AUFRUF ZUR REVOLTE

Unter mir keuchte die Erdkugel in ihrem Schwung; ich hatte sie wie ein wildes Roß gepackt, mit riesigen Gliedern wühlt’ ich in ihren Mähnen und preßt’ ich ihre Rippen, das Haupt abwärts gewandt, die Haare flatternd über dem Abgrund; so ward ich geschleift. Da schrie ich in der Angst, und ich erwachte.

Georg Büchner, Dantons Tod, S. 45f.

Ein Hoch auf unsere Verdrängungsmechanismen! Das Geburtshoroskop der Masse im Konsumzeitalter scheint zu lauten: Sternzeichen Räumpanzer, Aszendent Schneepflug. Hartnäckig vermögen wir, den Abgrund, der sich vor uns auftut, immer aufs Neue zuzuschieben, mit Illusionsabfällen und Betäubungsmitteln aller Art: mit dem nächsten Sportgroßereignis oder einer neuen Terrorwarnung, mit abseitigen Debatten, Privatskandalen und Pseudoenthüllungen.

Dabei gibt es, was die Gesamtsituation angeht, gar nicht mehr sonderlich viel zu enthüllen.

Wir wissen, was wir wissen müssen.

Wir wissen: Das Hundertfache der durch reale Werte gedeckten Geldmenge befeuert eine zerstörerische wirtschaftliche Dynamik – und die seit 2007 anhaltende Weltwirtschaftskrise wird endgültig eskalieren, wenn diese Geldblase platzt.

Wir wissen: Die Art, wie wir als Spezies leben und wirtschaften, kann kein gutes Ende haben, weil das Ökosystem des Planeten bereits schwer angeschlagen ist und jeden Tag noch stärker unter Druck gerät. Wir dürfen die ersten Vorboten einer sich abzeichnenden Weltnaturkatastrophe bereits an den Ufern unserer Flüsse begrüßen.

Niemand würde ernstlich bestreiten, dass ein »Weiter so!« den sicheren Weg in ein globales Desaster bedeutet.

Wir wissen, dass da ein Abgrund ist.

Aber gerade dessen kaum zu erahnende Tiefe schiebt die kollektiven Verdrängungsmechanismen stets aufs Neue an, denn wir spüren: Wer einen zu tiefen Blick in diesen Graben tut, wird hineingesogen und lange fallen, bis er auf dem Boden der Wahrheit aufschlägt.

Also wenden wir den Blick ab, sobald wir es nach dem ersten Schrecken nur je vermögen. Explosion einer Bohrinsel? 750 Millionen Liter Öl fließen in den Golf von Mexiko? Vier Reaktorblöcke eines Atomkraftwerks gehen hoch? 200 Kilometer vom Großraum Tokio-Yokohama entfernt?

Ein Aufschrei, eine Schockwelle – dann morpht alles zurück in den glitzernden Morast sensationeller Nichtigkeiten. Niemand wird uns zwei Jahre später von jenen Folgen berichten, die bleiben. Schließlich haben Algen das Öl der Deepwater Horizon aufgefressen, und die Strahlenwerte in Tokio liegen stabil unterhalb jener Grenzwerte, die die japanische Regierung kurzerhand nach oben gesetzt hat. Außerdem steht jetzt der Grand Prix an oder ein islamistischer Anschlag.

Ein islamistischer Anschlag. Natürlich.

Alle Schätzungen – von der John-Hopkins-Universität bis zur NGO iraqbodycount – gehen übereinstimmend von mindestens 100.000 Kriegstoten im Irak seit 2003 aus. Was ist mit diesem Terror? Wollen wir uns weiterhin mit schlecht inszenierter Staatspanik über jene Terrorgefahr befassen, die uns aus der arabischen Welt droht – während wir von den missgebildeten Babys schweigen, die im Irak zur Welt kommen, weil dort von unseren NATO-Verbündeten massenhaft uranummantelte Munition verballert wurde?

Die Verlogenheit des öffentlichen Diskurses in diesem Land ist wahrlich atemberaubend. Medien und Politik empören sich unisono über die Brutalität Erdogans gegen Occupy Gezi in Istanbul. Das ist schön. Das ist richtig.

Der himmelschreiend brutale Polizeieinsatz gegen Blockupy in Frankfurt am Main am 1. Juni 2013 mit mehr als 400 Verletzten steht aber offensichtlich auf einem ganz anderen Blatt. Jedenfalls steht er nicht in der annähernden Ausführlichkeit in den Blättern der Tagespresse wie die Polizeiübergriffe weit hinten, in der Türkei.

Nun wollen wir keineswegs aussagen, dass die Qualität beider Vorgänge – in Frankfurt am Main wurde nicht geschossen, und die Intensität der Proteste war in Istanbul eine ungleich höhere! – in eins zu setzen wäre. Doch liegt so aufdringlich nahe, zwei brutale Polizeieinsätze gegen Blockupy hier und Occupy dort in einen Zusammenhang zu setzen, dass uns kaum glaublich erscheinen mag, dass es partout nicht geschieht.

Ja, die Verlogenheit des öffentlichen Diskurses in diesem Land ist atemberaubend.

Laut UNHCR sind alleine im Jahr 2011 über 1.500 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Insgesamt starben im gleichen Jahr an den EU-Außengrenzen mehr als 2.000 Menschen, so Pro Asyl. Wollen wir wirklich von 2.000 Grenztoten in einem einzigen Jahr nichts wissen, aber weiterhin voll Rührung der 139 Berliner Mauertoten zwischen 1961 und 1989 gedenken?

Sicher. Auch hier verbieten sich Gleichsetzungen. Die einen wollten raus, die anderen dürfen nicht rein. Aber beide Male geht es doch um Tote an einer Grenze. Beide Vorgänge ins Verhältnis zu setzen, drängt sich förmlich auf, möchte man meinen.

Dann diese Verhältnisse: 2.000 Tote in einem Jahr zu 139 Toten in 28 Jahren! Auch wer nichts davon hält, Tote gegeneinander aufzurechnen, wird wohl zugeben müssen, dass die auch zwei Jahrzehnte nach Ableben der DDR anhaltende Empörung über den einen Fall in einem gewissen Missverhältnis zum allgemeinen Achselzucken im anderen Falle steht, nein?

Überhaupt die DDR. Wir beide mochten den Laden nicht. Nie. Wir mögen generell keine Mauern und keine militärisch gesicherten Grenzen. Wir sind von Haus aus Staatsskeptiker, und ein so penetrant aufdringliches Staatswesen wie die DDR konnte schon von daher unsere Sympathie niemals wecken. Gerade die neuesten Erkenntnisse, wie die Staats- und Parteiführung Teile der eigenen Bevölkerung für Experimente westlicher Pharmakonzerne regelrecht verhökert hat, zeigt den finalen moralischen Bankrott dieser angeblich sozialistischen Unternehmung namens DDR grell auf.

Experimente dieser Art werden im heutigen Gesamtdeutschland mehr oder weniger freiwillig durchgeführt, wie man weiß. Man bezahlt sozial Schwache für diese Dienste, die ihren Körper aus finanzieller Not zur Verfügung stellen. Ist das, rein humanitär gesehen, ein Unterschied? Ein gesellschaftlicher Fortschritt gar? Oder ist das nur die zeitgemäße Anwendung jenes Bonmots von Anatole France, wonach allen Menschen gleichermaßen verboten ist, unter Brücken zu schlafen: dem Bettler wie dem Millionär?

Zusammenhänge. Ist es nicht auch an der Zeit, zwischen der ewigen Stasi-Debatte und den Überwachungsskandalen neueren Datums einige herzustellen? Nicht mit dem Ziel, die Stasi zu verharmlosen, wovor die lächelnde Kanzlerin zu warnen die dreiste Albernheit besaß.

Wer, bitteschön, wollte so dämlich sein, die Stasi verharmlosen zu wollen? Wir sicher nicht. Aber ist es nicht von erlesenster Dämlichkeit, vor allem jedoch von der ausgesuchtesten Verantwortungslosigkeit, mit diesem Stasi-Hinweis jenen Überwachungsstaat zu verharmlosen, der aktuell nicht 18 Millionen DDR-Bürger, sondern die Weltbevölkerung in toto zu überwachen strebt?

Ja, die Verlogenheit des Diskurses in diesem Land ist atemberaubend!

So erregte man sich bis weit ins rot-grüne Lager hinein über eine Gruppe verzweifelter Asylbewerber, die im Sommer 2013 mit einem mehrwöchigen Hungerstreik auf dem Münchner Rindermarkt ihre Lage zu bessern suchte. Das Hauptargument dabei lautete unverdrossen: der Staat, der Staat, der Staat – er dürfe sich auf keinen Fall erpressen lassen.

Ach, wirklich? Lässt sich derselbe Staat nicht jeden Tag erpressen? Gibt er dem Druck von Großkonzernen und ihren lobbyistischen Heerscharen nicht täglich nach, sehr willig, geradezu devot? Diese Art der Erpressung sind wir gewohnt, und man erklärt sie zu Sachzwang, Standortpolitik oder wirtschaftlicher Vernunft. Wenn jedoch einige Flüchtlinge ihre Körper zur letzten Waffe machen, um im verzweifelten Hungerstreik für eine Besserung ihrer Lebensbedingungen zu kämpfen, fühlt sich der ganze große deutsche Staat sogleich erpresst?

Aber natürlich eignet sich ein solches Protestdrama vorzüglich, die Schwächung der Solidarität in der Gesellschaft voranzutreiben. Und manch ein schwarz-rot-grün-großdeutscher Bürger wähnt sich aufgerufen, jener durch die hungernden Leiber einiger Flüchtlinge drohenden Staatskrise im Furor empörter Landesverteidigung zu wehren. Prost, Deutschland!

Es ist höchste Zeit, unseren Sinn für Proportionen wieder zu aktivieren und einige Dinge in Zusammenhang zu setzen, die im öffentlichen Gespräch überraschenderweise als ganz und gar getrennt voneinander besprochen werden.

Beispielsweise NSA und NSU. Macht nicht alles, was wir inzwischen über den Überwachungseifer der Geheimdienste wissen, ziemlich unwahrscheinlich, dass drei international per Steckbrief gesuchte Menschen über zehn Jahre hinweg mitten in Deutschland leben und morden konnten, unbehelligt, ohne je entdeckt zu werden?

Wie kam es, dass die Verhaftung des Terror-Trios immer wieder unter dubiosesten Umständen scheiterte? Was stand in den Akten von Verfassungsschutz und BKA, die so dringend geschreddert und damit dem Zugriff der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse entzogen werden mussten?

Spricht nicht, was wir bisher wissen, und vor allem, was wir nicht wissen sollen, längst dafür, dass die Sicherheitsorgane nicht einfach nur in einer beispiellosen Serie von Pleiten, Pech und Pannen versagt haben? Sondern, dass es eine Hand gab, die aus staatlichen Sicherheitsorganen heraus schützend über die Mörder des NSU wachte und Ermittlungen, die in die richtige Richtung liefen, intern sabotierte?

