1. Kapitel Buddhas Stadt

Wie ein zweiter Nil fließt der große fruchtspendende „Menam" durch Zentralsiam. Vierundzwanzig Kilometer südlich von Bangkok hat er sich eine Barre aus Schlamm und Sand zusammengetragen, an der die Dampfer liegen bleiben müssen. Ein Durchstechen dieser Barre ist nicht möglich, da Mittelsiam zu tief liegt, und eine Überschwemmung von Meerwasser würde sämtliche Reisfelder und damit die Lebensmöglichkeit der Bewohner vernichten.

Vor dieser Barre lag nun auch der Schoner, der uns von Singapore heraufgebracht hatte, und wir warteten auf die Leichter von Bangkok, die unsere Fracht übernehmen sollten. Wir wollten uns einen Sampan nehmen, um möglichst schnell nach Bangkok, der Stadt der Tempel, zu gelangen. Kapitän Lürs, der Besitzer des Schoners, trat neben uns an die Reling.

„Na, ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen allen Erfolg, gnädige Frau", wandte er sich an Frau von Valentini. „Aber schwer wird es doch sein, Ihren Gemahl wiederzufinden. Ich habe mir die Sache überlegt. Dieser rote Seidenlappen, den Sie hier aus Bangkok erhalten haben, wird sicher mit dem Verschwundenen zusammenhängen.

Aber aus dem Entsetzen, das der siamesische Polizist Baika bei seinem Anblick gezeigt hat, möchte ich schließen, daß es das Zeichen irgendeiner Verbindung darstellt, mit der nicht gut Kirschenessen ist. Es gibt ja viele Geheim- und Religionsgesellschaften, und die letzteren sind in ihrem Fanatismus die schlimmsten." „Aber ich verstehe nur nicht, was mein Mann mit einer solchen Gesellschaft zu tun haben soll", sagte die hübsche, junge Frau niedergeschlagen. „Hermann ist zwar vor sechs Wochen nach Siam gereist. Was soll er aber bei einer derartigen Gesellschaft?"

„Die Geheimnisse dieses Landes werden wir Europäer nie klären", meinte Lürs ernst. „Dreißig Jahre fahre ich jetzt an allen Küsten Indiens entlang, und da habe ich schon Dinge erlebt, die mir unfaßbar sind. Ich glaube nun bestimmt, daß sich Ihr verschwundener Gemahl in den Händen irgendeiner fanatischen Gesellschaft befindet, denn sonst hätte man Ihnen nicht diese Zeichen zugesandt."

„Sie haben bestimmt recht, Herr Lürs", fiel Rolf ein, „denn ich habe mir ebenfalls die Sache nach allen Seiten hin überlegt und bin doch immer wieder auf dieselbe Annahme gekommen. Die größere Schwierigkeit ist jetzt, diese Gesellschaft ausfindig zu machen." „Da kann ich Ihnen einen Mann empfehlen, der vielleicht als einziger Europäer Ihnen in dieser Beziehung sehr behilflich sein kann. Es ist Jim Hoddge, ein früher Kapitän, der sich jetzt seit zehn Jahren in Bangkok niedergelassen hat. Er betreibt ein Gasthaus, das speziell von Seeleuten besucht wird. Sie werden ihn irgendwo am linken Ufer des Menam finden. Fragen Sie nur nach ,Hoddges Home'. Jeder Sampanmann wird Sie dann hinbringen." „Hat er denn keinen festen Wohnsitz?" fragte Rolf erstaunt. „Sie sagten doch, daß wir ihn irgendwo' finden werden."

„Ja", lachte Lürs, „Hoddge hat sich ein schwimmendes Haus auf einem Bambusfloß gebaut, wie es ja hier viele Kramläden und Werkstätten gibt, die genauso gebaut sind. Na, er ist immer noch ein unruhiger Geist und hält es nicht lange an derselben Stelle aus. Aber durch diese Lebensweise genießt er auch das Vertrauen der Eingeborenen, und er wird sicher schon mehr über derartige Geheimgesellschaften gehört haben als jeder andere Europäer."

„Jetzt bin ich in schrecklichste Unruhe versetzt", klagte Ellen von Valentini. „Sollte nun diese angebliche Gesellschaft eine derartige Gewalt über ihn haben, daß er mir nicht einmal mehr Nachricht geben konnte?" „Bisher sind es ja alles Vermutungen", tröstete sie Rolf. „Vermutungen, die sich nur auf diesen roten Seidenlappen stützen. Ich habe mir die eingestickten, weißen Zeichnungen immer wieder betrachtet und habe entdeckt, daß von einem bestimmten Gesichtspunkt aus die verworrenen Linien Gestalt annehmen. Ich möchte behaupten, daß ein Tempel und ein weißer Elefant dargestellt sind." „Dann hätten Sie es mit einer Sekte zu tun", brummte Lürs, „das ist unangenehm. Mit einer politischen Gesellschaft könnte man leichter verhandeln." „Was hat aber nur Hermann mit einer Sekte zu tun?" rief die junge Frau aufgeregt.

„Tja, das läßt sich kaum ahnen", meinte Lürs achselzuckend. „Aber vielleicht könnte Ihnen Hoddge auch darüber eine Erklärung geben."

„Dort kommen die Boote", rief Ellen, „wir wollen das erste nehmen, meine Herren, und sofort diesen Wirt aufsuchen. Sie werden begreifen, daß ich absolut keine Ruhe mehr habe."

„Na, Gott sei Dank", brummte Lürs, „die Leichter kommen auch schon. Dann kann ich ja sofort mit dem Löschen beginnen. Sehr gut, denn hinter uns kommt ein anderer Schoner, der kann jetzt warten, bis ich fertig bin. Ah, das scheint Kapitän Roundhand zu sein. Ha, das ist wirklich ein Zufall. Erkennen Sie den Schoner nicht wieder, meine Herren? Es ist doch derselbe, auf dem Sie die Sturmfahrt von Sumatra ins Südchinesische Meer gemacht haben. Dieser Larrin hatte ihn in Singapore gestohlen. Jetzt hat ihn Roundhand zurückerhalten." „Oh, Massers, sehr gut", freute sich Pongo, unser treuer, schwarzer Freund. „Pongo Speer wiederbekommen." Richtig. Bevor wir in diesem Schoner von den Schmugglern überwältigt wurden, hatte Pongo seinen breiten Massaispeer versteckt. Vielleicht war er noch nicht gefunden, sonst würde ihn der Kapitän Roundhand sicher zurückgeben. Pongo hatte mit seinem gewaltigen Speer schwarze Panther und Tiger erlegt. Allerdings konnte auch nur er mit seinen übermenschlichen Kräften Derartiges vollbringen.

Als die Sampans und Leichter noch über tausend Meter entfernt waren, legte der Schoner neben uns an. So hatten wir noch genügend Zeit, in Begleitung unseres Kapitäns hinüberzugehen und mit Kapitän Roundhand zu sprechen. Er hatte den Speer noch nicht gefunden. Pongo aber verschwand im Laderaum und kehrte nach kurzer Zeit freudestrahlend mit seiner furchtbaren Waffe zurück. Nach kurzem Abschied von Roundhand, der sich sehr freute, in uns die Helden des viel beschriebenen Abenteuers mit seinem Schoner kennenzulernen, kehrten wir an unser Deck zurück. Jetzt kamen die ersten Sampans, und Kapitän Lürs winkte einem kleinen sehnigen Siamesen.

„Nehmen Sie den Bang, meine Herrschaften", empfahl er, „ich kenne ihn schon lange. Er wird Sie zu Hoddge bringen. Aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, lassen Sie keinen Eingeborenen das Seidenstück sehen. Und nun leben Sie wohl. Möge Ihnen Ihr Vorhaben gelingen. In sechs Wochen bin ich wieder mit neuer Fracht hier, es sollte mich freuen, wenn Sie mit mir zurückfahren könnten."

Er schüttelte uns die Hände und stapfte dann auf seine Brücke. Während der Fahrt hatte er uns liebgewonnen, und er ahnte wohl, welchen Gefahren wir entgegen gingen.

Zehn Minuten später waren wir schon weit vom Schoner entfernt und kämpften mit schäumendem Bug gegen den schnell fließenden Strom, auf dem alles an uns vorbeitrieb, was es in Bangkok an Abfällen gab. Nach drei Stunden erreichten wir die ersten, von Gärten umgebenen Häuser, die aus Holz oder Bambus gebaut sind und meist auf Pfählen ruhen. Dann sahen wir auch bald die ersten schwimmenden Häuser auf den Bambusflößen, nur ein Stockwerk hoch und an eingerammten Pfählen befestigt. An Kramläden und Werkstätten glitten wir vorbei, in denen sich das häusliche Leben ganz ungeniert in aller Öffentlichkeit abspielte. Zwei riesige Kokospalmen fielen uns auf, die ihre Fächerkronen weit über den Fluß hinausstreckten. An ihren Stämmen war ein Bambusfloß befestigt, größer als die bisherigen, das ein schmuckes Häuschen trug. Das Holz war schneeweiß gestrichen, die Fenster mit blühenden Blumen besetzt, und das grüne Dach leuchtete hell gegen das dunkle Grün der Bäume.

Unser Sampan lenkte auf dieses Floß zu. Und jetzt konnten wir auch die Inschrift über der Tür lesen: „Hoddges Home". Wir waren an unserem Ziel. Hier hofften wir zu erfahren, was für eine Bewandtnis es mit dem roten Seidenlappen hatte.

Der Siamese stieß einen hellen Ruf aus, und sofort trat eine hohe Gestalt aus der Tür und schritt bis an den Rand der Plattform. Ein typisch englisches Gesicht, und die phlegmatische Ruhe zeigte sich auch in dem Gruß, der gar kein Erstaunen über unseren Besuch verriet. Und es kam doch sicher nicht alle Tage vor, daß eine Dame, zwei Europäer und ein Neger im Sampan vorfuhren. Aber Jim Hoddge mochte genug in seinem Leben durchgemacht haben, um sich über nichts mehr zu wundern. Nur als Pongo ausstieg, zog er die dünnen Augenbrauen in die Höhe. Das furchtbare Gorillagesicht des treuen Riesen wirkte also auch auf ihn. Aber dann ließ er uns ruhig in die freundliche Stube treten und empfahl uns einen Tisch am Fenster, durch das wir das Leben und Treiben auf dem Menam beobachten konnten. In Anbetracht der Nachmittagsstunde bestellten wir uns Kaffee, was Jim Hoddge zu der Bemerkung veranlaßte: „Aha, die Herrschaften sind Deutsche." Er brachte uns nach kurzer Zeit persönlich das köstliche Getränk, setzte sich mit einem kurzen „Sie gestatten" an unseren Tisch und fragte:

„Was wollen Sie wissen? Denn ich kann mir denken, daß Sie nicht ohne jeden Grund zu mir gekommen sind. Ich sehe sonst zu dieser Tageszeit nur Seeleute, die gerade unten an der Barre angelegt haben. Die hiesigen Europäer kommen erst nach Dunkelheit. Ich vermute, Sie sind auch von der Barre gekommen?" „Ja", bestätigte Rolf, „Kapitän Lürs schickt uns." „Na sehen Sie, dann habe ich doch recht, daß Sie irgend etwas auf dem Herzen haben. Ich bin natürlich immer bereit zu helfen, soweit ich es kann." Der Engländer gefiel mir immer mehr. In seiner kurzen, knappen Art lag große Energie, und ein Blick in seine scharfen, grauen Augen schuf sofort die Überzeugung, daß er einen geraden lauteren Charakter hatte. „Erzählen Sie, gnädige Frau", forderte Rolf unsere Begleiterin auf. Er hatte natürlich auch gemerkt, daß die junge Frau über diese Einleitung unruhig geworden war. Jetzt sprudelte sie schnell ihr Leid heraus. „Hm", meinte Hoddge bedächtig und streifte uns mit bewundernden Blicken. „Sie sind also die Männer, denen die Flucht von der Insel gelang. War ja groß in den Zeitungen beschrieben. Na, Sie sind auch die richtigen Leute, um den Verschwundenen wiederzufinden. Aber, was soll ich dabei tun?"

„Uns mitteilen, ob Sie etwas über politische oder religiöse Geheimgesellschaften hier wissen", sagte Rolf. Hoddge zog die Stirn kraus.

„Mit Politik befasse ich mich prinzipiell nicht", brummte er, „und mit den religiösen Gesellschaften binden Sie lieber nicht an. Habe da viel gehört."

„Nun, wir vermuten aber, daß sich Herr von Valentini bei einer derartigen Gesellschaft aufhält. Und zwar nicht freiwillig, denn sonst hätte er bestimmt an seine Frau geschrieben."

„So, weshalb vermuten Sie das?"

„Weil Frau von Valentini aus Bangkok ein Stück Seide geschickt erhielt, das einem tapferen, siamesischen Polizisten den größten Schrecken einflößte. Er behauptete, es wäre ein ,böser Geist'. Also muß doch die Gesellschaft ziemlich bekannt sein." „Dürfte ich das Seidenstück einmal sehen?" „Bitte." Rolf zeigte ihm das rote Stück. Hoddge warf nur einen Blick auf die verworrene, weiße Zeichnung, die in den roten Grund hinein gestickt war, als er auch ernst nickte.

„Ja", sagte er langsam, „dieses Zeichen kenne ich. Habe schon viele aus dem Menam gefischt, die ein Messer in der Kehle hatten, und das Messer war jedesmal durch ein solches Seidenstück gestoßen."

„Hat die Polizei diese Morde nie aufklären können?" fragte Rolf gespannt. Der Engländer lächelte.

„Polizei? Meine beiden Boys schrien Zetermordio, als sie das Seidenstück sahen und warfen den Toten sofort zurück. Ehe ich dann mit meinem Donnerwetter, das ich über ihre Eigenmächtigkeit ergehen ließ, fertig war, hatte ihn der Menam weit fortgeschwemmt. Oder die Krokodile mochten ihn geholt haben. Ich habe versucht, aus den Boys herauszubekommen, was eigentlich los sei, aber sie verrieten nichts. Nur aus ihrem Entsetzen sah ich deutlich, daß hinter dem roten Seidentuch eine furchtbare Gefahr steckte.

Bei der zweiten und dritten Leiche geschah stets dasselbe, und das Entsetzen der Boys wurde immer größer. Na, da dachte ich mir, es wäre vielleicht doch besser, sich nicht unnütz in eine unangenehme Situation zu bringen. Und dann ließ ich die Toten stets ruhig weiter schwimmen, wenn ich das Messer in ihrem Hals und das rote Seidentuch sah. Und ich habe auch nie etwas über ihre Auffindung gehört. Es wird sie wohl jeder, auch die Polizisten, ruhig haben schwimmen lassen."

