5
Sie erreichten die Sandsteinerhebungen am späten Nachmittag und lenkten ihre müden Pferde durch die Schlucht ins Tal. Die Geier umkreisten noch immer den Kadaver des Bullen und flatterten kreischend in Schwärmen auf, als die Reiter näherkamen. Aasgeruch erfüllte die Luft, und Mary hielt sich angeekelt die Nase zu. Sie blieb zurück, während Adams und Billy-Jo weiterritten, um die Beute in Augenschein zu nehmen.
Sie beobachtete, wie sie abstiegen, das tote Tier untersuchten und dann anfingen, den Boden nach Spuren abzusuchen. Wie Gestalten in einer Mondlandschaft wirkten die beiden Männer durch die kalten Farben, die scharfen Konturen und die langen verzerrten Schatten. Mary empfand plötzlich einen lebhaften Groll gegen sie. Da standen die Herren der Schöpfung und hielten Rat.
Die Frau hatte abzuwarten, solange es denen gefiel; wie stark ihr persönliches Interesse am Ergebnis sein mochte, spielte überhaupt keine Rolle.
Da fiel ihr etwas Sonderbares auf: Schwerpunkt und Gleichgewicht der Szene schienen sich verschoben zu haben. Obgleich Billy-Jo im Staub kniete und Adams aufrecht über ihm stand, war der Eingeborene unversehens zum Chef aufgerückt.
Auf dem ganzen Weg hierher hatte sie ihn kaum beachtet. Er äußerte jene typische Zurückhaltung, die der Farbige in Gegenwart des weißen Mannes an den Tag zu legen pflegt – eine traurige, ergeben lächelnde Unterwerfung, die alles akzeptierte, was auch immer der weiße Boss zu tun beliebte. Billy-Jo war nicht mehr jung. Sein Haar war grau und sein Gesicht von tiefen Falten durchzogen. Er trug Reitstiefel, Drillichhosen und ein geflicktes kariertes Baumwollhemd. Die Schultern hielt er gekrümmt, als schämte er sich, in den abgelegten Kleidern des weißen Mannes gesehen zu werden. Aber hier in dieser Wildnis schien er zu neuer Größe und Autorität emporzuwachsen. Seine Gesten waren beredt und ausladend. Wenn er sprach, hörte Adams aufmerksam zu, und wenn er sich erhob, fiel sein riesenhafter Schatten auf den Staub.
Trotz Müdigkeit und schlechter Laune rückte Mary mit ihrem Pferd näher heran, um die Worte der Männer hören zu können. Sie hatte noch keine zwölf Schritte getan, als Adams aufblickte und sie anschrie: »Bleiben Sie, wo Sie sind! Wir haben schon genug Schwierigkeiten. Die Viehhirten sind im ganzen Gelände herumgetrampelt.«
Sie war wie ausgedörrt von Durst und Staub. Jeder Muskel tat ihr weh, und diese männliche Grobheit gab ihr den Rest. Sie zügelte ihr Pferd so straff, daß es sich auf der Hinterhand aufrichtete, und schimpfte zurück: »Sie suchen schließlich nach meinem Mann! Vergessen Sie das nicht!«
Er erwiderte nichts, sondern salutierte ironisch und beugte sich wieder zu Billy-Jo hinunter, der sich, geduckt wie ein schnüffelnder Hund, auf das gegenüberliegende Ende des Tales zubewegte.
Augenblicklich bereute sie ihren Zorn, und sie kam sich klein und lächerlich vor. Verlassenheit überfiel sie, ein Gefühl von Versagen und Nutzlosigkeit, als wäre sie dazu geschaffen, eine weniger reine Luft zu atmen und ungesundere Nahrung zu sich zu nehmen als diese kräftigen Einheimischen hier. Sie fühlte sich wie ein exotischer Fisch in einem Aquarium, voller Sehnsucht nach dem freien Leben in den Flüssen. Es war ihr altes Problem, einmal in neuer Gestalt; aber diesmal konnte sie nicht Lance dafür verantwortlich machen, sondern allein sich selbst, Mary Dillon, kreuzlahm und sattelwund, anderen eine Last und für sich selbst eine einzige Enttäuschung.