Ganz ähnlich gelagerte Fragen stellen sich angesichts des staatlicherseits großzügig finanzierten V-Mann-Unwesens und nach all unseren Erfahrungen mit Polizeieinsätzen bei Nazi-Demonstrationen und Gegendemonstrationen ohnehin. Zudem passt die Mordserie des NSU perfekt zu jener berüchtigten »Strategie der Spannung«, die einzelne Bevölkerungsteile gezielt gegeneinander positioniert, um eine Entladung des gesellschaftlichen Drucks in kollektiven, solidarischen Aktionen durch einen geheimdienstlich installierten Bürgerkrieg zu verhindern.

Natürlich können wir das alles nicht beweisen. Niemand kann es beweisen. Dafür ist ja gesorgt worden. Aber wir erlauben uns, den Bilanzstrich unter die Summe der Ungereimtheiten zu ziehen. Und wir erlauben uns, die Beweislast umzudrehen. Wir sind dazu übergegangen, die offiziellen Versionen grundsätzlich erst einmal nicht zu glauben, bis deren Richtigkeit zweifelsfrei erwiesen ist.

Wir sind von daher auch nicht gewillt, jede Verlautbarung über »islamistischen Terror« unhinterfragt für bare Münze zu nehmen. Zu fragwürdig erscheint uns allzu oft das Timing von Terrorwarnungen und vermeintlich in allerletzter Sekunde verhinderten Anschlägen: justament immer dann, wenn sich Korruptionsskandale, Debatten über Bankenbailouts oder Lobbyismus oder über die NSA gar zu ausdauernd in der Öffentlichkeit halten.

Nach unserer Auffassung hat die Welt in der Tat ein Geheimdienstproblem, das die Bedrohung durch den Terror um Längen übertrifft. Dem fürchterlichen Wendehals Otto Schily sei entgegnet: Nicht die Furcht der Bürger vor dem Staat trägt wahnhafte Züge, sondern das Misstrauen des Staates gegenüber den Bürgern!

Oder ist das kein Misstrauen, sondern eine klare Strategie der präventiven Aufstandsbekämpfung? Wir zitieren hierzu Sebastian Nerz, ehemals CDU, heute Piratenpartei:

Zwischen 2001 und 2008 wurden »Kriege gegen den Terror« geführt, 24 Sicherheitsgesetze verabschiedet und die jährlichen Ausgaben zur Inneren Sicherheit um mehr als 10 Milliarden Euro erhöht. Seitdem hat sich das Tempo dieser Maßnahmen eher beschleunigt. Und das alles, obwohl Deutschland kein Terrorproblem hat.

In Deutschland sind seit dem 11. September 2001 weniger als zehn Personen in Zusammenhang mit Terrorismus gestorben. Demgegenüber stehen fast 100 Tote bei Sportunfällen, 5.000 Morde und knapp 50.000 Verkehrstote.

Die Wahrheit ist: Die Hysterie um Terrorismus ist ein psychologischer Trick.

Sebastian Nerz, Deutschland hat kein Terrorproblem, www.tirsales.de.

Nun hat Edward Snowden die annähernde Kollektivüberwachung der Weltbevölkerung durch westliche Geheimdienste öffentlich gemacht. Muss die Frage, was man den Geheimdiensten über Wanzen und Spähprogramme hinaus noch alles zutrauen muss, nicht spätestens jetzt gestellt werden?

Der Abgrund liegt einmal mehr unabweisbar vor uns da. Und diesmal sind wir doch gezwungen, einen Blick in diese dunklen Tiefen zu werfen, in die – Snowden sei Dank! – endlich etwas Licht dringt.

Prompt tritt für einen Moment das Imperium einer neuen, globalen Herrschaft aus dem Schatten medialer Nichtigkeiten. Wir erkennen dunkel die Umrisse eines weltweit operierenden Überwachungsstaates – und wer die Nase in diesen bösen Wind zu halten wagt, der kann auch den Verwesungsgeruch schmecken, der durch die Parlamente unserer Vorzeigedemokratien zieht.

Die ungebremste Eigendynamik der Geheimdienste läuft schließlich nicht aus allen Rudern, sondern lediglich aus denen der Demokratie und der öffentlichen Kontrolle.

Was eigentlich tut die Parlamentarische Kommission des Bundestages zur Kontrolle der Geheimdienste? Was kann sie tun? Was darf sie wissen? Wie genau kontrolliert sie die Geheimdienste, wenn Sargnägel wie PRISM und TEMPORA ins Holz der Demokratie gedroschen werden, und die Kontrolleure überhören die Hammerschläge?

Oder wusste man sehr genau Bescheid, und man hat die Errichtung dieses Überwachungsregimes durchgewunken?

Die lächelnde Kanzlerin wusste, wie üblich, von nichts. Und fast möchte man ihr glauben, so überzeugend naiv sieht sie aus, wann immer sie ihre Unwissenheit beteuert. Leider lässt diese Unwissenheit nur zwei Möglichkeiten zu: Entweder unsere Kanzlerin ist eine völlig unfähige Politikerin, oder eine dreiste Lügnerin!

Aber natürlich wird aus Washington gleich eine Parfümwolke hintendrein geschickt. Obama will jetzt ernst machen mit dem Kampf gegen die Klimakatastrophe, hören wir. Hurra. Die Rettung naht.

Ach, Barack! Was hast Du uns zu Tränen gerührt mit Deinen wunderschönen Worten, damals, 2008, als Du die Welt wach zu küssen schienst aus den apokalyptischen Alpträumen der Ära Bush. Wie wohltuend war Deine frohe Botschaft von Hoffnung und Veränderung für das verzagte Herz der westlichen Welt. Und wie wahr Du gesprochen hast, wie klug und kämpferisch und mutig und warm! Ein neues Bündnis wolltest Du stiften, für eine bessere, gemeinsame Zukunft. Und es schien fast in jener Nacht im November 2008, als dürfte nunmehr unsereiner ausrufen:

»Wir sind US-Präsident!«

Wir sind es nicht, und es graut in uns die Frage, ob Du selbst es recht eigentlich bist. Einen Staat hast Du gefordert und versprochen, der seinen Bürgern vertraut. Jetzt verteidigst Du den Leviathan, gibst den Blitzableiter des Überwachungsstaates, bläst die Trompeten zur Jagd auf die Whistleblower und präsidierst lächelnd über einem Geheimdienstskandal, der Watergate wie eine versehentlich geöffnete Postwurfsendung erscheinen lässt.

Das neue Geheimdienstzentrum in Utah (Baukosten: zwei Milliarden Dollar), errichtet zur noch effektiveren Kontrolle der weltweiten Kommunikation – es hat Deinen präsidialen Segen. Du, ehemals Professor für Verfassungsrecht, verteidigst den tiefen Staat, diesen unerträglich wuchernden Staat im Staat, die geheimen Gerichtsbeschlüsse, die staatliche Bespitzelung auch von Journalisten, Richtern und Abgeordneten.

Rette das Weltklima, Barack, und halte weiter deine wunderschönen Reden hinter Panzerglas. Die bundesdeutsche Nomenklatur wird Dir weiter zujubeln, wenn Du »unter Freunden« nur Deine Jacke ablegst, vor dem sommerlichen Brandenburger Tor.

Aber verwanzt man denn unter Freunden Botschaften und Behörden?

No Sir! Und wir möchten all den transatlantischen C-Promis, die dem längst verführten Führer der doppelt freien Welt auf dem Pariser Platz zu Berlin mit Klatschiklatsch und Dienstbotensprüchen huldigten, mit der stärksten Waffe antworten, die wir in deutscher Sprache besitzen, mit den Worten des heiligen Karl Kraus:

Längst müsste man doch sehen, dass diese Typen, aus allem Minus erschaffen, sich verbraucht haben; daß die Attrappen bersten, nicht tragfähig für die Fülle eingeredeten Inhalts; daß das Nichts als Persönlichkeit nicht weiter kann im Bewußtsein der satirischen Kontrolle, wenn Staatsaktion und Hanswurstspiel ineinanderspielen Zweifellos haben alle diese Würdenträger, die zur Schau gestellten und ihre Helfer, das Gefühl, auf Glatteis zu jener Tagesordnung zu schreiten, die nichts als Volksbetrug ist; aber da sie sich an der Hand halten, kommen sie hinüber. Wehe, wenn einer fiele; doch alle zusammen vermögen zu tanzen.

Karl Kraus, Vor der Walpurgisnacht, gekürzt von Prinz Chaos II.

Ja, die bundesdeutsche Nomenklatura tanzt die Pavane der Parvenüs, wenn Barack Obama vor dem großen deutschen Tor die Sinfonie der vollendeten Torheiten dirigiert. Aber wer diktiert unserem oratorischen Genie aus Illinois die Partitur?

Schließlich heißt das Imperium, das uns weltweit zu versklaven droht, nicht einfach »die USA« oder »die EU« oder »die BRD« oder »der Westen«. Wenngleich die staatliche Gestalt des Imperiums oft genug so heißen mag – oder auch: »Russland« oder »China« – müssen wir doch fragen, ob das Zeitalter der Nationalstaaten nicht in der Tat weit hinter uns liegt, während man uns die schlecht aufgeführte Operette des Nationenkampfes mit Unschuldsmiene als Weltpolitik zu präsentieren wagt.

In der wirklichen Welt regiert das Kapital der Konzerne. Die Anlageform öfter als die Schuhe wechselnd, kennt es keine dauerhafte Bindung an Länder, Völker, Staaten. Wo es sich in der realen Welt behindert sieht, nutzt es heute dieses, morgen jenes staatliche Gebilde für die ewig gleichen Zwecke eines weltweiten Klassenkampfs von oben.

Auch mit dem schlechten, alten, deutschnationalen Reflex, das ideelle Gesamtböse in Amerika zu verorten, ist deshalb wenig gewonnen. Der amerikanische Staat spielt eine besonders aggressive Rolle bei der Durchsetzung der Kapitalinteressen, aber die erfüllungshelferischen Bemühungen der EU-Kommission stehen dem nicht wirklich nach.

Wer aber ist »das Kapital«? Wir leben in einer bis zum Anschlag durchökonomisierten Welt, aber auch hinter jedem multinationalen Konzern und jeder Finanzkrake stehen am Ende konkrete Menschen, so superreich und supermächtig sie auch sind.

Diese Leute gibt es tatsächlich. Sie sind keine Außerirdischen und mutmaßlich auch keine Illuminaten, die im Erdinneren als Geheimbund wirken. Sie sind mit Körpern ausgestattet, die trotz aller Anstrengungen, sich durch medizinische Eingriffe (von der Schönheitsoperation bis zum genetischen Screening) von der herrschenden Klasse zur herrschenden Rasse zu erheben, den unseren nach wie vor nicht unähnlich sind.