„Ich kann mir nicht denken, daß eine derartige Gesellschaft unter den Eingeborenen so bekannt sein soll, und trotzdem niemals etwas über sie laut geworden ist." „Die Asiaten verstehen zu schweigen", sagte Hoddge ernst. „Wissen Sie nicht, daß zum Beispiel die Javaner zweihundert Jahre geschwiegen haben, nachdem sie den Borobodur, diesen dreißig Meter hohen Riesentempel, verschüttet und mit Reis bepflanzt hatten, weil der Islam ihr Land bedrohte? Zweihundert Jahre, obgleich das Geheimnis von Kind zu Kind weitervererbt war. Ich glaube nicht, daß Sie das Geheimnis dieses Stückchens Seide einem Siamesen entlocken können."

Ich blickte Rolf erstaunt an. Das hätte ich nicht vermutet, daß ein Kapitän die Geschichte des Borobodur, dieses letzten, buddhistischen Heiligtums auf Java kannte. Aber ich sollte mich noch mehr wundern. Denn als jetzt Rolf das Stück Seide zurücknahm, es betrachtete und sinnend sagte, „man sieht einen Tempel und einen weißen Elefanten, wenn man es so hält", da lachte Hoddge.

„Das habe ich auch gesehen, Herr Torring. Aber unter den dreihundertneunzig Tempeln, die Bangkok besitzt, haben Sie nur den ,Tempel der Morgenröte', in dem sich ein dreiköpfiger Elefant befindet, auf dem Indra reitet, und dann noch den Pos-Tempel, in dem ein Elefant und ein Affe dem Buddha Wasser und Honig reichen, nachdem er vierzig Tage gefastet hat. Ich hätte es schon entdeckt, wenn sich hier ein Tempel mit einem weißen Elefanten befunden hätte."

Jetzt war selbst Rolf erstaunt. Und er brachte es auch offen zum Ausdruck, indem er den Kapitän fragte: „Verzeihen Sie, Herr Hoddge, haben Sie nur aus Interesse an diesen Morden, respektive an den Seidenstücken, sämtliche Tempel Bangkoks besucht?" „Nein", erklärte der Wirt, „ich habe mich stets für die Tempel Asiens interessiert. Das klingt zwar komisch für den Kapitän eines gewöhnlichen Frachtdampfers, aber es ist tatsächlich mein Steckenpferd. Wo ich nur meinen Fuß an Land setzte, habe ich den nächsten Tempel besucht. Nun, in den zehn Jahren meines Aufenthalts hier habe ich wahrlich Zeit genug gehabt, sämtliche Tempel zu besichtigen. Das heißt, soweit sie für einen Europäer zugänglich sind."

„Dann wäre also doch immer noch die Möglichkeit vorhanden, daß sich diese Gesellschaft, die den weißen Elefanten, das heilige Sinnbild Siams, ganz besonders verehrt, hier befindet. Wie Sie ja selbst sagen, haben Sie doch nie alle Räume der Tempel gesehen." „Das ist richtig. Aber ich hätte trotzdem sicher schon etwas gehört, wenn es hier eine Sekte gäbe, die unter den Einheimischen so bekannt und offenbar gefürchtet ist. Sicher hätte ich es aus irgendwelchen Anzeichen bemerkt. Denn ich pflege meine Augen stets recht aufmerksam zu gebrauchen."

„Hm, Sie haben aber vorhin selbst bestätigt, wie verschwiegen die Asiaten sind. Doch einen Umstand müssen wir noch berücksichtigen. Haben Sie die Toten an dieser Stelle hier gefunden?"

„Nein, hier liege ich seit drei Wochen, und während dieser Zeit ist noch nichts vorbeigekommen. Ich habe sie viel weiter oben, ja, das erste Mal fast am Anfang der Stadt angetroffen."

„Nun, Bangkok zieht sich ungefähr sieben Kilometer am Menam hin. Ich glaube nicht, daß die Krokodile tote Körper weit schwimmen lassen, also müßte sich der Tempel oder das Quartier dieser Gesellschaft im Norden der Stadt befinden."

„Da liegen nur einige kleine Tempel, die unmöglich das Quartier einer größeren Gesellschaft bilden können."

„Sind Sie bereits tiefer ins Land, den Menam aufwärts gekommen?"

„Nur wenige Kilometer mit einem Sampan hinaufgefahren. Mein Geschäft hielt mich meistens hier fest. Und dann waren mir auch die Tempel interessanter." Frau von Valentini, die bisher der Unterredung mit äußerster Spannung gefolgt war, wandte sich jetzt an den früheren Kapitän.

„Oh, Herr Hoddge", flehte sie, „was können wir jetzt nur beginnen? Wissen Sie gar keinen Rat? Wie soll ich meinen Mann wiederfinden?"

„Dann müßte man nur erst wissen, wo er stecken könnte. Gewiß, die Übersendung des Seidenstückes an Sie läßt die Vermutung, daß sich Ihr Mann bei dieser Sekte befindet, sehr wahrscheinlich sein. Aber aus welchem Grund soll ausgerechnet er, als Europäer, in ihre Hände geraten sein? Und weshalb halten sie ihn fest, was doch sehr wahrscheinlich ist? Sagen Sie, gnädige Frau, hat Ihr Herr Gemahl vielleicht ein besonderes Kennzeichen?" „Ja. Mein Mann war während des Krieges verschüttet und hat seit dieser Zeit über sein dunkles Haar einen breiten, schneeweißen Strich. Es sieht ganz eigenartig aus."

Hoddge stieß einen leisen Pfiff aus, entschuldigte sich bei Frau von Valentini und meinte bedächtig: „Hm, das könnte sein, das könnte vielleicht sein. Natürlich eine Vermutung, aber vielleicht hat sie Hand und Fuß. Sehen Sie, weiß ist den Siamesen eine heilige Farbe, und gerade diese Sekte hat den weißen Elefanten als Wahrzeichen. Nun, Ihr Gemahl ist durch einen auffälligen, weißen Strich gekennzeichnet, er wird von Mitgliedern der Sekte gefangengenommen worden sein. Da ist es wirklich leicht möglich, daß sie ihn gepflegt und in dem Wahn aufgenommen haben, daß er von Buddha gesandt sei. Und nun behalten sie ihn natürlich. Es klingt ja sehr phantastisch, aber hier ist alles möglich." „Und weshalb hätten sie mir dann den Seidenlappen geschickt?" meinte die junge Frau ungläubig. „Vielleicht um Ihnen damit anzudeuten, daß Ihr Gemahl für Sie tot sei. Jetzt gewinnt die Angelegenheit für mich ein ganz anderes Bild. Jetzt kann ich Ihnen vielleicht helfen."

2. Kapitel

Der Heilige am Strom

Frau von Valentini sprang auf.

„Sie können helfen", rief sie zitternd, „oh, Herr Hoddge, wie soll ich Ihnen danken."

„Ach", wehrte Hoddge sehr verlegen ab, „es ist ja nur ein Gedanke, nur eine Vermutung von mir. Sehen Sie, gnädige Frau, meine bisherigen Vermutungen sind doch auch auf sehr schwacher Basis aufgebaut. Aber vielleicht erweisen sie sich doch als richtig; ich würde es wenigstens in Ihrem Interesse von ganzem Herzen wünschen. Ich erzählte Ihnen doch, daß ich einige Kilometer über die letzten Hütten von Bangkok den Menam hinaufgefahren bin. Ungefähr zwei Stunden entfernt liegt die primitive Hütte eines alten Priesters, der hier ungefähr die Rolle eines Heiligen spielt. So ähnlich wie in Vorderindien die Fakire am Ganges.

Nur machte er diesen Firlefanz, wie ich es bezeichnen möchte, nicht. Von ihm habe ich vieles gehört, was sonst einem Europäer vielleicht verschlossen ist. Er hat sicher mein brennendes Interesse an den Religionsfragen der Asiaten bemerkt. Und gerade Siam ist in dieser Mischung von indischem, chinesischem und malaiischem Glauben sehr interessant. Wenn es irgendeinen Menschen hier gibt, der Ihnen vielleicht Aufklärung geben kann, dann ist es dieser .Heilige am Strom'."

„Können Sie uns sofort einen Sampan besorgen?" fuhr die junge Frau auf.

„Nein", beruhigte Hoddge, „das hat gar keinen Zweck. Wir kämen erst nach Anbruch der Dunkelheit hin, und dann wird der Heilige kaum zu sprechen sein. Ich schlage vor, daß wir morgen früh vor Tagesanbruch abfahren, dann sind wir kurz nach Sonnenaufgang dort und können in aller Ruhe mit ihm sprechen."

„Oh, Gott", stöhnte Frau Ellen, „noch eine Nacht der Ungewißheit so kurz vor einer Hoffnung." „Diese Hoffnung ist aber sehr schwach, das muß ich immer wieder betonen", sagte Hoddge ernst. „Denken Sie selbst, wie unendlich schwer es ist, einen Menschen wiederzufinden, der bereits seit Wochen verschollen ist. Und wieviel schwerer es noch ist, eine Sekte entdecken zu wollen, die jeden Verrat mit dem Tode bestraft, wie die vielen Gerichteten beweisen, die ich sah. Nein, gnädige Frau, hegen Sie nicht zu große Hoffnung. Gewiß, Ihr Herr Gemahl wird vielleicht noch leben, aber es wird fast unmöglich sein, ihn freizubekommen, sollte er sich wirklich in den Händen einer solchen, fanatischen Sekte befinden."

„Nun, dann rufe ich einfach den Schutz der Polizei an", rief Frau Ellen energisch. „Ich glaube doch, daß die Behörden das Leben und die Freiheit eines Europäers schützen werden."

„Damit Ihr Gemahl dann auch als .Gerichteter' den Menam entlang schwimmt", sagte Hoddge sehr ernst. „Nein, das dürfen wir nicht. Wenn wir seine Spur entdecken, dann müssen wir ihn auch selbst befreien."

„So würden Sie sich uns anschließen, Herr Hoddge?" fragte Rolf. „Es wäre uns natürlich eine sehr große Hilfe, da Sie landeskundig sind."

„Natürlich mache ich es. Mein Restaurant schließe ich oder übergebe es meinem Neffen während der Zeit. Sie können sich doch denken, daß mich die ganze Sache außerordentlich interessiert. Also abgemacht, morgen vor Tagesanbruch fahren wir ab. Jetzt ist es durch unser Erzählen bereits Zeit zum Abendessen geworden, ich werde es sofort auftragen lassen. Sie logieren selbstverständlich bei mir. Es ist gar nicht nötig, daß Sie sich in der Stadt zeigen."

Das war allerdings sehr angenehm. Jetzt brauchten wir unsere schweren Rucksäcke nicht weiter zu schleppen, und es war auch sehr gut, daß wir in der Stadt erst gar nicht auffielen. Diese Sekte, die soviel Schrecken verbreitete, hatte doch sicher auch ihre Spione überall. Hoddge hatte mit seinem Boy geflüstert und kam jetzt an den Tisch zurück.

„Das Essen kommt sofort. Und nun muß ich noch einen Vorschlag machen. Es ist unbedingt notwendig, gnädige Frau, daß Sie Männerkleidung anlegen. Denn die Sekte wird sofort vermuten, daß Sie die Frau des Verschwundenen sind, wenn Sie in Gesellschaft der Herren hier gesehen werden. Pongo ist doch in den Zeitungsberichten genau beschrieben, und da ist es wirklich nicht schwer, sich den richtigen Zusammenhang zu kombinieren. Also unbedingt Männerkleidung, in denen Sie sich auch viel besser bewegen können."

„Ja, das ist ein sehr guter Gedanke", pflichtete Rolf dem Kapitän bei, „wir sind auf jeden Fall unbehindert und fallen nicht weiter auf. Vielleicht können Sie noch heute abend einen Anzug aus der Stadt besorgen lassen, Herr Hoddge?"

„Selbstverständlich, ich werde sofort meinen zweiten Boy fortschicken. Er wird den Kauf ganz heimlich und unauffällig besorgen. Sie haben ungefähr die Größe des Boys, gnädige Frau, da werden die Sachen dann schon passen." „Glauben Sie wirklich, daß es unbedingt notwendig ist?" fragte die junge Frau. „Ich kann es mir gar nicht vorstellen, daß ich in Männerkleidung herumlaufen soll." „Es ist nötig, gnädige Frau", sagte Rolf ernst, „denn ich glaube auch, daß wir sehr ernsten Abenteuern entgegengehen werden."

„Dann füge ich mich selbstverständlich. Ich würde ja alles tun, um meinen Mann wiederzugewinnen." „Was in unseren Kräften steht, das tun wir, gnädige Frau. Wir haben schon die seltsamsten Abenteuer erlebt und die seltsamsten Geschicke beobachten können. Und darum kann ich behaupten, daß man nie die Hoffnung aufgeben soll. Mag die Zukunft auch noch so dunkel aussehen. Aber, Herr Hoddge", lenkte er ab, „ich habe ein neues Bedenken. Sie sagten sehr richtig, daß die Zeitungen unser Abenteuer sehr genau, fast zu genau, beschrieben haben. Also wird jeder, der vielleicht mit dieser Sekte zu tun hat, vielleicht als Spion tätig ist, unseren Pongo sofort erkennen und sicher die einfache Schlußfolgerung daraus ziehen können, daß wir auf der Suche nach dem verschwundenen Herrn von Valentini sind." „Stimmt", rief Hoddge eifrig, „das müssen wir vermeiden.

Ihr Pongo muß stets hinter uns bleiben. Daß er uns nicht verlieren wird, dafür bürgt wohl sein Können, und ebenso, daß ihn niemand entdecken wird." „Ja, das muß er machen", pflichtete Rolf bei, „dann haben wir stets eine Rückendeckung, wie wir sie uns besser gar nicht wünschen können. Also bestellen Sie zwei Sampans, Herr Hoddge. Pongo wird uns dann folgen." „Nicht fahren, Massers", rief da unser schwarzer Freund, der aufmerksam gelauscht hatte, „Pongo laufen. Wird Massers immer sehen."

„Das ist noch besser", rief Hoddge, „denn ein zweiter Sampan fällt unbedingt auf. Aber da kommt das Essen. Jetzt wollen wir alle Erwägungen beiseite lassen und an unsere Körper denken. Wir brauchen sicher alle Kräfte zu unserem schweren Vorhaben."

Das war richtig, und so ließen wir dem vorzüglichen Abendbrot alle Ehre zuteil werden.

