3. Kapitel

 

New Orleans, 1868 - 1872

Helen Farrar hatte Allan Dubois zuerst bei einer Gesellschaft in New Orleans kennengelernt, oder er sie. Nach einiger Zeit waren sie ein Liebespaar geworden. Zwischen ihnen hatte alles gestimmt. Sie konnten sich fast ohne Worte verständigen.

Oft sprach einer aus, was der andere hatte sagen wollen. Es war eine Zeit voller Seligkeit und voller Glück. Helen schwebte wie auf Wolken geschwebt und war völlig überzeugt, in Allan Dubois den Mann ihres Lebens gefunden zu haben, der sie immer lieben würde, der sie verstand und sie förderte. Auch sexuell war Allan für sie die ganz große Erfüllung, genauso wie sie für ihn.

Helen zweifelte nie an seiner Treue. Für sie war es die ganz große Liebe, dasselbe nahm sie bei ihm an. Sie lernte Robert kennen. Damals war er noch nicht so sehr mit seinem Bruder zerstritten. Dann beging sie den Fehler, Allan ihrer Familie und damit auch ihrer jüngeren Schwester Blanche vorzustellen.

Blanche, deren sanftes Wesen und scheinbare Schwäche alle täuschten, die mit ihr zu tun hatten. Blanche, die sich sanft wie ein Kätzchen gab, verletzlich und schwach, und die dabei doch immer erreichte, was sie wollte. Vom ersten Augenblick an wollte sie Allan, obwohl er kurz vor der Verlobung mit ihrer Schwester stand.

Er sah blendend aus, und er war immens reich. Eine erstklassige Partie also, ein Mann, wie es nur einen gab unter hunderttausend.

Blanche musste sich anstrengen und alle Register ihrer Verführungskunst ziehen, um Allan von ihrer Schwester wegzubringen. Das schaffte sie, wie, erfuhr Helen nie. Sie war ahnungslos und wunderte sie nur, dass Allan sich von ihr zurückzog. Er schützte viel Arbeit vor, und er wich ihr aus.

An einem lauen Maiabend bei einem Ausritt am Ufer des Lake Pontchartrain stellte Helen ihn dann klipp und klar zur Rede. Sie wollte endlich den Grund für sein verändertes Verhalten und Kühle in den letzten Wochen erfahren. Sie ritten unter den hohen Bäumen dahin. Das letzte Abendrot glühte über dem großen Binnensee. Schwarze farbgeäderte Wolken trieben am sepiafarbenen Himmel. Der Hufschlag trommelte dumpf.

Es roch nach Blüten und Frühling. Allan war sehr ernst und verlegen. Er konnte Helen nicht in die meergrünen Augen sehen. Schließlich sprach sie es aus, was beide bewegte.

»Du liebst mich nicht mehr. Da ist eine andere Frau.«

Allan zügelte seinen gefleckten Appaloosa-Hengst. Auch Helen hielt an.

»Leider ja, Helen. Es zerreißt mir das Herz. Aber ich kann nicht gegen meine Gefühle an. Ja, ich habe eine andere kennengelernt. Sie ist das wunderbarste Wesen, das ich jemals getroffen habe. Jetzt erst weiß ich, was Liebe wirklich ist. - Verzeih mir, versuch, mich zu verstehen.«

»Nein«, sagte Helen herb. Im Reitkostüm starrte sie Allan an. »Du hast mich getäuscht, als ein Spielzeug benutzt.«

»Das ist nicht wahr. Ich bin fest überzeugt gewesen, dass ich dich wirklich liebe. Doch dann ist es wie ein Wirbelsturm über mich gekommen. Mein Herz ist entflammt.«

»Und was ist mit mir? Was ist mit der Liebe, die du mir geschworen hast? Wenn wir uns aneinander schmiegten, wenn unsere Körper eins wurden? Wir stehen kurz vor der Verlobung. Du hast mir die Ehe versprochen.«

»Das ist ein Irrtum gewesen. Ich bedaure es sehr. Ich kann dich nicht heiraten. Bitte, entbinde mich von diesem Versprechen.«

Helen war es, als ob sie sterben würde. Die letzte Hoffnung, an die sie sich verzweifelt geklammert hatte, verflog.

»Ein Irrtum, soso«, sagte sie herb. »Du bedauerst es. Bereust du die Stunden mit mir?«

»Nein, so habe ich es nicht gemeint. Jede einzelne davon ist wie ein kostbares Juwel für mich.«

»Jetzt hast du andere Kostbarkeiten.« Helen schluchzte, es zerriss ihr das Herz. Sie schämte sich, dass sie weinte. »Wer ist sie? Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren.«

Allan schluckte. Es fiel ihm schwer, die drei Worte zu sagen.

»Blanche, deine Schwester.«

»Ich glaube, ich höre nicht recht. Hast du Blanche gesagt?«

»Ja.«

Da fing Helen zu schreien an, was sonst nicht ihre Art war.

»Du bist der größte Schuft, der mir jemals begegnet ist. Ich will dich nie wiedersehen. - Geh mir aus den Augen. Verschwinde für immer aus meinem Leben. - Ich wünsche dir die Pest an den Hals. Und Blanche ebenfalls.«

Allan antwortete: »Ich kann dich verstehen, Lady Feuerkopf.«

So hatte er sie in Stunden der Zärtlichkeit genannt. Das brachte bei Helen das Faß zum Überlaufen. Sie hob die Reitpeitsche, um sie Allan durchs Gesicht zu ziehen. Mit einem reflexhhaften, blitzschnellen Griff fing er ihren Hieb ab. Sie schauten sich an. Er nahm ihr die Peitsche weg und warf sie weit in den See hinaus.