Damit aber enden wohl die Ähnlichkeiten. Denn heutzutage kontrollieren 147 Konzerne (viele Banken darunter) etwa 50 Prozent der Weltwirtschaft. Diese sind zum Teil auch noch wechselseitig miteinander verflochten. Dies ist das Ergebnis einer Forschungsgruppe an der ETH Zürich.

Angesichts der Tatsache, dass im Grunde alle Unternehmen wie auch Banken hierarchisch bis autoritär geführt werden, haben wir es mit einer sehr überschaubaren Anzahl von Menschen zu tun, die kaum den deutschen Bundestag füllen würde. Die globalen Top-Unternehmer stellen damit eine demokratisch völlig unkontrollierte Weltregierung ohne jede Legitimation dar!

Nun rufen wir in diesem Text nicht etwa zum allgemeinen Kampf gegen das Privateigentum auf. Wir können uns allerdings andere und wesentlich bessere Methoden, die Verfügung über materielle Güter zu organisieren vorstellen. Diese anderen, gemeinschaftlichen Methoden werden in ungezählten Projekten weltweit getestet, und entgegen gängiger Klischees über verlotterte »Hippiekommunen« gibt es hier sehr erfolgreiche Modelle und ganze Netzwerke.

Über alles, was allgemein benötigt wird, sollte unserer Ansicht nach allgemein verfügt werden, beispielsweise über eine angemessene Wohnung, öffentliche Verkehrsmittel sowie über ein gutes Gesundheitssystem.

Darüber hinaus können wir uns eine solidarische Ökonomie sehr wohl vorstellen, und es kann nicht sein, dass unsere Demokratie auf dem Firmenparkplatz endet.

Trotzdem sehen wir Unternehmer und Eigentümer nicht per se als Gegner an. Wir kennen fabelhafte Unternehmerpersönlichkeiten mit einem ausgeprägten sozialen Verantwortungsgefühl. Es gibt Öko-Unternehmen, deren Wirken wir nicht anders als segensreich nennen können.

Diese Haltung mag uns Kritik aus dem Lager der Marxisten einbringen. Einmal, weil Ausbeutung in erster Linie keine moralische Kategorie ist, sondern ein soziales Verhältnis zwischen Menschen, in welchem der eine die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel hat, und die anderen haben sie nicht. Zweitens muss die Tendenz zur Zentralisation und Konzentration des Kapitals in einer auf Konkurrenz basierenden Marktwirtschaft immer aufs Neue zur Herausbildung von Monopolen führen.

Das sind nun sehr richtige Argumente, denen wir uns nicht verschließen. Wir stehen einer Menschenfreundlichkeit Marke Bill Gates mit feindseliger Skepsis gegenüber, und ziehen Kooperation dem Konkurrenzprinzip als Gestaltungsmechanismus jederzeit vor.

Unsere Lebenserfahrung zeigt uns aber sehr deutlich, welche Menschen Bündnispartner einer besseren Welt sind und welche nicht. Entscheidend sind für uns die moralischen Qualitäten, die Haltung in konkreten Situationen, Fragen des Charakters, die gewissermaßen philosophische Bilanz eines Lebens.

Dabei verkennen wir nicht, dass die jeweilige Sozialisation es schwieriger oder leichter machen kann, die weiße Weste des guten Menschen unbeschmutzt über die Lebenszeit zu bringen. Uns geht es aber nicht um weiße Westen. Und wir beide, weder unbefleckt noch in unschuldiges Weiß getaucht, haben weiß Gott keinen Grund, menschliche Schwächen an den Pranger zu stellen.

Der Sockel der Unfehlbarkeit ist uns schon vor der Zeit zerborsten, Symbolpolitik ist dem Ernst der Lage nicht angemessen, und echte Haltung beweist, wer sich Hände und Weste schmutzig zu machen bereit ist, weil Hilfe Not tut und Rebellion – oder weil er ehrlich verzweifelt und zerbricht an den Grob- und Gemeinheiten seiner Zeit.

Unser allergrößter Respekt und unsere Solidarität gelten dann auch denen, die in niedergedrückter Lage aufstehen und die Revolte dort beginnen, wo Widerstand am aussichtslosesten erscheint – wie die hungerstreikenden Flüchtlinge. Nur sehen wir nicht ein, warum der Mechatroniker eines Rüstungskonzerns unser natürlicher Bündnispartner sein soll, der Öko-Unternehmer aber automatisch unser Feind.

Ohnehin sind wir dafür, Worte wie »Feind« für sehr ausgesuchte Fälle zu reservieren, auch wenn wir einig sind, dass die Kategorie »Feind« aktuell dringend benötigt wird für einen sehr kleinen, leider sehr mächtigen Personenkreis.

Generell wollen wir lieber auf das Gemeinsame setzen, auf das, was halbwegs vernünftige Menschen zum gemeinen Wohle verbindet – und nicht nur Menschen, denn diese Welt besteht nicht aus unserer Spezies alleine. Sie hat sich lediglich zur Herrscherin über alles Leben aufgeschwungen. Somit sind wir alle, jeder und jede Einzelne von uns, für den Gesamtzustand des Planeten voll und ganz verantwortlich.

Wir leben in einer Epoche, von der spätere Generationen sagen werden, es sei die Zeit gewesen, als die letzten Baumzeugen vernichtet wurden. Manch alter Baum muss sich heute glücklich schätzen, wenn der Eigentumstitel des Landes, auf dem er seit Jahrhunderten wächst, bei im besten Sinne konservativen Personen oder bei Körperschaften liegt, die dieses heilige Naturerbe erkennen und bewahren. Die Grundlage dieses Baumglücks erscheint uns zwei alten Isar-Indianern allerdings von größter Fragwürdigkeit. Privateigentum an einem 500 Jahre alten Baum? So ein wundersames, machtvolles Wesen gehört sich ganz und gar selbst. Dass weiterhin Tag für Tag zahllose der letzten, noch überlebenden Baumriesen ermordet werden, oft, weil irgendein frisch gekürter Eigenheimbesitzer »mehr Licht« für sich fordert: ein Schandmal unserer Spezies!

Wenn wir nun schon über die Fragwürdigkeit des Eigentums sprechen: Uns ist durchaus bewusst, dass auch das Privateigentum an geistigen Erzeugnissen, an Wissen, Sprache und Tönen und Klängen, eine sehr hinterfragenswerte Angelegenheit ist. Die Kostenlosigkeit dieser Kampfschrift, in dieser Form geradezu eine Sensation innerhalb der Verlagslandschaft, soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir gegenwärtig Verfechter des geistigen Eigentums und grundsätzlich Befürworter eines funktionierenden Urheberrechts sind.

Gerne können wir darüber reden, wie wir das Urheberrecht im digitalen Zeitalter verbessern können. Die GEMA ist zweifellos bis zum Anschlag reformbedürftig. Aber diese Reformen haben im Interesse derer stattzufinden, die Kultur schaffen, ermöglichen und lieben in diesem Land.

Dazu gehören wohlgemerkt auch die großen und kleinen Theater, die Veranstalter, die Labels, die Tontechniker, die DJs und die Studiomusiker. Die Kulturlandschaft als ganze soll erblühen – und für alle!

Aber »systemirrelevant«, wie die Kultur scheinbar ist, trocknet sie finanziell aus, und dass es nur unsere Arbeit als Komponisten und Autoren umsonst geben soll, weil wir eben Kunst produzieren, während wir selbst vom Bäcker bis zur Tankstelle bezahlen wie alle anderen auch – no way! »Betteln Online« (Crowdfunding) und »Werbung schalten« sind keine akzeptablen Alternativen. Kunst braucht vernünftige Arbeitsbedingungen, und welcher junge Bildhauer kann sich heute noch in München oder Hamburg ein Atelier leisten? Wer bezahlt angehenden Musikern ihre Instrumente, die Studiotage, den Unterricht?

Wir sind also weder grundsätzlich gegen Eigentum noch gegen Unternehmer. Wir sind gegen die Macht des Finanzkapitals und der Konzerne. Für den Moment heißt das Problem, mit dem sich die überragende Mehrheit der Weltbevölkerung konfrontiert sieht, nämlich nicht so sehr Privateigentum.

Es heißt Perverseigentum.

Wir sind schlicht und ergreifend dagegen, dass ein einzelner Mensch in die Lage kommt, über Milliarden zu verfügen. Eine solche Zusammenballung von Macht ist eine welthistorische Verirrung. Sie kann weder denen gut tun, die solchen Reichtum besitzen, noch unserer Spezies, noch dem Planeten. Ein derartiges wirtschaftliches Ungleichgewicht ist auch mit einer Demokratie unvereinbar.

Was Demokratie in ihrer Interpretation als »Herrschaft der Mehrheit« anbetrifft, haben wir wiederum einige offene Fragen, speziell in Bezug auf das Mittel der Kampfabstimmung, die unsere Welt zuverlässig in Mehrheiten und Minderheiten spaltet. Wir sind dafür, auch an dieser Stelle unseren geistigen Horizont zu öffnen, andere Möglichkeiten kollektiver Entscheidungsfindung zu entwickeln und zu erproben.

Alternative, demokratischere Modelle müssten einen gewissen Pragmatismus zur Grundlage haben. Nötig wäre, gesellschaftliche Entscheidungsprozesse aus der Logik von Sieg und Niederlage zu befreien und in der Breite der Bevölkerung ein lösungsorientiertes Gespräch über Probleme und Potentiale zu organisieren. In einer solchen Verständigung wäre dann schön, wenn nicht nur technische Aspekte, Zahlen und Daten eine Rolle spielen würden, sondern auch emotionale und ästhetische »Faktoren« zu ihrem Recht kämen.

Auch deswegen brauchen wir wieder Künstlerinnen und Künstler, die Kunst als ein gesamtgesellschaftliches Arbeitsfeld verstehen und in die Auseinandersetzungen ihrer Zeit mit den Waffen des Geistes und feurigen Herzen eingreifen.

Wenn die wirtschaftliche Macht aber so himmelschreiend ungerecht verteilt ist, wie es im Moment der Fall ist, kann weder von einem lösungsorientierten Diskurs noch überhaupt von einer funktionierenden Demokratie die Rede sein. Dann gleicht das Ergebnis eher einer wirtschaftlichen Apartheid, und der kulturelle Mainstream wird das Sun City einer Segregation, wo gegen beste Bezahlung nur jene Musiker auftreten dürfen, die der Macht ein Ständchen singen.

Macht und Ohnmacht. Auch »der Staat« oder »die Öffentlichkeit« bestehen am Ende aus lauter einzelnen Menschen, in Parlamenten, Behörden, Ämtern, Redaktionen und Verlagshäusern. Und diese Einzelnen sind angesichts einer alle Proportionen sprengenden Machtkonzentration im Regelfall wehrlos.