Später kam der zweite Boy zurück und brachte den Anzug und die Wäsche für Frau Ellen. Kapitän Hoddge bestand jetzt darauf, daß wir uns zur Ruhe begaben, unter der sehr richtigen Bemerkung, daß wir vielleicht in nächster Zeit nur selten zu ungestörtem Schlaf kämen. Er führte uns in den hinteren Teil des Hauses und wies uns drei kleine, hübsch eingerichtete Zimmer an. „Ich werde Sie pünktlich wecken", sagte er beim Gutenachtgruß, „schlafen Sie gut unter meinem Dach." Aller Zauber einer Tropennacht umgab uns, als wir zwei Stunden vor Tagesanbruch im Sampan nordwärts fuhren. Derselbe Siamese, der uns von der Barre gefahren hatte, stand am Heck seines Fahrzeuges und trieb es mit kräftigen Ruderschlägen vorwärts. Vorn im Bug saß Hoddge, hinter ihm Frau Ellen, dann folgte Rolf, während ich dicht vor dem Siamesen saß.

Die Kronen der Bäume ringsum waren vom nächtlichen Leben der niederen Tiere, von Insekten erfüllt, und von Zeit zu Zeit plätscherte es vor oder neben uns von einem großen Fisch, vielleicht aber auch einem Krokodil. Ich dachte manchmal daran, daß es doch sehr peinlich wäre, wenn solch unangenehmer Gast gegen unser leichtes Boot schlagen würde.

Aber die eintönige Fahrt schläferte schließlich ein, und so druselte ich vor mich hin, bis plötzlich die Sonne aufging und die kleinen Wellenkämme mit ihrem goldigen Licht übermalte. Wir hatten Bangkok bereits hinter uns und fuhren jetzt durch üppigen, dichten Urwald, in dem wohl auch die wehrhaften Dschungelbewohner ein ungestörtes Leben führten. Knorrigen Stämmen gleich ragten oft die scheußlichen Köpfe großer Krokodile aus der schäumenden Flut, um bei unserem Nahen mit gurgelndem Geräusch unterzutauchen.

„Es ist doch nicht gut möglich", brummte Rolf plötzlich, als ein besonders großer Bursche verschwand, „hier könnte kein Leichnam hindurch schwimmen. Die Morde müssen also in der Stadt begangen und die Körper dort in den Fluß geworfen sein." Frau von Valentini schüttelte sich.

„Es ist alles so schrecklich und geheimnisvoll", seufzte sie, „was mag uns nur noch bevorstehen?"

Hätte sie es geahnt, dann wäre sie wohl nicht weiter mitgekommen, aber jetzt hob sie gespannt den Kopf, als Hoddge sagte:

„Wenn wir diese Biegung da vorn passiert haben, sehen wir die Hütte des Heiligen. Hoffentlich ist er allein. Wo mag Pongo jetzt stecken? Ob er es fertig gebracht hat, gleichen Schritt am Ufer mit uns zu halten?" „Ich bin überzeugt, daß er uns ständig im Auge behält", sagte Rolf. „Ah, da ist ja die Hütte, und der Heilige sitzt vor der Tür beim Morgenmahl. Eigentlich ein sehr idyllisches Bild. Herrgott, er ist verloren!" Dieser Schreckensruf meines Freundes war berechtigt, denn ein ungebetener, unerwarteter Gast drohte das Idyll, wie es Rolf soeben genannt hatte, zu vernichten. Es war ein riesiger Königstiger, der wenige Meter von dem alten Siamesen aufgetaucht war, ihn sekundenlang anstarrte und sich dann zum Sprung duckte. Der „Heilige" saß ganz regungslos und blickte dem furchtbaren Tod mit lächelnder Ruhe entgegen. Sein abgeklärter Glaube ließ ihn wohl keinen Schrecken vor dem Übergang ins Nirwana empfinden.

Aber wir mußten den Alten retten, denn er war unsere einzige Hoffnung, den Verschwundenen wieder zu finden. Rolf riß seine Parabellum aus dem Gürtel, und ich folgte sofort seinem Beispiel. Fünfzig Meter waren wir noch von dem Platz entfernt, auf dem sich im nächsten Augenblick das furchtbare Drama abspielen mußte, unser Sampan schwankte in den leichten Wellen, und wir waren aufgeregt, wie wohl selten im Leben. Es ging ja hier um so viel, nicht nur um das Leben des alten Siamesen, sondern auch um das eines Europäers und um das Geschick seiner jungen Frau. Aber als wir jetzt die wunderbaren Waffen erhoben, fühlte ich doch, daß es nutzlos war. Gewiß würden wir treffen, vielleicht auch tödlich, aber die Bestie würde sich doch auf den Heiligen schnellen und ihn im Todeskampf zerreißen.

Aber bevor wir unser Ziel fassen konnten, war schon der Retter da, an den ich gar nicht gedacht hatte. Der Kopf des Tigers fuhr plötzlich herum, und die grausamen Augen starrten auf ein mächtiges Gebüsch, das die kleine Lichtung zur rechten Seite von uns abschloß. Und vor diesem Gebüsch stand plötzlich, wie aus der Erde gewachsen - Pongo -, vielleicht zehn Meter von der Urwaldbestie entfernt.

Langsam richtete sich der Tiger auf, als wollte er überlegen, welches Opfer er sich zuerst holen sollte. Aber vielleicht ahnte er auch, daß von der riesigen Gestalt ihm der Tod drohte. Doch ehe er eine Drehung ausführen konnte, griff Pongo schon ein. Sein riesiger Arm schnellte empor, und wie ein Blitz zuckte sein schwerer Massaispeer, mit seiner vollen, furchtbaren Kraft geworfen, über die Lichtung.

Der Tiger bäumte sich hoch und hob die mächtige Pranke gegen den heranbrausenden Blitz, aber in der nächsten Sekunde vergrub sich die breite Eisenspitze schon in seiner Brust, und durch die furchtbare Gewalt wurde er hintenüber gerissen.

Brüllend, fauchend und mit den Pranken schlagend wälzte sich der schwere Körper hin und her. In Sekundenschnelle hatte sich dieser Vorgang abgespielt. Jetzt erwachten wir aus unserer Erstarrung, die uns bei diesem Schauspiel ergriffen hatte, suchten ruhig unser Ziel, und im nächsten Augenblick peitschten je zwei Schüsse aus unseren Parabellumpistolen hinüber. Die schweren Kugeln mit ihrer enormen Durchschlagskraft taten ihre Schuldigkeit. Mit furchtbarem Brüllen bäumte sich der mächtige Körper des Tigers auf, ein kurzes, blindwütiges Toben folgte - dann streckten sich die riesigen Glieder, und der Körper fiel zurück. Pongo glitt über die Lichtung, nickte uns lachend zu und riß seinen Speer aus dem toten Gegner. Dann verschwand er schlangengleich in den nächsten Büschen. Der alte Siamese, der „Heilige am Strom", hatte ihn nicht aus den Augen gelassen. Jetzt drehte er den Kopf uns zu, und ich sah seine Augen in maßlosem Erstaunen weit geöffnet. Selbst seine Ruhe, die er beim Anblick des nahen Todes gezeigt hatte, war durch Pongos Tat erschüttert worden.

Wir legten an, und Hoddge sprang heraus. Höflich half er Frau Ellen beim Aussteigen, wartete, bis wir ebenfalls den Sampan verlassen hatten, und schritt uns voran auf den „Heiligen" zu. Er verbeugte sich vor dem Alten und sagte:

„Mongkut, hier bringe ich Freunde, die des Rates bedürfen."

Zu unserem Erstaunen erwiderte der Siamese in tadellosem Englisch:

„Ihre Freunde, Herr Hoddge, sind auch die meinen. Sie haben verhindert, daß ich jetzt bereits ins Nirwana ging. So glaubte ich, daß der Erhabene mich durch ihre Hand geschützt hat, damit ich ihnen helfen kann."

Er musterte uns langsam und eindringlich. Rolf und mir nickte er zu, als wollte er sagen, daß wir ihm gut gefielen. Als er Frau von Valentini betrachtete, zogen sich seine Augen sekundenlang zusammen, dann senkte er den Kopf und murmelte:

„Die Memsahib ist es, die meinen Rat und meine Hilfe will. Sie möge mir erzählen, was ihre Seele bedrückt." Frau Ellen kniete vor dem Alten nieder, blickte ihn mit ihren wunderbaren Augen zwingend an und sprudelte ihr Leid heraus. Ich hatte währenddessen Zeit, den Alten zu betrachten. Er trug nur ein gelbes Hüfttuch, das bis zu den Knien reichte. Sein Oberkörper war von erschreckender Magerkeit, jede Rippe, jeder Knochen trat aus der Bronzehaut wie gemeißelt hervor. Doch man vergaß diesen Anblick, wenn man die gütigen, großen Augen sah, auf deren dunklem Grund goldene Lichter zu spielen schienen.

Mit unbeweglicher Miene lauschte er dem aufgeregten Bericht der jungen Frau. Als sie das rote Seidenstück erwähnte, zog er die weit geöffneten Augen sekundenlang zusammen, aber in seinem Gesicht zuckte kein Muskel. Minutenlang saß er sinnend da, als Frau Ellen schwieg, dann streckte er die Hand aus und sagte nur: „Wo ist das Seidenstück?"

Frau von Valentini zog es aus der Tasche ihres Jacketts. Kaum hatte Mongkut einen Blick auf die verworrenen weißen Striche geworfen, als er langsam nickte. Und mit furchtbarem Ernst in der Stimme sprach er: „Meine Freunde haben mir das Leben gerettet. Ich würde ihnen dafür gern das Geheimnis dieser Seide verraten, aber ich würde sie dadurch in den Tod schicken."

„Wir fürchten den Tod nicht, o Mongkut", fiel Rolf ein.

„Wir haben beschlossen, den Verschwundenen zu retten. Und nichts soll uns davon abhalten."

Der Alte nickte, als habe er diese Worte erwartet. Dann blickte er wieder Frau Ellen an, und als sie flehend die Hände gegen ihn erhob, sagte er:

„Unser Geschick ruht in den Händen des Erhabenen. Er hat mich in seiner Weisheit retten lassen, damit ich sprechen soll. Herr Hoddge, schicken Sie den Mann fort." Er deutete dabei auf den Sampanmann, der unsere Gruppe neugierig betrachtete. Der Kapitän lohnte ihn ab und blieb am Ufer stehen, bis er um die Biegung des Flusses verschwunden war. Als Hoddge jetzt wieder zu uns trat, fragte der „Heilige":

„Wer war es, der den ,Herrn' dort angriff?" Er zeigte dabei auf den Tiger.

„Unser treuer Freund", sagte Rolf, „der sein Leben für uns hingeben würde."

„Ich glaubte, er sei aus Balis, des Dämonenkönigs Schar", murmelte der Alte, „doch auch er wird sterben, wenn ihn die ,Feuer-Priester' fangen. Still, fort in die Büsche", fuhr er plötzlich fort, „sie kommen."

Er machte eine befehlende Handbewegung, daß wir uns sofort in die nächsten Büsche zurückzogen. Der Alte mußte ein wunderbares Gehör haben, denn erst nach einigen Minuten hörten wir das taktmäßige Klatschen von Ruderschlägen, die sich von Norden her näherten. Vorsichtig lugte ich durch einige Löcher des Busches, und da tauchte ein großer Sampan auf, von einem untersetzten Siamesen in gelbem Gewand getrieben. Vier Siamesen in denselben gelben Gewändern hockten reglos auf dem Boden des Fahrzeugs, während vorn am Bug ein halbnackter, zusammen gekrümmter Körper lag. Wie ein unheimlicher Spuk glitt der Sampan vorbei. Mongkut hatte den Kopf gesenkt und schien völlig in die Betrachtung seines kleinen Feuers vertieft zu sein, während die Siamesen im Boot kurze Blicke hinüber geworfen hatten. Erst einige Minuten, nachdem der Sampan verschwunden war, hob der Alte wieder den Kopf und sagte ernst:

„Bleiben Sie in Ihren Verstecken. Sie kommen bald wieder zurück. Sie übergeben wieder einen Gerichteten dem Fluß, damit die Bewohner der Stadt die Macht der Feuerpriester sehen. Möge der Erhabene verhüten, daß Sie dasselbe Schicksal erleiden. Warten Sie, bis die Henker zurückgekehrt sind, dann folgen Sie dem Fluß. Einige Stunden aufwärts teilt sich der Strom und umfließt eine große Insel. Wenn die Sonne gesunken ist, leuchtet mitten im wilden Dickicht dieser Insel ein Feuer auf. Dort werden Sie ihn finden, den Sie suchen. Danken Sie mir nicht, denn ich sende Sie dem Tod entgegen." Wir wagten auf diese Worte nichts zu erwidern, denn der „Heilige" hatte wieder den Kopf sinken lassen, und die furchtbaren Feuerpriester konnten jeden Augenblick zurückkommen. Nur Frau Ellen schluchzte leise. Sie dachte wohl nicht an die furchtbaren Gefahren, denen wir entgegengingen, sie hatte wohl nur gehört, daß wir ihn, ihren Gatten, dort oben finden sollten.

Über eine halbe Stunde verstrich. Wir standen bewegungslos zwischen den dichten Zweigen und warteten in atemloser Spannung auf die Rückkehr der Henker. Sie mußten ja ziemlich weit abwärts fahren, ehe sie den Körper des Gerichteten dem Menam übergeben konnten, sollte er nicht von Krokodilen zerrissen werden, ehe er in die Stadt getrieben wurde.

Der „Heilige" war völlig in sich versunken, starrte ins Feuer und murmelte monotone Gebete vor sich hin. Vielleicht flehte er zum Erhabenen, daß er uns auf unserem gefährlichen Weg schützen möge. Endlich klangen wieder Ruderschläge von Süden her. Nach wenigen Minuten schoß der Sampan der Feuerpriester wieder vorbei. Jetzt hatten auch die vier Priester kurze Ruder in den Händen und trieben das leichte Fahrzeug mit kräftigen Schlägen gegen den Strom. Wieder blitzten fünf Augenpaare zu dem alten Heiligen hinüber, der sich nicht regte, bis das unheimliche Fahrzeug verschwunden war. Langsam traten wir aus den Büschen heraus. Jetzt hob Mongkut den Kopf und blickte uns lange an. „Mongkut", sagte da Rolf, „darf ich noch eine Frage stellen?"

„Meinem Lebensretter werde ich alles sagen", murmelte der Alte, „aber es wird zu seinem Verderben sein." „Nun, wir verstehen es, uns gegen alle Gefahren zu wehren", sagte Rolf ruhig, „denn unsere Gegner sind auch nur Menschen. Mongkut, ich hätte gern gewußt, was dieser rote Seidenlappen bedeutet."

„Er ist das Zeichen der Feuerpriester, mit dem sie die von ihnen Gerichteten kennzeichnen, damit das Volk ihre

Macht sieht. Der weiße Elefant, der in ganz Siam als heilig gilt, ist ihr höchster Gott. Sie sind mächtig und weit verbreitet, und wer ihr gelbes Gewand tragen darf, der genießt überall Ehren, Schutz und Hilfe." „Sind sie nur so mächtig durch ihren Glauben geworden, oder üben sie noch irgendwelche Funktionen aus, die dem Volk Nutzen bringen?"