»Beherrsche dich bitte«, sagte Allan ruhig. »Das ändert nichts mehr.«

Allans schlanke Gestalt verschwamm vor Helens Augen. Für sie ging die Welt unter. Der Schmerz in ihrem Herzen war schlimmer als alles, was sie jemals erlebt hatte. Dazu kam die maßlose Enttäuschung, dass die beiden Menschen, denen sie völlig vertraute, sie derart hintergangen hatten. Helen trieb ihre Stute an und preschte los wie eine Irre. Sie wollte nur weg und Allan und niemand mehr sehen.

Die junge Ärztin galoppierte am Seeufer dahin. Allan rief hinter ihr her. Helen preschte auf den Damm, der wie eine Brücke quer über den Lake Pontchartrain führte. Tränenblind, in ihrem erregten Zustand, übersah sie die Absperrung. Die Hufe der Stute hämmerten auf die Holzplanken.

Allan rief ihr vom Ufer nach: »Kehre um, Helen! Der Damm ist morsch! Du brichst ein. Willst du dich umbringen?«

Helen verstand seine Worte nicht. Das Hufgetrappel übertönte sie. Sie merkte erst, dass etwas nicht stimmte, als die Hufe von ihrer Stute nach der Dammmitte durch die morschen Planken brachen.

Qualvoll wieherte die Stute auf, als sie einbrach und sich dabei beide Vorderbeine brach. Helen wurde abgeworfen und flog ins Wasser. Sie klatschte in der Nähe von einer schilfbestandenen Insel ins dunkelgrüne, sumpfig riechende Wasser.

Ihre Reitstiefel liefen voll und ihr Kostüm sog sich voll und wurde schwer wie ein Panzer. Helen zog ihre Reitstiefel aus und hielt sich schwimmend über Wasser. Da sah sie zu ihrem Entsetzen ins Wasser gleitende Alligatoren und auf sie zulaufende, dreieckige Linien. Helen schrie gellend auf.

Im Lake Pontchartrain wimmelte es von Alligatoren. Mindestens ein Dutzend schwamm auf sie zu und wollte sie fressen. Helen versuchte verzweifelt, den mit Holzplanken belegten Knüppeldamm zu erreichen und sich hochzuziehen.

Sie hätte es nicht mehr geschafft. Doch da erschien Allan. Er war auf den Damm gelaufen. Rasch zog er seinen großkalibrigen Revolver und zielte sorgfältig. Die Schüsse krachten. Allan war ein ausgezeichneter Schütze. Er traf vier Alligatoren und tötete sie oder verletzte sie schwer. Die getroffenen Tiere peitschten das Wasser zu Schaum.

Ihr Blut lockte ihre Artgenossen an, die über sie herfielen. Allan hatte Zeit, Helen aus dem Wasser zu ziehen. Er bot alle Kraft auf und hievte sie hoch. Das geschah im letzten Moment. Zwei zähnestarrende Rachen klafften hinter ihr auf und schlugen zu. Ums Haar hätten die Alligatoren Helen doch noch erwischt.

Allan zog sie auf den Damm. Dann erschoss er ihre Stute, für die es keine Rettung mehr gab, und sattelte sie ab. Ernst schaute er Helen an.

»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte sie. »Trotzdem bist du für mich ein Schuft. Was du mir angetan hast, verzeihe ich dir nie. Und ich will dich nie wiedersehen.«

Allan lud den rauchenden Revolver nach. Im See balgten sich immer noch die Alligatoren. Zähnestarrende Rachen und schuppige Schwänze hoben sich aus dem Wasser. Es klatschte, und ein heiseres Gebell und röchelnde Laute waren zu hören.

Allan sagte: »Das wird schlecht möglich sein, wenn ich Blanche heirate. Du wirst meine Schwägerin, Helen.«

»Lieber hätte ich den Teufel zum Schwager«, sagte Helen zornig in ihrem gekränkten Stolz. »Geh mir aus den Augen. Ich finde den Rückweg allein. Und ich gehe zu Fuß.«

Allan verbeugte sich knapp.

»Wie du meinst, Helen. Ich bringe deinen Sattel nach Hause. Hast du Geld in der Satteltasche, oder soll ich dir welches für eine Droschke geben?«

»Geh endlich, verschon mich mit deiner Fürsorge. Ich hasse dich!«

Wortlos drehte Allen sich um und ging zum Ufer zurück, den Sattel über der Schulter. Am Ufer saß er geschmeidig auf. Helen krallte die Fingernägel in ihre Handflächen, als sie seine schlanke Reitersilhouette gegen das Rot und glühende Gelb des Himmels sah. Sie schluchzte bitterlich.

Sie liebte Allan sehr. Nie hätte sie gedacht, dass er sie derart betrügen würde. Dazu noch, was das Allerschlimmste war, mit ihrer eigenen Schwester. Die Hufe von Allans Rappen Mars trommelten auf dem Uferweg. Das Hufgetrappel entfernte sich.

Die Dunkelheit brach herein, als Helen nach Hause ging. Der milde Abendwind trocknete ihre Kleidung. Bei dem Fußmarsch von mehreren Kilometern hatte Helen Gelegenheit, ihre Gedanken zu ordnen. Ihr Herz war eine einzige Wunde. Die Ochsenfrösche quakten, der Abendwind ließ das Schilf rauschen und kräuselte die Oberfläche des Sees.

Helen nahm ihre Umgebung kaum wahr. Auch als sie die Stadt erreichte und durch den Vorort marschierte, merkte sie kaum auf. Erst als sie zum dritten Mal von einem Kutscher angesprochen wurde, nahm sie wahr, dass eine Droschke neben ihr hielt.

»Wollen Sie nicht mit mir fahren, Missis?«, fragte der Kutscher. »Es ist unsicher für eine Frau allein auf der Straße.«

Helen befand sich in einem Negerviertel. Sie hatte es kaum bemerkt. Mechanisch nickte sie dem Kutscher zu und stieg in die Droschke ein.