Wehren sie sich doch, mag es ihnen gehen wie der Whistleblowerin Chelsea Manning, die ein Massaker der US-Truppen ans Tageslicht brachte und dafür im Gefängnis büßt. Oder wie Gustl Mollath, dessen Versuch, einen Bankenskandal aufzudecken, ihm sieben Jahre in der Zwangspsychatrie einbrachte. Oder man schickt gegen allzu mächtige Finanzkriminelle allzu erfolgreiche Finanzbeamte kurzerhand in Frühpension, wie in Hessen.

Diese Leute sind Helden einer demokratischen Öffentlichkeit und Märtyrer eines ungebrochenen Bürgersinns. An ihnen werden Exempel statuiert, die uns warnen sollen, gleichfalls in den Kampf gegen das Imperium einzutreten. Sie sollten uns eher Ansporn sein, genau das en masse zu tun.

Denn sollte der Überwachungsstaat nicht komplett enttarnt und abgebaut werden, stehen die Chancen miserabel, auch nur die offenkundig sinnvollsten Reformen durchzusetzen.

Das wäre ärgerlich, entspräche aber genau dem Muster der letzten Jahrzehnte. Die Antworten auf die zentralen Menschheitsfragen liegen schließlich gar nicht so sehr im Reich welthistorischer Utopien. Viel eher geht es doch um eine Reihe überaus machbarer, unstrittig sinnvoller Maßnahmen.

Gerade die Umweltpolitik zeigt das. Die letzten hundert Jahre haben unvorstellbare technologische Sprünge mit sich gebracht. Wir sind vom Telegrafen zum Smartphone und von der Erfindung des Mikroskops zur Nanotechnologie vorangeschritten. Es gibt keinen wissenschaftlich-technologischen Grund, dass wir im gleichen Zeitraum über den Verbrennungsmotor nicht hinausgekommen sind und immer noch mit unseren stinkenden Autos die Luft verpesten. Es gibt lediglich ein wirtschaftliches Interesse namens Öl, das die Entwicklung besserer Lösungen konsequent bekämpft. Das ist alles. Hätte man das Elektroauto drei Jahrzehnte lang so dringend gewollt wie andere technologische Errungenschaften (etwa unbemannte Kriegsdrohnen), dann hätten wir heute in jedem Auto einen Elektromotor oder ein anderes, umweltverträgliches Antriebssystem.

Wenn man uns erzählt, die Entwicklung des Elektromotors zur Serienreife sei in den letzten dreißig Jahren aus diesem oder jenem Grund »nicht möglich« gewesen, lügt man uns folglich an. Es wäre sinnvoll, solche dreisten Lügen ab sofort auch umstandslos genauso zu nennen: dreiste Lügen. Die beschönigende Sprache können wir getrost den Katastrophengewinnlern überlassen.

Auch dass die weltweite Plastikwelle rollt und rollt, dass die Weltmeere und ganze Landstriche vermüllt werden, hat nicht den geringsten objektiven Grund außerhalb der Tatsache, dass Plastik (der Ostdeutsche sagt, richtigerweise: Plaste) wiederum auf Öl basiert. Ansonsten sollte es ein leichtes sein, auf umweltverträglichere Verpackungsmaterialien umzusteigen.

Oder Friedenspolitik. Die sicherste Methode, eine Entmilitarisierung der Welt durchzusetzen, besteht darin, die Produktion und den Verkauf von Kriegswaffen zu untersagen. Wie kommt es, dass die BRD bei allem Geschwurbel über unsere historische Verantwortung mehr als je zuvor Waffen produziert und in die Kriegs- und Krisengebiete aller Welt liefert?

Die bessere Welt scheitert nicht an objektiven Schwierigkeiten, sondern an der Macht derer, die an der Schlechtigkeit glänzend verdienen. Auch die massive Verschuldung der Staaten ist kein Naturereignis, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen. Statt »Verschuldung« ist eher von einer Ausplünderung der Staatshaushalte durch Banken und Konzerne zu sprechen.

Werden wir von Soziopathen beherrscht? Sind nicht der sogenannte einfache Mann, die einfache Frau, großteils empathischer und liebenswerter, sensibler und sanfter als all die Führer und Herrscher, Technokraten und Bürokraten, die sich aufspielen, den Gang der Menschheit zu leiten? Die sich und uns einreden, sie wüssten wo Gott wohnt und wer er sei und was er sagt und mit welcher noch so absurden Ideologie man die Geschichte zum Besseren lenken könnte?

Ja, es ist traurig, und ja, es ist wahr: Es gibt tatsächlich Menschen, die keine Skrupel haben, das Ökosystem des Planeten zu schädigen, durch Nahrungsmittelspekulation Hungersnöte auszulösen oder Kriege anzuzetteln und anzuheizen, um bedruckte Papierschnipsel einzuheimsen oder Zahlen auf einem Konto zu erhöhen.

Erneut: Diese Leute haben Körper, wenngleich ihr Geist einen menschlichen Abgrund darstellt und jener Teil der Menschheit, der halbwegs bei Trost ist, zur Sicherung des eigenen Überlebens dringend Wege finden muss, ihnen das Ruder der Welt aus der Hand zu schlagen.

Friede den Hütten – Krieg den Palästen! Diese geldsüchtigen Irren gehören gebrandmarkt, geächtet, aus dem Geschäftsverkehr gezogen und gesellschaftlich unschädlich gemacht. Nach den an die 99% der Menschheit gerichteten Titeln »Empört Euch« und »Engagiert Euch« und »Vernetzt Euch« rufen wir ihnen deshalb auf gut Bayerisch zu: »Schleicht’s euch!« (»Haut ab!«).

Aber Vorsicht! Die besondere Intelligenz des Psychopathen besteht gerade darin, allen anderen vormachen zu können, er sei ein wohlmeinender Mensch, ein netter Kerl und guter Kumpel, einer von uns.

Leider ist der hoffnungsfrohe Glaube, dass diese Leute von selber zur Besinnung kommen und ihr verantwortungsloses, zerstörerisches Tun unterlassen werden, höchstwahrscheinlich irrig. Die in Luxusyachten auf der Schaumkrone des globalen Krisentsunami segeln, werden niemals von selber aufhören, aus dem Leid der Menschen und Tiere und der Zerstörung des Planeten Profit zu ziehen.

Schluss mit diesem miesen Hoffen auf die Mitmenschwerdung der Superreichen! Die Schreie und das Leid von Milliarden, der oft gelobte »Bewusstseinswandel« in ökologischen Fragen oder gut gemeinte Appelle an die Menschlichkeit oder die Vernunft werden diese Leute in ihren quasimilitärisch abgesicherten Wohnorten nicht erreichen.

Selbst die Krise des globalen Kapitalismus lässt sie nicht umdenken. Das dürfen wir seit 2007 täglich mit ansehen. Die Geldsüchtigen und Machtjunkies greifen im Gegenteil nur umso gieriger nach allem, was sie in die Finger bekommen. Erst reißt ihre Beschaffungskriminalität ganze Landstriche ins Desaster. Dann wandeln sie mittels millionenschwerer »Boni«, die sie als Anerkennung ihres zerstörerischen Wirkens erhalten, virtuelles Spekulationsgeld in echten Besitz um, kaufen Häuser, Grund und Boden. So erobern die Finanzirren nach und nach die ganze Welt.

Gibt es kein Umsteuern des einen oberen Prozents, kann die Hoffnung darum nur im Aufbegehren der verbleibenden 99 Prozent liegen; in der Revolte der Menge. Und dann kommt alles auf deren Kultur und zwischenmenschliche Intaktheit an, um zu verhindern, was Goethe über die Französische Revolution schrieb:

Frankreichs traurig Geschick, die Großen mögen’s bedenken;

Aber bedenken fürwahr sollen es Kleine noch mehr.

Große gingen zu Grunde: doch wer beschützte die Menge

Gegen die Menge? Da war Menge der Menge Tyrann.

Goethe, Frankreichs traurig Geschick, aus den venezianischen

Epigrammen, S. 65.

Besonders aufschlussreich, was die Chancen auf ein freiwilliges Umsteuern der Superreichen anbetrifft, ist die Phase vor der Französischen Revolution.

Mit den Aufklärern war damals längst eine geistige Gegenmacht entstanden, die das alte, religiös geprägte Weltbild in die Defensive zwang. Voltaire thronte als Ein-Personen-Großmacht auf seinem Landgut zu Ferney über dem intellektuellen Leben Europas. Nicht nur im Volk, auch im Adel und im Klerus Frankreichs gab es erhebliche Unruhe.

Einer einflussreichen Fraktion war die Notwendigkeit tiefgreifender Veränderung bewusst geworden. Nicht so sehr um die eigenen Privilegien vorauseilend zu verabschieden, sondern um sie für die Zukunft zu sichern, wie sich versteht. Die chronisch leeren Staatskassen, die Unfähigkeit der Verwaltung, erste Wellen der Empörung im Volk und die deprimierende wirtschaftliche Trägheit Frankreichs trieben die klügsten Köpfe, wie etwa den damals noch als Kleriker wider Willen agierenden Charles Maurice Talleyrand-Perigord zur Verzweiflung – und zu kühnen Reformanläufen.

Nicht nur Talleyrand-Perigord scheiterte mit dem Versuch, eine rechtzeitige Modernisierung von oben einzuleiten. Mit seiner großangelegten Verwaltungsreform zerschellte er an der Beratungsresistenz eines Ancien Regime, das auch dann noch nicht die Zeichen der Zeit erkannte, als in den Vorstädten die Wut bereits gefährlich kochte.

Dass die blutige Schrift an der Wand von den wesentlichen Entscheidungsträgern nicht gesehen wurde, zeugt nicht nur von deren soziopathischer Gier, sondern auch von der Undurchdringlichkeit jenes Paralleluniversums, in dem sich die damalige Aristokratie mehrheitlich bewegte. Davon, was sich in der Volksmenge zusammenbraute, bekam sie entweder nichts mit oder man hielt, weich gebettet in den Selbstverständlichkeiten jahrhundertelanger Macht, die Bewegung der Menge schlichtweg für unerheblich.

Mit diesem Abblocken der Reformbemühungen von oben verlegte Ludwig XVI. sich und den Seinen den letzten Ausweg aus einer festgefahrenen und zunehmend unhaltbaren Situation. Er sprach sein eigenes Todesurteil.

Es gibt nun einen ganz konkreten Moment, in welchem wir beide zu der Erkenntnis gelangten, dass eine rechtzeitige Reform durch einsichtige Kreise an der Spitze auch diesmal wieder am Realitätsverlust der Weichgebetteten zerschellen wird.

Vor gut fünf Jahren, zu Beginn der Weltfinanzkrise, gab es in der City of London eine große Demonstration gegen die Abwälzung der Finanzkrise auf die Normalbevölkerung. Ganz davon abgesehen, dass die Demonstranten selbstverständlich von der Polizei brutal angegriffen wurden, ereignete sich dabei folgende Szene:

Mehrere Angestellte von Investmentbanken machten sich an den offenen Fenstern stehend ein Gaudium daraus, mit Banknotenbündeln in den Händen grinsend und johlend nach unten zu winken.