„Sie gewähren allen, die in Not gekommen sind, Hilfe in weitestgehender Form. Aber sie verlangen auch Gegenleistungen dafür, und wer den Vertrag bricht, dessen Körper muß den Menam hinab schwimmen, mit einem Messer in der Kehle und mit dem roten Seidentuch gezeichnet. So zwingen sie ihre Schuldner durch Verbreitung von Schrecken, die Verträge zu halten."

„Also betreiben die Herrschaften eine Art Wuchergeschäft und sind in ihren Mitteln gegen die Schuldner sehr rigoros. Nun, dann kann ich mir denken, daß so leicht niemand gegen sie vorzugehen wagt. Und die allgemeine religiöse Einstellung des ganzen Volkes vergrößert ihre Macht noch mehr. Sicher sind auch Polizisten, ja, vielleicht sogar Staatsbeamte ihre Schuldner, und dann ist es natürlich völlig zwecklos, die Hilfe der Behörden gegen sie in Anspruch zu nehmen."

„Sind Sie zum erstenmal in unserem Land", fragte der Heilige erstaunt, „oder halten Sie sich schon längere Zeit hier auf?"

„Ich bin seit gestern nachmittag zum erstenmal hier", lächelte Rolf, „aber diese Kombination war wirklich nicht schwer. Ich mußte dabei an einen Siamesen denken, den ich in Singapore als Polizist in englischen Diensten traf.

Er erschrak furchtbar beim Anblick des roten Tuches, und ich denke mir, daß er ebenfalls ein Schuldner der Gesellschaft und aus Siam geflohen ist."

„Das ist sehr wahrscheinlich", nickte Mongkut, „viele Leute verlassen deshalb ihr Heimatland; wenn sie es allerdings noch verlassen können und nicht vorher den Menam hinab schwimmen. Und viele, die sich schwer gegen die Gesellschaft der Feuerpriester vergangen haben, werden sogar dann auch noch verfolgt, bis sie doch dem Stahl des Henkers zum Opfer fallen." „Nun, dann kann uns ja dieses Geschick auch blühen", meinte Rolf leichthin, „falls uns der Befreiungsversuch gelingen sollte. Nun, mit uns sollte es ein Henker dieser Gesellschaft wirklich nicht leicht haben. Aber ich habe doch noch mehr Fragen, Mongkut, für deren Beantwortung ich Ihnen sehr dankbar wäre." „Ich werde sie beantworten, so gut ich es vermag", murmelte der Alte, „doch möge Ihr Blut nicht über mich kommen."

„Es ist ja mein eigener freier Wille, mich in diese Gefahr zu begeben. Ich möchte noch folgendes wissen. Hermann von Valentini, der Mann unserer Begleiterin, hat ein auffälliges Mal. Eine breite, weiße Strähne in seinem dunklen Haar. Ist es möglich, daß ihn deshalb die Feuerpriester gefangen halten?"

„Ein weißes Zeichen?" fragte Mongkut erstaunt, „dann werden sie ihn benutzen, um bei ihren Festen, an denen sich die Schuldner zu versammeln pflegen, ihre Macht zu festigen. Sie werden erzählen, daß ihr oberster Gott, der weiße Elefant, selbst diesen Fremden gekennzeichnet und ihnen gesandt hätte, um seine Größe und Macht zu beweisen. Dann wird es aber sehr schwer sein, ihn zu befreien, denn jetzt werden sie ihn sehr scharf bewachen." „Das ist allerdings unangenehm", meinte Rolf, „aber ich hoffe, daß er selbst unsere Bemühungen mit allen Kräften unterstützen wird. Ich wundere mich überhaupt, daß er nicht schon längst einen Fluchtversuch gewagt hat." „Von der Insel der Feuerpriester zu entkommen, ist fast unmöglich", murmelte der Heilige, „sie ist von Menschen und Tieren bewacht. Und der Gefangene darf den Tempel nicht verlassen."

„So war es für ihn also auch unmöglich, seiner Frau irgendeine Nachricht zu senden?"

„Niemand hätte es gewagt, einen Brief von ihm zu befördern. Ja, irgendein Schuldner, der ihn vielleicht gesehen hat, hätte nie gewagt, darüber zu sprechen. Die Gerichteten, die den Menam hinab schwimmen, schrecken auch den Kühnsten zurück. Und hätte jemand nur mit dem Gefangenen gesprochen, er wäre nicht lebend nach Bangkok gelangt."

„Jetzt kann ich mir auch sein Schweigen erklären, und nun will ich nur noch einen Punkt wissen. Weshalb wohl haben die Feuerpriester unserer Begleiterin das rote Tuch geschickt?"

„Sie konnten wohl damit rechnen, daß die junge Frau Nachforschungen nach ihrem Mann anstellen würde. Hätte sie sich nun an die Behörde gewandt und das rote Tuch gezeigt, dann hätte sie nie eine Unterstützung gefunden.

Im Gegenteil, sie selbst wäre aufs schwerste gefährdet gewesen. Denn fast jeder Beamte, ja fast jeder Siamese hätte gewußt, daß die Feuerpriester den geringsten Wink mit dem Tode bestrafen würden. Oh, die oberen Priester sind klug. Sie wissen genau, daß die junge Frau das Tuch zeigen würde. Sie konnten aber nicht ahnen, daß so tapfere Männer ihrem Geheimnis nachspüren würden, sie konnten auch nicht ahnen, daß diese Männer auf den Befehl des Erhabenen mein Leben retten sollten, damit ich ihnen den Weg weisen sollte."

„So ist die Sendung dieses Tuches also zu erklären", sagte Rolf bewundernd, „das ist allerdings sehr klug gehandelt. Und es war ein Glück für Frau von Valentini, daß sie nicht auf eigene Faust nach Bangkok gefahren ist, sondern uns traf."

„Der Erhabene hat es so gelenkt", sagte Mongkut feierlich, „ihr sollt den Gefangenen retten oder dabei den Tod finden."

„Nun ja, die Wege des Schicksals sind oft wunderbar", sagte Rolf ernst. „Mongkut, ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Und ich gehe frohen Mutes der Gefahr entgegen, mit der festen Überzeugung, daß uns das Werk gelingt." Wieder blickte Mongkut uns lange an. Seine weit geöffneten Augen mit dem goldenen Schein schienen Visionen zu sehen, denn er bewegte lautlos die Lippen. Manchmal zog es wie furchtbarer Schreck über seine Züge, dann nickte er wieder, als erfreue ihn das Bild, das sein inneres Auge sah. Dann zuckte er zusammen, hob die Hand und senkte den Kopf.

„Meine Gedanken sind bei euch", murmelte er, „meine Wünsche begleiten euch. Möge euch der Erhabene schützen und euch sicher zurückführen." Er machte eine kurze, verabschiedende Handbewegung, nickte jedem zu und ließ den Kopf wieder sinken. Fast scheu überschritten wir die Lichtung und drangen an der Stelle in den dichtesten Wald, an der Pongo verschwunden war.

3. Kapitel

Die Tempelinsel

Es schien, als wollte die Natur selbst uns von unserem Vorhaben zurückhalten, so dicht und verflochten stellte sich uns das dornige Unterholz des Waldes entgegen. Die Palmen, die sich aus dieser verworrenen Masse emporhoben, waren bis zur breiten Krone mit Schmarotzern. Moosen, Farnen und Orchideen bedeckt. Und überall schlangen sich Lianen und Rotang in armdicken Tauen von Stamm zu Stamm.

Hoddge, der als erster eingedrungen war, kratzte sich ratlos den Kopf. Er war wohl noch nie in die Lage gekommen, einen tropischen Urwald durchqueren zu müssen, und stand jetzt ratlos dieser undurchdringlichen Wand gegenüber. Rolf lachte und blickte aufmerksam umher. Dann deutete er auf einige frisch abgeschlagene Dornenzweige und Rotangstücke, die vor einer schmalen Lücke lagen.

Hier war unser Pongo eingedrungen und hatte sich mit seinem Messer einen Weg geschlagen. Nun muß ich erwähnen, daß dieses Messer ebenso außergewöhnlich war wie Pongo selbst. Er hatte sich in Singapore ein sogenanntes Haimesser gekauft, dessen haarscharfe Klinge wohl einen halben Meter maß.

Wir hatten ja in Singapore genügend Zeit gehabt, alle Angelegenheiten zu regeln, so auch nach Sumatra zu telegraphieren und Sergeant Vaasen, den wir mit den beiden gefangenen Tigern am Rand des Todessumpfes zurückgelassen hatten, an die Küste zu beordern. Die beiden Prachtexemplare brachten uns ein schönes Stück Geld ein, und Pongo erhielt seinen angemessenen Teil; hatte er doch das meiste zum Fang beigetragen. Und anstelle des malaiischen Kris und des Klewang, die ihm verloren gegangen waren, hatte er sich dieses Messer erwählt. In seiner Hand eine furchtbare Waffe, aber auch ein sehr nützliches Instrument, wenn es - wie hier - galt, einen Pfad durch die Wildnis zu schlagen. Wir hatten uns mit kürzeren Haumessern begnügt, die wir jetzt auch kräftig gebrauchen mußten, um kleinere Dornenranken fortzuräumen. Denn es galt ja jetzt, für die junge Frau einen möglichst bequemen Weg zu schaffen, sollte sie uns nicht bald durch die körperlichen Anstrengungen zusammenbrechen.

Rolf hatte sich an die Spitze unseres kleinen Zuges gesetzt, ich folgte ihm, um beim Abschlagen der unangenehmen Dornenranken zu helfen. Dann kam Frau Ellen, während Hoddge den Schluß machen mußte, um uns nötigenfalls den Rücken freizuhalten. Ich drehte mich von Zeit zu Zeit um, in Sorge, ob die junge Frau nachkäme, aber jedesmal nickte sie mir mit tapferem Lächeln zu. Und dabei herrschte unter dem grünen Laubdach eine Temperatur, die das Atmen beengte und das Herz schwer schlagen ließ. Und trotz des schmalen Pfades, den Pongo gebrochen hatte und den wir so gut wie möglich säuberten, war das Vorwärtskommen eine Anstrengung, die selbst uns hart zu schaffen machte. Wurzeln und Gräser hemmten den Fuß, oft glitten wir aus, traten in tiefe, feuchte Löcher oder mußten über sturmgefällte Urwaldriesen klettern.

Gar oft beneidete ich die fünf Feuerpriester, die denselben Weg so bequem auf ihrem Sampan zurücklegten, und dachte im stillen, daß wir doch auch ruhig ein beträchtliches Stück den Menam hätten hinauf rudern können. Aber vielleicht hatte die geheimnisvolle Sekte Posten am Ufer aufgestellt, sonst hätte wohl der „Heilige" unseren Sampan nicht fortgeschickt und uns den Weg durch den Wald gewiesen.

Über eine Stunde waren wir schon mühsam vorwärts gekommen, da stießen wir auf Pongo, der hinter einem dicken Busch kauerte und gespannt durch die Blätter lugte. Er drehte sich um, als er mit seinem feinen Gehör unser Kommen bemerkte, und legte warnend den Finger auf den Mund. Jetzt schlichen wir vorsichtig zu ihm hin und kauerten uns neben ihm nieder. Durch die Zweige konnten wir jetzt eine Lichtung überblicken, auf deren Mitte sechs Gestalten in gelben Gewändern eifrig beschäftigt waren.

Es waren die Feuerpriester, denn sie hatten dieselbe Kleidung wie die Henker im Sampan. Bald erkannten wir auch, was sie dort machten. Eilfertig entfernten sie Zweige von einer Grube, dann erhob sich der Größte, schwang ein langes Messer über dem Kopf und warf es mit kräftigem Ruck in die Grube hinab. Sollte Sie wieder ein Todesurteil vollzogen haben?

Zwei Priester sprangen jetzt in die Grube hinab, die vier oben Stehenden warfen ihnen Stricke hinunter - dann zogen sie einen starken Hirsch empor. Also hier jagten sie und sorgten für die Küche des Tempels. Dann müßte auch ein guter Weg zur Insel führen, denn mit der Last des schweren Hirsches konnten sie nicht einen schmalen Pfad entlang schreiten.

Die beiden Priester kletterten jetzt aus der Grube heraus, sorgsam wurden die Zweige wieder aufgelegt und die Falle hergerichtet, dann schoben sie eine Bambusstange durch die zusammengebundenen Beine des Wildes und verließen die Lichtung am gegenüberliegenden Ende. In äußerster Spannung warteten wir geraume Zeit. Jetzt mußten wir ja bald den geheimnisvollen Tempel sehen, und dann begann die schwierige, vielleicht unlösbare Aufgabe, den Verschwundenen zu retten, wenn er dort gefangengehalten wurde.

Zuerst glitt Pongo um das Gebüsch herum und schnellte sich über die Lichtung. Drüben blieb er stehen und winkte uns eifrig. Schnell folgten wir ihm und befanden uns am Anfang eines breiten Pfades, den irgendein Großwild getreten haben mußte. Er schien oft benutzt zu werden, denn der Boden war hart und eben, und keine hindernden Dornenranken legten sich über den Weg. Pongo übernahm jetzt die Führung. Er war uns immer einige Schritte voraus, und wir folgten ihm unbesorgt, denn es gab wohl kaum ein Hindernis, das der schwarze Riese nicht leicht beseitigt hätte. Plötzlich ging er langsamer und hob warnend die Hand.

Der Pfad machte in ungefähr zwanzig Meter Entfernung einen scharfen Knick. Vorsichtig schlich Pongo vor und spähte um die Ecke. Dann winkte er uns, trat zurück und ließ uns ebenfalls nacheinander einen Blick um die Biegung werfen. Fünfzig Meter ging der Pfad hinter dem Knick geradeaus, und an seinem Ende schimmerte Wasser.

Ein Sampan überquerte gerade den breiten Wasserarm, und in ihm saßen die sechs Priester, die wir auf der Lichtung beobachtet hatten. Gerade, als ich hinblickte, packten die vier in der Mitte den Hirsch und warfen ihn in das aufspritzende Wasser. Weiter konnte ich nichts sehen, denn Pongo zog mich zurück und schob Frau von Valentini vor.

Als auch Hoddge um die Ecke gespäht hatte, tauschten wir unsere Meinungen über das Erblickte aus. „Ich sah eine wilde Bewegung im Wasser", sagte Frau Ellen. „Wellen und Spritzer schlugen hoch, als sprängen dort viele große Fische umher."

„Es waren keine Fische", sagte Hoddge ruhig. „Die Priester haben gute Wächter hier im Fluß, die sie vor unliebsamem Besuch schützen. Es sind riesige Krokodile, und der Hirsch war wohl die tägliche Nahrung, um sie an diesem Platz zu halten."