 

*

 

Später, im Haus, das sie mit ihrer Familie schon damals bewohnte, stellte Helen Blanche zur Rede. Helen hatte sich umgezogen. Ihre bildschöne drei Jahre jüngere Schwester, die alle Männer bezauberte, saß vor dem Spiegel. Sie trug Hausmantel und Nachthemd und kämmte ihr langes Haar. Die Haarpflege war schon eine Manie für Blanche. Wenn ihr ein paar Haare mehr als sonst ausgingen, wenn gar ihre Haarspitzen spalteten oder das Haar ein wenig stumpfer als sonst zu werden drohte, sorgte sie sich sehr.

Sie schaute an jenem Tag nach Allans Geständnis ihre »große« Schwester nicht an. Die Nacht hatte sie mit Allan verbracht und war erst am Vormittag nach Hause zurückgekehrt. Eine Kutsche hatte sie gebracht.

»Ich muss mit dir reden, Blanche«, sagte Helen, die totenbleich dastand. »Wegen Allan.«

»Hat er endlich mit dir gesprochen?«, Blanche fuhr sich mit der silbernen Haarbürste durch die hellblonde Lockenmähne. Lang fielen die schimmernden Haare über ihre makellosen Schultern. Die Haarbürste mit ihren Initialen in einem eingravierten Herzen, mit Edelsteinen verziert, war natürlich ein Geschenk von Allan. »Solche Dinge geschehen nun einmal. Das kommt selbst in den besten Familien vor. Du wirst drüber wegkommen.«

»Ich habe Allan geliebt. In zwei Wochen wollten wir uns verloben. Das hast du genau gewusst. Du hast ihn mir weggenommen.«

»Ich liebe ihn eben auch«, antwortete Blanche und widmete alle Aufmerksamkeit ihren Haaren. Sie war bewusst seelisch grausam. »Und was heißt hier weggenommen? Er ist nicht dein Eigentum. Dass er sich von dir abwendete, hat seine Gründe. Dazu gehören immer zwei.«

Helen hasste sie in den Moment so, dass sie die Schwester hätte umbringen können. Zum ersten Mal sah sie die sanfte Blanche so, wie sie wirklich war. Egozentrisch, verwöhnt, skrupellos und gewöhnt, immer und um jeden Preis ihren Willen durchzusetzen.

Blanche überprüfte ihr Haar.

»Ha, ich sehe gespaltene Haarspitzen. Meine Haare sind stumpfer als sonst. Ich muss ein paar Waschungen vornehmen und eine Kurpackung auflegen, sonst leidet noch meine Haarpracht und Schönheit.«

»Du und deine verdammten Haare«, sagte Helen zornig. »Ich spreche mit dir über Allan. Du hast dich ihm an den Hals geworfen, ihn becirct und verführt. Männer sind Wachs in den Händen von einer Frau, wie du eine bist.«

Blanche betrachtete Helen im dreiteiligen Frisierspiegel in ihrem Zimmer.

»Da sind noch mehr gespaltene Haarspitzen«, sagte sie. »Das ist schlimm. Vielleicht habe ich einen Vitaminmangel. Kannst du mir eine Diät empfehlen, Schwester? Schönheit kommt immer von innen. Ich werde zudem eine Kosmetikspezialistin fragen und meine Friseurin.«

Blanche machte immer einen großen Umstand wegen ihrer Schönheit. Der Schönheitspflege widmete sie eine Menge Zeit. Sie bezeichnete sich als Kunstwerk, das sie jeden Tag aufs Neue kreieren musste. Für sie war es ein Lebensinhalt und ständiger Wettbewerb, die Schönste zu sein. Wie weit sie dabei ging, merkte Helen erst jetzt.

»Ich werde mich um deine Haare kümmern, Liebchen«, sagte Helen mit falschem Lächeln.

Sie ergriff die bereits erhitzte Brennschere, mit der Blanche ihre Haare kräuselte. Dann packte sie Blanche, setzte die Brennschere an und drückte zu. Es stank nach verbrannten Haaren. Rauch kräuselte sich hoch. Obwohl Helen Blanches Haut nicht berührt hatte, schrie diese wie am Spieß.

»Zu Hilfe, sie will mich umbringen! Helen ist wahnsinnig geworden!«

Die Mutter der beiden Schwestern, ihr Vater und Tante Pitty liefen herbei. Zudem der alte Moses, der schwarze Diener der Familie. Er war schon hoch in den Sechzigern und wäre ohne die Farrars, denen er genauso die Treue hielt wie sie ihm, verloren gewesen.

John Farrar zerrte seine beiden Töchter auseinander und stellte sich zwischen sie.

»Sie will mir die Augen auskratzen!«, behauptete Blanche, die ihrerseits Helen ins Handgelenk gebissen und ihr Kratzer zugefügt hatte. »Sie ist ohne Grund über mich hergefallen.«

»Ohne Grund?«, rief Helen aus. »Du falsche Schlange.« Sie wendete sich an ihre Familie. »Hinter meinem Rücken hat sie mit Allan, meinem Verlobten, ein Verhältnis angefangen. Jetzt will Allan sie heiraten. - Was sagt ihr dazu?«

Zu Helens Überraschung stellten sich ihre nächsten Verwandten nicht in flammender Empörung auf ihre Seite, wie sie erwartet hatte. Der ehemalige Konföderierten-Major John Farrar, ein hochgewachsener, grauhaariger, spitzbärtiger Mann, wurde sehr verlegen. Er druckste herum. Die rundliche Tante Pitty mit ihren großen Kinderaugen drängte sich an Helens Mutter Margaret, an die sie sich in Krisenzeiten schon immer gehalten hatte.

Die beiden wechselten einen Blick geheimen Einverständnisses. Helen begriff. Sie hatten gerade nichts Neues erfahren, sondern wussten schon eine Weile, wie es zwischen Blanche und Allan stand. Wieder schossen Helen die Tränen in die meergrünen Augen. Sonst hatte sie nicht nahe am Wasser gebaut.