Mehr noch als die schiere Unverschämtheit des Vorgangs, fanden wir den in dieser Geste erkennbaren Mangel an Furcht be- und verachtenswert. Man sieht hier eine Generation von Spielsüchtigen, denen jegliches Bewusstsein dafür abhandengekommen ist, dass eine solche Bewegung weit unten in den Straßen auch einmal in die Bankpaläste eindringen könnte, dass nur ein paar Glasscheiben und Treppenstufen die enthobene Sphäre geliehener Pseudomacht von der ohnmächtigen Wut der Menge trennen. Diese Leute haben offenkundig vergessen, dass ähnliche Situationen mit abgeschnittenen Köpfen geendet haben.

Konstantin hat für sein jüngstes Programm Erich Kästners Gedicht »Ansprache an Millionäre« vertont. Darin heißt es:

Warum wollt ihr euch denn nicht bessern?

Bald werden sie über die Freitreppen drängen

und euch erstechen mit Küchenmessern

und an die Fenster hängen.

Ihr seid die Herrn von Maschinen und Ländern.

Ihr habt das Geld und die Macht genommen.

Warum wollt ihr die Welt nicht ändern,

bevor sie kommen?

Ihr seid nicht klug. Ihr wollt noch warten.

Uns tut es leid. ihr werdet’s bereuen.

Schickt aus dem Himmel paar Ansichtskarten!

Es wird uns freuen.

Erich Kästner, Ansprache an Millionäre, gekürzt von

Konstantin Wecker, S. 177.

Die Millionäre Kästners sind heute wohl eher mit Milliardären oder Milliardenunternehmen vergleichbar. Die Mentalität bleibt sich gleich. Sowohl die Superreichen aller Epochen als auch die niederen Chargen, die deren Vermögen verwalten, glauben einfach nicht daran, dass von dort unten her irgendjemand oder irgendetwas je in ihre Schachertempel und Gated Communities dringen könnte.

Die Geldaristokraten verwechseln die Spekulationsblase, in der sie leben, eben in der Tat mit dem Himmelreich und halten dessen wolkige Pforten für unüberwindlich.

Was für ein Realitätsverlust grassiert in diesen Kreisen?

Der Prinz hat einen jungen Investmentbanker in seinem Bekanntenkreis. Mit gerade 24 Lenzen schiebt dieser fröhliche Mensch an einem Computer sitzend täglich Beträge von bis zu fünf Millionen Euro hin und her. Was ein solcher Alltag in der Psyche ohnehin zu Omnipotenzillusionen neigender Männer dieses Alters anrichtet, zeigt sich in der recht weiträumigen Behauptung dieses Jungbrokers, wonach sich »einmal in jedem Zeitalter die Besten einer Generation an den Weltbörsen treffen«.

(Und wir dachten immer, die Besten einer Generation studieren allesamt Geige! So weit können Weltanschauungen auseinanderliegen …)

Freilich ist unser junger Investmentbanker noch mit anderen Börsianerweisheiten ausgestattet. Etwa der, wonach ein jeder Mann auf seinem Karriereweg »einmal den Brutus machen« müsse, um ganz nach oben zu kommen. Eine solche Erhöhung blanker Illoyalität aus niedersten Motiven ins Weltanschauliche sagt eventuell noch mehr über den geistigen als über den moralischen Zustand dieser Handlanger aus.

Denn Handlanger bleiben sie, auswechselbare Klicksklaven der wahren Macht der Monopole, in welche Elitestellung sie sich auch hineinfantasieren.

Schließlich kommt das Wort »Elite« von dem lateinischen eligere: auswählen. Die Elite sind folglich die »Auserwählten« und da stellt sich die Frage, wer solche Früchtchen auswählt, per Mausklick Entscheidungen zu treffen, die verheerende Konsequenzen zeitigen und unzählige Existenzen vernichten können.

Im Falle der französischen Aristokratie war der Glaube vorherrschend, diese Auswahl sei durch Gott vorgenommen worden. Vergleichbare Auffassungen sind heute in Finanzkreisen eventuell weiter verbreitet als man annehmen möchte. Die obigen Zitate liefern gewisse Hinweise, dass man drauf und dran ist, sich in eine regelgerechte Börsianer-Esoterik hineinzusteigern.

Auch das liegt ganz auf der gewöhnlichen Linie vorrevolutionärer Zeiten. Je poröser der Boden unter den gesalbten Füßen, desto höher fliegen die Grillen von der Unüberwindlichkeit der eigenen Machtstellung. Den Abgrund nicht zu sehen, gelingt eben besonders gut, wenn man sich weit über den Dingen wähnt.

Auch das hat der heutige Geldadel mit der französischen Aristokratie gemeinsam – wenngleich man dem französischen Ancien Regime zugutehalten muss, dass es mit all dem zusammengeräuberten Überfluss immerhin in Fragen der Architektur, der Inneneinrichtung, der Küche und der Musik einen Geschmack kultivierte, der unserer heutigen »Elite« auch noch zur Gänze fehlt.

Der Abgrund ist aber da, auch für die Geldsüchtigen, deren eskalierende Sucht immer riskantere Aktionen notwendig macht. Die Klügeren unter ihnen haben es längst bemerkt, wie etwa Georg Kofler, der frühere Chef des Senders Premiere, der wenige Monate vor Beginn der Finanzkrise völlig überraschend den Großteil seines Aktienpakets veräußerte und mit dieser Entscheidung bis heute einigermaßen zufrieden sein dürfte.

Weniger zufrieden darf sich der bayerische Staat schätzen, den die Spekulationsstrategie der Bayerischen Landesbank in einen Abgrund der Verschuldung geritten hat.

Wer übernimmt die Verantwortung? Welcher jener Wirtschaftsverbrecher, die für das Finanzdesaster der letzten Jahre verantwortlich sind, sitzt hinter Schloss und Riegel? Wer von ihnen musste für die durch wilde Spekulation und direkten Betrug verursachten Schäden persönlich haften?

Eigenverantwortung? Dieses Credo neoliberaler Gesellschaftspolitik gilt eben nur für die Opfer, nicht für die Vollstrecker der neoliberalen Wirtschaftstheorie.

Gewinne werden privatisiert. Verluste vergesellschaftet.

Und während dreistellige Milliardenbeträge zur Errettung »notleidender Banken« jederzeit aus dem Staatsärmel geschüttelt werden können, werden die Forderung nach der Wiedereinführung der Vermögenssteuer und sogar die Idee einer Spekulationssteuer ins Reich kommunistischer Wahnvorstellungen verwiesen.

Es sind solche Absurditäten, die bei einer gewissen Häufung doch nach und nach auffallen und bei gleichzeitiger Verarmung der Normalbevölkerung dazu beitragen könnten, auch aus dem ewigen Meckern und Lamentieren der Deutschen endlich einmal etwas werden zu lassen, das den Namen Revolte rechtfertigt.

Verarmung der Normalbevölkerung? In Deutschland? Ja, in Deutschland. Entscheidend sind dabei nicht so sehr ein abstrakter statistischer Wert oder auch die sehr konkreten Reallohn- und Kaufkraftverluste der letzten zwanzig Jahre. Die wirkliche Verarmung besteht im Verlust wirtschaftlicher Sicherheit, der heute geradezu allgemein geworden ist. Vor allem dank der Eingriffe der rot-grünen Regierung Gerhard Schröders ist die Durchlässigkeit der Gesellschaft enorm verbessert worden – soweit es um ihre Durchlässigkeit nach unten geht.

Selbst jahrzehntelange Einzahlung in die Sozialversicherung schützt bei plötzlicher Arbeitslosigkeit nicht mehr vor dem Sturz in den Abgrund. Und dass auch in diesem Fall der Abgrund zwar immer wieder verdrängt, aber dennoch von den meisten gewusst wird, ist von einer ungeheuer disziplinierenden Wirkung auf diejenigen, die noch mit einem Arbeitsplatzes gesegnet sind und sich demzufolge glücklich zu schätzen haben – und nicht etwa ausgebeutet.

Was die anderen, die »Nichtwisser« angeht, gilt, was der Historiker und Sozialaktivist Holdger Platta so beschrieben hat:

Hartz IV hat millionenfach Mitmenschen abgeschoben auf einen fernen elenden Kontinent. Es stellt insofern nur noch eine optische Täuschung dar, dass diese Menschen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft wohnen. In Wirklichkeit leben sie längst schon anderswo: in der Mülltonne unserer Demokratie, dort, wo längst schon unsere Verfassung gelandet ist.

Holdger Platta, www.hinter-den-schlagzeilen.de.

Soziale Angst ist zum zentralen Instrument der Herrschaft geworden. Den Versuch, durch Argumente zu überzeugen, haben die Herrschenden längst aufgegeben.

Aber die unaufhörlichen Angstkampagnen sind von kaum absehbarer Gefährlichkeit. Hannah Arendt schreibt über einen bestimmten Typ von Mensch, dessen sich die Nazis für ihre teuflischen Pläne zuverlässig bedienen konnten. Dieser Typ ist der gewöhnliche Familienvater, der »treusorgende Hausvater«, dem die Sicherheit seines Privatlebens über alles geht.

Es hatte sich herausgestellt, dass er durchaus bereit war, um der Pension, der Lebensversicherung, der gesicherten Existenz von Frau und Kindern willen Gesinnung, Ehre und menschliche Würde preiszugeben.

Hannah Arendt, zitiert nach Alois Prinz, S. 125.

Alois Prinz schreibt in seiner Biographie über die große Philosophin:

Was diesen »Spießer«-Typus für Hannah Arendt vor allem kennzeichnet, ist seine totale Gleichgültigkeit gegenüber der Frage, wie eine allen gemeinsame Welt aussehen und wie sie überdauern soll.

Alois Prinz, Beruf Philosophin, S. 126.

Wird dadurch vielleicht verständlicher, warum wir Deutschen auch heute so die Augen verschließen gegenüber dem ungeheuren Leid, das nicht zuletzt unsere Finanzpolitik der Härte, diese »alternativlose« Politik der lächelnden Kanzlerin, den südlichen Ländern Europas zufügt?

Die beschämende Duldsamkeit der deutschen Bevölkerung gegenüber den Zumutungen der vermeintlichen Elite ist zumindest auch dadurch zu erklären, dass man die Alternative immer wieder sehr plastisch vor Augen geführt bekommt: Sei bloß brav, deutscher Michel, sonst geht es Dir wie den Griechen oder den Portugiesen, oder wie Deinem früheren Nachbarn, der arbeitslos wurde und daraufhin sein Haus verloren hat.

Genau aus diesem Grund ist tätige Solidarität mit Griechen und Portugiesen und arbeitslosen Nachbarn nicht nur moralisch geboten, sondern von größter strategischer Bedeutung. Wie die Errichtung einer Billiglohnzone in der ehemaligen DDR die ideale Voraussetzung war, um dann auch das Lohnniveau der Westdeutschen kontinuierlich in den Keller zu drücken, sollte die Abstrafung Griechenlands durch die Finanzmärkte als das erkannt werden, was sie ist: die Eröffnungsschlacht in einem Generalangriff auf die Lebensverhältnisse in Europa. Erfolgreicher Widerstand der Griechen ist deshalb umgekehrt auch ein Erfolg für uns.