„O Gott", klagte die junge Frau, „wie kommen wir dann hinüber?"

„Wir müssen uns ein Floß bauen", schlug Rolf sofort vor. „Selbstverständlich können wir nur nachts übersetzen, denn ich bin überzeugt, daß am Tage der Fluß ständig unter Aufsicht ist. Wir wollen uns jetzt zurückziehen, wollen Bambusrohre schlagen und das Floß mit Rotang

zusammenbinden. Dann müssen wir auch für Nahrung sorgen, und das müssen wir Pongo überlassen, da wir hier in der Nähe des Tempels nicht schießen dürfen. Pongo muß irgendein Wild mit seinem Speer erlegen. „Meinen Sie nicht, daß gerade nachts der Fluß noch schärfer bewacht wird?" meinte Hoddge. „Oder ist es nicht möglich, daß die Priester Fallen unter Wasser verborgen haben, die ein Boot oder Floß zertrümmern, so daß die Insassen eine Beute der Krokodile werden?" „Ja, das ist vielleicht möglich", gab Rolf zu, „denn ich traue diesen Priestern alles zu. Wie sollen wir es aber machen? Hinüber müssen wir, und wenn wir dieselbe Richtung einhalten, wie soeben der Sampan der Priester, denn brauchen wir kaum ein Hindernis zu fürchten. Denn Fallen mit Alarmvorrichtungen werden sie wohl kaum gebaut haben. Sonst hätten Sie, Herr Hoddge, auch beobachten müssen, ob die Priester beim Aussteigen irgendeinen Hebel betätigt oder an einem Seil gezogen haben." „Nein, ich habe nichts gesehen. Sie zogen das Boot aus dem Wasser und verschwanden mit ihm in den Büschen." „Dann laufen wir beim Überqueren des Flusses sicher keine Gefahr. Trotzdem wäre es gut, wenn wir abwechselnd den Pfad hier beobachteten. Wir anderen ziehen uns auf die Lichtung zurück, und der Posten muß uns sofort benachrichtigen, wenn die Priester noch einmal kommen sollten."

„Gut", meinte Hoddge, „dann wollen wir vier Männer uns zweistündlich ablösen. Die letzte Wache fällt dann passend mit dem Einbruch der Dunkelheit zusammen. Wenn Sie gestatten, fange ich sofort an."

Frau von Valentini erklärte zwar, daß sie auch wachen wollte und keine Rücksicht erbäte, aber sie wurde lachend überstimmt. Während Hoddge sich so auf den Pfad hinlegte, daß er um die Biegung blicken konnte, zogen wir anderen uns zurück und gingen eiligst auf die Lichtung. Hier machte ich mich mit Rolf an das Schlagen starker Bambusrohre, während Pongo im Dickicht verschwand, um ein Wild zu erlegen.

Nach einer Stunde hatten wir genügend Rohr und schnitten jetzt dünne Rotangranken, die wir zu haltbaren Seilen zusammen flechten wollten. Als wir nach halbstündiger Arbeit auf die Lichtung zurückkehrten, fanden wir Pongo vor, der einen jungen Hirsch erlegt hatte und bereits dabei war, ihn abzustreifen. Wir warfen schnell eine Grube aus und sammelten trockene Zweige, um ein möglichst rauchloses Feuer zu bekommen. Und als der Hirsch endlich am Spieß steckte - mußte ich fort, um Hoddge abzulösen. Doch versprach mir Rolf, der meinen traurigen Abschiedsblick auf den schönen Braten wohl verstand, mir ein tüchtiges Stück zu bringen, wenn er fertig wäre. So getröstet, lief ich schnell den breiten Pfad hinunter und löste Hoddge ab.

„Es hat sich drüben nichts gerührt", meinte der Kapitän, „aber mir war es so, als schliche hier im Dickicht irgend etwas um mich herum. Sie müssen gut Obacht geben, Herr Warren, und stets den Finger am Abzug halten. Es ist eine unheimliche Wache, wenn man die Gefahr nicht kennt, die in nächster Nähe herum geistert. Na, viel Vergnügen. Zwei Stunden sind ja schnell herum." „Sagen Sie bitte Rolf, er möchte mein Essen nicht vergessen", bat ich, „vielleicht habe ich den Geist, den Sie vermuten, inzwischen unschädlich gemacht." Das sagte ich zwar lachend, aber im Innern war mir ganz und gar nicht so angenehm zu Mute. Kapitän Hoddge war nicht der Mann, leichtsinnig von irgendeiner unheimlichen Gefahr zu sprechen, wenn er nicht schwerwiegende Gründe dafür hatte. Und es war sehr leicht möglich, daß die vorsichtigen Feuerpriester im Dickicht neben dem Pfad Posten gestellt hatten, die wohl nicht lange mit einem hinterlistigen Dolchstoß warten würden, wenn sie mich entdeckten.

Hoddge schmunzelte, als ich jetzt meine Browning-Pistole zog - die Parabellum war mir für einen eventuellen Nahkampf zu lang und schwer - und mich mit gleichgültiger Miene dicht neben dem dichten Busch niedersetzte; der am Knick des Pfades stand. Ich brauchte mich nur etwas vorzubeugen, um den Fluß überblicken zu können. „Ich glaube, ich habe auch eine mutige Miene gemacht", flüsterte er, „aber mir war gar nicht so wohl zu Mute. Legen Sie sich lieber lang hin, Herr Warren, dann haben Sie den Fluß stets im Auge."

„Das schon, aber ich kann mich dann nicht wehren, wenn der Geist, den Sie vermuten, plötzlich Gestalt annimmt und mir auf den Rücken springt."

„Das ist auch richtig. Na, ich werde Ihrem Freund sagen, daß er sich mit dem Essen möglichst beeilen soll. Auf Wiedersehen, lieber Warren, und viel Glück."

Er nickte mir ernst zu und lief den Pfad zur Lichtung zurück. Als ich ihn aus den Augen verloren hatte, stand ich auf und musterte sehr genau die Umgebung. Und das beruhigte mich, denn die Büsche waren hier so dicht, daß es wohl selbst Pongo kaum fertig gebracht hätte, geräuschlos auf den Pfad zu gelangen, um mich zu überfallen. Selbst eine Bewegung tief innen im Dickicht hätte ich schon hören müssen. Also waren die Geräusche, die Hoddge gehört hatte, sicher durch irgendein kleines Tier verursacht worden.

Aufatmend setzte ich mich wieder auf meinen Platz, beugte mich etwas vor und beobachtete den Fluß und das Stückchen Insel, das ich sehen konnte. Unheimlich ruhig lag der Wald. Alles Leben schien erstorben zu sein. Diese Totenstille am Tage ist ja überhaupt in den tropischen Urwäldern so eigenartig. Kaum daß einmal eine Affenschar lärmt oder ein Vogel kreischt. Erst mit Einbruch der Dunkelheit setzt das millionenstimmige Konzert der Insekten und niederen Tiere ein, oft unterbrochen von den gewaltigen Urlauten der wehrhaften Dschungelbewohner, dem Trompetenton eines Bullelefanten, dem Röhren eines Wildtieres, dem Schnarren eines Tigers oder dem Fauchen eines Panthers. Das Stückchen Fluß da vor mir blinkte in den glühenden Sonnenstrahlen, und ich mußte die Augen zu einem schmalen Spalt schließen, um nicht geblendet zu werden. Unwillkürlich strengte ich dafür mein Gehör an, ob ich nicht auch die unheimliche Gefahr bemerken konnte, von der Hoddge gesprochen hatte.

Aber die Stille um mich wurde durch kein Geräusch unterbrochen, nur der Fluß murmelte und plätscherte leise. Ich fand die Wache plötzlich sehr langweilig und überflüssig, denn die drückende, schwüle Hitze und das monotone Rauschen des Flusses wirkten einschläfernd. Blinzelnd betrachtete ich den Inselstreifen da drüben, und um mich wach zu halten, stellte ich mir vor, daß ja Rolf bald mit meinem Essen erscheinen würde. Das gäbe dann immerhin eine angenehme Unterbrechung. Doch eine andere Unterbrechung meiner Langweile war schon nahe, die nicht so angenehm sein sollte. Ich hörte ein Geräusch. Woher es gekommen war, wußte ich nicht, aber es hatte geklungen, als streife ein schmales Band über einen raschelnden Zweig. Sofort richtete ich mich hoch, riß die Augen auf und spähte angestrengt umher. Aber der Pfad zur Lichtung war leer, kein Busch bewegte sich, und mit schnellem Blick über den Fluß stellte ich fest, daß auch dort kein Lebewesen zu sehen war. Sollte es eine Sinnestäuschung gewesen sein? Aber nein, da klang dieses Rascheln wieder, und jetzt hatte ich es genau gehört, es war dicht hinter mir in dem dichten Baum erklungen, in dessen Zweige ich mich mit dem Rücken hinein gelehnt hatte.

Eine Sekunde war ich erstarrt, denn vielleicht war ein Teufelspriester schon dicht hinter mir und hatte den Dolch bereits erhoben, um ihn in meinen Hals zu stoßen. „Schnell aufspringen", war dann mein instinktiver Gedanke. Ich wollte den Oberkörper vorwerfen - aber es war schon zu spät.

Etwas Schwarzes glitt dicht an meinem Hals vorbei und fiel auf meine Hände. So blitzschnell geschah es, daß ich meine Rechte mit dem Browning nicht erheben konnte. Und das Schwarze blieb ruhig auf meinen Händen liegen, allerdings nur teilweise, denn immer noch fühlte ich einen leisen Druck auf meiner rechten Schulter und eine kalte Bewegung am Hals.

Ich blickte hinunter und erstarrte förmlich vor Grauen, denn auf meinen Schoß hatte - eine riesige, fast schwarze Kobra ihren Oberkörper gelegt, hatte den scheußlichen Kopf etwas erhoben und schien züngelnd zu untersuchen, was für einen merkwürdigen Gegenstand sie sich da als Ruheplatz ausgesucht hatte. Ich schloß einen Augenblick die Augen, denn ich hoffte zu träumen, aber da bewegte sich der kalte Körper und strich langsam an meinem Hals entlang. Die Kobra schien gefunden zu haben, daß es sich auf meinem Schoß und meinen Händen sehr gut liege, denn sie zog ihren Körper langsam nach, ringelte sich bequem zusammen und schien sich wirklich sehr wohl zu fühlen. Wie ein sauber zusammengelegtes Tau lag sie auf meinen Schenkeln und Händen, hatte auf den obersten Ring den Kopf gelegt, züngelte von Zeit zu Zeit und schien mich oft mit einem Blick zu betrachten, als wollte sie sagen: „Rühre dich nur nicht."

Das tat ich wirklich nicht. Ich wagte kaum zu atmen, um den furchtbaren Gast nicht zu reizen. Ich kann wohl sagen, daß mir in diesen Minuten, die ich unbeweglich saß und den schwarzen Körper anstarrte, alle Sünden meines Lebens einfielen. Ich wußte genau, daß die leiseste Bewegung einen Biß und damit einen schrecklichen Tod zur Folge gehabt hätte.

War ich schon durch die drückende Hitze in Schweiß gebadet, so trieb mir jetzt das Grauen die hellen Tropfen aus der Stirn, und sie liefen brennend über meine Augen bis zum Mund hinunter. Unwillkürlich blies ich sie fort, aber sofort erhob die Kobra mit blitzschneller Bewegung den Kopf und starrte mich an. Eine halbe Minute mußte ich diese Qual aushalten, dann legte das scheußliche Reptil den Kopf zurück, und ich konnte langsam und vorsichtig ausatmen.

Jetzt fing ich auch an zu überlegen. Rolf mußte ja bald mit dem versprochenen Essen kommen, dann würde er mich schon von dem furchtbaren drohenden Tod erlösen. Aber, wenn inzwischen einige Feuerpriester von der Insel kommen sollten, dann war ich verloren. Wieder vergingen die Minuten - für mich so langsam wie zwei Stunden. Jeden Rettungsweg überlegte ich, aber immer wieder mußte ich einsehen, daß mich nur fremde Hilfe retten konnte. Und bald kreisten meine Gedanken nur um den einen Punkt: „Rolf komm, Rolf komm." Die Kobra hob plötzlich den Kopf. Hatte ich eine unvorsichtige Bewegung gemacht? Doch sie blickte nicht mich an, sondern starrte den Pfad zur Lichtung entlang. Und jetzt schwoll ihr Nackenschild an, die gelbliche Zeichnung, die ihr den Namen „Brillenschlange" eingetragen hat, trat deutlich hervor, und die lange Zunge spielte blitzschnell hin und her.

Jetzt hörte ich auch leise Schritte, die sich näherten. Rolf kam. Ich wagte es, langsam den Kopf nach links zu drehen, und sah endlich seine hohe Gestalt auftauchen. Er winkte mir zu und schwang ein großes, an einem Ast aufgespießtes Stück Fleisch. Als er nahe heran war, fiel ihm wohl meine Reglosigkeit auf.

„Hallo, Hans", rief er leise, „Was hast..." Da brach er mit einem leisen Schreckensruf ab und blieb stehen. Er hatte den furchtbaren Gast auf meinem Schoß entdeckt. Schnell riß er seine Pistole heraus, mochte dann aber daran denken, daß wir hier in der Nähe des geheimnisvollen Tempels nicht schießen durften, und er steckte zu meiner Erleichterung die Waffe wieder ein. Zu meiner Erleichterung, denn wenn er nicht genau den Kopf der Kobra getroffen und zerschmettert hätte, wäre ich immer noch in schwerster Gefahr gewesen, einen tödlichen Biß zu erhalten.

Rolf überlegte einige Augenblicke, zog dann sein Messer und schritt langsam vorwärts. Leise rief er mir dabei zu, mich völlig bewegungslos zu verhalten, eigentlich eine überflüssige Warnung, denn die Kobra wurde immer unruhiger, und ich wagte kaum zu atmen. Jetzt war mein Freund nur noch zwei Schritte entfernt. Die Schlange blähte ihren Nackenschild noch mehr auf und fing aufgeregt an zu zischen. Dabei wiegte sie den aufgerichteten Oberkörper hin und her und kam dabei stets in sehr unangenehme Nähe meines Gesichtes. Rolf ließ sich jetzt vorsichtig auf die Knie nieder und brachte dadurch seinen Körper der Schlange noch näher. Mit der messerbewehrten Rechten holte er weit aus, während er gleichzeitig mit der Linken das Stück Fleisch am Ast vorstieß. Die Kobra sah diese drohende Bewegung, sofort schnellte ihr Kopf vor, und die furchtbaren Gifthaken schlugen in das dampfende Stück Fleisch. Da schlug Rolf blitzschnell mit dem Messer zu und trennte den scheußlichen Kopf mit kräftigem Hieb von dem mächtigen Körper.