»Ihr habt mich alle verraten!«, rief sie. »Ich hasse euch. Keine Stunde länger bleibe ich mit euch unter einem Dach. - Der Schlag soll euch alle treffen.«

Helen hatte noch mehr als den Eigensinn und das Interesse an der Medizin von ihrem irischen Großvater Jake Farrar aus der Grafschaft Cork geerbt. Auch er war temperamentvoll gewesen. Wenn er sich aufregte, wackelte das Haus, so brüllte und wetterte er.

Helen stürmte hinaus und in ihr Zimmer. Sie schloss die Tür hinter sich ab, warf sich aufs Bett und schluchzte bitterlich. Dann fing sie zu packen an. Sie nahm nur das Notwendigste. Den Rest konnte sie später holen. Bald klopfte es an der Tür. John Farrar meldete sich.

»Helen, ich muss mit dir sprechen. - Bitte, mach keine Dummheiten. - Öffne die Tür.«

Helen schloss erst auf, als sie den Koffer und ihre Reisetasche gepackt hatte. Ihr Vater trat ein. Er erfasste die Sachlage mit einem Blick.

»Wohin willst du mitten in der Nacht gehen?«, fragte er.

»In meine Praxis. Dort kann ich die erste Zeit schlafen. Später werde ich mir eine eigene Wohnung nehmen.«

»Das kannst du uns nicht antun, Helen.« Zu dieser Zeit war es keineswegs üblich, dass unverheiratete junge Frauen aus guter Familie von dieser getrennt und allein lebten. Das taten nur Frauen von zweifelhaftem Ruf oder aus den ärmeren Schichten, wobei sich jene Mädels oft ein Zimmer oder die Wohnung teilen mussten. »Ich weiß, wie verletzt du bist. Aber ich schwöre dir, ich habe von der Sache bis heute nichts gewusst. - Kind, hör mir zu.«

Er wollte sie dazu bringen, sich niederzusetzen und es sich noch einmal zu überlegen, ob sie fortgehen wollte. Helens Entschluss stand aber fest.

»Nein, ich höre dir nicht zu. Ich bin kein Kind mehr. Ich bin 25 Jahre alt und approbierte Ärztin mit abgeschlossenem Studium und Assistenzjahr.«

»Helen, ich spreche jetzt als Familienoberhaupt zu dir. Und als dein Vater. Im Leben geht es nicht immer so, wie man es gern haben möchte. Jeder Mensch erleidet Enttäuschungen, seelische Schmerzen, mitunter auch Kränkungen. Du musst dich damit anfinden, dass Allan sich in Blanche verliebt hat und sie sich in ihn. - Das Herz ist ein launisches Ding. Wo die Liebe hinfällt, da bleibt sie liegen. Und wen sie entflammt, der brennt lichterloh.«

»Das klingt, als ob du die beiden noch unterstützen würdest.«

»Nein, Helen, ich stehe nicht auf ihrer Seite. Ich finde, dass sie sich scheußlich benommen haben. Doch andererseits... was soll man dagegen tun? Natürlich ist es sehr peinlich und schmerzlich für dich, den Mann, den du liebst, ausgerechnet an die eigene Schwester zu verlieren. Doch damit bist du kein Einzelfall. - Ich erinnere mich an die O’Brians von der Plantage Shamrock. Sie hatten drei Töchter, die sich ausgerechnet alle drei in denselben Mann verliebt haben. Er hat dann die Mittlere geheiratet, aber davor...«

»Vater, jetzt höre mit den alten Geschichten auf. Das ist hier nicht Shamrock. Natürlich kann ich Allan nicht zwingen, bei mir zu bleiben. Ich bin auch zu stolz dazu. Doch ich kann und will Blanche und ihn nicht mehr sehen. - Begreifst du das nicht? Außerdem wussten Mutter und Tante Pitty Bescheid. Sie hätten mich aufklären müssen. Stattdessen haben sie mich in dem Glauben gelassen, dass Allan mich liebt und alles in Ordnung sei. Zuletzt hatte er ja wenig Zeit für mich. - Geschäfte, Erschöpfung, eine Erkältung. Jetzt weiß ich, dass Blanche seine Krankheit war.«

»Helen.« John Farrar fasste die Hand seiner ältesten Tochter. »Es war Allans Angelegenheit, dir die Augen zu öffnen.«

»Blanche hätte sich mit mir aussprechen können«, sagte Helen voller Groll. »Aber sie, Mutter und Tante zogen es vor, mich zu belügen.« Helen ergriff ihr Gepäck. »Meine Schwester schwieg, diese hinterlistige Person, diese falsche Schlange. Ich wusste ja, dass sie einen Verehrer hat, den sie mir nicht vorstellen wollte und nie hierher brachte. Doch nie wäre ich auf den Gedanken verfallen, dass es sich dabei um meinen Verlobten handelt.«

»Ihr seid noch nicht offiziell verlobt.«

»Aber so gut wie. Ach, es ist so gemein, so hinterlistig und niederträchtig. Noch niemals in meinem Leben bin ich so gedemütigt und beleidigt worden. Hier kann ich nicht länger bleiben. Den Rest von meinen Sachen hole ich später ab. Allans Geschenke nicht. Die Kleider, den Schmuck und alles andere könnt ihr von mir aus wegwerfen.«

John Farrar seufzte. Er begriff, dass er Helen nicht zurückhalten und mit ihrer Schwester versöhnen konnte. Widerstrebend fand er sich damit ab, dass sie zunächst woanders wohnen würde. Helen war jung, psychisch wie physisch stark und gesund. Sie würde darüber hinwegkommen.

»Ich besorge dir eine Droschke«, sagte John Farrar sachlich.

Ihre Mutter und die Tante stellten sich Helen im Hausflur in den Weg. Helen ließ sich jedoch nicht aufhalten. Blanche zeigte sich nicht.

