin.“
Gabriel war zu einem Problem geworden, das Adam nicht länger ignorieren konnte. Immer öfter zeigte der hagere Mann seine Unzufriedenheit und nun war er dazu übergegangen, offen Adams Führerschaft in Zweifel zu ziehen.
Adam hatte das Gespräch mit ihm gesucht, war aber gescheitert und nun war der Augenblick gekommen, seine Autorität neu zu festigen.
Als Adam zu der kleinen Gruppe hinüberging, die Gabriel, wie Jesus Christus seine Jünger, um sich versammelt hatte, erhob sich niemand aus dem Kreis. Niemand bezeugte seinen Respekt vor ihm und Adam dachte an die Worte seines Vaters, der schon vor langer Zeit gestorben war: „Hüte dich vor unseren Feinden. Schenke keinem Menschen dein Vertrauen, denn sie sind nicht mehr als Diener, die dich verraten werden.“
Nun erkannte er die Wahrheit der Worte, aber sie löste keinen Zorn, nur eine tiefe Traurigkeit in ihm aus. Er hatte ihnen die Liebe eines Vaters geschenkt, aber sie wollten seine Zuneigung nicht und so musste er sie mit eiserner Hand beherrschen, denn der Tag aller Tage war nicht mehr fern. Er konnte sich jetzt keine Schwäche erlauben. Adam trat vor die Gruppe.
„Gabriel“, sagte er sanft und breitete seine Arme aus.
Der kleine Mann beäugte ihn misstrauisch, stand aber auf. In seinen Augen lag Trotz, als er Adam ansah.
„Mein Sohn“, sagte Adam. „Wir träumten den gleichen Traum, doch nun bist du vom Pfad abgekommen und es liegt nun an mir, dich wieder auf den rechten Weg zu führen.“
Gabriels Blick flackerte ängstlich zu seinen Mitverschwörern hinüber, die hielten jedoch die Köpfe gesenkt.
„Ich...ich...“, begann er zu stottern.
Adam legte ihm einen Finger auf die Lippen. „Ich weiß.“ Er nickte in den Schatten der Höhle und mehrere ihm treu ergebene Diener traten aus der Finsternis.
„Tötet diese Männer“, sagte Adam leise und deutete auf die noch immer sitzende Gruppe. „Sie werden uns als Nahrung dienen.“
Dann schloss er Gabriel in die Arme und küsste ihn auf den Mund. „Aber du mein Freund gehst einen anderen Weg.“
Er wandte sich um. Dann sah er noch mal zu dem vor Angst schlotternden Mann zurück.
„Kreuzigt ihn.“
10. Bis auf den Grund seiner Seele
Wochenende. Die Sonne schien. Daniel saß im Garten auf einem bequemen Sonnenstuhl und streichelte mit seinen in Plastikhandschuhen steckenden Händen die Katze, die sich auf seinem Schoß zusammengerollt hatte und zufrieden schnurrte.
Irgendwo, weit entfernt, erklang das wespenartige Summen eines Rasenmähers und störte die Stille des Nachmittags. Daniel versuchte das Geräusch zu ignorieren und schloss die Augen. Heute war ein schöner Tag. Er fühlte sich ruhig und gelassen. Rückblickend war die Woche gar nicht so übel gewesen. Seine beiden Sitzungen mit Velten waren besser gelaufen, als er es erwartet hatte und obwohl sie nicht über die Ereignisse vor achtzehn Monaten gesprochen hatten, spürte Daniel dass er sich nicht länger verschließen wollte. Vielleicht konnte der Therapeut ihm helfen, einen Weg zurück ins Leben zu finden. Vielleicht würde sich seine kümmerliche Existenz zum Besseren wandeln. Fischer wusste, er konnte nicht ewig so weiter machen wie bisher. Er lebte nicht auf einer einsamen Insel und Kontakte zu Mitmenschen ließen sich nicht verhindern. Die Leute hatten genug Schwierigkeiten damit sein neues Aussehen zu akzeptieren, er musste sich nicht noch zusätzlich wie ein Arschloch aufführen.
Vielleicht sollte ich wieder intensiver Sport betreiben, grübelte er. Früher war er regelmäßig ins Fitness-Studio gegangen. Er war zweimal die Woche joggen gegangen und so oft die Sonne schien war er geschwommen, aber seit seiner Einlieferung in die Notfallklinik ließ er sich gehen und nun spürte er eine körperliche Unzufriedenheit, die ihn wie ein junger Hund verfolgte.
Aber was für einen Sport kann man mit einer Behinderung wie meiner schon ausüben?
Er dachte eine Weile darüber nach, aber außer Bogenschießen, an dem er kein Interesse hatte, fiel ihm nichts ein. Nun gut, er konnte wieder schwimmen gehen, aber der Gedanke mit seinem entstellten Gesicht und seinem fehlenden Bein ein öffentliches Bad zu besuchen, schreckte ihn ab.
„Hallo“, rief eine Stimme vom Gartentor.
Daniel zuckte zusammen und schlug die Augen auf. Die Katze erschrak durch seine plötzliche Bewegung und sprang von seinem Schoß. Jessica Neureuther stand am Tor.
„Hallo“, sagte Daniel zurück.
„Darf ich reinkommen?“ Offensichtlich war sie ihm nicht mehr böse.
Fischer erhob sich ungeschickt aus dem Sonnenstuhl, streifte die Handschuhe ab und öffnete ihr das niedrige Holztor.
Jessica Neureuther trug abgeschnittene, ausgebleichte Jeans und ein luftiges, ärmelloses T-Shirt mit der Aufschrift „Vergiss es!“ darunter war ein grinsender Smilie aufgedruckt. Daniel musste beim Lesen des Textes lächeln.
„Kommen Sie rein.“ Er holte ihr einen Sonnenstuhl und bat sie Platz zu nehmen. „Möchten Sie etwas trinken?“
Zu seiner Überraschung fragte Jessica Neureuther nach einem kalten Bier. Daniel hinkte in die Küche und kam mit zwei Flaschen wieder, von denen Kondenswasser abperlte.
„Möchten Sie ein Glas?“
„Nein.“ Sie setzte die Flasche an die Lippen und nahm einen großen Schluck. „Ah, tut das gut.“
Daniel trank ebenfalls.
„Ich war in der Stadt, um mir einen Badeanzug zu kaufen. Dort war die Hölle los.“
„Und haben Sie einen gefunden?“, fragte Daniel.
Sie lachte glucksend. „Nein, ich bin wohl zu fett für die heutige Bademode. An mir sah alles wie eine Wurstpelle aus.“
Daniel ließ seinen Blick über ihre langen, schlanken Beine gleiten. Jessica Neureuther war alles andere als fett. Sie hatte eine aufregende Figur mit den richtigen Rundungen an den richtigen Stellen. Ein längst vergessenes Kribbeln erfasste seinen Körper.
„Ich sehe, Sie haben die Katze noch.“
Daniel sah zu dem kleinen Tier hinunter, das neben seinem Stuhl auf dem Boden lag.
„Ja, ihr scheint es hier zu gefallen.“
„Hat Ihr neuer Hausbewohner schon einen Namen?“
Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. „Ich nenne sie „Katze“.“
„Origineller Name“, meinte Jessica. „Das Problem ist nur die Katze ist ein Kater.“
„Das können sie sehen?“
„Ich bin mit Katzen aufgewachsen.“
„Gut, dann heißt er „Kater“.“
Beide lachten. Schließlich fasste sich Daniel ein Herz und sagte, was gesagt werden musste. „Es tut mir leid, wie ich mich bisher Ihnen gegenüber benommen habe. Sie waren sehr freundlich und hilfsbereit.“
Ihre braunen Augen glänzten im Sonnenlicht. „Ist schon in Ordnung.“
„Nein, ehrlich...“
„Vergessen Sie es. Dieses Bier ist Entschuldigung genug.“
Sie tranken aus ihren Flaschen und schwiegen. Daniel beobachtete seine Nachbarin, wie sie die Augen schloss und die warmen Strahlen der Sonne auf ihrem Gesicht genoss.
Sie ist wirklich hübsch, dachte er. Dann erfasste ihn Wehmut. Früher, vor seiner Ehe mit Sarah, hätte er mit ihr geflirtet und seine Chancen wären nicht schlecht gestanden, denn er wusste, er war ein gutaussehender Mann und konnte sehr charmant sein. Nun war an so etwas nicht mehr zu denken. Äußerlich war er ein Monster und innere Schönheit, interessierte niemanden, wenn man so aussah wie er.
Innere Schönheit? Ein bitterer Gedanke. Er war seelisch zerstört, beherrscht von Ängsten, die er nicht kontrollieren konnte und einem Gefühlsleben, das ihn wie Blätter im Herbstwind durcheinander wirbelte.
Hoffnung? Es gab keine Hoffnung auf Liebe für ihn. Niemand würde ihn jemals wieder zärtlich berühren, den Kuss seiner Lippen suchen und ihm leise Liebesworte ins Ohr flüstern.
„Sie weinen“, stellte Jessica mit ruhiger Stimme fest.
Daniel hatte nicht bemerkt, dass er die Lider geschlossen hielt und sie ihn dabei beobachtete. Verlegen wischte er mit dem Handrücken über seine Augen.
Reiß dich zusammen, dachte er. Aber die lange zurückgehaltenen Tränen wollten nun geweint werden. Seine mühsam aufrecht erhaltene Kontrolle zerbrach wie ein Glas, das zu Boden fiel.
Jessica wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie wollte Fischer nicht zu nahe treten, aber sein leises Schluchzen, hinter vorgehaltenen Händen, rührte sie. Schließlich folgte sie ihrem Instinkt und ging zu ihm hinüber. Neben seinem Stuhl kniete sich Jessica auf den Boden. Sie nahm seine Hand in die ihrige. Sie sprach kein Wort, sondern war einfach nur bei ihm. Schließlich verebbten seine Tränen.
„Es tut mir...“
„Nein, entschuldigen Sie sich nicht.“
„Danke.“
Sie hielt noch immer seine Hand. Trotz der zahlreichen Narben war es eine schöne, eine männliche Hand mit schlanken Fingern, die Kraft und Sensibilität ausstrahlte. Jessica hatte in den Zeitungen Fotos von Daniel Fischer gesehen, die vor den grausamen Ereignissen aufgenommen worden waren. Sie hatte die Bilder betrachtet und sich darauf gefreut, ihn kennen zu lernen. Damals hatte sie sich seine Verunstaltungen nicht vorstellen können. In den Berichten war zwar von schweren Verletzungen die Rede gewesen, aber sie hatte nicht geahnt, dass diese Verletzungen auch sein markantes Aussehen betrafen. Daniel Fischers Gesicht war zerstört. Es war auf eine Art und Weise zerstört, die Jessica kaum begreifen konnte. Augen, Nase, Ohren und Mund waren vorhanden, aber nichts schien mehr zusammenzupassen und die Narbenstränge, die über sein Gesicht liefen, taten ein Übriges, um ein Aussehen zu erschaffen, an das nicht einmal Robert De Niros Maske in Mary Shellys Frankenstein heranreichte.