Ich sprang schnell auf und schleuderte den sich windenden Leib voll Ekel fort, während Rolf sehr interessiert den Kopf betrachtete, der festgebissen am Fleischstück hing. Aufatmend trat ich auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Nur keine Festreden, du hättest an meiner Stelle doch dasselbe getan. Schade, jetzt ist dein Mittagessen verdorben, du mußt schon warten, bis ich dir ein neues Stück hole. Ich würde dir aber empfehlen, dich nicht wieder so nahe an den Busch dort zu setzen; es kann leicht sein, daß noch mehr Schlangen dort hausen. Na, auf Wiedersehen, ich werde mich beeilen."

Er schleuderte den Braten mit dem scheußlichen Kopf daran weit ins Dickicht und lief schnell den Pfad zurück.

4. Kapitel

Der weiße Elefant

Ich spähte schnell zum Fluß hinunter, dann, als ich nichts Verdächtiges bemerkte, schnitt ich mitten aus einem Busch einen starken Zweig und schleuderte mit ihm den dicken, beinahe zwei Meter langen Kobra-Körper, der sich noch immer in furchtbaren Zuckungen wand, ins Gebüsch. Und erst jetzt atmete ich tief und befreit auf. Wenn auch meine Lage vielleicht nicht so sehr gefährlich war, denn möglicherweise hätte die Kobra ihren Platz auf meinem Schoß selbst wieder verlassen, so war doch dieser kleine Zwischenfall geeignet gewesen, auch einem starknervigen Mann das Gruseln beizubringen. Jetzt konnte ich aber schon wieder lachen, als ich mir vorstellte, was wohl Kapitän Hoddge, der sich doch lang hingelegt hatte, wohl gesagt hätte, wenn ihm die Kobra auf den Nacken gekrochen wäre. Und gleichzeitig empfand ich es als großes Glück, daß wir uns so energisch geweigert hatten, Frau Ellen an der Wache teilnehmen zu lassen. Wäre ihr das Mißgeschick mit der Kobra passiert, dann hätte sie wohl sicher einen Herzschlag vor Grauen und Schreck davongetragen.

Es dauerte geraume Zeit, ehe Rolf mit einem neuen Stück Fleisch wiederkam. Er entschuldigte sich, daß er den Gefährten erst mein Abenteuer ausführlich hätte schildern müssen, und erwähnte auch, daß Kapitän Hoddge noch nachträglich einen gewaltigen Schreck bekommen hätte. Denn er hatte ja schon das leise Gleiten des Schlangenkörpers dicht neben sich gehört. Ich lachte und ließ mir den Hirschbraten gut schmecken. Dann noch ein kräftiger Schluck rumvermischten Tees aus meiner Feldflasche, und ich fühlte mich wieder vollkommen auf der Höhe. So konnte ich auch Rolfs liebenswürdigen Vorschlag, den letzten Teil meiner Wache zu übernehmen, dankend ablehnen und harrte ruhig die noch fehlende Stunde aus. Als mich Rolf dann zur rechten Zeit ablöste, konnte ich nichts Verdächtiges melden. Als ich auf die Lichtung zurückkehrte, war das Floß schon fertig. Es war gut anderthalb Meter breit und drei Meter lang. Ich sprach meine Zweifel aus, ob es uns fünf wohl tragen würde, worauf Hoddge mir erklärte, daß sie folgendes beschlossen hätten: Ich sollte zuerst Pongo und Rolf auf die Insel bringen, dort kurze Zeit warten, bis die beiden ein Stück eingedrungen wären, dann zurückkehren und Frau von Valentini und Hoddge herüberholen. Sollte Rolf und Pongo wirklich etwas zustoßen, dann könnten wir drei uns immer noch in Sicherheit bringen und vielleicht eine Befreiung unserer Kameraden versuchen. Ich protestierte selbstverständlich gegen diesen Plan, gab aber schließlich in der Erwägung nach, daß es tatsächlich besser wäre, wenn wir als Rückendeckung Rolfs und Pongos etwas zurückblieben. Nur der Gedanke, den mit Krokodilen „gespickten" Fluß zweimal passieren zu müssen, war mir nicht ganz angenehm. Denn vielleicht sammelten sich die Bestien bei der ersten Überquerung, um beim zweiten Mal dann über das kleine Floß herzufallen.

Ich sagte aber von meinen Gedanken nichts, um Frau Ellen nicht zu beunruhigen. Nachdem ich nochmals mein Abenteuer mit der Kobra ausführlich erzählt hatte, legte ich mich am Rand der Lichtung in den Schatten eines Busches und war wohl auch bald eingeschlafen. Rolf weckte mich.

„Auf, Hans, es ist Zeit. Die Dunkelheit muß in einigen Minuten anbrechen. Wir wollen das Floß in den Pfad hinein tragen."

Ich sprang auf und trat mit ihm zu Hoddge, der das Floß bereits hochkant gestellt hatte. In dieser Stellung hoben wir es hoch und konnten es mit Leichtigkeit in den Pfad tragen. Frau Ellen mußte vorangehen, damit Rolf sie stets im Auge behielt. Wir stießen auf Pongo, als es noch hell war, und der treue Schwarze konnte ebenfalls nichts Auffälliges berichten. Einige Minuten warteten wir noch, dann wurde es mit einem Schlag dunkel. Schnell kanteten wir das Floß um den scharfen Knick und trugen es zum Fluß hinunter. Wir wollten uns nicht lange aufhalten, denn sicher stellten die Feuerpriester nachts Wachen am Ufer aus, und vielleicht gelang es uns, nach drüben zu kommen, ehe die Posten ihre Plätze eingenommen hatten.

Leise schoben wir das Floß ins Wasser. Pongo trat an die vorderste Spitze, Rolf stand in der Mitte, und ich schob das schwankende Fahrzeug mit der langen Bambusstange, die wir zu diesem Zweck mitgenommen hatten, vorwärts. Es war nicht leicht, gegen die ziemlich starke Strömung einen geraden Kurs zu halten, doch kam mir jetzt der ausgiebig betriebene Wassersport in meinen Jugendjahren zugute.

Und ich brachte es fertig, genau an dem Punkt zu landen, an dem die Feuerpriester ihren Sampan herausgezogen hatten. Pongo sprang heraus und hielt das Floß fest, bis auch Rolf das leichte Fahrzeug verlassen hatte. Ich trat jetzt mehr in die Mitte, drehte mich um und stieß das leichte Gestell denselben Weg zurück. Ich muß gestehen, daß ich aufatmete, als Hoddge die Spitze auffing und festhielt. Bis jetzt hatten sich die unheimlichen Bewohner des Flusses noch nicht gerührt, und so stieß ich hoffnungsvoller wieder ab, als auch Frau Ellen die leichten Rohre betreten hatte. Ich strengte mich jetzt mehr an, und da ich nun mit der Strömung etwas vertraut war, dauerte es nur einige Minuten, bis wir die Insel erreicht hatten und Hoddge heruntersprang. Er half Frau Ellen hinunter, und ich verließ als letzter mit dankbarem Gefühl gegen das Geschick das Floß. Wir zogen es aus dem Fluß und bargen es unter den nächsten Büschen. So hatten wir immer eine Möglichkeit zu fliehen, wenn uns unsere Aufgabe gelingen sollte. Schnell fanden wir einen gut ausgetretenen Pfad, dem wir ohne Besinnen folgten, wußten wir ja Pongo und Rolf vor uns. Mühsam tasteten wir uns vor, denn der Mond war noch nicht hoch genug, um sein Licht über das hohe Dickicht zu werfen. Doch wir merkten, wie dicht das Unterholz hier wuchern mußte, denn die Wände des Pfades, an denen wir entlang tasteten, erschienen wie eine undurchdringliche Mauer.

Die Vögel, Insekten und niederen Tiere hatten ihre Stimmen erhoben, in einer Stärke, daß wir unmöglich irgendein verdächtiges Geräusch hätten hören können. Aber andererseits war das auch für uns ein Vorteil, denn irgendein Wachtposten der Priester konnte unser Herannahmen auch nicht bemerken. Hoddge, der voran schlich, während ich den Schluß machte, blieb plötzlich stehen. „Hier liegt ein Körper", flüsterte er aufgeregt. Ich wagte es, sekundenlang meine Taschenlampe aufleuchten zu lassen. Da lag ein regungsloser Körper im gelben Gewand der Feuerpriester. Also doch ein Posten, der mit Pongo zusammengetroffen war. Während Frau Ellen erschauernd zur Seite trat, schob ich mit dem Kapitän den Reglosen zur Seite unter die Büsche. Er brauchte ja nicht so leicht entdeckt zu werden, und wir mußten eventuell schnell fliehen und hätten dann über das Hindernis leicht fallen können.

Als wir weiter schritten, breitete sich plötzlich eine fahle Helle vor uns aus, die mit jedem Augenblick stärker wurde. Schon fiel matter Lichtschein in den Gang, und wir drückten uns eng an die Seitenbüsche. Da tat sich eine kleine Lichtung vor uns auf, deren gegenüberliegendes Ende von einer hohen Mauer begrenzt war. Und über diese Mauer fiel der helle Feuerschein von der Spitze eines plumpen, wuchtigen Turms hinab. Das Wahrzeichen der Priester.

„Kommt hierher", flüsterte da Rolf dicht neben uns. Er stand mit Pongo im Schatten einer mächtigen Königspalme, die einsam dicht am Rand der Lichtung emporwuchs. Hier waren wir gegen Sicht gedeckt und konnten in Ruhe die hohe Mauer und den mächtigen Turm betrachten.

„Pongo hat den Posten erledigt", flüsterte mein Freund weiter, „ihr habt ihn hoffentlich auf die Seite gebracht. Ja? Das ist gut, denn wir wollten ohne Aufenthalt weiter." „Was machen wir jetzt?" fragte Frau Ellen aufgeregt. „Jetzt müssen wir sehen, wo wir am besten über die Mauer dort kommen. Zuerst müssen wir rings um den Tempel schleichen, um ein Bild von seiner Ausdehnung zu bekommen. Und das machen wir am besten dicht an der Mauer, in deren Schatten wir sicher sind. Ab dort oben sind Priester. Ruhig stehenbleiben, sie können uns hier nicht sehen."

Auf der Mauer waren vier Gestalten aufgetaucht, die reglos auf die Lichtung schauten. Wir verhielten uns völlig still, und nach endlosen Minuten setzten sich die Wächter oben in weitem Abstand in Bewegung und schritten langsam die Mauer entlang. Als sie unseren Blicken entschwunden waren, rief Rolf leise „Los" und sprang in weiten Sätzen über die Lichtung auf die Mauer zu. Wir folgten ihm so rasch wie möglich und blieben aufatmend im tiefen, schützenden Schatten der wohl drei Meter hohen aus riesigen Steinen zusammengefügten Mauer stehen. „Wartet hier", flüsterte Rolf, „ich werde emporklettern und ins Innere hinab blicken." Ohne unsere Antwort abzuwarten begann er vorsichtig emporzuklettern. Die tiefen Fugen und rauhen Vorsprünge der Felsblöcke boten ihm genügend Halt, und in kurzer Zeit hatte er den Rand erreicht und schob vorsichtig den Kopf hoch. Ich sah, daß er leicht zusammenzuckte, aber er blieb ruhig in seiner Lage und beobachtete gespannt einen anscheinend sehr interessanten Vorgang im Innern der Mauer. Schon wurde ich ungeduldig und überlegte, ob ich auch emporklettern sollte, als er den Kopf zurückzog und schnell herab kam.

„Wir sind anscheinend an rechter Stelle", flüsterte er langsam.

„Haben Sie Hermann gesehen?" stieß Frau Ellen sofort aufgeregt hervor.

„Bitte Ruhe", raunte Rolf ziemlich scharf, „jeder unvorsichtige Laut kann unser Verderben sein. Und Sie wollen Ihren Gatten doch retten."

„Ich werde mich zusammennehmen", flüsterte die junge Frau, „aber sagen Sie, Herr Torring, haben Sie ihn gesehen?"

„Er kann es gewesen sein, obwohl ich ihn nur flüchtig und in weiter Entfernung erblickte. Ein Zug Priester verließ gerade den hohen Turm und schritt einem niedrigen Gebäude zur linken Seite zu. Und unter ihnen ging ein hoher, schlanker Mann, ebenfalls im gelben Gewand, der den Kopf tief gesenkt trug. Und da sah ich eine breite weiße Strähne quer über sein dunkles Haar laufen." „Er ist es, oh, er ist es", schluchzte die junge Frau, „Herr Torring, wir müssen hinüber."

„Das hatten wir ja bereits beschlossen", meinte Rolf sehr ruhig. „Aber wenn Sie so aufgeregt sind, mache ich lieber kehrt, ich will Ihren Gatten befreien, aber nicht durch Ihre Unvorsichtigkeit ins Verderben geraten." Ehe Frau Ellen etwas antworten konnte, flüsterte Pongo: „Massers, still."

Wenn Pongo so kurz Ruhe befahl, mußte er einen schwerwiegenden Grund haben. Wir verhielten uns sofort reglos, und selbst Frau Ellen erstickte ihr Schluchzen im Taschentuch.

Schwere, wuchtige Schritte klangen im Innenraum der Mauer auf und näherten sich langsam der Stelle, an der wir standen. Zugleich klang ein Rasseln und Schaben auf, als riebe man schwere Lederstücke gegeneinander. Und jetzt klang ein Schnauflaut auf, der Pongo ein leises „Tembo" entlockte.

Tembo, also ein Elefant. Sollte es etwa einer der sagenhaften, weißen Elefanten sein, der gerade in Siam so hoch verehrt wird? Sofort erwachte das Interesse des Naturforschers in mir und ließ mich unsere Aufgabe und die Gefahr, in der wir schwebten, fast vergessen. Wieder klang das Schnauben, diesmal direkt über uns, und als wir empor schauten, sahen wir einen riesigen Rüssel, der im Feuerschein des Turmes weiß schimmerte, über die Mauer gestreckt. Was mußte das für ein riesiges Tier sein, der Stärke des Rüssels nach zu schließen. Sein Kopf mußte über drei Meter vom Erdboden hoch ragen, denn deutlich hörten wir die Stoßzähne am Mauerrand scheuern.

Jetzt sog der Koloß die Luft tief ein, und dann stieß er ein helles, gereiztes Trompeten aus. Er hatte uns gewittert und warnte nun seine Herren.

„Massers, fort", flüsterte Pongo scharf, „Tembo uns spüren."