Als sich die Haustür hinter Helen und ihrem Vater geschlossen hatte, fragte Tante Pitty schüchtern: »Willst du sie in dem Zustand allein lassen, Margaret? Sie könnte ins Wasser gehen oder sich vergiften.«

»Das wird Helen nicht«, sagte Margaret Farrar zu ihrer Schwester, die niemals geheiratet hatte. »Ihr Vater begleitet sie.«

»Aber... vielleicht kriegt sie ein Kind«, sagte Pitty, die eigentlich Penelope Heather Henderson hieß. »Und weiß nicht mehr aus noch ein.«

»Das fehlte uns noch!«, entfuhr es Margaret. Die graumelierte, schlanke Frau hatte in ihrem Leben allerhand Schicksalsschläge erlitten. Zwei Kinder waren ihr als Säuglinge weggestorben, ihr Sohn im Bürgerkrieg bei Chickamauga gefallen. Er war Kavallerieoffizier gewesen. Heute noch auf stolzen Rossen, morgen durch die Brust geschossen, war es Margaret durch den Kopf gefahren, als sie die Nachricht von seinem Tod erhielt. »Du liest zu viele Kitschromane, Pitty.«

»Aber es könnte doch sein...«

»Willst du wohl ruhig sein? Pass auf, dass du nicht schwanger wirst.«

»Aber Margaret, wie kannst du nur... Ich bin noch niemals mit einem Mann zusammen gewesen. In meinem Alter, du solltest dich schämen, solche unzüchtigen Worte zu gebrauchen.«

»Penelope, sei bitte ruhig. Wir haben genug Probleme in der Familie. Male den Teufel nicht an die Wand. Manchmal benimmst du wirklich unmöglich in deiner Naivität und sagst Dinge, die an deinem Verstand zweifeln lassen.«

»Margaret, du kränkst mich. Ach, diese Aufregungen, mein Herz rast. - Helen ist weg, ich kann sie nicht um Rat fragen. - Mein Riechsalz, ich falle in Ohnmacht! - Ich muss mich niederlegen. Was sind das für Zeiten, was sind das für Sitten? Die eine Schwester macht der anderen den Mann abspenstig. Die Männer sind alle Verbrecher. Ich war gut beraten, mich niemals an einen zu binden. - Wo ist mein Riechsalz, Moses?«

Jammernd begab sich Pitty in ihr Zimmer, das sie allein bewohnte. Sie lauschte jedoch an der Tür und verließ es, sobald sie glaubte, jetzt hätte sie sich erholt haben können. In ihrem altjüngferlichen Herzen brannte die Sensationsgier. Sie wurde Zeugin von einem echten Skandal. Davon wollte sie sich nichts entgehen lassen, zumal er ihre engsten Verwandten betraf.

John Farrar kehrte schon bald zurück. Am nächsten Tag fand bei den Farrars ein Familienrat statt. Allan Dubois erschien und stellte sich klar auf Blanches Seite.

»Wir wollen heiraten. Für euch ändert sich nichts. Wegen Helen bin ich sehr betrübt, doch ich bitte euch, mich nicht als einen Schuft anzusehen. Blanches und meine Liebe ist stärker als alles andere gewesen.«

John Farrar sagte im Wohnzimmer: »Wenn unser Sohn Paul noch lebte könnten Sie sich auf ein Duell gefasst machen, Allan. Doch ich, was soll ich denn dazu sagen? - Das war nicht die feine französische Art, wie Sie sich da benommen haben.«

Allan legte den Arm um Blanches Schultern. Sie hatte ihre Haare kürzer geschnitten. Die Widerherstellung und Erhaltung ihrer Haarpracht war ihr ein Anliegen gewesen. Blanche himmelte Allan mit ihren harmlos erscheinenden Blauaugen an. Sie wirkte so sanft und so unschuldig wie ein Engel. Die vorletzte Nacht, hatte sie zu ihrer Familie behauptet, wie vorher bei anderen Gelegenheiten, hätte sie bei Bekannten verbracht.

»Wir lieben uns«, hauchte sie. »Die Liebe ist eine Himmelsmacht. Wer kann schon dagegen an?«

Ihre Mutter kannte sie besser und kaufte ihr die Harmlosigkeit nicht ab. Doch auch Margaret schwieg. Allan Dubois war eine erstklassige Partie, die die Familie Farrar dringend brauchte, um wieder zu Rang und Ansehen zu gelangen.

Dezent, aber bestimmt, sagte Margaret Farrar: »Da die Verlobung nun einmal angesagt ist, um dem Skandal die Spitze zu nehmen, sollten Sie sie vielleicht mit Blanche feiern, Mr. Dubois?«

Allan schaute Blanche an. Sie nickte.

Da ergriff der blendend aussehende schwarzhaarige Mann die Hand seiner zukünftigen Schwiegermutter und küsste sie.

»Nur zu gern, Mrs. Farrar. Wir geben eine große Feier.«

»In dem Fall feiert man die Verlobung besser in kleinem Rahmen«, erwiderte Lady Margaret. In Etikettefragen kannte sie sich gut aus. »Die Hochzeit kann dafür später in großem Rahmen ausgerichtet werden. - Wollt ihr lange damit warten?«

Wieder schaute Allan Blanche an und holte mit Blicken ihr Einverständnis.

Dann sprach er: »Nein. Wir heiraten auf jeden Fall noch in diesem Jahr. - Wegen Helen...«

Schmal wurden Margarets Lippen.

»Reden wir nicht darüber. Es gibt Dinge, die sich am besten regeln, wenn man darüber schweigt.«

Blanche nickte lächelnd. Sie stand im Begriff, sich mit dem reichsten, begehrtesten, bestaussehendsten Junggesellen von ganz Louisiana zu verloben. Bald würden sie heiraten. An Helen und ihre verletzten Gefühle verschwendete Blanche kaum einen Gedanken. Wen ein Omelette bereiten will, muss ein paar Eier zerschlagen, dachte sie. Und das war ein prachtvolles, opulentes Omelette, auf das nur eine Närrin verzichtet hätte.

Zudem liebte sie Allan wirklich, das redete sie sich jedenfalls ein. Wäre er arm gewesen, hätte sie ihn nicht geliebt. Bei Helen hatte es sich anders verhalten.