Für uns? Bereits in der Debatte um die rassehygienischen Thesen Tilo Sarrazins war erkennbar, wie ein wohlmeinender Antirassismus traditioneller Prägung, der darauf abhebt, dass »wir« und »die« sich nicht »gegeneinander« ausspielen lassen sollten, und dass »die« eigentlich gar nicht so anders sind als »wir«, an seine Grenzen stößt. Wer nicht erkannt und vor allen Dingen verinnerlicht hat, dass die Zeiten eines »Wir« und »die Anderen« entlang solcher Trennungslinien vorbei sind, steht einem Rassismus hilflos gegenüber, der nicht völkisch argumentiert, sondern »kulturell«.

Nun wird niemand uns beiden in Abrede stellen wollen, der deutschen Kultur und ihrer Sprache auf das Innigste verpflichtet zu sein. Wir sind ihr geradezu ausgeliefert, und im Gegensatz zu all denen, die Goethe und Schiller nur anlässlich von Fußballweltmeisterschaften als Maskottchen einer Nation der Dichter und Denker anführen, aber niemals lesen, sind wir dieser Kultur auch tätig treu.

Was für einen Kulturverrat begeht dagegen unsere Bildungspolitik? Welches Massaker an den Geisteswissenschaften unsere Universitäten erlebt haben, spottet jeder Beschreibung. Und zu den beklagenswertesten Aspekten der Verarmung in Deutschland gehört die musische und sprachliche Verarmung.

So leistet sich dieses immer noch stinkend reiche Deutschland ein Schulwesen, in dem selbst an den Gymnasien von einem Musikunterricht kaum noch die Rede sein kann. Der Deutschunterricht verkommt zunehmend zu einer Art literarischem Bewerbungstraining. Das ist nun, weiß Gott, kein Angriff auf Musik- und Deutschlehrer, die unsere Empörung über die Trockenlegung ihrer Fächer übrigens teilen. Und auch und gerade die Schülerinnen und Schüler der Haupt- und Realschulen haben ein Recht auf musische und literarische Bildung.

Dass diese Kompetenzen im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Kenntnissen »wirtschaftlich nichts bringen«, ist nebenbei bemerkt ein lächerlich engstirniger, veralteter und ganz einfach falscher Ansatz. Aber vielleicht wird die Auseinandersetzung mit deutschsprachiger Literatur und der ihrem Wesen nach weltbürgerlichen Musik auch darum behindert, weil Literatur und Musik Tore zum Bewusstsein eines Lebens ohne nationale und kulturelle Beschränktheiten sind? Wer Literatur und Musik fördert, fördert das kritische Weltbürgertum. Doch nicht jeder scheint die Gefahren einer einseitigen Schulbindung zu sehen – eine schädliche, gemeingefährliche und nicht zu tolerierende Einstellung.

Wo das Kapital der Konzerne weltweit agiert, ist eine Bürgergesellschaft, die immer noch im »Wir« und »die Anderen« von Völkern und Nationen denkt, von vorneherein chancenlos. Und wer sich selbst im streikenden Griechen, dem schwulen Russen und in den Kindern asiatischer Textilfabriken nicht erkennt, hat sich selbst und seine eigenen Interessen nicht erkannt.

Solidarität! Der Schritt zu einer globalen Demokratie kann nur eingeleitet werden, wenn wir uns von nationalen Identitäten lösen und Homophobie, Frauenunterdrückung und alle anderen Diskriminierungsformen ein für alle Mal auf den Müllhaufen der Geschichte werfen, die Menschen die Art und Weise ihres Menschseins diktieren oder absprechen wollen. Nur so wird genug Einigkeit entstehen, um dem drohenden sozialen Apartheidstaat ein massenhaftes Aufbegehren entgegenzusetzen.

Ist ein solcher Abschied von den ideologischen Dämonen der Vergangenheit möglich? Ist die Menschheit reif für ein Ende der Rassismen unterschiedlichster Ausprägung, obwohl die Meinungsarrangeure des Status Quo mit ihren endlosen Sarrazinaden engagiert dagegenhalten?

Es wird quer durch alle Denkrichtungen und Lager anerkannt, dass wir uns als Weltgesellschaft inmitten einer gewaltigen Transformationsbewegung befinden. Die schöpferischen Potentiale dieser Umwälzung werden, je nachdem, wo man bewusstseinsmäßig eingeparkt hat, sehr unterschiedlich charakterisiert: als dritte industrielle Revolution, als Aufbruch in die Wissensgesellschaft, als Globalisierung der Produktion, als Übergang von der analogen zur digitalen Welt, als Geburtswehen einer globalen Bürgergesellschaft, als Abschied vom kopernikanischen Paradigma oder Beginn des Wassermannzeitalters.

Die Empfindung, dass unter unseren Füßen die Plattentektonik der Weltgeschichte machtvoll in Bewegung geraten ist, ist all diesen Versuchen, die Veränderung positiv zu begreifen, ebenso gemein, wie den zahlreichen Deutungsversuchen aus einer apokalyptischen Erwartungshaltung heraus.

Nun sind wir uns beide, wie wir ausführlich offenbart haben, der Fehlentwicklungen, der gewaltigen Gefahren und Katastrophenszenarien sehr bewusst, die im derzeitigen Weltzustand als Zukunftsoptionen bereitliegen. Den Apokalyptikern wollen wir dennoch mit Egon Friedell entgegnen, dass sich die in der Menschheitsgeschichte periodisch auftretenden Phasen vermeintlicher Weltuntergänge mitunter als Beginn eines Weltaufgangs erwiesen haben.

Tatsächlich ist in den letzten Jahrzehnten auch sehr viel Gutes und Neues gewachsen neben all den Schrecklichkeiten.

Viele Menschen haben den Schritt bereits vollzogen, das neue Leben nicht nur zu fordern, sondern selber zu beginnen. Es gibt, auch in Deutschland, eine beachtliche Menge unterschiedlichster Projekte, in denen Menschen sich den Schwierigkeiten und Schönheiten des gemeinsamen Lebens stellen. Die Wirkung dieser Projekte mag im Ganzen marginal erscheinen. Als Laboratorien der besseren Welt sind sie von unschätzbarer Wichtigkeit.

Auch außerhalb solcher Gemeinschaften und Projekte beginnen Menschen, mit ihrem Potential, mit ihrer Geistigkeit, an einer neuen Gesellschaftsordnung zu arbeiten. Dabei setzen sie große Utopien im Kleinen durchaus um. Das Ziel, gewaltfrei zu leben, ist im Weltmaßstab noch eine Utopie. In vielen Familien ist es eine Realität und die Kinder, die in diesen gewaltfreien Zonen aufwachsen durften, sind die natürliche Hoffnung der Welt.

Experimentierfelder eines solidarischen, radikaldemokratischen Prinzips bleiben aber zwingend prekär, solange die Welt nach Maßgaben einer diktatorischen, imperialen Kapitalherrschaft organisiert bleibt. Dann verzichten wir eben voller Umweltbewusstsein auf die Plastiktüten beim Einkaufen – und die Ölmonopole sorgen dafür, dass wir von der Käseverpackung bis zur Plastikschale für die Erdbeeren und der Plastikfolie rund ums Toastbrot Berge von Plastik in unsere Stoffbeutel stopfen.

Ja, die Politik der kleinen, sinnvollen Schritte wird ausgeglichen durch Riesenschritte auf den Abgrund zu. Es muss einen Sprung in die richtige Richtung geben, um den großen Absturz zu verhindern.

Wenn Systeme sterben, kann sich die Agonie andernfalls über Generationen der Finsternis hinziehen. Die Tarotkarte »Tod« bedeutet eben nicht, wie der Kartenname ja auch mit hinlänglicher Eindeutigkeit ausdrückt: »Neuanfang«. Der Tod kann natürlich das Tor zu einem Neuanfang sein, aber fernab religiöser Fragestellungen wird wohl niemand behaupten wollen, dass ein gelungener Neuanfang garantiert sei, nur weil da jemand stirbt oder gar der Tod selbst einen solchen darstelle.

Der kapitalistische Kolossus, wie wir ihn in der Gegenwart erleben, befindet sich zweifellos in einer tiefen Krise. Aber wenn ein Kolossus fällt, kann er viele unter sich begraben, und der Kapitalismus wehrt sich tapfer und mit allen Mitteln gegen sein drohendes Ende.

Nachdem der Kapitalismus allerdings stets ein nichtkapitalistisches Außen braucht, das er sich als Brennstoff für weiteres Wachstum einverleiben kann, hat er als neues Außen längst unser höchstpersönliches Innen entdeckt, unser Gefühlsleben, unsere Träume und Ängste, die er besetzt, kolonisiert und seiner Verwertungslogik unterwirft.

Genau in diesen Tendenzen treffen sich die Interessen von Facebook und Google einerseits und die der NSA andererseits. Die einen wollen über uns alles wissen, um unsere Daten für das Microtargeting digitaler Werbekunden ideal ausschlachten zu können. Die anderen freuen sich über den Zugriff auf unsere Daten, um uns zuverlässig kontrollieren zu können.

Praktischerweise kann man mit der gleichen Technologie, die unsere Chats und Skypegespräche und E-Mails und SMS und Handytelefonate erfasst und auswertet, auch unliebsame Bürger elegant oder auch brutal erledigen. Für die aus US-Wahlkämpfen bekannte Methode der »Character Assassination« – die Vernichtung von Personen durch die kampagnenförmige Ermordung ihres öffentlichen Charakters – bieten sich bei diesem digitalen Totalzugriff ungeahnte Möglichkeiten.

Der Herr Wecker wird dann im Trommelfeuer allgemeiner moralischer Entrüstung erst einmal beweisen müssen, dass er diese E-Mail, in der er sich, sagen wir: für Solidarität mit Al Kaida oder einen anderen Unsinn einsetzt, in Wahrheit niemals geschrieben hat, … obwohl sie doch von seinem eigenen Email-Account abgesendet wurde.

Wir sind also dabei, nicht nur die Kontrolle über unsere Daten, sondern potentiell auch die über unsere Worte und Taten zu verlieren. Das sollten wir uns klarmachen.

Gerade die andauernde Krise des Systems wird der Mechanismus sein, diese Tendenzen ins Totalitäre zu steigern. Denn natürlich reicht das bisschen Internetprofit von heute bei weitem nicht aus, die Krise des Kapitalismus, die ja vor allem von strukturellen Blockaden in der Sphäre der Produktion herrührt, langfristig zu lösen. Deswegen hält man das Tempo des Wachstums künstlich oben – denn für den Kapitalismus bedeutet Verlangsamung nicht etwa wie für den Bayern ein Mehr an Gemütlichkeit, sondern den Tod – indem man ohne jede Not zerstört oder durcheinanderbringt, was im Grunde genommen, auch so wie es ist, wunderbar funktioniert. Da wird dann ein Baudenkmal von welthistorischer Bedeutung wie der Palast der Republik abgerissen, um beim Neubau eines Barockschlosses eine Milliarde mehr vom Staat Richtung HochTief zu schaufeln.