Zwanzig Minuten später hatten Adams und Billy-Jo ihren Rundgang durch das Tal beendet; sie stiegen auf und ritten zu ihr zurück. Adams finsterer Blick verriet äußerste Besorgnis, und seine Stimme klang sonderbar sanft.
»Tut mir leid, daß wir Sie so herumstehen ließen, Mary. Es war nicht ganz einfach, die Spuren ausfindig zu machen.«
Billy-Jo grinste verächtlich. »Viehhirten dumm, Missus. Laufen überall rum. Zertrampeln Boden wie bei Viehmusterung.«
»Haben Sie wenigstens gefunden, wonach Sie gesucht haben, Neil?«
Er nickte ernst.
»Uns ist jetzt alles klar, Mary. Die Myalls sind im Tal gewesen. Fünf, sechs, vielleicht auch mehr. Sie haben den Bullen mit Speeren durchbohrt und seine Hinterbeine mit Keulen gebrochen. Dahinten haben sie Feuer gemacht und einen Teil von seinem Fleisch gebraten.«
»Und Lance?«
»Lance ist auch hier gewesen. Sein Pferd hat einen abgenutzten Hinterhuf. Er ist im Galopp herangeritten, und das Pferd hat sich zweimal aufgebäumt. Er muß die Myalls überrascht haben.«
»Und sie haben ihn dann verwundet – so ist es doch, oder?«
»Sieht so aus. Den Spuren nach ist er einmal quer durch das Tal und dann wieder hinausgaloppiert. Vermutlich hat ihn ein Speer erwischt, denn er ist weder vom Sattel gefallen noch heruntergezogen worden.«
Scham und eisige Furcht wallten in ihr auf, und ihre Stimme zitterte, als sie fragte: »Und was dann?«
»Das wissen wir nicht. Wir wollen am Ausgang der Schlucht seine Spur aufnehmen und ihr von da aus folgen. Vielleicht haben die Hirten etwas gefunden, aber so, wie die hier herumgestiefelt sind, glaube ich eigentlich nicht daran.«
Ein paar Minuten ritten sie schweigend, während Mary über seine letzten Worte nachdachte. Leise sagte sie dann: »Neil, verzeihen Sie, daß ich so lästig war. Ich bin zur Zeit so ängstlich und reizbar.«
Er grinste sie auf seine freche überlegene Art an. »Das ist Ihr Privileg als Frau, Mary. Sie halten sich ganz gut. Sie müssen nur versuchen, sich ein bißchen zu entspannen. Billy-Jo ist der beste Spurenleser von Broome bis Normanton. Wir werden bald mehr wissen. Es ist ja noch eineinhalb Stunden hell.«
»Neil?«
»Ja, Mary?«
»Wie steht die Wette jetzt?«
Seine Stirn umwölkte sich bei dieser Frage, doch er antwortete frei heraus: »Ein bißchen schlechter, Mary. Es ist ja alles schon vierundzwanzig Stunden her. Wir wissen nicht, wie schwer Lance verletzt oder wie schlimm er gestürzt ist. Aber eins steht wenigstens fest. Er kann nicht sehr weit weg sein.«
Sie schien sich mit dieser Antwort zufrieden zu geben, und er war froh, daß er nicht mehr zu sagen brauchte. Es hatte keinen Sinn, ihr von den anderen Dingen zu erzählen, die er und Billy-Jo gefunden hatten: Ockerstaub, Holzkohle und Fellreste, mit denen einer der Myalls geschmückt worden war zur Vorbereitung für den nächsten Mord.