 

*

 

Nach dem nächtlichen Weggang von ihrer Familie wohnte Helen für eine Weile in den zwei Räumen über ihrer Praxis am Rand des French Quarters. Die Umstände waren primitiv. Trotzdem gefiel es Helen. Sie stürzte sich in die Arbeit, um ihr Herzeleid zu verwinden, und ging ganz darin auf. Von den Bewohnern des armen Viertels, in dem sich die allgemeinärztliche Praxis befand, erfuhr sie die höchste Wertschätzung.

Reich wurde sie nicht, verdiente jedoch ihren Lebensunterhalt. Mangelnde Hygiene, Voodoo, Dummheit, Gleichgültigkeit, Aberglauben und Ignoranz störten sie. Helen führte einen harten Kampf dagegen, in dem sie Siege erfocht, allerdings auch Niederlagen hinnehmen musste.

Sie verlor die Illusion, dass die Armen bessere Menschen seien. Bei ihnen gab es genauso viel Habsucht und Neid sowie Ausbeutung und Unterdrückung wie bei den Reichen auch. Sie hatten nur weniger Gelegenheit, um das auszuleben. Alles in allem war Helens Leben am Rand des French Quarters sehr romantisch. Viele Farbige suchten die Praxis auf. Sie hatten die junge Ärztin ins Herz geschlossen.

Helen mochte New Orleans und die Menschen dort, ein buntes Völkergemisch. Louisiana war lange Zeit eine französische Kolonie gewesen, wie schon der Name sagte, der auf den König Louis zurückzuführen war.

Die Franzosen hatten Louisiana sowie New Orleans stark geprägt mit ihrer Lebensart. Nach wie vor gab es viele französische und französischstämmige Familien dort. Dazu gehörten auch die Dubois, Allan und Robert. Lange Zeit hatte man sich innerhalb des Baumwollpflanzeradels der Südstaaten nur mit Französisch hervorragend verständigen können.

Der spanischen und französischen Mentalität war es entgegengekommen, in Herrenhäusern zu sitzen und schwarze Sklaven auf den Baumwollfeldern die Arbeit erledigen zu lassen. Hier hielt man Siesta, feierte gern und pflegte eine ganz andere Lebensart als die Menschen im industriegeprägten, kalten Norden und an der Ostküste.

Allan Dubois hatte sich nach der Kapitulation des Südens rasch erholt. Er sah seine Chancen und nutzte sie mit zähem Erfolgswillen, gepaart mit Intelligenz und guten Verbindungen. Rasch brachte er ein größeres Vermögen zusammen, als seine Familie es jemals zuvor besaß. Ein so erfolgreicher Mann hatte natürlich auch viele Nieder. Allan und sein Bruder Robert waren die einzigen noch lebenden Sprosse der Familie Dubois. Unterschiedlichere Brüder konnte man sich kaum vorstellen.

Robert, der Ältere, trank viel mehr, als es ihm gut tat. Er besaß nur einen Seelenverkäufer von Flussdampfer, der bis zur letzten Planke verschuldet war. Er verkehrte mit zweifelhaften Frauenzimmern und schien seinen ganzen Ehrgeiz darin zu sehen, sich und das Familienrenommee endgültig zu zerstören. Er war zynisch und fürchtete nichts und niemand.

Ein Mann, dem man besser aus dem Weg ging und mit dem wenige gern verkehrten. Ganz anders war Allan, der um vier Jahre jüngere Bruder. Blendend aussehend, hochintelligent, verbindlich in seiner Art. Er war so charmant und redegewandt, dass er einem Baum die Borke herunterschwatzen konnte, wie die Redensart sagte. Er beherrschte vier lebende und zwei tote Sprachen, konnte höhere Mathematik, Arithmetik und kannte sich mit der Astronomie genauso gut aus wie mit der Pferdezucht.

Selbstverständlich verstand er sehr viel von Geschäften. Er vermochte sich seine Zeit erstklassig einzuteilen, konnte gut mit Menschen umgehen, ritt wie ein Zentaur, schwamm wie ein Fisch, focht erstklassig, war ein prima Schütze. Er war eigentlich, sagte Helen sich hinterher, viel zu gut und zu schön um wahr und echt zu sein.

Die Frauen hatten ihn immer umschwärmt. Im Nachhinein wunderte Helen sich nicht, dass sie ihn an eine andere verloren hatte. Peinlich war nur, dass es sich dabei um ihre jüngere Schwester handelte. Die beiden heirateten schon ein knappes Vierteljahr nach der Verlobung. Blanche ließ die erstklassige Partie nicht mehr los, die sie in ihren zarten manikürten Fingerchen hielt wie die Katze die Maus in den Krallen.

Helen blieb der Verlobung und auch der Hochzeit demonstrativ fern. Sie lehnte den näheren Kontakt mit ihrer Familie ab und sprach mit Blanche überhaupt kein Wort. Sie sah sie auch nicht. Ihre Mutter und Tante Pitty behaupteten, das würde ihnen das Herz brechen. Helen reagierte nicht, und die gebrochenen Herzen von Mutter und Tante traten nicht weiter zutage.

Robert Dubois erschien zu der glanzvollen Hochzeit seines Bruders. Er betrank sich schwer und beleidigte sämtliche vornehmen Gäste in Bausch und Bogen, indem er sie als Kriegsgewinnler und Lumpen beschimpfte. Mit einem Captain von der Nordstaaten-Besatzungsarmee, die sie immer noch war, legte er sich ganz besonders an. Der Captain forderte ihn für zwei Tage später im Morgengrauen am Flussufer unter alten Eichen auf schwere Säbel.

Robert erwies sich als fast so guter Fechter wie sein Bruder. Er stach den Nordstaatler durch die Schulter, worauf dieser den Kampf aufgab. Das rettete Robert davor, sein Schiff zu verlieren und völlig geächtet zu werden. Wer in New Orleans einem Nordstaaten-Offizier derart die Zähne zeigte und die Ehre des alten Südens wahrte, gewann reichlich an Sympathien.