So werden, um den Ofen des Profits weiter auf Temperatur zu halten, ohne Rücksicht auf die Folgen für die Zukunft alles und alle verfeuert: endliche Ressourcen, die Natur ganzer Landstriche, die Gesundheit halber Bevölkerungen, Bildungssysteme, Baudenkmale, Altstädte, Stadtparks, Berge und Wälder, geschundene und gequälte Tiere, die allgemeine Gesundheitsversorgung, Stromnetze, Wasserrechte, Infrastrukturen jeglicher Art. Alles, was zu Geld gemacht werden kann, wird auch zu Geld gemacht.

Jacques Attali, der langjährige Berater von Francois Mitterand, beschreibt in seinem Vorwort zu »Die Welt von Morgen« die dystopischen Perspektiven dieses Vorgangs:

Wenn wir diese Entwicklung nicht aufhalten, wird das Geld sich am Ende von allem entledigt haben, was ihm irgendwie im Weg steht, einschließlich der Staaten, die Schritt für Schritt von ihm zerstört werden, nicht zuletzt die Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn dann das Geld schließlich als einziges Gesetz die Welt regiert, wird der Markt ein uneinnehmbares, die ganze Welt umfassendes Hyperimperium bilden, welches neue Marktressourcen und neue Formen der Entfremdung, extreme Armut und gigantische Vermögen schafft, eine Welt, in der die Natur ordentlich geschröpft und alles privatisiert sein wird, Streitkräfte, Polizei und Justiz inbegriffen. Der Mensch wird sich Prothesen schaffen, bevor er selbst zum Artefakt wird, das man serienmäßig an Konsumenten verkauft, die selbst zu Artefakten werden. Schließlich wird auch der Mensch verschwinden, wenn er für seine eigenen Schöpfungen überflüssig geworden ist.

Jacques Attali, Die Welt von Morgen, S. 8.

Wird es zu einer globalen Revolte, die diesem Irrsinn ein Ende setzt, kommen? Es gibt gewisse Anzeichen dafür. Seit der ersten ägyptischen Revolution gegen Mubarak haben wir in Spanien und Portugal, Chile, Israel, der Türkei, Brasilien und anderen Ländern eine Serie von Protestwellen erlebt. Diese haben jeweils ihre spezifischen Problematiken und Potentiale. In Brasilien drohte die Protestbewegung zwischenzeitlich durch nationalistische Elemente in eine bedenkliche Richtung abzugleiten. Die Revolution in Ägypten ist in eine äußerst gefährliche Lage geraten.

Aber die Ägypter sind aufgestanden! Sie haben es gewagt! Sie haben bewiesen, dass Revolutionen im 21. Jahrhundert möglich sind. Faszinierend ist, wie die verschiedenen Bewegungen seither das paradigmatische Modell des Tahrir Platzes übertragen und ausgebaut haben.

Diese besetzten Plätze gegen kriegsmäßig vorgehende Polizeieinheiten zu halten, ist bisher nur phasenweise gelungen. Aber diese Tage oder Wochen der Protestlager sind aus der kranken Logik des Imperiums herausgesprengte Gegenwelten, in denen sich ein neues, aktiv handelndes Subjekt historischer Veränderung findet und formiert. Es ist vorstellbar, dass diese Platzbesetzungen die Vorübungen für eine Pariser Kommune des 21. Jahrhunderts sind.

Wie diese aussehen und organisiert sein könnte, vermag niemand vorauszusagen, denn sie wird dann die spontane Frucht der revoltierenden Menge sein. Aber wir können die Gestalt dieses vielköpfigen Wesens bereits erahnen in den Gesichtern vom Syntagma Platz, dem Tahrir Platz, der Puerto del Sol, … dem Marienplatz?

Die Lage in Deutschland erscheint nicht gerade vielversprechend. Die Gewerkschaften haben es vermocht, fünf Jahre Finanzkrise samt »Bankenrettung« zu erdulden, ohne eine einzige nennenswerte Massenaktion durchzuführen. Occupy war in Deutschland eine kurzlebige und etwas obskure Erscheinung. Proteste gegen die Bankenmacht in Frankfurt am Main werden regelmäßig verboten und/oder polizeilich angegriffen. Das Projekt Linkspartei ist durch mediales Dauerfeuer und innere Streitigkeiten von betörender Verantwortungslosigkeit stark beschädigt worden. Der politische Verkaufsschlager hierzulande hieß nicht »Empört Euch«, sondern »Deutschland schafft sich ab«.

Nun sind wir beide gewissermaßen Funktionäre der Hoffnung. Mut zu machen, aufzumuntern, Kraft zu spenden und auch die heilende Verarbeitung von Frust und Trauer zu unterstützen – all das gehört zu unserem Beruf. Als Künstler sind wir aber auch unserer Intuition ausgeliefert und der Aufrichtigkeit verpflichtet. Die Wahrheit ist, dass unsere Intuition immer lauter Alarm schlägt.

Wir beide haben uns das in einer denkwürdigen, coming-out-artigen Situation in der Künstlergarderobe bei einem Konzert in der Schweiz gestanden. Wir haben, beide noch erfüllt von dem Konzerterlebnis, über die immer wieder gern unterstellte Aussichtslosigkeit des Künstlers gesprochen, überhaupt irgendetwas zu bewirken. Aber wir haben erleben dürfen, dass man so nutzlos ja doch nicht ist als Künstler, dass man vielleicht nicht die Weltgeschichte bewegen kann, nicht die Massen, aber einzelne Individuen mit ähnlichen Niederlagen und Enttäuschungen, Sehnsüchten und Hoffnungen. Wir haben Menschen gespürt, die sich selber durch Wort und Musik wieder neu entdecken.

Das zu erleben ist unendlich beglückend, aber in diese Künstlergarderobe in Basel, im März 2013, senkte sich eine Stimmung wie am Vorabend einer Katastrophe, wie Wien, 1913 oder Berlin, 1928. Wir sprachen über Kurt Tucholsky, der inmitten des großen Tanzens und Fressens und Kaufens und Kicherns der vermeintlich goldenen Zwanziger das drohende Unheil witterte und warnte und mahnte.

Natürlich: Uns wird von spirituellen Menschen und auch von knallharten Esoterikern immer wieder beschwichtigend erklärt, die Menschen müssten eben vorher den Frieden in sich finden, bevor sie die Welt befrieden könnten. Aber das spirituelle Innere und das gesellschaftliche, politische Außen trennt keine chinesische Mauer. Beides entfaltet gestalterische Kräfte in jedem Einzelnen von uns. Eine Klimakatastrophe lässt sich nicht wegmeditieren, und wer definitiv nichts zu fressen hat, ist nicht in erster Linie an Verinnerlichung interessiert, sondern an Wasser und Nahrung.

Noch an diesem Abend in dieser Schweizer Garderobe haben wir entschieden, dass es an der Zeit sei, diesen Aufruf zur Revolte zusammen zu schreiben.

Denn wenn man alle Faktoren zusammenrechnet, die ökologische Situation, die wirtschaftliche Lage, den gigantischen, präventiv ausgebauten Repressionsapparat und auch, ja, leider, die zunehmende Verrohung und Entsolidarisierung der Menschen untereinander, dann muss einem Himmelangst werden.

Dazu kommt das weltumspannende Netz von Geheimdiensten außer Rand und Band, und wir stellen uns die Frage, ob das hartnäckige Ausbleiben der Weltrevolution bei fortschreitender, krisenhafter Globalisierung des Kapitals nicht einen Weltputsch möglich macht, gewissermaßen einen elften September für Fortgeschrittene.

Hirngespinste? Das wäre zu hoffen. Wir beide jedenfalls haben Angst vor einer Zukunft, die uns droht, wenn die globale Revolte ausbleibt.

Im europäischen Süden und in Nordafrika hat diese Revolte bereits begonnen. Damit sie gelingt, muss jetzt auch in Deutschland etwas passieren. Wer tatenlos zuschaut, wie die Griechen sich gegen die Angriffe nicht zuletzt in Deutschland stationierter Konzerne abkämpfen, verrät am Ende sich selbst so sehr wie unsere griechischen Schwestern und Brüder.

Immerhin hatten die Enthüllungen Edward Snowdens einen kuriosen Effekt auf die Kommunikation der Menge. Zuvor war eine unausgesprochene Vorsicht, die berüchtigte Schere im Kopf, speziell auf Facebook überdeutlich spürbar, weil man ja insgeheim ohnehin vermutet hat, dass dieses Netzwerk massiv überwacht wird.

Aber etwas vermuten und etwas wissen, ist ein großer Unterschied. Man muss das am nackten Körper brennende vietnamesische Mädchen aus dem Dorf laufen sehen, um zu verstehen, was Napalm bedeutet. Und wir mussten das grundanständige Gesicht Edward Snowdens sehen, um endlich wieder zu lernen, was das heißt:

Anstand! Zivilcourage! Bürgerpflicht!

Seit Snowden scheint der Würgegriff der Angst aufzubrechen. Immer mehr Menschen kommunizieren nach dem Motto: »Bist Du restlos archiviert, schreibt es sich ganz ungeniert«.

Auch in den deutschen Medien kann man von einer Situation vor und nach Edward Snowdens Enthüllungen sprechen. Viele Journalisten haben erkannt, dass diese ausufernden Praktiken staatlicher Kontrolle die Grundlagen ihres Berufes bedrohen. Prompt erleben wir in Bezug auf den Überwachungsskandal einen wachen und selbstbewussten Journalismus, wie wir ihn oft vermisst haben. Die breite Solidarität der Branche mit dem fabelhaft mutigen Glenn Greenwald und dem englischen Guardian ist beispielhaft.

Diese Besinnung auf das Berufsethos des Journalisten kommt zur rechten Zeit, denn offen und laut zu sagen, was ist, ist der erste Schritt auf dem Weg zur Revolte. Nur gibt es bekanntlich nichts Gutes, außer man tut es und Missstände werden nicht dadurch abgeschafft, dass sie öffentlich aufgezählt werden. Ein spontanes Aufbegehren kann man auch nicht herbeischreiben. Dafür braucht es den göttlichen Funken der Inspiration, der auf die Menge übergreift … und Organisation.

Vorbildlich ist derzeit die türkische Taksim-Solidarität, ein Bündnis aus über hundert, mitunter sehr unterschiedlichen Bürgerbewegungen.