Als Lance Dillon aus dem Wasser in das Schilf zurückkroch, war er am Ende seiner Kräfte. Er zitterte vor Kälte; seine Haut war runzlig und aufgeweicht; in Schulter und Achsel tobte der Schmerz, und ein unkontrollierbares krampfhaftes Zittern schüttelte seine Glieder. Er lag mit dem Gesicht nach unten, und nach Luft japsend kämpfte er verzweifelt gegen die fiebrigen Nebel in seinem Hirn, welche den Übergang zu hilflosem Delirium ankündigten.
Er wußte es jetzt mit absoluter Sicherheit; ohne Hilfe konnte er die Farm niemals lebend erreichen. Der Infektionsherd in seiner Schulter breitete sich mehr und mehr aus, und seine Kräfte schwanden so schnell, daß er mit seiner spärlichen pflanzlichen Nahrung nichts dagegen zu tun vermochte. Selbst die geringste Anstrengung bedeutete eine lebensgefährliche Kraftvergeudung, die sich bald als tödlich erweisen mußte.
Er schloß die Augen und versuchte sein verwirrtes Gehirn zum Überdenken seiner Situation zu zwingen. Das Flugzeug bedeutete nur eins: Mary wußte, daß er in Schwierigkeiten geraten war, und hatte Hilfe geholt. Auch jetzt waren sie wohl auf der Suche nach ihm. Er begann zusammenzuzählen, wie viele Stunden er schon herumgewandert war und wie viele Stunden seine Leute wohl brauchten, um hierher zu reiten. Doch selbst diese simple Rechnung war zuviel für ihn, und er versank in einen schläfrigen Tagtraum von Mary, von gesichtslosen Reitern, von einem Flugzeug, das sich in lauter Vögel verwandelte, die dann über seinem eigenen toten Körper kreisten.
Der Traum verblaßte, und während eines kurzen lichten Momentes sagte sich Dillon, daß er unbedingt aus dem hohen Gras zum Fluß zurück mußte, wo er eine Chance hatte, von dem Suchtrupp gefunden zu werden. Hier in den Sümpfen war er gleichsam in einem grünen Sarg begraben, und wenn sogar die Myalls ihn verfehlt hatten, war es ausgeschlossen, daß seine Freunde ihn finden würden. Die schwankenden Halme würden ihn verdecken, bis er zwischen ihren Wurzeln verweste.
Von diesem Gedanken ging ein trügerischer Trost aus. Er brauchte nicht mehr zu fliehen, sich nicht mehr zu fürchten. Er brauchte sich nur in das Gras zurücksinken zu lassen, und es würde ihn wie das Meer umschließen. Wie zur Bestätigung dieses Gedankens fiel ihm ein Vers aus seiner Schulzeit ein …
»Wo die grüne Dünung im Hafen
verstummt,
Weitab von der wogenden See.«
Der Rhythmus lullte ihn besänftigend ein. Das Zirpen der Grillen verwandelte sich in rauschendes Wogen. Er fühlte sich wie ein vollgesogenes Blatt in die Tiefe sinken, bis ein scharfer zuckender Schmerz ihn ins Bewußtsein zurückholte.
Dies war die Ankündigung des Todes – ein täuschendes Wohlgefühl, das einem jeglichen Willen raubte und doch weit bedrohlicher als die Speere der Myalls war. Er mußte seine Kräfte zusammennehmen, um dagegen anzukämpfen. Er blickte auf und versuchte aus den wirren Schatten der Gräser die Himmelsrichtung zu bestimmen. Es war Nachmittag. Die Sonne stand zu seiner Rechten, also mußte der Fluß geradeaus vor ihm liegen. Wenn er sich jetzt nicht aufraffte, würde er es nie mehr schaffen.
Langsam, Meter für Meter, begann er unter unendlichen Qualen, wie eine Schnecke am Boden entlangzukriechen, während die Spitzen der grünweißen Halme unendlich hoch über seinem Kopfe wogten.