Es gab noch alte Seilschaften, die durchaus funktionierten. Zudem hielt Allan Dubois, was keiner wusste, die schützende Hand über den Bruder. Mit Bestechung da, Druck dort und mit Tricks und Schlichen erreichte er, dass Robert straffrei ausging.

Allan hatte nach dem Krieg eine bankrotte Werft billig erworben und sich als Schiffsbauer und Reeder betätigt. Er betrieb Küsten-und Flussschifffahrt, betätigte sich zudem als Großkaufmann. Sein Geschäftssinn und Instinkt für erstklassige Geschäftsabschlüsse und Profit wurden sprichwörtlich. Er schien den Baumwollpreis im Voraus zu ahnen und genau zu wissen, wie die Ernte ausfallen würde.

Er paktierte mit den Nordstaatlern. Es machte ihm überhaupt nichts aus, mit ihnen umzugehen, geschäftlich sowie privat. Viele Südstaatler, die in Armut und Dünkel lebten, rümpften darüber die Nase. Allan meinte jedoch, und er hielt sich daran, es sei eine neue Zeit angebrochen, in der neue Gesetze und Regeln galten.

Nach seiner Prunkhochzeit mit Blanche Farrar bezog er eine prächtige Villa im vornehmsten Teil der Stadt direkt am See. Blanche gab prächtige Gesellschaften, deren umschwärmter Mittelpunkt sie war. Sie konnte sich alles leisten, was ihr Herz nur begehrte, hatte Dienerschaft, Kutschen, Schmuck, schöne Kleider, Bälle und jeden Luxus, den sie sich nur wünschte. Sie reiste im Herbst nach Europa, sah Paris, Rom, London, Madrid und andere Städte.

Sie führte ein tolles Leben, wie sie es sich immer erträumt hatte. Ihr Mann las ihr jeden Wunsch von den Augen ab und liebte es, sie zu verwöhnen. Doch dann erkrankte Blanche am Sumpffieber, das auch Gelbes Fieber genannt wurde. Es traf sie in einer besonders krassen Form.

Todkrank holte sie Helen an ihr Krankenbett, um sich mit ihr zu versöhnen. Auch ihre Schwester vermochte ihr nicht zu helfen. Sterbend bat Blanche Helen noch, ihr zu verzeihen.

»Natürlich verzeihe ich dir«, erwiderte Helen ihr schluchzend. Im Angesicht der todkranken, leidenden Blanche erlosch auch ihr letzter Groll. Helen empfand nur noch Mitleid mit ihr. »Bitte, stirb nicht. Du bist meine Schwester, ich liebe dich doch.«

Blanche lächelte nur matt. Dann fiel sie ins Koma, aus dem sie nicht mehr erwachte. Allan war untröstlich. Seine Ehe mit Blanche hatte nur kurz gedauert. Er brach völlig zusammen. Helen hatte bis dahin kein Wort mit ihm gesprochen und war ihm aus dem Weg gegangen. Jetzt hatte sie Mitleid mit ihm. Zuerst fürchtete nicht nur sie, Allan würde vor lauter Kummer den Verstand verlieren.

Er aß und schlief nicht mehr, vernachlässigte seine Geschäfte. Ohne die tüchtigen und loyalen Angestellten wäre er erledigt gewesen. Als er sich weigerte, seine Frau begraben zu lassen, ging Helen zu ihm. Sie als einzige besaß den Mut, dem völlig veränderten Mann entgegenzutreten, der mit geladenem Revolver in der Kapelle neben Blanche saß.

Sie war aufgebahrt worden und sah schöner denn je aus. Der Duft von Magnolien, Chrysanthemen und anderen Blumen überdeckte den bereits spürbaren Verwesungsgeruch. Zahlreiche Kerzen brannten in der kleinen Kapelle. Allan sah aus wie ein Geist, unrasiert, mit hängender Schleife, zerdrücktem Jackett und zerknitterter Hemdbrust. Sein Blick flackerte.

»Was willst du?«, fragte er Helen, als sie in ihrem schwarzen Trauerkostüm mit dem zarten Schleier vorm Gesicht vor ihn trat. »Robert ist bei mir gewesen, auch mein Schwiegervater. Ich habe sie weggeschickt. Ich will allein sein... mit ihr, mit meiner über alles geliebten Blanche.«

Helen legte ihm die Hand auf den Arm.

»Es sind drei Tage und Nächte vergangen, seit Blanche aufgebahrt wurde. Die Zeit der Totenwache ist vorbei. Du bist die ganze Zeit hier gewesen, Allan. Jetzt muss Blanche bestattet werden.«

»Was? Du willst meinen Engel in die finstere Gruft stecken, in einen Sarg? Ganz allein in die Dunkelheit, sie, die niemals allein sein konnte, die Lichterglanz und Festivitäten über alles liebte? Das werde ich niemals zulassen.«

Er legte die Hand auf seinen Revolvergriff.

Helen schaute ihn an und sagte mit fester Stimme: »Aber sie ist tot, Allan. Tote müssen bestattet werden. Ich weiß es, wie sehr du trauerst, dass es dein Herz zerreißt. Aber du kannst es nicht ändern. - Meine Schwester ist tot. Nichts und niemand kann sie zurückholen. Erst am Jüngsten Tag wird sie wieder auferstehen.«

»Nein, Helen. Sie lebt. Schau nur, es ist Röte auf ihren Wangen.« Helen konnte nichts dergleichen feststellen. »Blanche schläft nur.«

Der arme Mann, dachte die Ärztin. Sie hatte Allan eine Zeitlang gehasst, weil er sie mit ihrer Schwester betrogen und verlassen hatte. Von diesem Hass war nichts übriggeblieben.