Was die massenhafte Verbindung inspirierter Entschlossenheit und präziser Organisation auch in Deutschland bewirken kann, durften wir beide als Teilnehmer der Dresdner Anti-Naziblockaden erleben. Der bis dahin größte Naziaufmarsch Europas ist Geschichte. Dies ist gelungen, nachdem sich ein breites Bündnis von der Autonomen Antifa über Gewerkschaften, Kirchen und Parteien bis hin zu bekannten und weniger bekannten Künstlern auf einen Aktionskonsens und ein klares taktisches Konzept einigen konnte. Beides wurde dank einer brillanten Organisation der Blockaden und großer, vertrauensvoller Einigkeit in der Aktion drei Jahre lang erfolgreich umgesetzt.

»Dresden Nazifrei« ist eine Blaupause für erfolgreichen Widerstand in Deutschland. Aber jetzt kommt es darauf an, diese Erfahrungen auf soziale Themen und den Kampf gegen den Überwachungsstaat anzuwenden. Das ist ungleich schwieriger, und die 20.000 Demonstranten von Dresden werden für dieses Unterfangen nicht ausreichen.

Umfragen zufolge sind wir Deutsche ja hochzufrieden mit der Arbeit unserer Regierung. Aber wer fragt da wen? Was muss noch passieren, bis auch wir aus unserem Dornröschenschlaf erwachen und uns beispielsweise der Tatsache stellen, dass die glänzenden Erfolge beim »Abbau der Arbeitslosigkeit« auf Billiglohn und Zeitarbeit basieren? Wer aber bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt ist, hat keinen Arbeitgeber mehr, sondern einen Zuhälter, wie Volker Pispers richtig sagt.

Es hat auch gar keinen Zweck zu hoffen, dass die Krise alle anderen zuerst erwischt und uns verschont. Die Krise ist längst da, nur noch nicht bei allen. Die Einschläge kommen näher.

Wenn »Dresden Nazifrei« die organisatorische Blaupause ist, sind 1968 und 1989 deshalb die Vision. Was auch immer jeweils aus diesen demokratischen Eruptionen folgte – und wir meinen, in beiden Fällen überwiegen die positiven Folgen bei weitem! – beweisen sie, dass auch der deutsche Bürger und die deutsche Bürgerin grundsätzlich zur Revolte fähig sind.

Es mag lange dauern, bis in diesem alten, schweren Land die Steine ins Rollen kommen und Mauern brechen. Doch dass es möglich ist, wissen wir, wie wir auch um den Abgrund wissen, der sich gähnend vor uns auftut und in den wir alle miteinander stürzen werden, wenn wir nicht schleunigst massenhaft aufbegehren.

Kann man sich nun auch in Deutschland »räumungsfreie Zonen« vorstellen, wo die örtlichen Behörden die Zwangsräumungen von Wohnungen nicht mehr unterstützen? Bayerische und thüringische Feuerwehrleute, die es ihren Kameraden auf Ibiza und in Galizien oder aragonesischen Schlüsseldiensten gleich tun und sich weigern, bei der Exekution von Räumungsbeschlüssen zu helfen?

Auch in Spanien haben die Allerwenigsten mit solch betörenden Schönheiten einer gesamtgesellschaftlichen Revolte gerechnet. Die Bloggerin Maria Luisa Toribo schreibt:

Ein großer Teil der Bürger war eingeschlafen und hatte sich enthusiastisch der Rolle hingegeben, die man sich für uns ausgedacht hatte: die der Konsumenten. Nun haben sich neue Bewegungen gebildet, die neue Formen der Bürgerbeteiligung erfinden und einfordern.

Sehen wir uns die Schwulen und Lesben an! In einem Tagebucheintrag von 1992 jubelt der Prinz, weil sage und schreibe 10.000 Menschen zum CSD in Berlin kamen. Eine Sensation! Wenige Jahre später waren es auch in Hamburg oder München Hunderttausende. Und ungezählte Einzelne standen im Alltag, im privaten Umfeld, am Arbeitsplatz, in den Schulen für ihre Freiheit und gegen den Rassismus in der Liebe auf. Früher kaum vorstellbare emanzipatorische Fortschritte wurden so erkämpft – aus einer Lage heraus, wie sie nach der AIDS-Katastrophe verzweifelter kaum hätte sein können.

Alles ist möglich, wenn Leute zu sich selbst stehen; wenn sie als Einzelne und als Menge aufstehen für ihre Träume und Rechte; wenn sie mit Stolz und Tränen in den Augen stehen bleiben – und wieder aufstehen, wenn sie niedergeschlagen werden.

Du bist aber allein?

Du bist aber machtlos?

Soweit wir sehen können, hat Edward Snowden eine sehr einsame Entscheidung getroffen und dann gehandelt. Alleine zu sein und machtlos zu sein, ist durchaus nicht dasselbe.

Auch der schweigend anklagende »Stehende Mann« vom Taksim-Platz hat uns bewiesen, welche moralische Kraft ein einzelner Mensch entfalten kann, der im richtigen Moment die Logik einer Situation versteht und mit dem Mut, das Unvorhersehbare entschlossen auszuführen, durchbricht.

Nun haben wir mit dieser Schrift den Bereich der Kunst bisher nicht verlassen, und wir werden es nicht tun, indem wir uns zu präzisen, taktischen Handlungsanweisungen versteigen. Entscheide Du selbst, was Dein Schritt ist, in die globale Revolte einzutreten. Was Du Dir zutraust, was Deine persönliche Farbe und Form der Revolte ist. Revoltiere nach Deiner Melodie, in Deiner Tonart.

Wir brauchen und wollen auch – und hier widersprechen wir entschieden dem anderweitig geschätzten Slavoj Žižek – keine charismatischen Führer an der Spitze einer Bewegung. Wir sind von der Notwendigkeit einer wirkungsvollen Organisation der Revolte überzeugt, aber wir vertrauen und setzen mit Antonio Negri auf die Intelligenz der Menge, auf die Selbstorganisation des Schwarms, auf die Macht derer, die sich selbst erkannt und aus freien Stücken miteinander verbündet haben.

Es geht eben nicht mehr darum, dass die Einzelnen in einem großen Ganzen vereinheitlicht werden und ihre eigenen Ideen, Geistesblitze und ihre Kreativität einem fertigen Weltbild unterordnen. Wir können viele werden und dabei einzelne bleiben, die mit all ihrer Eigenständigkeit, Verrücktheit, ja, mit ihrem individuellen Wahnsinn dazu beitragen, die Idee einer wirklichen Demokratie immer wieder neu entstehen zu lassen, selbst zu gestalten.

Wir träumen und streiten für eine aktive Bürgergesellschaft, für eine Bewegung freier, selbstbestimmter Menschen für eine freie, selbstbestimmte Menschheit! Die Zeit der Propheten, Führer und Tribunen liegt hinter uns. Wir wünschen auch keine blutige Revolution und wollen sogar dieses ungeliebte eine Prozent an der Spitze der globalen Apartheid nicht an den Laternenpfählen aufknüpfen. Wir ersehnen eine Revolution der Liebe, eine zärtliche Revolte.

Nein, wir haben mit dieser Schrift den Bereich der Kunst nicht verlassen. Dass viele unserer Kolleginnen und Kollegen und das breite Publikum von dieser Rolle der Kunst schon kaum noch etwas ahnen, geht uns nichts an. Wir haben getan und gedenken weiterhin zu tun, was seit jeher das Recht und die Pflicht des Künstlers war: Wir haben der kulturfeindlichen Verkommenheit unserer irrfahrenden Zeit ein längst überfälliges »J’accuse!« entgegengeschleudert, unser zorniges: »Ich klage an!«

Wir ergreifen Partei, wo Parteien versagen. Auf den »Luxus der Hoffnungslosigkeit«, wie Fulbert Steffensky es genannt hat, verzichten wir dankend. Aber nicht auf den Zorn, und wir bekennen uns mit Steffensky zur Voreingenommenheit, denn:

Es gibt eine unerlässliche Voreingenommenheit, die die Augen öffnet. Wenn ich nicht voreingenommen bin von dem Wunsch nach Gerechtigkeit, dann nehme ich das Leiden der Gequälten nicht einmal wahr. Voreingenommenheit ist die Bildung des Herzens, die uns das Recht der Armen vermissen lässt. Ein Urteil zu haben ist nicht nur eine Sache des klugen Verstandes und der exakten Schlüsse, es ist eine Sache des gebildeten Herzens. Das gebildete Herz ist nicht neutral, es fährt auf, wenn es die Wahrheit verraten sieht. Der Zorn ist eines der Charismen des Herzens.

Dorothee Sölle/Fulbert Steffensky, Wider den Luxus

der Hoffnungslosigkeit, S. 12.

Wahrlich: Wir leben in gefährlichen Zeiten voller Niedertracht und einer ausgesprochen verdächtigen Art öffentlicher Harmlosigkeiten. Die globale Diktatur, vor der wir in diesem Essay warnen, ist noch nicht ganz ausgereift. Sie übt noch. Aber wer ihren kalten Atem spürt, der duckt sich schon präventiv.

Duckt Euch nicht! Steht auf! Stellt Euch in diesem Sinne einseitig und voreingenommen und zornig auf den Standpunkt des gemeinsamen Lebens und der Liebe, gegen die Energie der Zerstörung und des Todes. Und lasst uns das um Himmels willen schnell tun, denn die Frist, die uns bleibt, das drohende Unheil abzuwenden, ist knapp bemessen.

Dass die Risiken, den Schritt zur Revolte jetzt zu wagen, erheblich sind, ist uns vollauf bewusst. Haben wir die Revolte einmal begonnen, wird jahrelanger Atem nötig sein, um diese Welt vom zermarterten Kopf auf die tanzenden Füße zu stellen.

Es wird Rückschläge geben. Wir werden bittere Niederlagen durchleiden müssen, Phasen der Mutlosigkeit.

Wir können alles das gemeinsam durchstehen.

Inwieweit es bei diesem Tun der Revolte auch um ein letztendliches Siegen geht, ist in dem zwischen uns beiden seit nunmehr einem Jahrzehnt andauernden Diskussionsprozess übrigens eine wiederkehrende Frage. In Dresden gegen die braune Brut gesiegt zu haben, war eine begeisternde und erhebende Erfahrung.

Aber man kann auch verlieren, ohne dass dadurch dem Tun nur das Geringste von seiner Richtigkeit genommen wäre.

Nüchtern betrachtet sind allerdings die Risiken der Revolte weitaus geringer als die mit mathematischer Sicherheit eintretenden, katastrophalen Ergebnisse eines weiteren, tatenlosen Zuschauens und Mitlaufens. Und wenn wir endlich auch in Deutschland den Mut zur Revolte fassen, wenn wir uns frei machen vom Alpdruck der Angst und der Feigheit, dann werden auch wir eine andere Intensität des Lebens erfahren dürfen – Momente unvorstellbarer Schönheit, Explosionen der Lebensfreude, Kettenreaktionen der Kreativität, kurz: den Zauber wirklicher Freiheit, getragen von unserer unbeugsamen Hoffnung auf eine andere, würdigere Welt.