Menyan, das Mädchen mit dem Mondnamen, die jüngste Frau des Zauberers Willinja, sammelte Jamswurzeln in der Flußniederung. Sie war allein, was ungewöhnlich war; denn normalerweise arbeiteten die Frauen in Gruppen, manchmal auch unter der Obhut eines alten Mannes, damit sie vor herumziehenden Burschen sicher waren, die sie manchmal ihren Männern zu entführen versuchten. Bis auf einen kleinen Lendenschurz aus Känguruhfell hockte sie vollkommen nackt auf ihren Fersen und brach die braunen Knollen mit einem spitzen Stock heraus. Eine einfache Arbeit – der Boden war weich, und die reifen Wurzeln wuchsen dicht unter der Oberfläche. Sie ließ ihre Gedanken schweifen und genoß das seltene Alleinsein und die Wärme der Abendsonne auf ihrer Haut.
Nach der Rechnung der Weißen war sie fünfzehn Jahre alt, und seit ihrer ersten Periode gehörte sie Willinja; doch bis jetzt war sie noch kinderlos. Ihre Brüste waren klein, und ihr Bauch war flach, und sie bemerkte noch keine Anzeichen jener Schmerzen oder Schwellungen, welche – so hatten es die älteren Frauen sie gelehrt – ankündigten, daß ein Kind in sie hineingeträumt war.
Aus diesem Grund arbeitete sie auch allein. Die älteren hatten sich über sie lustig gemacht. Willinjas andere Frauen hatten sie als unfruchtbar und nutzlos verspottet, bis sie sich mit ihnen gestritten hatte und weggegangen war, um ihren Sticheleien zu entfliehen. Die wußten doch genausogut wie sie selbst, daß es nicht ihre Schuld war und daß alte Männer eben nicht so viele Kinder zeugten wie junge; aber der Spott hatte sie doch empfindlich getroffen.
Weder als Stammesmitglied noch als Person war sie vollwertig. Genau wie ein Mann nicht anerkannt wurde, bevor er nicht beschnitten war, die Feuerprobe bestanden und eine Frau genommen hatte, so wurde eine Frau nicht voll in das heilige Leben einbezogen, bevor sie nicht ein Kind geboren hatte.
Sie wußte, manche Frauen hatten diesen letzten Schritt beschleunigt. Sie hatten sich Liebhaber genommen, die Kinder in sie hineinträumten, heimlich oder nach den letzten Tänzen eines großen Corrobboreefestes. Einige wurden auch an einen Verwandten ausgeliehen oder dienten als Bezahlung für eine Schuld, und aus solchen Verbindungen entstand zuweilen schneller ein Kind als von einem alten Gatten. Doch bis jetzt hatte Willinja sie für sich allein behalten, außerdem fürchtete sie sich vor seiner Allwissenheit, welche die Geister ihm verliehen hatten.
Trotzdem, sie war nicht wirklich unglücklich. Noch Kind genug, um Sorgen schnell fortzuscheuchen, war sie doch auch schon Frau genug, um zu hoffen, daß eines Tages ein jüngerer Mann sie von Willinja loskaufen oder auf die übliche Art entführen würde, was ihm später durch Zahlung eines angemessenen Preises vergeben werden konnte. Wenn sie wählen dürfte – und innerhalb bestimmter Grenzen stand einer Stammesfrau die Wahl durchaus zu –, würde sie sich für Mundaru entscheiden, den Mann des Büffels.
Er war so voller Kraft und Vitalität, ganz anders als die übrigen Burschen. Sie spürte sein heißes Begehren. Bekäme er Gelegenheit dazu, er würde sicher versuchen, sie zu nehmen. Aber sie wußte, daß sie ihm nicht gehören durfte. Was die Männer an ihren verborgenen Plätzen taten oder sagten, war zwar streng geheim; trotzdem ahnten die Frauen sehr wohl, daß Mundaru jetzt ausgestoßen und für immer von der Stammesgemeinschaft ausgeschlossen war. Eine Frau mochte den Zorn ihres Gatten in Kauf nehmen, wenn sie sich mit einem jüngeren Mann vereinigte; aber kaum eine würde es wagen, ein Stammesgebot zu übertreten. Mit Mundaru eine Verbindung einzugehen wäre soviel wie die Ehe mit einem Toten.