Schnell eilten wir an der Mauer entlang, bis wir auf das Dickicht stießen, das die Lichtung abschloß. Doch zu unserer Freude war ein schmaler Pfad an der Mauer entlang gebrochen, und - mit Pongo an der Spitze - glitten wir in den dunklen, feuchtwarmen Hohlpaß hinein. Innen im Tempel wurde es laut. Wir hörten metallene Türen kreischen, Stimmen klangen auf, und dazwischen dröhnte wieder das gereizte Trompeten des Elefanten. Der intelligente Riese hatte unsere Flucht gemerkt und verfolgte uns jetzt.

Plötzlich war der dunkle Pfad zu Ende, und wieder lag eine kleine Lichtung vor uns. Wir waren an der Ecke der Mauer angelangt, die sich jetzt nach links weiterzog. Und wenige Schritte von der Ecke entfernt war ein mächtiges Tor.

„Halt", kommandierte Rolf scharf, „wir dürfen nicht über die Lichtung. Die Priester werden bestimmt den Elefanten herauslassen."

„Dann findet er uns hier sofort", flüsterte Hoddge, „da, das Teufelstier ist schon heran."

Wirklich erklang der drohende Trompetenschrei direkt über uns.

„Zurück", flüsterte Rolf wieder, „zehn Meter hinter uns habe ich die Zweige eines hohen Baumes entdeckt, der dicht an der Mauer stehen muß. Wenn sie den Elefanten herauslassen, müssen wir in den Baum klettern. Los, zurück!"

Ich hatte unseren Zug beschlossen und machte sofort kehrt. Aufmerksam nach oben spähend, entdeckte ich auch bald die mächtigen Äste, die sich weit über die Mauer erstreckten. Ich blieb stehen und wartete auf meine Kameraden. Sie stießen bald zu mir, und jetzt warteten wir in atemloser Spannung, was wohl folgen würde. Plötzlich hörten wir das Kreischen schwerer Türangeln, und im gleichen Augenblick befahl Rolf: „Pongo, hinauf. Hilf den anderen. Ich komme als letzter." Sofort schnellte sich der schwarze Riese empor und saß in wenigen Sekunden auf dem Mauerrand. Er streckte seinen gewaltigen Arm tief hinab, ergriff Frau Ellens ausgestreckte Hand und zog sie mit leichtem Ruck zu sich hinauf. Ebenso schnell wurden Hoddge und ich hinauf befördert, während Rolf bereits neben uns emporgeklettert war.

„Schnell in den Baum", befahl er. „Der Elefant wird unsere Spur bis zum Fluß hinunter verfolgen." Vorsichtig krochen wir auf dem untersten riesigen Ast des mächtigen Tamarindenbaumes bis an den vielleicht zehn Meter von der Mauer entfernten Stamm und verteilten uns dort auf die strahlenförmig herausragenden Äste. Wir verhielten uns völlig still, und da hörten wir auch den riesigen Feind draußen an der Mauer entlang stürmen. Wie Rolf vorausgesagt hatte, verfolgte er unsere Spur rückwärts, und bald hörten wir ihn auch in der Ferne wütend am Fluß trompeten.

Es war kaum anzunehmen, daß er uns so bald auf dem Baum wittern würde, aber doch war es zu gefährlich, selbst wenn wir hoch in den mächtigen Wipfel geklettert wären. Wir mußten in den Tempel, denn wenn der Riese erst zurückkehrte, war uns jeder Weg abgeschnitten. Schnell musterten wir den hell erleuchteten Innenraum. Gut dreißig Meter entfernt wuchtete der Turm empor, von dessen Zinne immer noch das gewaltige Feuer leuchtete. Links neben ihm erhob sich ein weiter Bau, etwas niedriger, in dem ein großes Tor und eine kleinere Tür offen standen.

„In die kleine Tür hinein", flüsterte Rolf. Es war kein Priester zu sehen, und so ließen wir uns schnell an dem riesigen Stamm hinab und liefen auf die kleine Tür zu. Aufatmend schlüpften wir in das kühle Halbdunkel hinein. Wir standen in einem schmalen Gang, der rechter Hand nach wenigen Metern einen Knick machte, während er links durch einen schweren weißen Vorhang abgeschlossen war. „Wo nun hin?" fragte Hoddge.

„Wir wollen erst sehen, was sich hinter dem Vorhang verbirgt", flüsterte Rolf. „Es muß ein Saal sein, aus dem das breite Tor links neben dieser Tür führt." Er schlich auf den Vorhang zu und zog ihn einen kleinen Spalt auseinander. Ich stand dicht hinter ihm und konnte über seine Schulter in den mächtigen Saal blicken, der sich da vor unseren erstaunten Augen auftat. Rings an den goldig schimmernden Wänden waren in kurzem Abstand meterhohe, rechteckig behauene Felsblöcke gereiht, die jeder die meterhohe Figur eines Elefanten aus weißem Marmor trugen. Vor jedem Bildwerk leuchtete ein Feuer und warf seinen zuckenden Schein über das Kunstwerk. Denn es waren wirklich Kunstwerke. In wunderbarer Naturtreue waren die Elefanten in allen Stellungen ausgemeißelt, die sie im Leben einnahmen. Im Trab, im Galopp, im Schritt, beim Angriff, beim Nahrungsuchen. Der oder die Künstler mußten das riesige Tier genau beobachtet haben, um in künstlerischer Vollendung das Erschaute in weißem Marmor wiederzugeben. Rechts im Hintergrund des rechteckigen Raumes befand sich das Standbild eines suchenden Elefanten in Lebensgröße. Hier leuchteten zwei mächtige Feuer und schienen dem wunderbaren Bildwerk Leben zu verleihen. Aber da merkten wir etwas, das uns zurück zucken ließ. Vor diesem mächtigen Steinbild standen sechs Priester in gelben Gewändern. Sie hatten die Arme zu dem steinernen Riesen emporgehoben und schienen etwas zu erflehen. Und ich hatte sofort das unangenehme Gefühl, daß sie wohl unsere Ergreifung von ihrem Gott erbaten. „Zurück." raunte Rolf, „wir müssen den Gang entlang. Hinter dem Vorhang ist der große Tempelraum, in dem wir sofort entdeckt werden."

Schnell schritt er voraus - als hinter uns ein gellender Schrei erklang.

„Hermann, mein Hermann."

Frau von Valentini hatte es verstanden, unbeachtet an den Vorhang zu gelangen und hindurchzublicken. Und in dem einen Priester mußte sie ihren Mann erkannt haben, denn kaum hatte sie den schluchzenden Schrei ausgestoßen, als sie auch schon durch den Vorhang schlüpfte und jubelnd in den Tempelraum hineinlief. „Herrgott", zischte Rolf wütend, „da hätten wir aufpassen müssen. Jetzt ist unsere Aufgabe doppelt erschwert, wenn nicht völlig verdorben. Schnell fort, jetzt werden die Priester wissen, daß wir bereits im Tempel sind." In weiten Sätzen schnellten wir den Gang entlang. Als wir die Biegung passiert hatten, kamen wir an vielen Türen vorbei, die in regelmäßigen Abständen in die dicke Mauer eingelassen waren.

Rolf blieb plötzlich stehen und öffnete eine Tür. Dann verschwand er in dem dahinter liegenden Raum und rief nur: „Kommt."

Schnell folgten wir ihm und befanden uns in einer schmalen Zelle, die nur ein hartes Lager und ein kleines Abbild eines weißen Elefanten auf niedrigem Postament enthielt. Also die Zelle eines Priesters. Vielleicht hatte Rolf mit seinem kurzen Entschluß recht, denn hier würden uns die Priester sicher nicht vermuten. Und sollte der Bewohner der Zelle eintreten, dann würde Pongo ihn schnell unschädlich machen.

Der schwarze Riese bezog auf einen Wink meines Freundes dicht an der Tür Posten. Rolf trat aber an das schmale vergitterte Fenster und blickte hinaus. „Wir müssen das Gitter lösen", flüsterte er dann, „hier hinten liegt ein kleiner Garten. Wir haben dann stets einen Notausgang. Komm, Hans, wir wollen versuchen, den Mörtel zu lockern."

Etwas mißtrauisch trat ich mit gezücktem Messer neben ihn. Meist ist nämlich der Mörtel in so alten Gebäuden steinhart geworden. Aber hier hatten wir eine sehr angenehme Enttäuschung. Es mochte wohl an der feuchten Luft liegen, die ständig auf der Insel herrschte, wenigstens konnten wir mit Leichtigkeit die einzelnen Enden des Gitters vom Mörtel befreien. Und nach einer Arbeit von kaum zwanzig Minuten packte Rolf das Gitter und schob es mit kräftigem Ruck nach außen. Dann setzte er es vorsichtig wieder ein und drehte sich lachend um.

„So", meinte er, „jetzt fühle ich mich hier bedeutend behaglicher. Jetzt wollen wir sehen, was wir zur Befreiung der jungen Frau tun können. Ich glaube nicht, daß sie augenblicklich in Lebensgefahr schwebt, denn sicher haben die sechs Priester, die wir sahen, nicht eine so große Machtvollkommenheit, um sie sofort zu richten. Ich vermute, daß dazu immer ein kleines Fest nötig ist." „Massers, still", sagte da Pongo.

Wir traten dicht hinter ihn und lauschten. Ja, auf dem Gang näherten sich Schritte von mehreren Personen. Und jetzt - wir zuckten zusammen - jetzt klang ein Schluchzen auf. Das war Frau von Valentini, die von ihren Überwältigern in irgendeinen Kellerraum geschleppt wurde. Als die schlürfenden Schritte an unserer Zellentür vorbei waren, öffnete Pongo vorsichtig die Tür und spähte hinaus. Dann winkte er uns zu und trat auf den Gang hinaus.

5. Kapitel

In den Kerkern des Feuertempels

Weit vor uns, im Halbdunkel kaum erkennbar, schritten die Priester mit ihren Gefangenen. Ab und zu hörten wir das Schluchzen der jungen Frau durch den Gang hallen, während die Priester in entsetzlichem Schweigen die Unglückliche mit sich fortzogen.

„Rolf", raunte ich da dem neben mir schreitenden Freunde ins Ohr, „es sind nur sechs Priester. Wenn wir sie unschädlich machen, ist Frau Ellen frei. Und vielleicht auch ihr Gatte."

„Ja", gab Rolf zurück, „die Idee ist gut. Sage es Hoddge, ich werde mit Pongo sprechen."

Fast unhörbar flüsternd, teilten wir den Kameraden unseren Plan mit, während wir immer hinter den ahnungslosen Priestern blieben. Dann grunzte Pongo leise „Massers, los" und schnellte in gewaltigen, aber doch leisen Sätzen vor. Wir folgten ihm, so schnell und so vorsichtig wir konnten. Immer näher kamen wir an die Gruppe der Priester, Pongo war nur wenige Schritte noch entfernt, da drehte sich der letzte um.

Ich blieb beinahe vor Schreck stehen, denn - es war ein Europäer, und quer über sein dunkles Haar zog sich ein breiter, weißer Streifen. Es war Hermann von Valentini. Sicher hatte er gute Miene zum bösen Spiel machen und mit den anderen Priestern zusammen seine Frau fesseln und fort schleppen müssen. Nun, jetzt würde er uns ja als Retter begrüßen und bei der Überwältigung der Priester kräftig mithelfen.

Ich winkte ihm zu, da stieß er einen gellenden Alarmschrei aus. Und wie ein Panther sprang er zwischen die fünf Priester, riß Frau Ellen an sich und stürmte mit ihr weiter in den Gang. Die Priester waren sofort stehengeblieben und rissen jetzt lange Messer aus ihren Gewändern hervor.

Aber da war Pongo schon zwischen ihnen, und wie leichte Bälle flogen sie krachend nach rechts und links gegen die Wände des Ganges. Reglos blieben sie liegen, nur einer raffte sich stöhnend auf, aber ein wohl gezielter Fausthieb Rolfs warf ihn zu seinen stillen Brüdern. „Herr von Valentini", rief Rolf laut, „Sie sind gerettet. Kommen Sie."

„Hermann, Hermann", gellte weit vor uns die Stimme der jungen Frau, „hörst du nicht? Hermann, bleib stehen." Ein höhnisches Lachen klang auf, dann brüllte Hermann von Valentini mit hohler Stimme einige Worte in fremder Sprache.

„Was hat er gesagt?" stieß Rolf hervor.

„Er rief, daß sie zum Feueropfer bestimmt sei", gab Kapitän Hoddge zurück, „er muß wahnsinnig sein."

„Oder die Priester haben ihm einen Trank gegeben, der sein Gedächtnis raubte", rief Rolf, „schnell wir müssen ihn unschädlich machen und mitnehmen. Da vorn ist er schon."

Höchstens zwanzig Meter vor uns war jetzt der Wahnsinnige, der mit riesiger Kraft seine Frau, die sich mit aller Macht wehrte, vorwärts riß.

„Massers, was los sein", keuchte Pongo verwundert.

„Er ist verrückt, wir müssen ihn fangen", rief Rolf, „aber nicht töten."

„Ah, Masser nicht gut im Kopf, Pongo machen." Und wie ein Panther schnellte der Riese vor. Nur noch wenige Schritte war er von dem Wahnsinnigen entfernt, da riß Valentini eine Tür auf, stieß seine Frau hinein und warf den schweren Metallflügel wieder zu. Schnappend flog ein Riegel vor, und dann brüllte die furchtbare Stimme innen lachend wieder einige Worte. „Er schleppt sie in den Kerker", rief Hoddge, „wir müssen die Tür aufbrechen."

Aber schon hatte Pongo einen Anlauf genommen und warf sich mit seiner ganzen, übermenschlichen Kraft gegen die schimmernde Tür. Wie ein Gongschlag dröhnte es durch den Gang, die Bronzetür bebte in allen Fugen, aber der Riegel hielt. Pongo war zurück getaumelt, starrte die Tür an und verzerrte sein Gesicht in maßloser Wut. Jeder andere wäre von dem schweren Anprall bewußtlos geworden, aber er nahm nochmals einen Anlauf und schmetterte wieder mit noch größerer Gewalt gegen das Hindernis. Und jetzt gab der Riegel mit hellem Krach nach, die Tür flog dröhnend auf, und Pongo stürzte in den Gang, der sich hinter der Öffnung zeigte.

Schnell drangen wir nach und sahen Valentini, der - vielleicht zwanzig Meter vor uns - seine jetzt reglose Frau trug.

Wieder wollten wir hinterher stürmen, da blieb Pongo stehen und hob den Arm. Sofort machten wir halt, denn wir konnten uns auf Pongo völlig verlassen. Der schwarze Riese riß seinen furchtbaren Speer, den er an breitem Riemen wie ein Gewehr über der Schulter trug, herunter, hob den Arm, zielte kurz und schleuderte die schwere Waffe mit aller Gewalt hinter dem Wahnsinnigen her. „Pongo, was hast du getan?" rief Rolf erschreckt. Und auch mir drohte das Herz stillzustehen, denn jetzt war Valentini verloren.