Wie muss er sich fühlen, wenn ihn die Leute anstarren?, fragte sie sich. Und dann spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
„Weinen Sie wegen mir?“, fragte Daniel.
„Ich weine um Sie. Ich weine über das Schlimme, das Ihnen widerfahren ist.“
„Das müssen Sie nicht“, sagte er leise.
Seine Hand übte sanften Druck aus. Sie erwiderte diesen Druck und strich mit den Fingern ihrer anderen Hand zart über seine.
„Es ist kein Mitleid“, erklärte sie. „Nicht im Sinne des Wortes, wie es heutzutage verwendet wird, aber ich leide ein wenig mit Ihnen.“
Daniel antwortete nicht. Er sah in die Ferne, ohne etwas zu sehen und tat er etwas, das ihn selbst überraschte. Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie leicht auf die Wange. Sie sah ihn an. Eindringlich.
„Für was war der?“, fragte sie.
„Dafür, dass Sie noch den Menschen in mir erkennen.“
Jessica erhob sich langsam. Ihre glänzenden Augen waren Sonnen, die auf Daniel herableuchteten.
„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie ruhig.
„Habe ich etwas getan, was ich nicht hätte tun sollen?“, fragte Daniel verirrt über ihren abrupten Aufbruch.
„Nein, aber ich bin verwirrt.“ Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn. „Und ich bin viel zu oft verwirrt.“
„Wie meinen Sie das?“
„Sie würden es wahrscheinlich nicht verstehen.“
„Es kommt auf den Versuch an.“
„Ein anderes Mal vielleicht. Danke für das Bier.“
Als sie sich umwandte um zu gehen, sagte Daniel: „Können wir uns bald einmal wieder unterhalten?“
Jessica drehte sich zu ihm um. Ihr Blick drang bis auf den Grund seiner Seele.
Sie sagte nur ein Wort: „Ja.“
Dann ging sie.
Daniel rieb sich die Augen. Seine Lider waren schwer, wollten sich zum erholenden Schlaf schließen, aber er zwang sich wachzubleiben. Aus einem Glas neben der Tastatur trank er einen Schluck Wasser.
Was haben die Behörden bei ihrer Suche nach Adam übersehen?, fragte er sich stumm, wie schon unzählige Male zuvor.
Er wusste, dass die Polizei sämtliche Datenbanken der Einwohnermeldeämter aus Lichtenfels und Umgebung durchgegangen war. Siebenundvierzig Personen im Alter von achtzehn bis fünfundvierzig Jahren mit dem Vornamen Adam hatten die Computer ausgespuckt, aber der Gesuchte war nicht dabei gewesen. Viel hatte man sich nicht von dieser Suche erhofft, da die Polizei davon ausging, dass „Adam“ nur ein angenommener Name war, mit dem sich ein Verrückter schmückte, um seiner Mission gerecht zu werden.
Ich bin Adam, hatte er gesagt. Der erste Mensch und ich bin Gott. Hier bin ich Gott! Ich bin das Licht und das Wort.
Größenwahnsinnige Phantasien eines Verrückten, der wie ein Tier unter der Erde hauste.
Nach der Pleite mit dem Namen hatte sich die Polizei darauf konzentriert, die Person zu finden, die Adam am ganzen Körper tätowiert hatte. Phantomzeichner hatte auf Daniels Beschreibung hin Zeichnungen angefertigt, die man in der Presse und in verschiedenen Internetforen, die sich mit Tattookunst beschäftigten, veröffentlichte. Das Ergebnis war das Gleiche geblieben. Adam war ein Geist ohne Identität. Niemand kannte ihn oder hatte ihn je gesehen.
Denk nach, flüsterte Daniel leise. Was weißt du noch?
Vor seinem inneren Auge entstand erneut Adams Bild. Vergiss die ungewöhnliche Körpergröße, vergiss die verrückten Tätowierungen. Was siehst du?
Ich sehe vernarbte Augenlider. Rissige Fingerkuppen. Eine deformierte Nase und zerfetzte Ohren.
Was bedeutet das?
Hatte Adam einen Unfall gehabt? Waren diese Symptome bildliche Zeugen seines Lebens unter der Erde?
Bei dem Wort „Symptome“ befiel Daniel eine eigenartige Erregung. Symptome! Krankheiten zeigten sich durch Symptome. Vielleicht litt Adam an einer Krankheit, die diese Verunstaltungen hervorrief.
Daniel rief die Google Suchmaske auf und tippte die Wörter „Narben, Augen, Nase“ ein und erhielt Tausende von Suchergebnisse. Viel zu viele. Er musste seine Suche verfeinern. Der Begriff „vernarbtes Augenlid“ brachte lediglich zwei Suchergebnisse, half ihm aber nicht weiter. Mit „vernarbte Augenlider“ verhielt es sich ähnlich. Sechsundzwanzig Ergebnisse. Nichts dabei. Nacheinander probierte es Daniel mit „deformierte Ohren“ und anderen Begriffen. Es war sinnlos.
Was noch?, fragte er sich. Die Zähne. Seine Zähne waren blutrot. Er versuchte die Begriffe „Blut“ und „Zähne“ auf unterschiedliche Art und Weise zu kombinieren. Zehntausende von Ergebnissen. Daniel klickte sich durch verschiedene Seiten. Immer wieder stieß er auf den Begriff „Vampirismus“. Zunächst schenkte er dem keine Beachtung, aber nach einer weiteren Stunde ergebnisloser Suche, hielt er überrascht inne. Das Wort „Lichtempfindlichkeit“ löste eine Welle von Gedanken aus. Adam hauste tief unter der Erde. Vielleicht war sein Exil nicht freiwillig gewählt und er hatte sich dorthin zurückgezogen, um dem für ihn schädlichen Sonnenlicht zu entgehen.
Plötzlich war die Müdigkeit wie weggeblasen. Mit klopfendem Herzen las er sich durch Webseiten, die sich mit dem Thema „Extreme Lichtempfindlichkeit beschäftigten. Bald stieß er auf einen ungewöhnlichen Fachbegriff „Porphyria erythropoetica congenita (PEC)“. Als er gezielt weitersuchte und eine medizinische Seite aufrief, blieb ihm für einen Moment die Luft weg.
Hintergrund: Die Porphyria
erythropoetica congenita (PEC) ist eine seltene autosomal rezessiv
vererbte Störung der Häm-Biosynthese, hervorgerufen durch einen
Defekt der Uroporphyrinogen III-Synthase. Seit 1874 sind weltweit
etwa 130 Fälle beschrieben worden. Die in exzessiven Mengen
anfallenden Porphyrinvorstufen akkumulieren in allen Geweben und
führen in der Haut zu einer phototoxischen Ulzeration mit
nachfolgender Vernarbung der lichtexponierten Hautareale. Es kommt
zu Deformitäten von Fingern, Lidern, Ohren und Nase. Eine
Augenbeteiligung bei PEC ist in der Literatur
beschrieben.
Patienten: Wir stellen die einzigen vier in
Deutschland lebenden PEC-Patienten vor. An okulären Veränderungen
fanden wir bei allen Patienten erhebliche narbige Lidveränderungen,
die bei zwei der vier Patienten zu einem Lagophthalmus geführt
hatten. Im lichtexponierten Bulbusbereich waren bei allen Patienten
Bindehautvernarbungen zu sehen, die bei gleichzeitigem Vorliegen
eines Lagophthalmus deutlicher ausgeprägt waren. Bei einem
Patienten fanden wir sklerale Substanzdefekte im Lidspaltenbereich.
Die Sehschärfe einschränkende Hornhautveränderungen (Narben,
Vaskularisationen und hyperkeratotische Plaques) waren nur bei
unvollständigem Lidschluss zu beobachten. Mit pflegenden Maßnahmen
konnte bei allen Patienten eine Befundstabilisierung erreicht
werden.
Eine weitere medizinische Seite beschrieb die Krankheit:
Es handelt sich hierbei um ein seltenes, autosomal-rezessiv vererbtes Syndrom mit ausgeprägten phototoxischen Reaktionen, hämolytischer Anämie mit Splenomegalie und verringerter Lebenserwartung. Die Erkrankung geht von einem Defekt der Uroporphyrinogen-III-Kosynthase aus, der Organismus wird dadurch von Typ I Porphyrinen überschwemmt. Große Mengen von Uroporphyrin I werden im Urin ausgeschieden. Die Erkrankung beginnt gewöhnlich nach dem ersten Sonnenbad im Säuglingsalter mit Erythemen, Schwellungen, Blasenbildung und manchmal Ulzerationen in den lichtexponierten Arealen. Die Läsionen heilen nur langsam unter Narbenbildung ab. Es können Synechien der Finger oder hyper- bzw. depigmentierte Mutilationen entstehen. Weitere Befunde sind eine lanugoartige Behaarung, narbige Alopezie, rotfluoreszierende Zähne und Urin sowie eine ausgeprägte Photophobie.
Zu seiner Überraschung fand Daniel auch den Bericht eines Laien, der sich mit Vampirismus in leicht verständlichen Worten beschäftigte:
...führten die vielen Verwandtenehen unter dem slawischen Adel zu Stoffwechselstörungen, zu denen eine seltene Krankheit namens Porphyria erythropoetica gehörte. Dabei produziert der Körper ein Übermaß an Protoporphyrin, einer Substanz, die für die Bildung der roten Blutkörperchen nötig ist. Zu den Symptomen gehören unerträglicher Juckreiz, Rötungen, Ödeme und blutende Risse in der Haut nach kurzer Sonneneinwirkung. Die Betroffenen versuchten natürlich das Tageslicht zu meiden und gingen nur nachts aus.
Daniel zitterte vor Erregung. Das war es! Das war der Weg zu dem Mann, der ihm Unsagbares angetan hatte.
Adam litt an einer äußerst seltenen Krankheit und musste irgendwann einmal medizinisch behandelt worden sein. Er musste nur die Spur weiter verfolgen und würde früher oder später auf Adams wahre Identität stoßen.
Fast glücklich ging Daniel zu Bett. Und in dieser Nacht träumte er zum ersten Mal seit langem nicht von seinem Peiniger.
11. Die Schatten der Nacht
Daniel nutzte den Sonntag, um im Internet nach Kliniken und Fachleuten zu suchen, die sich mit der seltsamen Krankheit beschäftigten an der Adam litt.
Zu seinem Glück gab es nicht allzu viele Kliniken in Deutschland, die auf Porphyria erythropoetica congenita und ähnliche Krankheiten spezialisiert waren. Ausgewiesene Fachleute gab es noch weniger.