Bei diesem Gedanken fröstelte sie; sie wollte nichts mehr davon wissen. Es gab noch andere Männer, die sie begehrten und auch mutig genug waren, sie zu nehmen. Leise summte sie das Lied vor sich hin, mit dem die Frauen ihre Geliebten zu rufen pflegten. Plötzlich raschelte es im Gras hinter ihr. Ein Schatten fiel auf ihren bloßen Rücken und auf die warme Erde unter ihren Händen. Sie sah auf. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, und ihr Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei, als Mundaru, für den rituellen Mord bemalt und bewaffnet, sich über sie beugte.
Am Ausgang der Schlucht stieg Billy-Jo vom Pferd und ging voraus, um zwischen den letzten Abdrücken der Viehhirten nach Spuren von Dillons Pferd zu suchen. Adams und Mary Dillon sahen ihm zu, während die Pferde die spärlichen Büschel zu ihren Füßen abzugrasen begannen. Adams wischte sich den Schweiß von der Stirn, trank ein paar Schluck aus der Wasserflasche und reichte sie dann Mary.
»Das ist wirklich bewundernswert, Mary …« Er zeigte auf Billy-Jo. »Billy-Jo hat sich seine natürlichen Fähigkeiten bewahrt. Die Viehtreiber haben sie alle verloren. Sie brauchen sie nicht mehr, um zu überleben. Zwar stehen sie erst mit einem Fuß in unserer Welt, aber schon haben sie den Halt in der ihren verloren.« Sie sah ihn scharf an.
»Stellen Sie eine Tatsache fest, Neil, oder predigen Sie Moral?«
»Verstehen Sie es, wie Sie wollen.« Achselzuckend überging er ihre herausfordernde Frage. »Aber es ist die Wahrheit. Das ist das ganze Geheimnis, wenn man in einem Land lebt wie dem unseren. Macht man sich die Erde zum Verbündeten, kann man überleben. Macht man sie sich zum Feind, kämpft man eine Rückzugsschlacht, die man am Ende verlieren muß.«
»Und ich hab' die meine verloren – das wollen Sie doch damit sagen!«
»Ich habe dabei nicht an Sie gedacht, Mary.« Seine Stimme wurde sehr ernst. »Ich dachte an Lance. Da hinten im Tal wurde er verwundet – wie schwer, wissen wir nicht. Irgendwo da draußen zwischen dem Fluß und dem Wald stieg er vom Pferd, oder er wurde abgeworfen …«
»Oder von den Myalls erledigt.«
»Das auch, möglicherweise.« Er nickte nüchtern. »Aber falls er ihnen entkam, hängt sein Leben teils von seiner physischen Kondition ab und teils davon, was er über das Land weiß und was er dafür empfindet. Die Gegend hier ist nicht schlecht: der Fluß, das Grasland, das Unterholz. Eine Menge Wild und jede Menge Nahrung, wenn man nur weiß, wie man sie finden kann.«
»Lance hat das auch oft gesagt. Ich – ich glaube, er weiß Bescheid.«
Hundert Meter weiter winkte Billy-Jo ihnen zu und zeigte auf den Niauliwald. Adams winkte zurück, und sie trabten zu ihm hinüber. Adams runzelte verwundert die Stirn und meinte mehr zu sich selbst als zu Mary: »Warum ist er bloß in die andere Richtung gegangen, weg von der Farm?«
Als erster fand Billy-Jo eine Erklärung.
»Mann verwundet, Pferd müde, brauchen beide Wasser. Vielleicht gehen zum Fluß, vielleicht suchen Schatten unter Bäumen.«
Zu Fuß führte er sie immer näher an den Niauliwald heran; doch sie hatten ihn noch nicht erreicht, als sie die Viehhirten in einem staubaufwirbelnden Galopp daraus hervorpreschen sahen. Adams fluchte leise, als er feststellte, daß sie Dillon noch nicht gefunden hatten, dann hielt er an und wartete auf sie.