Doch Pongo lachte nur und zeigte nach vorn. Er hatte einen wunderbaren Wurf vollbracht. Dicht neben dem Wahnsinnigen war die Spitze gegen einen vorspringenden Stein der Wand geprallt, der kurze Schaft flog durch die Gewalt des Schwunges herum und traf mit hartem Schlag den Hinterkopf Valentinis.

Der Getroffene stolperte, suchte sich zu halten, aber langsam knickten seine Knie ein, und langsam sackte sein Körper zusammen, bis zur letzten Sekunde immer das Bestreben zeigend, weiter zu flüchten. Dieser Mann mußte eine außergewöhnliche Energie besitzen, und Rolf hatte wohl recht, wenn er behauptete, daß dieser Geist nur durch einen Teufelstrunk der Priester zerstört sein konnte.

Wir eilten zu den beiden reglosen Gestalten, und während Pongo ruhig seinen Speer wieder umschnallte, hoben wir die junge Frau empor. Rolf nahm sie auf den Arm, und gab Pongo einen Wink, den Wahnsinnigen hochzuheben. „Er darf nicht schreien", flüsterte er, und unser schwarzer Freund nickte. Wir konnten uns darauf verlassen, daß Valentini keinen Ton von sich gab, wenn er erwachte.

„Hoddge, Hans, Pistolen heraus", zischte Rolf weiter, „jetzt müssen wir uns durchschlagen." Im Laufschritt ging es den Gang zurück. Ich war als Erster fest entschlossen, jeden Priester niederzuschießen, der sich uns in den Weg stellte. Hinter mir lief Rolf mit Frau Ellen, dann Pongo mit Hermann von Valentini, und den Schluß machte Kapitän Hoddge, um uns den Rücken zu decken. Schon waren wir nahe an der Tür, die Pongo aufgesprengt hatte, als sich lautes Stimmengewirr und viele Schritte näherten. Jetzt war guter Rat teuer, denn wie sollte ich uns einen Weg durch eine solche Menge fanatischer Priester bahnen?

„In die nächste Tür", rief Rolf da leise, und sofort machte ich hält und hob den einfachen Verschluß an einer Tür linker Hand hoch. Ich hatte wieder erwartet, eine Zelle zu finden, und war sehr erfreut, als ich einen neuen Gang bemerkte. Vielleicht hatten wir Glück und fanden uns durch die geheimnisvolle, unterirdische Welt des Tempels ins Freie hinaus.

„Hoddge, zuriegeln", rief Rolf, und schon hörte ich das leise Schnappen zweier Riegel. Jetzt konnten wir einen Augenblick aufatmen. Der Gang erhielt sein schwaches Licht durch einige kleine Öffnungen dicht unter der Decke. Es mußte ein großer, hell beleuchteter Saal an dieser Mauerseite liegen, und ich glaubte zuerst, es sei der große Tempel mit dem weißen Elefanten. Aber wir waren zu tief in den Tempel eingedrungen, es mußte also noch mehrere, vielleicht ähnlich eingerichtete Hallen geben. Auf dem Gang hinter uns stürmte jetzt ein ganzer Trupp Menschen vorbei. Sie ahnten wohl kaum, daß wir uns hier, ganz in ihrer Nähe versteckt hatten, denn ohne Aufenthalt stürmten sie weiter, immer wieder gellende Rufe ausstoßend.

„Sie schreien: ins Feuer, ins Feuer", übersetzte Hoddge leise, „Gott sei Dank, daß wir hier sind." „Noch sind wir nicht in Sicherheit", meinte Rolf ernst. „Und es ist sehr fraglich, ob wir überhaupt herauskommen. Der Wahnsinnige ist eine schwere Last für uns." „Na, ich denke, wir gehen ruhig weiter", meinte Hoddge, „denn sie werden vielleicht bald zurückkommen und sicher die verriegelte Tür finden."

„Ich überlege soeben, ob wir nicht einfach wieder hinausgehen und den uns bekannten Pfad zurück fliehen", meinte Rolf, „doch nein, da kommen sie schon zurück. Vorwärts!"

Der Lärm der verfolgenden Priester, der bereits erstorben war, näherte sich wieder. Schnell eilten wir den Gang entlang, der leider keine Seitentüren aufwies. Doch nur dreißig Meter konnten wir vorwärts, dann standen wir vor einer Tür. Ich legte lauschend das Ohr an das Metall, doch konnte ich keinen Laut in dem Raum dahinter hören. Vorsichtig hob ich den Verschluß und zog den Flügel leise auf. Eine kalte Luft schlug mir entgegen und tiefe Dunkelheit gähnte mich an. „Vorwärts, Lampe heraus", rief Rolf ungeduldig. Der Schein meiner Lampe zeigte mir eine breite Treppe, die steil hinunterführte. Ruhig stieg ich hinab und hörte die Kameraden vorsichtig folgen. Und wieder stieß Hoddge leise zwei Riegel von innen vor. Die Luft wurde immer kälter, und als ich zwanzig Stufen gezählt hatte, standen wir in einem niedrigen, gewölbten Gang, dessen mächtige Steinquadern sich merkwürdig feucht anfühlten. „Wir sind im Keller des Tempels", meinte Hoddge, „bereits unter dem Wasserspiegel des Menam. Hoffentlich gibt es hier keine Klappen, durch die das Wasser herein strömen kann. Ich möchte wirklich nicht wie eine Ratte in der Falle ertrinken."

„Hier werden die Priester ihre Gefangenen bis zur Hinrichtung einsperren", meinte Rolf, „vielleicht können wir einige befreien, die uns dann gern helfen werden. Kannst du Türen entdecken, Hans?" „Ja, schwere Holztüren mit mächtigen Riegeln." „Los, schnell öffnen!"

Hoddge, der seine Lampe ebenfalls eingeschaltet hatte, half mir beim Zurückschieben der Riegel. Die ersten vier Räume, die wir untersuchten, waren leer. Dann war auch der Gang zu Ende, und wir wandten uns zur anderen Seite. Und hier fanden wir gleich im ersten Raum eine Gestalt, die auf einem Haufen halbverfaulter Blätter lag. Als der Schein unserer Lampen über dieses armselige Bündel fiel, richtete sich zu unserem Erstaunen - ein junges Mädchen auf. Sie schlug die Hände vor die Augen und stieß schluchzend einige Worte hervor. Hoddge antwortete sofort tröstend, und da ließ die Kleine die Hände sinken und starrte uns erstaunt und ungläubig aus großen, schwarzen Augen an. Hoddge sprach immer weiter auf sie ein, und endlich fing auch das Mädchen stockend und schluchzend zu erzählen an.

„Hm", meinte Hoddge, als sie endlich schwieg, „das arme Mädchen ist hier eine Tempeltänzerin gewesen und wegen eines Fehlers beim heiligen Tanz zum Tode verurteilt worden. Beim Mondwechsel, also in drei Tagen, soll die Hinrichtung stattfinden. Sie kennt den Tempel ziemlich genau. Es wird sehr schwer für uns sein, herauszukommen, denn wir müssen unbedingt denselben Weg zurück bis in den Gang, in dem Pongo den Valentini mit seinem Speer erwischte. Von diesem Gang führt eine kleine Tür in den Garten des Tempels, und dort gibt es wieder eine Pforte, die zum Hafen der Sampans führt. Wenn wir erst dort sind, dann können wir uns als gerettet betrachten." „Fragen Sie, wann ihre Wächter mit Essen kommen." „Nur jeden Morgen. Wir sind also die Nacht über hier ziemlich sicher."

„Nun, bis zum Morgen werden wir auf keinen Fall hier unten bleiben. Wir wollen einige Stunden warten, bis sich die aufgeregten Gemüter dort oben beruhigt haben, dann mag uns das Mädchen hinausführen."

„Na, hoffentlich kommen sie nicht auf den dummen Gedanken, daß wir doch hier unten stecken könnten", sagte Hoddge, „es war vielleicht nicht richtig, daß wir die beiden Türen von innen verriegelt haben."

„Hm, das kann sein, aber jetzt ist es zu spät, um diesen Fehler wieder gutzumachen."

„Weshalb zu spät?" meinte Hoddge. „Ich schleiche hinauf und ziehe die Riegel wieder zurück."

„Ja, wenn Sie dieses Wagnis unternehmen wollen? Aber seien Sie vorsichtig."

„Na, selbstverständlich."

Leise verließ Hoddge den Raum, während wir in atemloser Spannung zurückblieben. Furchtbare Minuten verstrichen, jeden Augenblick erwarteten wir das Triumphgeheul der Priester zu hören - da trat Hoddge lachend wieder in den Raum.

„Sie toben oben im großen Raum umher", berichtete er, „der Gang ist völlig leer. Ich habe nämlich hinaus geguckt. Wie wäre es, wenn wir jetzt fliehen, solange sie sich da beraten?"

„Ich halte es für sehr gewagt", wandte Rolf ein, „aber besser wäre es ja, ehe sie vielleicht die Außenposten verdoppeln können. Ah, Frau von Valentini erwacht aus ihrer Ohnmacht. Das ist sehr gut, dann habe ich die Hände frei."

„Hermann", leise schluchzte die junge Frau, während Rolf beruhigend auf sie einsprach. Und jetzt schien sie vernünftig geworden zu sein, denn sie küßte ihren bewußtlosen Gatten, den Pongo im Arm hielt, scheu, richtete sich dann auf und erklärte energisch, daß sie bereit sei, mit uns zu kommen.

„Dann vorwärts", sagte Rolf. „Ich werde mit dem Mädchen vorangehen, dann kommt Pongo, dann Frau Valentini, Herr Hoddge und zum Schluß du, Hans. Also, in Gottes Namen."

Leise verließen wir das Gefängnis des armen Mädchens und schlichen behutsam die steile Steintreppe empor. Rolf lauschte kurz an der Tür, dann stieß er sie auf und trat in den schmalen Gang. Aus den kleinen Fensteröffnungen hoch an der Decke drang wilder Lärm. Eine eigenartige Musik ertönte, die taktmäßig durch Gongschläge unterbrochen wurde.

Aufgeregt schnatterte die kleine Tänzerin einige Worte, und Hoddge übersetzte:

„Sie flehen jetzt ihren Elefantengott an, daß sie uns fangen. Jetzt haben wir die beste Gelegenheit zur Flucht." Schnell passierten wir den Gang, wieder lauschte Rolf an der abschließenden Metalltür und trat dann in den Quergang, in dem Pongo den Wahnsinnigen betäubt hatte. Die Tänzerin eilte auf eine Tür zu und zog sie hastig auf. Und im nächsten Augenblick standen wir aufatmend in einem großen Garten, dessen warme Luft vom Duft tausender Blüten erfüllt war.

Leise rief die Tänzerin einige Worte, und Hoddge kommandierte:

„Wir müssen uns die Hände reichen. Das Mädchen wird uns an die Pforte führen, die zum Wasser geht." Schnell folgten wir diesem Vorschlag, und vorsichtig setzte sich unser eigenartiger Zug in Bewegung. Außer dem wilden Lärm der Insekten war nichts zu hören. Überall zirpte, geckerte, schnarrte es um uns, große Leuchtkäfer und Zikaden taumelten von Baum zu Baum, und es war eine Stätte des Friedens, zu der die Feuerpriester mit ihren blutigen Opfern wahrlich nicht paßten. In leichten Schlangenlinien führte uns die Tänzerin durch dieses Paradies. Ich hatte nicht geglaubt, daß der Garten eine derartige Ausdehnung hätte, und atmete auf, als sich endlich eine hohe Mauer vor uns erhob. Wieder rief das Mädchen, und jetzt drängte sich Hoddge vor und ließ sekundenlang seine Taschenlampe aufflammen. Eine schmale Tür zeigte sich im Schein, und schnell zog der Kapitän zwei Riegel zurück. Dann schaltete er seine Lampe aus, und am Knarren der Angeln hörten wir, daß er die Tür geöffnet hatte. Er rief uns leise zu:

„Hinter der Tür gleich rechts gehen. Es ist ein Steg, an dem die Sampans liegen", dann trat er als Erster durch die Öffnung.

Und sofort erhob sich draußen ein wilder Lärm. Eine gellende Stimme schrie fremde Worte, und dazwischen klang das Fluchen des Kapitäns, der seinen Angreifer mit den gewähltesten Schmeichelworten bedachte. Auch Rolf fluchte und drängte sich schnell vor; aber Pongo war noch schneller. Er warf mir den bewußtlosen Valentini einfach zu: „Masser, halten", dann hörte ich nur seine Sätze, und wenige Augenblicke darauf verstummte die schreiende Stimme des Wächters. Gegen Pongos Griff gab es kein langes Wehren.

„Solche Teufel", fluchte der Kapitän, „jetzt aber schnell! Da, die Bande ist schon los!"

Wildes Geheul klang weit hinter uns im Garten auf. Die Schreie des Postens hatten die Feuerpriester alarmiert, die sich uns in rasender Schnelligkeit näherten. An den dumpfen Geräuschen hörte ich, daß meine Kameraden bereits in einen Sampan sprangen. Kurz entschlossen schleifte ich den Bewußtlosen hinter mir her und kam auch durch die schmale Tür.

Da fing Valentini an, sich zu regen. Er sperrte sich plötzlich und fing gleichzeitig an wild zu schreien. Er hatte also mit der Schlauheit eines Wahnsinnigen bis zum letzten Augenblick den Bewußtlosen gespielt. Ich war einen Augenblick ratlos, schon wollte ich ihn loslassen, um mich wenigstens selbst zu retten, da langte ein Arm über meine Schulter, sofort schwieg Valentini, und seine Glieder fielen schlaff zusammen.

„Masser, schnell ins Boot", flüsterte Pongo, schob mich nach rechts auf einen schmalen Steg und hob den Bewußtlosen hoch.

In wenigen Minuten waren wir alle in einem Sampan, Pongo hatte den stillen Valentini auf den Boden gelegt und trieb jetzt das leichte Fahrzeug mit gewaltigem Schwung auf den Fluß hinaus. Sofort ergriff uns die Strömung, drehte unseren Bug nach Süden, und als die heulende Meute unserer Verfolger gerade die schmale Mauerpforte erreichte, schoß der Sampan unter den gewaltigen Ruderschlägen unseres schwarzen Riesen südwärts, dem rettenden Bangkok entgegen.

Ich lachte hell auf vor Freude, als ich mir die enttäuschten Priester vorstellte, die uns jetzt nur ein ohnmächtiges Wutgeheul nachsenden konnten. Ich hätte wohl nicht gelacht, wenn ich vorausgeahnt hätte, daß wir uns bereits einige Minuten später doch in der Gewalt dieser fanatischen Mörder befinden sollten.

Rolf Torring 009 - Der weisse Elefant
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