Aber wie sollte er es anstellen? Wie würde er an die nötigen Informationen herankommen? Krankenhäuser, Kliniken und Ärzte waren sehr sensibel im Bezug auf die Vertraulichkeit von Patientendaten. Den normalen Dienstweg, über die Staatsanwaltschaft Akteneinsicht zu beantragen, konnte er nicht gehen. Zum einen war er nicht mit dem Fall beschäftigt, andererseits wollte er auch nicht der Mordkommission sagen, was er herausgefunden hatte. Daniel wusste, es war unklug allein die Spur aufzunehmen. Die offiziellen Organe verfügten über wesentlich bessere Möglichkeiten etwas herauszufinden. Sie konnten Datenbänke durchforsten für die er nun keine Berechtigung mehr hatte. Aber dies war eine persönliche Sache. Daniel war nicht so dumm zu glauben, dass er allein Adam zur Strecke bringen konnte, aber die Jagd sollte ihm gehören, den anschließenden Fangschuss konnte abgeben, wer wollte.
Wie stelle ich es an?, fragte er sich immer wieder.
Als der Nachmittag in den Abend überging, hatte er sich einen ungefähren Plan zurechtgelegt. Daniel sah aus dem Fenster. Der Regen hatte nachgelassen. Er ließ die Katze in den Garten hinaus und ging zur Küche. Noch immer stand die Bierflasche aus der Jessica getrunken hatte auf der Anrichte. Daniel nahm sie nachdenklich in die Hand, dann führte er sie an seine Lippen und schmeckte daran. Vielleicht war es Einbildung oder auch nur die nicht sichtbaren Rückstände ihres Lippenstiftes, jedenfalls hatte er das Gefühl, ihr nahe zu sein.
Seine Gedanken wanderten zurück zu den wenigen Augenblicken, die sie gemeinsam in seinem Garten verbracht hatten. Er rief sich ihre Art zu Lächeln in Erinnerung, sah die Eleganz, mit der sie die Beine übereinander schlug und dann dachte er daran, wie sie seine Hand gehalten hatte. Irgendetwas war in diesem Moment mit ihnen beiden geschehen. Eine nicht erklärbare Verbundenheit war zwischen ihnen entstanden, so als teilten sie den gleichen Schmerz. Daniel konnte Jessicas Verwirrung verstehen. Er selbst war ebenfalls durcheinander und konnte seine Gefühle für sie nicht einordnen. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, aber gleichzeitig war da die Furcht vor einer Ablehnung. Fischer war nicht verwegen genug, um auch nur eine Sekunde lang zu glauben, Jessica könne andere Gefühle als nur Freundschaft für ihn empfinden, aber er...
Ja, sprich es aus, dachte er.
... er hatte sich in sie verliebt. Er wusste nicht, wie es geschehen war, aber dass es geschehen war, konnte er nicht länger leugnen. Jessica war in seinen Gedanken. Ihr Gesicht spiegelte sich in der Glasscheibe der Terrassentür, wenn er hinüber sah. Ihre sanfte Stimme verbarg sich in jedem Musikstück, das er seit gestern gehört hatte. Er musste sie wiedersehen.
Ohne langes Zögern, nahm er eine Weinflasche aus dem Regal in der Küche und ging die Treppe zu ihr hinauf.
Fischer stand vor der verschlossenen Wohnungstür und sein Mut hatte ihn verlassen. Immer wieder streckte er die Hand aus, um auf den Klingelknopf zu drücken und immer wieder zog er seinen Finger zurück. Die Angst, Jessica könne sich von seinem nicht angekündigten Besuch belästigt oder gar bedrängt fühlen, gewann schließlich die Oberhand. Zutiefst deprimiert stieg er leise die Stufen zu seiner Wohnung hinunter. Er ging ins Wohnzimmer und legte sich auf den Parkettboden. Seine Augen starrten wie so oft in letzter Zeit in ein Nichts hinein. Und dann begann er zu weinen.
Er weinte um Sarah, die ihn verlassen hatte. Er weinte um seine beiden toten Kollegen, die ihm in die Tiefe der Erde gefolgt und nie wiedergekehrt waren. Und später weinte er endlich auch um sich selbst.
Daniel drehte den Kopf, sodass er das riesige Bild sehen konnte, das er von Adam angefertigt hatte. Es war die Phantomzeichnung aus der Zeitung. Er hatte sie auf eine Größe von 2 x 2 Meter vergrößert und aus einzelnen DIN-A Blättern zusammengesetzt. Nun gab die sie das Abbild des Mannes wieder, der ihn bis in seine Träume verfolgte. Es sah aus wie ein überdimensionaler Scherenschnitt. Durch das Hochkopieren grob gerastert, zeigte es ein düsteres Antlitz mit starrenden Augen, die gottgleich auf ihn herabblickten.
Daniel sah Adams Bild unverwandt an, bis die Schatten der Nacht sein Antlitz von der Wand verdrängten.
Die nächsten Tage vergingen, ohne dass er Jessica wieder sah. Innerlich fragte er sich, ob sie bewusst Abstand zu ihm hielt. Inzwischen hinterfragte er auch das Gefühl, als sie seine Hand gehalten hatte. Vielleicht hatte nur er die Besonderheit dieses Augenblicks gespürt. Vielleicht hatte sie ihn nur aus Mitleid berührt.
Eine tiefe Niedergeschlagenheit hatte ihn befallen und er erledigte seine Arbeit in der Waffenkammer mechanisch und schweigend. Hüger und Zahner gingen ihm aus dem Weg. Sie sprachen ihn nicht an, wofür er ihnen dankbar war. Bodrig hatte er nur einmal kurz beim Mittagessen gesehen, doch sie waren einfach aneinander vorbeigegangen.
Seinen ursprünglichen Plan, wie er Adam auf die Spur kommen wollte, hatte er ebenfalls verworfen und derzeit fehlte ihm die Energie, sich einen neuen auszudenken.
Mutlos und kraftlos fuhr er jeden Tag nach Hellstadt und abends kehrte mit den gleichen Gefühlen zurück. Einen Termin bei Dr. Velten hatte er schon ausfallen lassen, ohne sich zu melden und zur nächsten vereinbarten Sitzung würde er ebenfalls nicht gehen.
Wofür das alles?, fragte er sich immer wieder. Warum quäle ich mich noch? Warum bin ich nicht mit Rau und Schneider gestorben? Warum muss ich so ein Leben führen? Ist das Gottes perverser Sinn für Humor? Amüsiert er sich über unser Leiden? Ergötzt er sich daran?
Das Telefon klingelte. Daniel ließ es mehrfach in der Hoffnung schellen, der Anrufer würde auflegen, dann hob er doch ab.
„Hallo“, sagte eine Stimme, die seine Gefühle aufwühlte.
„Hallo, Jessica“, sagte er.
Sie lachte leise, als er sie mit Vornamen ansprach. „Was machst du gerade?“
„Nichts. Ich sitze nur rum und sehe der Katze zu, wie sie Fliegen jagt.“
„Hast du Lust auf einen Spaziergang? Das Wetter ist so schön.“
Daniel sah zur Terrasse hinüber. Die Sonne schien golden auf die Büsche. Insekten tanzten in der Luft. Ein sanfter Wind bewegte die Blumen in seinem Garten. Er hatte nicht bemerkt, wie schön der Abend war, nachdem es den ganzen Tag geregnet hatte.
„Ich würde gern mit dir spazieren gehen...“ Mehr brachte er nicht heraus. Die Angst von fremden Menschen angestarrt zu werden, während Jessica neben ihm ging, ließ ihn verstummen.
„Es gibt einen einsamen Ort, wo man kaum jemandem begegnet“, erriet sie sein Unwohlsein. „Wir müssten ein Stück mit dem Auto fahren. Raus aus der Stadt. Aber ich verspreche dir, es ist herrlich dort.“
Daniel zögerte trotzdem. Die letzten Tage, in denen er nicht wusste, ob er sie wiedersehen würde, hatten ihn gelehrt, wie schmerzhaft Gefühle sein konnten, die nicht erwidert wurden. Gleichzeitig war da diese Sehnsucht nach ihrer Nähe, dem Klang ihrer Stimme und den Worten, die sprechen würde. Er fasste sich ein Herz.
„Wann geht’s los?“
Wieder drang ihr helles Lachen an sein Ohr. „In zwei Minuten stehe ich vor deiner Tür.“
Der Wald atmete noch immer den Regen des Tages aus, der als zerfledderte Dampfschwaden durch Büsche und Bäume zog. Die Luft war herrlich frisch, erwärmte sich aber bereits wieder in der Abendsonne. Jessica hatte nicht übertrieben. Es war eine wundervolle Landschaft mit hohen Bäumen, lichten Büschen und versteckt am Weg liegenden Teichen, auf denen wilde Seerosen wuchsen. Aber vor allem waren sie beide allein. Niemand begegnete ihnen, als sie langsam durch den Wald schritten und sich leise unterhielten, um die Ruhe der Natur nicht zu stören.
Daniel atmete tief ein und wieder aus. Er genoss den Geruch des nassen Laubes und der feuchten Erde. Jessica ging neben ihm. Auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln. Sie trug kurze Baumwollhosen und eine weite Bluse. Das Haar hatte sie wieder zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, der bei jedem Schritt wippte.
Auf einer kleinen Lichtung hielten sie an und setzten sich auf einen gefällten Baumstamm, der durch den Schutz einer mächtigen Fichte trocken geblieben war. Jessica sah auf ihre Füße hinab, die in einfachen Sandalen steckten und durch die feuchte Erde etwas verschmutzt waren.
Ohne aufzublicken sagte sie: „Daniel, wir müssen darüber reden. Wenn ich dich verstehen soll, müssen wir darüber reden.“
„Warum?“, fragte er schlicht.
„Ich möchte dich kennenlernen und ich denke, du möchtest auch mehr über mich erfahren, aber wenn wir dieses Thema ausklammern, wird die Sache nicht funktionieren.“
Daniel legte den Kopf in den Nacken und sah zum leuchtend blauen Himmel empor. Er seufzte.
„Ich verstehe, was du meinst, aber es ist nicht einfach, darüber zu sprechen.“
„Das weiß ich doch, aber wir sollten einen Anfang machen.“
„Was möchtest du wissen?“
„Wie viel möchtest du mir denn erzählen?“, fragte sie zurück.
Er zuckte mit den Schultern. „Wo soll ich beginnen?“
„Am Anfang, der Rest kommt von selbst.“
Daniel betrachtete seine Hände. Er sah die Narben, die winzigen Schlangen gleich über seine Haut krochen. Er dachte an Sarah.
„Ich hatte mal ein Leben“, begann er. Und dann erzählte er Jessica von seinem Beruf als Kommissar im Rauschgiftdezernat. Er sprach von seiner Ehe und einem ganz normalen Leben, angefüllt mit Zielen und Träumen. Als er an die Stelle kam, an der er mit Rau und Schneider unter die Erde gegangen war, um einen Hinweis auf illegalen Drogenanbau nachzugehen, zögerte er, aber schließlich redete er doch über die Dinge, die ihm durch Adam widerfahren fahren.
Daniel sprach über eine Stunde lang. Am Ende seines Berichts war Jessica blass geworden. Obwohl sie sich bemühte, konnte sie doch das Zittern ihrer Hände nicht verbergen. Sie sprach kein Wort. Sah ihn nur an. Dann nahm sie seine Hand und schmiegte sie an ihre Wange. Lange saßen sie so da. Ihre schlichte Geste berührte ihn.