Mary stieß einen leisen angstvollen Seufzer aus, als sie Dillons Hut auf dem Sattelknauf von Jimmy, dem Oberhirten, hängen sah. Er händigte ihn Adams aus und sprudelte in fließendem Pidgin seine Meldung hervor.
»Erwischen Spuren in Unterholz. Pferd von Boss Dillon müde, gehen langsam. Sein Hut fallen runter, Boss Dillon vielleicht krank. Finden mehr Spuren in Flußgras. Mann dort lange liegen, viel bluten. Mehr Spuren gehen runter an Fluß. Wir kehren um. Kommen zurück zu Adamidji.«
Adams hörte ihm zu, und als der Mann seinen Bericht beendet hatte, gab er Mary eine kurze Erläuterung. »Sie haben den Hut im Unterholz gefunden, wo sie auch Spuren Ihres Mannes entdeckt haben. Sie sind ihnen durchs hohe Gras gefolgt und zu der Stelle gekommen, wo er vermutlich abgeworfen wurde, dann sind sie umgekehrt.«
»Hat er nicht auch etwas von Blut gesagt?«
Adams ging nur kurz darauf ein.
»Er muß eine Zeitlang dort gelegen haben. Wir wissen, daß er verletzt war. Daher das Blut.«
»Was wollen Sie jetzt machen?«
»Wir lassen uns von Jimmy dorthin führen. Die anderen Jungens sollen auf der offenen Ebene eine behelfsmäßige Landebahn anlegen. Gilligan fliegt morgen früh wieder hierher. Warten Sie einen Augenblick.«
Er erklärte den Viehhirten rasch, worum es ging, und ritt mit ihnen auf die freie Ebene am Fuß der Hügel zu, während Mary mit Billy-Jo allein zurückblieb. Der alte Mann sah sie einen Moment mit zusammengekniffenen Augen von der Seite an und tröstete sie dann zaghaft: »Sergeant guter Mann, Missus. Sehen viel, reden wenig; Sie ihm vertrauen.«
»Ich weiß, Billy-Jo. Aber ich mache mir Sorgen um meinen Mann.«
Der alte Mann zuckte die Achseln und scharrte mit den Füßen im Staub.
»Missus jung. Nehmen neuen Mann, haben kein Baby bis jetzt.«
Sie wurde rot und warf ihm einen schnellen Blick zu, doch er hielt den Kopf gesenkt, und sein dunkles Gesicht war von der Hutkrempe überschattet. Dieser Gedanke war ihr nicht neu; aber von einem Fremden so deutlich geäußert, traf er sie doch wie ein Schock. Sie wandte sich ab und starrte angestrengt zu der roten Fläche hinüber, wo Adams die holperige Piste abschritt und die Viehhirten anleitete, sie mit ihren bloßen Händen und mit Hilfe von Zweigen aus dem Unterholz zu planieren.
Sie fühlte sich zu Adams hingezogen. Sich das einzugestehen fiel ihr nicht schwer; doch was ihr an ihm so gefiel, war nicht leicht zu definieren. War es vielleicht seine Ungezwungenheit? Das Selbstverständnis, mit dem er sich die Welt zu eigen machte – als wäre diese für ihn geschaffen und nicht er für sie? Er war ausgeglichen, ausdauernd und zufrieden; Lance dagegen schien trotz seiner Kraft und Arbeitswut in einem ständigen Konflikt zu leben. Neil Adams stellte keine Anforderungen an das Dasein, und doch schien sich alles Geschehen um ihn herum wie von selbst zu ordnen. Lance strebte ständig ruhelos vorwärts und konnte doch nicht über das eigene innere Chaos Herr werden.
Lag hier etwa der Kern ihres Problems? War sie deshalb mit ihrem Mann unzufrieden und sehnte sich nach einem anderen? Hatte die eigene Unzufriedenheit ihr das Land so trübselig erscheinen lassen? Wäre es dem Garten Eden ähnlicher, wenn sie es zusammen mit Neil Adams durchstreifte?
Als sie ihn mit Jimmy im Galopp zurückkommen sah, verwarf sie augenblicklich diesen Gedanken, damit ihr Gesicht ihm nichts verraten konnte. Wenn Lance tot wäre, hätte sie das Recht zu solchen Gefühlen, aber solange … Sie hatte eine Vision, sah, wie er in der Sonne lag und das Leben aus ihm herausblutete, und wieder schämte sie sich über sich selbst.
Die Schatten wurden länger, als sie ins Unterholz kamen; die Viehtreiber ritten voran, hinter ihnen Billy-Jo, der eifrig nach weiteren Spuren Ausschau hielt. Sie kamen aus den Niaulibäumen zu der Stelle, wo Dillon ins Gras gestürzt war, und stiegen ab. Die Treiber hielten die Pferde, während Billy-Jo und Adams den Boden untersuchten, wobei Mary, einen Schritt hinter ihnen, sie gespannt beobachtete.
Diesmal war Adams höflicher zu ihr. In knappen Worten übersetzte er, was Billy-Jo aus den Spuren herausgelesen hatte.
»Hier wurde er abgeworfen. Sie erkennen das an den geknickten Grashalmen und der eingedrückten Erde. Er hat eine Weile blutend dagelegen … dann ist er offensichtlich aufgestanden und weggegangen, er hat einen Stock dabei benutzt … Nachdem hier keine Bäume stehen, sieht es fast so aus, als ob er einen Speer als Stock benutzt hätte. Er ging von hier aus in Richtung Fluß … Das ist verständlich, weil er durch den Blut- und Schweißverlust bestimmt durstig war. Das ist ein gutes Zeichen, denn es beweist uns, daß er klar denken und sehen kann …«
Er hielt inne, denn Billy-Jo wies ihn auf neue Spuren hin: ein Büschel Fellhaare, ein blasser Fleck auf einem Grashalm, ein Abdruck im sumpfigen Boden. Sie bemerkte, wie sich Adams' Blick verfinsterte, und hörte ihn mit Billy-Jo flüstern. Sie fragte scharf: »Irgend etwas Neues, Neil? Was gibt's?«
Er sah ihr offen ins Gesicht. Seine Augen blickten hart, doch er behielt seine Stimme unter Kontrolle.
»Die Myalls sind diesen Weg ebenfalls entlanggekommen, Mary. Das muß nach ihm gewesen sein, weil nichts auf einen Kampf hindeutet. Aber sie waren ihm dicht auf den Fersen.«
»Wann war das?«
»Vermutlich gestern um diese Zeit.«
»Das ist ja schon vierundzwanzig Stunden her.«
»So ungefähr.«
»Das können Sie alles erkennen, indem Sie bloß so auf den Boden schauen?«
»Ich nicht, sondern Billy-Jo. Ich mit meinem bißchen Wissen kann es höchstens bestätigen.«
»Das bedeutet, daß Lance tot ist, nicht wahr?«
Adams kam beim besten Willen nicht dahinter, ob Hoffnung oder Angst ihr die Frage eingegeben hatte. Er schüttelte nur den Kopf.
»Nicht unbedingt. Es heißt bloß, daß die Wette auf sein Überleben wieder ein bißchen schlechter steht.«
Er wandte sich an den Viehhirten.
»Jimmy, du gehst jetzt zu den anderen zurück. Sie sollen bis Einbruch der Dunkelheit arbeiten, dann baut euch ein Lager und macht bei Sonnenaufgang mit der Piste weiter. Wir stoßen dann zu euch, und ich gebe euch weitere Anweisungen, bevor Gilligan kommt. Ist das klar?«
»Alles klar, Boss.« Jimmy tippte mit den Fingern an den Hut, grüßte zu Mary hinüber und ritt so gelassen davon, als wäre er auf dem Weg zur Viehbeschau. Adams sah ihm nach und übergab dann Mary die Zügel.