„Jessica...“
Ihr Finger legte sich auf seine Lippen. Daniel schloss die Augen. Ihr Kuss war sanft und voller Zärtlichkeit. Als sie sich wieder von ihm löste, blickte sie ihn ohne jede Verlegenheit an.
„Danke für dein Vertrauen.“
In Daniel tobte ein Sturm der Gefühle. Er wollte Jessica noch einmal küssen, ihr Gesicht in seine Hände nehmen, ihr sagen, wie sehr er sie mochte. Aber die Angst, alles zu verderben, hielt ihn zurück.
„Warum hast du das getan?“, fragte er schließlich.
„Weil ich es wollte. Ich weiß, was du denkst, aber mit Mitleid hat das nichts zu tun.“
Daniel war ihr dankbar für diese Worte und fasste sich ein Herz. „Kann daraus etwas entstehen?“
„Ich weiß es nicht. Die Zeit wird es zeigen. Nicht nur du wurdest verletzt, auch ich fürchte mich vor einer neuen Enttäuschung.“
„Du warst verheiratet, richtig?“
Jessica nickte. „Bist du mir böse, wenn wir heute nicht darüber sprechen? Du hast mir Vertrauen geschenkt und ich werde dieses Vertrauen erwidern, aber nicht heute. Dieser Abend soll dir gehören. Verstehst du das?“
„Ja.“
Plötzlich lachte sie leise.
„Was ist?“, fragte er.
„Der Kuss war nicht schlecht, aber...“
„Was?“
„Ich denke, du kannst das noch besser.“
Daniel grinste über das ganze Gesicht. „Es käme auf einen weiteren Versuch an.“
Jessica schloss die Augen und spitzte die Lippen. „Dann mal los, Cowboy.“
Sie lagen auf dem Bett. In ihrer Wohnung. Sie küssten sich leidenschaftlich. Daniel zitterte vor Erregung, als Jessica ihre Zunge tiefer in seinen Mund gleiten ließ. Ihre Hände waren überall, streichelten sein Gesicht, glitten zärtlich über seinen Körper. Sie atmete schwer, keuchte wohlig in sein Ohr, als seine Hände ihre nackten Brüste umfassten.
Und dann war es vorbei. Jedes Gefühl wich aus Daniels Körper, als sie ihre Hand zwischen seine Beine gleiten ließ und sanft seinen Penis rieb. Sie spürte, wie er zurückwich und löste sich von ihm.
„Was ist?“, wollte sie wissen. „War ich zu grob?“
Daniel sah das tiefe Dunkel ihrer Augen im schwachen Lichtschein, der vom Flur ins Schlafzimmer drang. Sie wirkte verletzt.
„Ich...ich kann das nicht.“
Ihr Schweigen dröhnte in seinen Ohren, schließlich sagte sie: „Es ist gut. Wir müssen nicht weitergehen.“
Obwohl ihre Stimme fest klang, hörte Daniel die Enttäuschung, die mit den Worten mitschwang.
„Versteh mich bitte...es ist lange her.“
„Schließ deine Augen“, sagte sie. „Und lass es einfach geschehen.“
„Nein.“ Ein Wort, viel zu energisch, viel zu abweisend ausgesprochen. Sie zuckte zurück.
„Es tut mir leid“, versuchte Daniel zu retten, was zu retten war, aber er wusste, sein „Nein“ hatte ihr wehgetan.
Ich bin so ein Idiot, fluchte er stumm. Da liege ich mit einer wunderschönen Frau im Bett, aber dass Einzige was ich zustande bringe, ist sie abzuweisen und das auch noch auf die falsche Art.
Seine Hand schwebte durch die Luft, legte sich auf ihre bloße Schulter. „Verzeih mir.“
Sie sah ihn lange an. Dann kuschelte sie sich an seine Brust und schloss die Augen. Minuten später verriet ihr regelmäßiger Atem Daniel, dass sie eingeschlafen war.
12. Damit all dieses Leid ein Ende hatte
Daniel stand im Wohnzimmer und sah nachdenklich Adams überlebensgroßes Abbild an. Es war an der Zeit, es abzuhängen. Nichts würde die Ereignisse ungeschehen machen, aber Daniel wollte sich von der Vergangenheit lösen und nach vorn sehen. Sein Leben hatte sich durch Jessica vollkommen geändert. Inzwischen sah er in jedem Tag etwas Besonderes. Seine Arbeit machte ihm immer mehr Spaß und er fuhr nun gern nach Hellstadt, um seinen täglichen Dienst zu versehen. Inzwischen sprachen er und Hüger wieder miteinander, obwohl sich sein Kollege immer noch Vorwürfe machte, Bodrig in die Hände gespielt zu haben. Zahner hingegen verbreitete ungebremst gute Laune und nahm sich immer wieder die Zeit, Daniel mehr über Waffen beizubringen.
Bodrig hielt sich von ihm fern und wenn er einmal in der Waffenkammer auftauchte, behandelte er Fischer höflich und respektvoll. Zwar traute Daniel dem Frieden nicht, aber er war für eine Kampfpause in ihrem Konflikt dankbar.
Daniel hatte sich verändert. Ohne es zu bemerken, lächelte er öfters, grüßte Kollegen oder unterhielt sich mit ihnen bei der Waffenausgabe. Jedermann in der Kaserne hatte sich an seinen Anblick gewöhnt und nun entdeckten die Beamten das Gesicht hinter Daniels Gesicht.
Seine Freizeit verbrachten er und Jessica gemeinsam, sooft es ihre Berufe zuließen. Sie gingen viel Spazieren und einmal hatte ihn Jessica sogar dazu überreden können, sie ins Kino zu begleiten. Es war ein langweiliger Hollywoodstreifen gewesen, aber neben Jessica in der Dunkelheit zu sitzen, ihrem Lachen zu lauschen und ihre Hand zu halten, erfüllte Daniel mit Frieden.
Sie hatten sich in den letzten zwei Wochen viel geküsst und Zärtlichkeiten ausgetauscht, aber beide spürten, dass Daniel die Grenze einfach nicht überschreiten konnte. Jessica versuchte mit ihm über das Thema Sex zu sprechen, aber er weigerte sich hartnäckig, darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Er wusste, irgendwann würde es geschehen müssen, wenn ihre Beziehung eine Zukunft haben sollte, doch allein der Gedanke sich vor Jessica auszuziehen und sein künstliches Bein abnehmen zu müssen, versetzte ihn in Panik. Wie sollte das alles nur weitergehen?
Jessica Neureuter stand summend vor dem Badezimmerspiegel und trug mit ruhiger Hand Wimperntusche auf. Als sie damit fertig war, beugte sie sich erst vor, dann wieder zurück, um sich im Spiegel zu betrachten. Zufrieden schürzte sie die Lippen zu einem Kussmund.
Ihre Gedanken wanderten zu Daniel. Sie sah seine freundlichen Augen, die sein hässliches Äußeres überstrahlten. Wenn sie in diese Augen sah, war er schön. Sie spürte, wie sich eine angenehme Wärme in ihrem Unterleib ausbreitete.
Daniel konnte so zärtlich und verständnisvoll sein, wie sie es bei keinem Mann zuvor erlebt hatte. Besonders nicht bei ihrem Exmann Leon, von dem sie sich vor drei Jahren hatte scheiden lassen. Leon war ein harter Mann. Hart gegen sich selbst und andere. Ihm fehlte jedes Mitgefühl für Schwäche und in seiner Nähe hatte sich Jessica stets schwach und unvollkommen gefühlt. Und Leon hatte sie in diesem Gefühl bestärkt. Hatte ihre Unvollkommenheit benutzt, um sich selbst noch vollkommener darzustellen als er ohnehin schon war.
Bei der Erinnerung an Leonard Bodrig zog sich Jessicas Magen zusammen und die angenehme Wärme in ihrem Körper verflog.
Ich muss es Daniel sagen, dachte sie. Aber wie sage ich es ihm, ohne alles zu zerstören?
Fischer hatte ihr von seiner Tätigkeit beim SEK Hellstadt erzählt. Er hätte nicht einmal Bodrigs Namen nennen müssen, als er ihr erklärte, für welches Arschloch er seinen direkten Vorgesetzten hielt.
Bodrig. Gott sei Dank hatte sie nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen. Aber nicht nur das. Alle Fotografien, die es jemals von ihnen beiden gegeben hatte, waren verbrannt, alle Erinnerungsstücke an vier Jahre Ehe vernichtet worden. Nichts von ihm sollte sie in ihr neues Leben begleiten.
Sie liebte Daniel, doch Leon Bodrig war in ihr Leben zurückgekehrt.
Ich muss es ihm sagen, dachte sie erneut. Wenn ich verheimliche, dass ich mit Leon verheiratet war, ist es aus. Das wird er mir nie verzeihen.
Sag es ihm nicht, flüsterte eine andere Stimme in ihrem Geist. Warte, bis eure Beziehung sich gefestigt hat und er die Wahrheit verkraften kann. Sag kein Wort.
Eine einzelne Träne lief ihre Wange hinunter.
Jessica hatte sich entschieden.
Sie würde ihre neue Beziehung nicht auf einer Lüge aufbauen.
Heute wollte ihn Jessica zum ersten Mal in seiner Wohnung besuchen und Daniel spürte instinktiv, dass sie sich mehr von diesem Abend versprach.
Was mache ich bloß, wenn Sie wieder mit mir schlafen will?
Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht.
Daniel fühlte die Erregung, die sich seines Körpers bemächtigte, wenn ihn Jessica leidenschaftlich küsste und auch ihr blieben die körperlichen Anzeichen nicht verborgen, aber sobald sie ihre Hand tiefer gleiten ließ, wandte er sich ab. Zurück blieben jedes Mal ein verlegenes Schweigen und das Gefühl, sie enttäuscht zu haben. Aber er konnte nicht anders.
Diese Beziehung ist zum Scheitern verurteilt, sagte er sich stumm. Und dieser Gedanke tat weh. Er liebte Jessica, wollte bei ihr sein, von einer Zukunft mit ihr träumen, aber da war auch das Wissen, ein hässlicher Krüppel zu sein. Niemals würden sie wie andere Paare Hand in Hand auf der Straße spazieren gehen, ohne angegafft zu werden. Sie würden keine gemeinsamen Freunde haben, sich nie auf einer Party von der einen Seite des Raumes zur anderen zuwinken, weil er nicht auf eine Party gehen würde. In einem Restaurant würde sie den Tisch in einer hinteren Ecke wählen. Er würde mit dem Rücken zur Tür sitzen, damit ihn niemand anstarren konnte und sein Essen schnell herunterwürgen, damit er das Licht der Öffentlichkeit wieder verlassen konnte. Und niemand kann sein Leben an abgeschiedenen Orten oder in der Wohnung verbringen. Er und Jessica würden immer die Schöne und das Biest sein, wenn andere Menschen in ihrer Nähe waren.