»Führen Sie die Pferde, Mary. Ich möchte bei Billy-Jo bleiben. Wir wollen den Spuren nachgehen, solange es noch hell ist.«
»Und nachher?«
Aber da war Adams schon drei Schritt weg und folgte Billy-Jo durch das hohe Gras zum Fluß.
Fünf Meilen weiter waren die Kadaitjamänner in ihren Federstiefeln humpelnd am Flußufer angekommen und verteilten sich in der Niederung; die Jagd auf Mundaru konnte beginnen. Sie hatten wohl Schmerzen, doch der Schmerz war eine ständige Mahnung an ihre heilige Aufgabe. Mehr noch: Die verbrannten und verrenkten Zehen waren zu magischen Augen geworden und zeigten ihren Schritten den Weg zu ihrem Opfer. Sie wandelten in zwei Welten. Eine übernatürliche Macht hatte von ihnen Besitz ergriffen, und zugleich waren sie nichts als Jäger, die die Grundregeln der Jagd befolgten: Vorsicht, Deckung, Berechnung.
Ihre Überlegung war einfach und logisch. Lebte der weiße Mann noch, dann mußte er den Schutz des weitläufigen Sumpfgebietes ausnutzen. War er tot, dann müßte Mundaru zuerst die Leiche verstecken und sich dann in den gleichen Sümpfen verbergen. Er würde es nicht wagen, bei Tageslicht das freie Land zu betreten.
Für sie gab es keinen Zweifel, daß Mundaru von dem Urteil wußte, das über ihn gefällt worden war. Es gehörte zur Macht der magischen Beschwörung, daß ihr Opfer lange vor dem Augenblick der Exekution davon ahnte und sie in seinem Körper fühlte. Von solcher Erkenntnis geschwächt und verunsichert, wurde das Beschworene eine nur um so leichteren Beute. Darüber hinaus wußten sie, daß die weißen Männer unterwegs waren. Sie hatten das Flugzeug gesehen und die Staubwolken bemerkt, die von den Hufen der Pferde aufgewirbelt worden waren. Sie schätzten – und das zu Recht –, daß die weißen Männer den Spuren vom Tal bis zum Fluß folgen und Mundaru schließlich stromabwärts geradewegs in ihre heiligen Speere treiben würden.
Die speertragenden Männer konnten sich gegenseitig nicht sehen und waren über eine halbe Meile im Gelände verstreut, aber sie hielten sehr guten Kontakt untereinander. Sie verständigten sich mit nachgeahmten Tierlauten: mit dem heiseren Ruf eines Kakadus, dem Schrei einer Sumpfgans, dem dumpf hallenden Schwanzklopfen eines Känguruhs, dem hohen Pfiff eines Peitschenvogels. Die Geräusche wiederholten sich nie in der gleichen Reihenfolge und kamen nie aus der gleichen Richtung, so daß auch der wachsamste Beobachter ihren Ursprung nicht ahnen konnte.
Am Ende würde Mundaru sie zwar auch vernehmen und ihren Sinn verstehen, doch dann wäre es bereits zu spät. Die Kadaitjamänner würden ihn immer enger umkreisen, die Stimmen würden zu einem langen bedrohlichen Schweigen verstummen, und aus diesem Schweigen würde dann das donnernde Gebrüll eines Bullen ertönen – das wurde mit dem Tjuringa, dem geheimnisvollen durchlöcherten Stück Holz oder Stein, vollführt. Denn wirbelte man das Tjuringa durch die Luft, röhrte es tief und laut. Das würde der Todesgesang für Mundaru sein, und noch bevor das Echo verklungen war, würde er, von einem heiligen Speer durchbohrt, fallen.
Noch war es nicht soweit. Das Geschehen war zwar im voraus bestimmt, doch es war nicht unabwendbar. Noch hing alles von der Geschicklichkeit der Jäger ab und davon, wie jeder einzelne von der ihm verliehenen Macht Gebrauch machte. Gemeinsam rückten sie gegen ihr Opfer vor, lautlos und jeden Nerv gespannt.