Die Katze sprang vom Sofa und strich um seine Beine.
Du kannst mich nehmen, wie ich bin, aber für alle anderen bin ich ein Monster.
Seine gute Laune war verflogen. Adams Antlitz war mächtiger als je zuvor. Seine Augen riefen nach ihm, forderten die Seele, die er ihm vorenthalten hatte. Und Daniel wollte sie ihm geben, damit all dieses Leid ein Ende hatte.
Jessica klingelte zum wiederholten Mal, aber nichts tat sich, aus der Daniels Wohnung erklangen keine Geräusche.
Wo ist er?, fragte sie sich.
Sie hatten sich verabredet und nun war er nicht da. Ungewöhnlich für Daniel, den sie als sehr zuverlässig kannte. Nachdenklich betrachtete sie die Flasche Rotwein in ihrer Hand. Sie sah an sich herab. Ein rotes Kleid mit einem gewagten Ausschnitt, der ihre vollen Brüste betonte. An ihren Füßen trug sie leichte Schuhe mit hohen Absätzen, um die Länge ihrer Beine zu hervorzuheben. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben und wollte schön für ihn sein und nun war er nicht da. Kein Anruf, keine Nachricht an der Tür.
Irgendetwas stimmte da nicht. Jessica spürte es. Sie konnte fühlen, dass sich Daniel in der Wohnung befand, ihr aber nicht öffnen wollte.
Was war bloß los?
Sie klingelte erneut. Diesmal energischer. Nichts.
„Daniel“, rief sie. „Bist du da? Bitte mach auf.“
Hoffentlich hörte die alte Müller sie nicht. Es fehlte noch, dass ihre Vermieterin sie dabei belauschte, wie sie Daniel anflehte, ihr die Tür zu öffnen. Alles blieb still. Auch von oben war nichts zu hören.
Jessica wurde zornig. Sie kam sich blöd vor, wie sie hier vor seiner Wohnungstür stand, eine Flasche Wein in der Hand und aufgetakelt, als wolle sie zu einem Empfang gehen. Kurz entschlossen stieg sie Treppe hinunter und ging aus dem Haus. Daniels Gartentor war nicht verschlossen und sie zögerte nicht einzutreten. Insgeheim hatte sie gehofft, er wäre im Garten und hätte sie vielleicht nicht gehört, aber da war er nicht.
Ihre Absätze klackten auf den Steinplatten, als sie zur Terrassentür schritt. Sie legte beiden Hände gegen das Glas und spähte in die Wohnung.
Daniel saß auf dem Boden und starrte bewegungslos ein überdimensionales Bild an. Zuerst begriff Jessica nicht auf was er da starrte, aber dann sah sie die Phantomzeichnung aus der Zeitung. Sie war unglaublich groß, dominierte die ganze Wand und wirkte in ihrer Einfachheit bedrohlich und unheimlich. Neben dem Bild hingen unzählige Zeitungsausschnitte. Obwohl Jessica nicht viel erkennen konnte, wusste sie doch, dass auch sie sich mit Adam beschäftigten. Daniel hatte seinem Peiniger einen Tempel errichtet. Wie ein Gläubiger vor einem Madonnenabbild, huldigte er seinem Götzen des Todes. Jessica war entsetzt. Sie wusste, dass Daniel noch immer unter den Ereignissen vor achtzehn Monaten litt und oft Probleme mit Angstzuständen und Albträumen hatte, aber dass er den Mann, der ihm das alles angetan hatte, soviel Platz in seinem Leben einräumte, war ihr neu. Daniel wollte oder konnte sich nicht von seinem Schrecken lösen. Im Gegenteil, es wirkte, als wolle er darin versinken.
Ist er geisteskrank?, fragte sie sich.
Der Daniel, den sie jetzt sah, war ein ganz anderer Mensch, als der, den sie kennen gelernt hatte. Ihr Daniel war liebenswert, höflich und zärtlich. Dieser Daniel aber machte ihr Angst. Kalte Furcht presste ihr Herz zusammen. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
Und dann wandte er sich um. Sah ihr direkt in die Augen. Er stand nicht auf, bewegte sich nicht.
Jessicas Mund formte stumm das Wort „Warum?“.
Eine halbe Ewigkeit geschah nichts. Schließlich schüttelte Daniel langsam den Kopf.
Und Jessica wusste, dass es vorbei war.
Nachdem Jessica gegangen war, ließ Daniel seinen Tränen freien Lauf, aber er weinte nicht lange.
Reiß Dich zusammen, dachte er. Es ist besser so. Besser für sie, besser für mich. Du hast eine Aufgabe zu erfüllen und nichts wird dich von nun an davon abhalten, sie zu erledigen.
Jage Adam! Hetze ihn! Zerr ihn aus der Dunkelheit! Er soll wimmern und schreien. Flehen. Ja, du sollst mich auf Knien anflehen, dein Leben zu schonen. Und ich werde dich quälen, wie du mich gequält hast. Ich werde deinen Schreien lauschen und mich an deinem Schmerz weiden. Und wenn ich genug habe, wenn mir deine Qualen ausreichend erscheinen, dann werde ich dich töten.
Und es wird lange dauern, bis du stirbst.
Die Rache würde ihm gehören, aber Daniel war nicht dumm. Er wusste, ohne entsprechende Vorbereitung konnte er es nicht wagen, sich seinem Folterer zu stellen. Aus diesem Grund fuhr er nach München. In dieser Stadt hatte die Firma ihren Sitz die seine Beinprothese angefertigt hatte. Daniel wollte einige Anderungen daran vornehmen lassen. Er war darauf eingestellt, dass man seinem Ansinnen kopfschüttelnd gegenüber stehen würde, aber letztendlich würde er sich durchsetzen. Es war seine Behinderung und es war seine Prothese. Er konnte damit machen, was er wollte.
Als Daniel über die Autobahn raste, loderte der Zorn in ihm auf.
„Niemand hält mich jetzt noch auf“, schrie er sich selbst an.
13. Schwarze Schwingen
Daniel war wie im Fieber. Er dachte kaum noch an Jessica. In seinen Gedanken war nur noch Platz für Adam und für den Plan, mit dem er ihn aufspüren und zur Strecke bringen wollte.
Zunächst musste er herausfinden, ob sich Adam irgendwann einmal wegen seiner Krankheit in einer Fachklinik hatte behandeln lassen. Krankenhäuser nahmen allerdings den Datenschutz ihrer Patienten, das so genannte Sozialgeheimnis, sehr ernst. Normalerweise musste ein richterlicher Beschluss zur Dateneinsicht vorlegt werden, aber da Daniel die Behörden aus dem Spiel halten wollte, musste er ein wenig tricksen. Trotzdem würde es sehr schwer werden, Adams Identität aufzudecken, selbst wenn er sich in einer der fünf Kliniken hatte behandeln lassen, die Daniel herausgefunden hatte.
Sein Vorteil – er war Polizist und hatte noch immer seinen Dienstausweis. Sein Nachteil – er sah seinem alten Foto inzwischen nicht mehr im Mindesten ähnlich. Außerdem war sein Äußeres zu auffällig und würde für zusätzliche Aufregung sorgen. Ganz abgesehen davon, dass man sich an ihn bestimmt erinnern würde. Nein, die Sache musste telefonisch laufen. Das eigentliche Problem dabei war, dass die Kliniken sensible Patientendaten nicht per Telefon herausrückten. Um überhaupt eine Chance zu haben, musste er einen offiziellen Telefonapparat benutzen, auf dem er auch zurückgerufen werden konnte. Für sein Vorhaben kam nur das Landespolizeidirektion in Frage, der Ort, an dem er früher gearbeitet hatte.
Einfach so dort aufzutauchen und herumzutelefonieren kam aber auch nicht in Frage. Seine ehemaligen Kollegen würden sich wundern, was er hier tat und warum ihn hier jemand anrief.
Sein Plan sah also vor, täglich an seinem früheren Arbeitsplatz aufzutauchen und mit den Kollegen zu plaudern. Seinem ehemaligen Chef Andreas Dormark würde er erzählen, dass er darüber nachdachte, eine Versetzung zu seiner alten Dienststelle zu beantragen. Natürlich würde Dormark vermuten, er wäre hier um Nachforschungen über Adam zu betreiben, aber das sollte er ruhig denken, solange er sich nicht erwischen ließ, konnte Dormark glauben was er wollte.
Sein nächster Schritt war, sich die zeitliche Freiheit zu verschaffen, die er brauchte, wenn er in der Landespolizeidirektion auf der Jagd war. Und der einzige Weg führte über Bodrig. Manchmal musste man mit dem Teufel tanzen.
„Was wollen Sie denn?“, fragte Bodrig, nachdem er eingetreten war. Wie bei seinem letzten Besuch in Bodrigs Büro, bot ihm dieser erneut keinen Stuhl an und zwang ihn stehen zu bleiben.
Dieses Arschloch weiß aus meinen Akten ganz genau, dass ich eine Beinprothese trage, aber es stört ihn nicht im Geringsten, dachte Fischer.
„Meine alte Dienststelle hat angerufen. Man hat mich gefragt, ob ich bei einem aktuellen Fall mithelfen kann, der eine Person betrifft, die ich vor drei Jahren verhaftet habe. Der Mann hatte Freigangerlaubnis im Gefängnis und ist nicht zurückgekehrt.“
„Ist das nicht ein Fall für die exekutive Behörde? Was hat das Drogendezernat damit zu tun?“
Daniel spürte, dass Bodrigs Misstrauen geweckt war.
„Normalerweise ja“, sagte Fischer ruhig. „Aber in diesem Zusammenhang geht es auch noch um einen großen Drogendeal, von dem wir erfahren haben.“
„Wir?“, knurrte Bodrig. „Es gibt kein ‚Wir’. Sie sind jetzt beim SEK Hellstadt und versehen hier ihren Dienst.“
Fischer gestattete sich ein Lächeln und legte einen Zettel auf Bodrigs Schreibtisch. „Ich habe mir schon gedacht, dass Sie nicht begeistert sein werden. Hier ist der Name meines ehemaligen Vorgesetzten Andreas Dormark und seine Telefonnummer. Ich möchte Sie bitten, ihm Ihre Entscheidung persönlich mitzuteilen.“
Es war ein Bluff. Wenn Bodrig nicht darauf hereinfiel, konnte er sich auf eine Menge Schwierigkeiten gefasst machen.
Bodrig schien zu zögern. Er blickte auf den Zettel, dann sah er Daniel an. „Wie lange wären Sie weg?“
„Jeden Tag zwei Stunden, ungefähr eine Woche. Solange man mich eben braucht.“
„Haben Sie die Sache mit Hüger und Zahner abgesprochen?“
„Nein, noch nicht. Ich wollte erst Ihre Entscheidung abwarten.“
„Gut. Klären Sie das, aber ich will Sie so bald wie möglich wieder hier sehen. Also keine Rumtrödeleien, kein Gequatsche mit den früheren Kollegen. Es wird nicht stundenlang Kaffee gesoffen und über die gute alte Zeit geredet. Sie gehen dahin, machen Ihren Job und fahren unverzüglich wieder hierher.“
„Ist klar.“
„Ihren Dienst versehen Sie trotzdem wie gewohnt. Soll heißen, die Zeit, die Sie tagsüber fehlen, hängen Sie abends oder am Wochenende dran.“
Was für ein Wichser, dachte Fischer. Aber letztendlich hatte er bekommen, was er wollte.
„Mache ich.“
Bodrig wandte sich ab und sah zum Fenster hinaus. Daniel murmelte noch einen Dank und verließ aufatmend das Büro.
Andreas Dormark sah Fischer misstrauisch an. Als er den Kopf nach vorn senkte, fiel ihm eine graue Strähne seines halblangen, ehemals schwarzen Haares in die Stirn. Dormark war ein gutaussehender Mann Anfang Fünfzig mit einer natürlichen Bräune, um die ihn alle in der Polizeidirektion beneideten. Hinzu kamen seine leicht nach oben gezogenen Mundwinkel, die ihm ein freundliches Gesicht gaben, aber da waren auch diese harten blauen Augen, die Daniel fixierten und bis auf den Grund seiner Seele zu blicken schienen.
„Was willst du wirklich?“, fragte Dormark.
Daniel hatte ihm erzählt, er wäre hier, um Ordnung in seine Unterlagen zu bringen. Der Job in der Waffenkammer des SEK Hellstadt befriedige ihn nicht und er denke darüber nach, in seinen alten Job zurückzukehren. Dormark war erstaunt gewesen, dass Fischer nicht als taktischer Schießausbilder eingesetzt wurde, wie es in seinem Versetzungsantrag gestanden hatte. Als er davon hörte, wie Bodrig mit Daniel umgesprungen war, wollte er sofort zum Telefon greifen, aber Fischer hatte ihn mit dem Hinweis davon abgehalten, dass er nicht beim SEK bleiben wolle, auch nicht als Schiessausbilder. Es wäre also zwecklos und würde nur unnötigen Ärger heraufbeschwören. Trotzdem, dieses Gespräch lief schlecht für Daniel. Offensichtlich ließ sich Dormark nicht täuschen. Er musste sich etwas Neues einfallen lassen oder sein Vorhaben endete hier und jetzt in diesem Büro.
„Also gut“, begann er. „Ich sage dir die Wahrheit. Es ist zum Teil, wie ich gesagt habe, ich denke ernsthaft darüber nach, in meinen alten Job zurückzukommen, aber das ist nicht der Hauptgrund, warum ich hier bin.“
„Es ist Adam, nicht wahr?“
Fischer seufzte. „Ja.“
„Du willst ein bisschen herumschnüffeln.“
Daniel nickte. „Er lässt mich einfach nicht los. Wann immer ich in den Spiegel sehe, werde ich daran erinnert, was mir dieser Mann angetan hat und es vergeht keine Nacht, in der ich nicht von ihm träume und schweißgebadet aufwache.“
Dormark sah ihn ernst an. „Ich verstehe dich. Nein, sag jetzt nichts. Ich verstehe dich wirklich, aber ich kann nicht zulassen, dass du dich verrennst und die Polizeidirektion in die Sache hineinziehst. Du bist nicht in diesen Fall involviert und wirst es nie sein, da du eines der Opfer bist und somit nicht den emotionalen Abstand mitbringst, den man benötigt, um so einen Fall aufzuklären. Du bist nicht einmal mehr auf dieser Dienststelle. Im Grunde genommen bist du ein Zivilist und ich kann dir einfach nicht erlauben, die Einrichtungen dieser Polizeidirektion für deinen privaten Rachefeldzug zu nutzen.“
„Sag mir ehrlich.“ Fischer deutete auf sein Gesicht. „Was würdest du an meiner Stelle tun?“
Sein ehemaliger Vorgesetzter zögerte keinen Moment. „Das Gleiche wie du. Ich würde dieses Schwein bis ans Ende der Welt jagen.“
„Aber du willst mir nicht helfen.“
„Ich kann nicht.“
Daniel gab nicht auf. Er spürte wie Dormarks Widerstand langsam zerbrach. „Du hast mir selbst gesagt, die Ermittlungen würden seit Monaten feststecken. Was kann es schaden, wenn ich selbst ein einige Nachforschungen anstelle?“
Dormark begann mit den Fingern auf die Schreibtischplatte zu trommeln. Schließlich sagte er: „Okay, du kannst den Computer benutzen, aber du lässt die Kollegen von der Mordkommission außen vor, soll heißen, du sprichst niemanden an, du fragst nicht nach, etc. Von mir aus, sieh dir die Fahndungslisten an, geh in Datenbänke, wühl in den Verbrecherkarteien, aber mehr nicht. Verstanden? Wenn irgendjemand mitbekommt, was du da machst, sitzen wir beide bis zum Hals in der Scheiße. Ich hoffe, du besitzt soviel Anstand, unsere Freundschaft nicht zu missbrauchen.“
„Vertraue mir. Ich würde nie etwas tun, das dir schadet“, sagte Daniel und fühlte sich mies bei dieser Lüge.
„Den Kollegen erzählst du den gleichen Stuss wie mir. Du bist hier, um deine alten Unterlagen in Ordnung zu bringen. Von mir aus, sag’ Ihnen auch, dass du überlegst, ob du wieder zurückkommst, aber übertreib’ es nicht. Die Leute sind nicht blöd.“
„In Ordnung. Danke.“
„Ach, noch etwas.“ Dormark lächelte süffisant. „Du benutzt nur meinen Computer und auch nur dann, wenn ich dabei bin. Ist das klar?“
„Dein Büro ist viel zu eng und außerdem...“
„So oder gar nicht. Such es Dir aus.“
Verdammt. Dormark sprach zwar von Vertrauen und Freundschaft, aber letztendlich wollte er doch die Kontrolle behalten, dass er keinen Mist baute.
„Alles klar.“
„Wann willst du anfangen?“
„Wie wäre es mit jetzt?“
„Geht nicht. Muss gleich weg.“
„Dann morgen?“
„Ab 8.00 Uhr bin ich da.“
Daniel ging zur Tür. Als er die Hand auf die Klinke legte, wandte er sich nochmals um. „Danke, Andreas.“
„Wir sehen uns morgen“, winkte Dormark ab.
Fischer verließ das Büro mit dem festen Vorsatz, sich auch von Dormark nicht aufhalten zu lassen. Ihm würde schon etwas einfallen.
Daniel schreckte aus seinem Liegestuhl auf, als er das Gartentor knarren hörte. Jessica kam mit zögernden Schritten näher, so als erwarte sie, von ihm davongejagt zu werden. Schließlich blieb sie vor ihm stehen. Daniel sah an ihren geröteten Augen, dass sie geweint hatte. Er konnte sich vorstellen, wie viel Mut es sie kostete, zu ihm zu kommen.
„Können wir miteinander reden?“, fragte sie leise.
Der Schmerz in ihrer Stimme rührte ihn, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos.
„Jessica, lass es. Es hat keinen Sinn.”
„Aber warum? Ich verstehe es nicht. Alles war gut, wir...“
„Nichts war gut. Wir haben für kurze Zeit in einem Traum gelebt und geglaubt, wir könnten die Welt aussperren, aber die Welt ist noch immer da und in ihr gibt es keinen Platz für eine Beziehung wie unsere.“
„Das ist doch Unsinn. Wir könnten es wenigstens versuchen.“
„Nein.“ Das Wort fuhr wie ein Messer zwischen sie. Jessica wich einen Schritt zurück.
„Habe ich etwas falsch gemacht? Sag mir, wenn ich dir zu nahe gekommen bin. Ich kann mich...“
Wieder ließ er sie nicht aussprechen. „Es liegt nicht an dir. Du bist wundervoll. Ich bin derjenige, der sich davor fürchtet, was aus uns werden kann.“
„Was meinst Du?“
„Noch bist du verliebt. Noch siehst du nur, was du sehen willst, aber das wird nicht immer so bleiben. Irgendwann einmal bin ich auch für dich, was ich für alle anderen Menschen jetzt schon bin. Ein Monster. Ein zerbrochenes Wesen, voll gestopft mit Ängsten und Problemen.“ Er beugte sich vor, bis er ihrem Gesicht ganz nahe war. „Möchtest du wirklich nachts aus dem Schlaf schrecken, weil ich im Traum geschrien habe? Willst du dich täglich mit meinen Ängsten auseinandersetzen, die es mir unmöglich machen, ein normales Leben zu führen? Möchtest du auf der Straße angestarrt werden? Das Tuscheln der Leute hören, wenn wir vorbeigehen? Ihre Blicke in deinem Rücken spüren?“ Daniel schüttelte den Kopf. „Glaub mir, all das möchtest du nicht.“
„Dann entscheidest du also für mich? Du lässt mich keine eigene Wahl treffen, sondern stellst mich vor vollendete Tatsachen. Und wenn mir all das nichts ausmacht? Wenn mich das Getuschel und die Blicke nicht stören?“
„Jetzt noch nicht, aber auch deine Kraft reicht nicht ewig und sie reicht nicht für uns beide, denn ich kann es nicht ertragen.“
Jessica öffnete ihre beiden Hände, so als läge ihre ganz Liebe darin, damit er sie sehen könne.
„Bitte lass es mich versuchen.“
„Nein, Jessica. Man hat mich einmal gefragt, was Angst für mich sei. Ich sagte ‚Schwarze Schwingen’.“
Er sah ihr direkt in die Augen und sie kannte die Antwort, bevor er die Worte aussprach.
„Und jetzt möchtest du auf diesen Schwingen fliegen.“
Es gab nichts mehr zu sagen. Jessica wandte sich um und verließ das Leben von dem sie geträumt hatte.
Daniel sah ihr nach und es tat weh, sie gehen zu sehen. Sein Inneres verbrannte bei dem Gedanken, dass er sie für immer verloren hatte.
Was hätte ich sonst tun können?, fragte er sich stumm. Er kannte die Antwort. Nichts. Seine Sehnsucht nach ihrer Nähe, seine Liebe zu ihr, waren keine Rechtfertigung ihr all die Dinge anzutun, die geschehen würden, wenn sie zusammenblieben.
Ich kann nicht zulassen, dass sie leidet, nur weil ich leide, brüllte es in ihm. Lieben heißt, das Wohl und das Glück des anderen über die eigenen Wünsche zu stellen. Und genau das tue ich.
Aber er wusste auch, dies war nur die halbe Wahrheit. Seine Furcht, ihre Liebe eines Tages zu verlieren und in ein Leben voller Einsamkeit zurückgestoßen zu werden, war mehr, als er ertragen konnte. Er konnte ein Dasein in Einsamkeit leben, aber ein Leben in Angst vor der Einsamkeit konnte er nicht verbringen.
Ich habe keine Kraft und ich habe keinen Mut mehr. Nur noch Hass ist in mir. Hass lässt mich all dies erdulden, aber dieser Hass fordert einen Preis. Er will gelebt werden. Also werde ich mich ihm ausliefern, nehmen, was er mir gibt und am Ende wird sich zeigen, wie viel von Daniel Fischer übrig bleibt.
Ich bin das Licht und die Dunkelheit. Adams Worte. Sie dröhnten in seinem Geist. Riefen nach ihm.
Auch ich werde zum Licht und zur Dunkelheit werden, dachte Daniel. Und dann werden wir gemeinsam in deinem Schmerz versinken.
Adam saß in der Dunkelheit einer kleinen Höhle. Obwohl kein Lichtschein diesen Ort erhellte, waren seine Augen geöffnet, aber sein Blick war nach innen gerichtet.
Fünfhundert Jahre, wisperte sein Geist. Wir haben fünfhundert Jahre auf dich gewartet und bald wirst du uns zu neuer Größe führen.
Ja, dachte Adam. Ich will ein Werkzeug deines Willens sein. Ein Gefäß für deine von Ewigkeit zu Ewigkeit wandernde Seele.
Aber werde ich es richtig machen? Werde ich alles richtig machen?
Der große Tag stand kurz bevor und Zweifel plagten Adam. Ein Gefühl der Unzulänglichkeit hat sich seiner bemächtigt und er wusste nicht, wie er diese Schwäche überwinden sollte.
In der Horde herrschte seit Gabriels Tod wieder Ordnung. Der Körper des kleinen Mannes war weit von ihrer Wohnstatt entfernt aufgestellt worden, als Warnung für alle, die ihn noch immer suchten.
Und dennoch? Einsamkeit erfüllte sein Herz, wie nie zuvor.
Ich brauche eine Gefährtin, dachte er. Seit Jahrhunderten war niemand aus seiner Familie jemals allein auf sich gestellt gewesen. Immer hatte es einen Mann und eine Frau gegeben, die die Last der Vergangenheit gemeinsam trugen. Und nun, kurz vor dem glorreichen Wiederbeginn eines goldenen Zeitalters... war er allein.
Adams Hände hielten die Fotografie einer Frau und das Gefühl, ihr wenigstens ein wenig nahe zu sein, tröstete ihn. Dieser Trost würde vergehen, so wie die Sonne den Nebel vertreibt und Adam wollte nicht mehr einsam sein.
Es war Zeit zu handeln.
14. Ein Ächzen der Qual
Es war jetzt schon 10.30 Uhr. Seit über zwei Stunden versuchte Daniel den Eindruck zu erwecken, er durchforste angestrengt die Verbrecherkartei. Hunderte von Fotos hatte er auf Dormarks Rechner angesehen und sich stets bewusst, dass er Adam hier nicht finden würde, aber es galt den Schein zu wahren, solange sich sein ehemaliger Vorgesetzter im gleichen Raum befand. Daniel beobachtete Dormark aus den Augenwinkeln, wie er Schriftstücke ausfüllte und Akten in Ordner einsortierte.
Irgendwann muss er auch mal aufs Klo oder mit einem Kollegen sprechen, dann verlässt er das Büro. Ich muss mich nur gedulden, dachte Daniel, fluchte aber innerlich, dass er nicht den Hörer abnehmen und mit seiner Jagd beginnen konnte.
Zweimal war er an der Kaffeemaschine gewesen und hatte mit früheren Kollegen geplaudert. Die Menschen in der Polizeidirektion behandelten ihn freundlich, aber reserviert. Er war einer von ihnen und irgendwie war er es auch nicht. Sein ungewöhnliches Aussehen kannten die meisten schon von den Opferfotos, die man von ihm gemacht hatte. Diejenigen, die ihn zum ersten Mal sahen, seit er aus den unterirdischen Gängen zurückgekehrt war, ließen sich nichts anmerken und taten so, als sei alles normal.
„Wie kommst du voran?“, fragte Dormark.
Daniel zuckte zusammen. Er war in Gedanken versunken gewesen und hatte nicht bemerkt, dass ihn Dormark beobachtete.
„Geht so.“
„Ich habe dir gleich gesagt, der Typ ist nicht in der Datei.“
„Davon gehe ich auch aus, aber man sollte nichts unversucht lassen.“
„Du musst wissen, was du tust. Es ist deine Zeit, die du verschwendest.“
„Richtig.“
Dormark sah auf seine Armbanduhr. „Ich muss mal kurz weg. Zur Staatsanwaltschaft.“
„Kein Problem. Ich komme allein zurecht.“
„Das denke ich mir“, meinte Dormark vieldeutig.
Daniel wurde das Gefühl nicht los, Dormark wusste, dass er etwas ganz anderes vorhatte.
Vielleicht ist er absichtlich gegangen, überlegte Fischer. Er will mir eine Chance geben, aber gleichzeitig nicht wissen, was ich hier treibe. So kann er später immer behaupten, ich hätte hinter seinem Rücken gehandelt. Sei es drum. Er musste sich beeilen.
Seine Finger zitterten leicht, als er den kleinen Notizzettel mit den Telefonnummern der Kliniken aus der Jackentasche fischte. Mit einem flauen Gefühl im Magen tippte er die erste Nummer.
„Universitätsklinikum Berlin“, meldete sich eine freundliche, weibliche Stimme.
„Die Hautklinik, bitte“, verlangte Daniel.
„Augenblick, ich verbinde.“
Ein Klicken.
„Hautklinik, Verwaltung, Rüdiger Mayer, guten Tag.“
„Landespolizeidirektion Lichtenfels, Polizeikommissar Daniel Fischer.“
Ein Zögern. Anscheinend rief die Polizei nicht allzu oft in der Klinik an.
„Was kann ich für Sie tun?“
„Ich benötige Informationen aus Ihrer Patientendatenbank. Wir suchen einen Schwerstkriminellen über den wir nur wenige Hinweise haben.“
„Entschuldigung, aber ich verstehe nicht...“
Daniel unterbrach den Mann bewusst barsch. „Würden Sie mich bitte ausreden lassen. Danke. Es handelt sich um einen Mann, der sich selbst Adam nennt. Alter ungefähr 30 bis 40 Jahre, also Geburtsjahr Mitte der 60iger bis 70iger. Er ist fast zwei Meter groß und dürfte um die 150 Kilogramm wiegen. Wir haben den Hinweis, dass er an einer seltenen Krankheit leidet. Porphyria erythropoetica congenita. Sagt Ihnen die Krankheit etwas?“
„Äh, nein. Das heißt, ein wenig weiß ich schon darüber. Porphyria ist eine extreme Lichtempfindlichkeit. Ich...“
„Genau.“ Lass ihn nicht zum Nachdenken kommen. „Wären Sie so freundlich, in ihrer Datenbank nachzusehen, ob sich darin ein Patient befindet auf den die Beschreibung passt?“
„Ich weiß nicht, ob wir...“
„Hier ist die Telefonnummer meiner Dienststelle. Wenn Sie statt der ‚0’ die ‚134’ wählen, kommen Sie direkt bei mir raus. Was glauben Sie, wie lange Sie brauchen, um mir die nötigen Informationen zu beschaffen?“
„Es ist wird nicht einfach werden. Wir haben ca. 10.000 Patientendaten in der Datei und ich weiß immer noch nicht, ob ich...“
„Vielen Dank für Ihre Hilfe. Bitte rufen sie mich baldmöglichst an. Die Sache ist dringend.“
Daniel legte auf. Ab jetzt konnte er nur noch hoffen. Wenn der Mann nicht weiter nachdachte, würde er ihm die gewünschten Daten liefern, er konnte aber ebenso gut die Klinikdirektion informieren. Dann würde er außer einem Haufen Ärger gar nichts bekommen.
Die nächste Stunde wiederholte Daniel sein Spiel noch bei drei anderen Kliniken. Die Verwaltungsangestellten, Männer und Frauen, reagierten alle auf gleiche Art und Weise. Durch seinen harten Ton, der offizielle Autorität ausstrahlte, ließen sie sich beeindrucken und der anfängliche Widerstand löste sich auf. Allerdings, wie die Sache weiterlief, wenn er den Hörer aufgelegt hatte, wusste nur Gott allein.
Als letzte Klinik stand das Universitätsklinikum RWTH Aachen, genauer gesagt das Porphyria-Zentrum auf seinem Plan. Eigentlich war dies die viel versprechendste Anlaufstelle, aber Aachen war räumlich so weit entfernt, dass es sehr unwahrscheinlich war, zu hoffen, Adam habe sich dort behandeln lassen.
Daniel sammelte sich und wählte die Nummer der Hautklinik.
„Hautklinik. Universitätsklinikum Aachen. Nathalie Seedorf.“
Fischer nannte den Grund seines Anrufes. Er wollte gerade seine übliche Show abziehen, als ihn die junge Frau unterbrach.
„Sie müssen sich an die Klinikdirektion wenden. Ich darf Ihnen leider keine Auskünfte geben.“
„Aber Sie haben Zugang zum System?“
„Hören Sie mir gut zu“, sagte Natalie Seedorf. „Sie können hier nicht einfach anrufen und die Herausgabe von Patientendaten verlangen. Ich weiß ja nicht einmal, ob Sie wirklich von der Polizei sind?“
„Ich gebe Ihnen die Nummer meiner Dienststelle. Lassen Sie sich einfach von der Zentrale verbinden und diese Frage ist geklärt.“
„So läuft das nicht“, beharrte die Frau. „Sie müssen mit der Klinikdirektion selbst sprechen. Herr Universitätsprofessor Prof. Dr. med. Winter ist Ihr Ansprechpartner.“
„Ist er da? Können Sie mich verbinden?“
„Der Professor operiert.“
„Wann ist er wieder zu sprechen?“
Papierrascheln. „Heute werden Sie kein Glück mehr haben. Morgen zwischen 14.00 und 14.30 Uhr hat er kurz Pause. Da können Sie es noch mal versuchen.“
„So lange kann ich nicht warten. Die Sache ist dringend.“
„Ich nehme an, es geht um Leben und Tod“, kam es sarkastisch zurück.
„So ungefähr. Hören Sie mir bitte gut zu. Ich muss diese Daten noch heute bekommen. Aus diesem Grund kann ich auch nicht den offiziellen Dienstweg gehen. Das würde viel zu lange dauern. Geben Sie mir Ihre Faxnummer und ich faxe Ihnen eine Kopie meines Dienstausweises.“
Sie nannte ihm die Nummer und meinte: „Das wird trotzdem nichts ändern. Ich kann diese Entscheidung nicht treffen. Nur der Herr Professor...“
„Bitte helfen Sie mir“, sagte Daniel leise.
Die Verbindung wurde unterbrochen.
Sie hat einfach aufgelegt, dachte Daniel erschüttert. Verdammt, sie hat tatsächlich aufgelegt.
Nachdem er sich wieder gefangen und bewusst gemacht hatte, dass die Universitätsklinik in Aachen ihm wahrscheinlich sowieso nicht helfen konnte, ging es ihm besser.
Andreas Dormark kam kurz nach Mittagspause vorbei, blickte auf den Bildschirm, sah dass Daniel noch immer in der Verbrecherkartei suchte und verschwand wortlos wieder.
Die Zeit verstrich zäh und langsam. Daniel rief in Hellstadt und teilte Hüger mit, er könne hier nicht weg und werde erst morgen wieder zum Dienst erscheinen. Sein Kollege versprach, Bodrig nichts von seinem Fernbleiben zu erzählen.
Um 14.30 Uhr klingelte der Apparat, den Fischer als Dienstnummer angegeben hatte, zum ersten Mal. Es war Roland Mayer vom Universitätsklinikum Berlin. Seine Suche war ergebnislos verlaufen. Es gab keinen Patienten in den letzten zwanzig Jahren auf den Adams Beschreibung passte. Daniel bedankte sich und legte enttäuscht auf. Nach und nach meldeten sich auch die anderen drei Kliniken. Auch sie hatten keine Hinweise auf Adam gefunden.
Fischer war enttäuscht. Glück und Pech lagen so dicht beieinander. Alle Kliniken, bis auf das Porphyria-Zentrum in Aachen, hatten ihre Dateien durchforstet. Keiner der Angestellten hatte zum Hörer gegriffen und seine Vorgesetzten informiert. Und trotzdem war alles umsonst gewesen. Er hatte viel riskiert und nichts gewonnen. Frustriert räumte er den Schreibtisch auf und schaltete den Computer ab. Als er gerade gehen wollte, klingelte das Telefon erneut. Fischer hob ab.
„Landespolizeidirektion Lichtenfels, Daniel Fischer“.
„Nathalie Seedorf, Porphyria-Zentrum Aachen“, meldete sich eine bekannte Stimme.
Daniels Herz begann zu rasen. Dieser Anruf konnte nur Ärger bedeuten.
„Guten Tag.“
„Es tut mir leid, dass ich vorhin einfach aufgelegt habe, aber es schien mir der einzige Weg Ihrem Drängen die Luft abzuschneiden.“
Fischer schwieg.
„Ich nehme an, Sie haben Ihr Glück auch bei anderen Kliniken versucht. Hatten Sie Erfolg?“
„Nein.“
„Wir wissen beide, dass Ihre Anfrage illegal ist und nicht der üblichen Vorgehensweise entspricht.“
Warum sagt sie mir das, dachte Fischer. Wird das eine Moralpredigt? Verlangt Sie als nächstes den Direktionsleiter oder soll ich vor ihr zu Kreuze kriechen, damit sie den Mund hält?
„Es ist nicht illegal. Ich wollte die Sache nur verkürzen“, versuchte er sich herauszureden.
Die junge Frau lachte glucksend. „So kann man es auch sehen. Aber nun gut, ich habe eine Frage?“
„Welche?“, antwortete Fischer verblüfft.
„Ich war im Internet und habe mir den Fall angesehen.“
„Und?“
„Sind Sie wirklich Daniel Fischer? Sind Sie der Beamte, der so schwer verletzt wurde?“
„Ja“, gestand Daniel leise ein.
„Dann habe ich etwas für Sie. Gleich vorweg, in unserer Datei ist der Mann nicht, aber...“ Sie machte eine Pause. „... ich habe eine interessante Namensähnlichkeit entdeckt.“
„Ganz ehrlich, ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.“
„Es ist kein Mann auf den ich gestoßen bin, sondern eine Patientin. Ihr Name ist Tepes.“
„Vielleicht ein Zufall“, wandte Fischer ein.
„Dachte ich auch im ersten Augenblick, aber dann fielen mir ein paar wichtige Dinge ein. Zunächst einmal, Porphyria erythropoetica congenita ist extrem selten. In unserer Datei befinden sich nur elf Patienten, die an dieser Krankheit leiden. Es ist eine genetische Krankheit. Sie wird also vererbt und kommt aus dem slawischen Raum.“
In Daniels Kopf begannen die Gedanken zu wirbeln. Adam, Tepes, eine erbliche Krankheit.
„Wie alt ist diese Frau?“, fragte Fischer heiser vor Aufregung.
Natalie Seedorf senkte ihre Stimme. „Alt genug, um seine Mutter zu sein.“
Daniel wagte kaum die nächste Frage zu stellen. „Haben Sie ihre Adresse?“
„Ja, aber ich will Ihnen nicht allzu viel Hoffnung machen. Die Frau war vor beinahe zwanzig Jahren bei uns in Behandlung. Sie kann inzwischen weiß Gott wo hingezogen sein. Ich gebe Ihnen die Daten.“
In Fischer brannte die Sucht nach Rache, als er langsam die Buchstaben niederschrieb. Bei jedem Wort fragte er nach, ob er es richtig verstanden hatte. Schließlich stand dort der Name, der ihn zu Adam bringen sollte. Und er hatte eine komplette Adresse.
„Ich danke Ihnen vielmals“, sagte Daniel.
„Das habe ich gern getan.“
„Warum haben Sie mir geholfen, wenn Sie wissen...“
„Ich denke, ich verstehe Sie.“
„Nochmals vielen Dank.“
„Tun Sie mir einen Gefallen?“
„Jeden.“
„Wenn Sie diesen Mann finden, sparen Sie dem Steuerzahler einen teueren Gerichtsprozess und die Kosten für eine lebenslange Haftstrafe.“
Fischers Stimme war ein heiseres Flüstern, als er antwortete: „Ich werde es versuchen.“
Daniels Herz schien aus der Brust springen zu wollen, als er den Computer wieder hochfuhr und sich beim Einwohnermeldeamt einloggte. Die Suche dauerte keine zwei Minuten.
Irina Tepes, geboren 06.07.1949 in Sinaia/ Rumänien, gestorben 27.11.1991 in Bresnach/ Bayern, Staatsangehörigkeit: deutsch, eingebürgert 22.01.1956
Letzte Anschrift: Herderweg 1, Bresnach, Bayern
Nikolai Tepes, geboren 23.03.1946 in Sinaia/ Rumänien, gestorben 27.11.1991 in Bresnach/ Bayern, Staatsangehörigkeit: deutsch, eingebürgert 13.04.1953
Letzte Anschrift: Herderweg 1, Bresnach, Bayern
Adam Tepes, geboren 15.08.1969 in Kleinwestdorf, Bayern,
Staatsangehörigkeit: deutsch
Letzte Anschrift: unbekannt
Als Daniel Adams Daten las, entrang sich ihm ein unterdrückter Schrei. Alles passte. Adams wahrscheinlicher letzter Wohnort lag nur siebzig Kilometer von Lichtenfels entfernt, wie ein Blick auf die Landkarte ergab. Die Distanz zu seinem Geburtsort Kleinwestdorf betrug cirka neunzig Kilometer, allerdings in anderer Richtung. Auf einer direkten Verbindungslinie lag Lichtenfels ungefähr in der Mitte zwischen beiden Orten.
Daniel zitterte, als er den Befehl zum Ausdrucken gab. Er nahm das Blatt Papier und faltete es, bevor er es in der Jackentasche verschwinden ließ. Dann ging er mit schnellen Schritten aus dem Büro.
Als er nach Hause kam, saß Sarah, seine Exfrau, auf der Treppe und wartete auf ihn. Sie erhob sich, als er die Stufen von der Tiefgarage hinaufstieg und reichte ihm die Hand. Daniel konnte ihre Unsicherheit spüren und er sah das Flattern ihrer Augenlider, eine nervöse Geste, ein Tick, der sie immer befiel, wenn sie aufgeregt war.
„Hallo Daniel.“ Ihre Stimme hatte noch immer diesen sanften, rauchigen Klang, den er früher so sinnlich gefunden hatte. Jetzt war ihre Stimme ein Messer, das durch seine Eingeweide fuhr und er wusste, tief innen drin liebte er sie noch immer.
„Hallo Sarah“. Er schluckte trocken und hoffte, dass sie es nicht bemerkte.
„Ich... ich war... in der Gegend. Da dachte ich, ich schaue mal nach, wie es dir so geht.“
Die Narben in seinem Gesicht verschoben sich. Rosafarbene Linien wurden härter, als er die Zähne zusammenpresste.
„Was denkst du denn, wie es mir geht?“ Er stieß die Worte aus und wusste im gleichen Moment, wie verletzend seine Antwort war. Ihr Kopf senkte sich.
„Ich verstehe, dass du mich hasst“, meinte sie mit bebenden Lippen. Sie blickte zu Boden, aber er sah die einzelne Träne, die fast verloren wirkend ihre Wange hinab zum Kinn lief. „Denkst du, du kannst mir irgendwann verzeihen?“
„Es gibt nichts zu verzeihen“, sagte er tonlos. „Wir leben jetzt verschiedene Leben und es ist gut so, wie es ist.“
„Aber wir können doch Freunde sein?“
Sein Lachen war ein Ächzen der Qual. „Nein, wir können keine Freunde sein. Wir waren Liebende und nun sind wir Fremde. Ich erkenne dich nicht und du erkennst mich nicht. Sieh mich an.“ Sie hob den Kopf und blickte ihm direkt in die Augen. „Bin ich der Daniel, den du kanntest? Bin ich der Mann, in den du dich vor vielen Jahren verliebt hast? Schau’ genau hin und sag mir, was du siehst.“
„Ja, du hast dich verändert“, gab sie zu. „Aber es ist nicht dein Aussehen, was dich zu einem anderen macht. In deinen Augen ist eine Härte, die früher nicht da war und außer Hass auf alles und jeden scheinst du keine Gefühle mehr zu kennen. Es war ein Fehler, hierher zu kommen. Bitte verzeih mir.“
Sie drehte auf dem Absatz um und ging die Treppe hinunter. Die Haustür ins Schloss fiel. Daniel wollte ihr nachrufen, wollte sie bitten zu bleiben und sei es nur für eine kleine Weile.
15. Niemand hatte Kontakt.
Die ganze Nacht über hatte sich Daniel, ohne Schlaf zu finden, unruhig im Bett gewälzt. Dementsprechend müde machte er sich auf den Weg nach Hellstadt. Am liebsten wäre er sofort nach Bresnach gefahren, um dort Adams Spur aufzunehmen, aber nachdem er am gestrigen Tag keinen Dienst versehen hatte, erschien es ihm sinnvoller, seine Arbeit in der Waffenkammer zu erledigen, bevor es Ärger gab. Er war so dicht an seinem Ziel, dass es auf einen Tag mehr oder weniger nicht ankam.
Hüger begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln, als er die Waffenkammer betrat. Christoph Zahner grinste nur breit und nickte mit dem Kopf. Beide schienen etwas zu vermuten, aber Daniel war sich sicher, dass ihre Gedanken in die falsche Richtung gingen.
Der Rest des Tages verteilte sich auf endlos wirkende Stunden. Daniel fiel es schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren und als es schließlich 16.00 Uhr war, räumte er seinen Platz auf und verschwand mit einem kurzen Gruß.