»Allan, bitte, komm zu dir. Du machst nur alles viel schlimmer, besonders für dich. Blanche muss in eurer Familiengruft auf dem Alten Friedhof beigesetzt werden. Wir müssen von ihr Abschied nehmen.«

»Niemals. Nie. Weißt du, was sie einmal zu mir gesagt hat? Da war ein Gewitter. Es blitzte und donnerte. Ein schweres Unwetter. Blanche hatte Angst wie ein kleines Kind. Sie klammerte sich an mich. Ich konnte sie kaum beruhigen.«

»Ich weiß, dass meine Schwester vor dem Gewitter Angst hatte«, sagte Helen.

Sie saß neben Allan auf der vordersten Kirchenbank. Der Sarg, umrahmt von einem Blumenmeer und von Kränzen, stand direkt vor dem Altar. Das Ewige Licht brannte über Blanche. Im Hintergrund sah man die Jungfrau Maria im Kerzenlicht, das Jesuskind auf dem Arm. Es war still in der Kapelle.

»Blanche bat mich, sie nie, nie allein und im Stich zu lassen. Ich sollte sie immer beschützen, vor aller Not und Gefahr. Vor dem Gewitter, vor Dunkelheit, der Angst und der Kälte. - Das habe ich ihr versprochen.«

»Allan, der Tod hat sie weggenommen. Er ist stärker als du. Dein Wort ist hinfällig.«

»Der Tod«, stöhnte Allan. Er zog seine Waffe. Sein Blick flackerte. »Wo ist er? Ich bringe ihn um. Er soll mir Blanche wiedergeben. - Wenn das nicht möglich ist, folge ich ihr. Nichts soll uns trennen. Ich kann ohne Blanche nicht leben.«

Helen hätte nie gedacht, dass Allan so von ihrer Schwester abhängig sein könnte. Er fuchtelte mit der Waffe. Er ist wahnsinnig geworden, dachte die Ärztin. Allan stand auf.

»Jeden, der seinen Fuß über die Schwelle setzt um Blanche wegzuholen und in ein finsteres Loch von Grab zu stecken, erschieße ich auf der Stelle!«, rief er. Er knirschte mit seinen Zähnen. »Der Tod wird sie nicht behalten. - Blanche, hörst du mich?«

Er trat an den Sarg, ließ den Revolver fallen, ergriff die Hand der Toten und bedeckte sie mit Küssen.

»Ich lasse dich nicht allein, Geliebte. Wenn ich dich dem Tod nicht entreißen kann, gehe ich mit dir in die andere Welt.«

»Allan«, sagte Helen, die aufgestanden war. »Du versündigst dich.«

Allan hatte keinen Blick für sie.

»Lass mich allein.«

Daraufhin ging Helen hinaus. Sie griff zu einer List. Sie besprach sich mit ihrem Vater und mit Robert Dubois.

»Er hat komplett den Verstand verloren vor Kummer«, sagte sie ihnen in der Villa Allans. »Die Schlaflosigkeit, der Schock über Blanches Tod, das alles hat ihn über die Klippe hinausgetrieben, bis zu der die menschliche Vernunft geht. Er kann nur dann wieder genesen, wenn er vor vollendete Tatsachen gestellt wird.«

»Wie?«, fragten die beiden Männer.

»Wir müssen zu einer List greifen. Man muss ihn dazu bringen, Speise und Trank zu sich zu nehmen. Ich mische ein starkes, geschmackloses Betäubungsmittel darunter. Die Natur wird sich ihr Recht nehmen, seine Erschöpfung den Rest besorgen. Wenn Allan erst einmal schläft, wacht er mindestens 48 Stunden nicht auf. Ich kann ihn noch weiter unter Betäubung halten. In dem Fall ist es ein gerechtfertigter Heilschlaf, in dem seine Seele genesen kann. Während er schläft, müssen wir Blanche in der Familiengruft der Dubois beisetzen.«

Major John Farrar seufzte. Er war um Jahre gealtert. Blanches Tod hatte ihn schwer getroffen.

Er sagte: »Es gibt keinen anderen Ausweg.«

Robert nickte nur. Helen brachte Allan Speise und Trank auf einem Tablett. Sie stellte es ihm hin und versuchte, mit ihm zu sprechen. Allan saß stumm am offenen Sarg seiner Frau und hielt ihre kalte Hand. Leise verließ Helen die Kapelle. Als man wieder nachschaute, lag Allan betäubt vor dem Sarg.

Er hatte den Krug leergetrunken und das Roastbeef gegessen. Wahrscheinlich hatte er kaum gemerkt, dass er etwas zu sich nahm. Helens Betäubungsmittel erfüllte seinen Zweck. Blanche wurde beigesetzt. Allan schlief in der Villa. Helen und die Haushälterin Mammy Alllie sowie deren Töchter überwachten seinen Schlaf.

Blanches Beerdigung fand ohne Allan statt. Als er dann erwachte, war es sein früheres Kindermädchen Mammy Allie, die ihm Rede und Antwort stand.

»Und wenn Sie mich jetzt erschlagen, Massa Allan, sag’ ich es doch. Sie haben fünf Tage geschlafen. Sie sind an Blanches Sarg zusammengebrochen und nicht wieder zu sich gekommen. Wir haben Sie ruhen lassen.«

Allan stand im Nachthemd da.

»Blanche, wo ist Blanche? Hat man sie... ist sie...?«

»Die Seele ihrer Frau ist im Himmel, Massa Allan. Ihr Körper ruht in der Familiengruft.«

Mammy Allie schluchzte in ihre Schürze.

»Sie ham’ gesagt, dass Sie jeden erschießen, der Missis Blanche begraben will. Jetzt ist es geschehen. Wenn Sie unbedingt jemanden dafür töten müssen, erschießen Sie eben mich.«

Mit einem irren Schrei rannte Allan aus dem Zimmer. Rasch zog er sich an, warf sich aufs Pferd, das er in aller Eile selber gesattelt hatte. Er preschte zum Alten Friedhof. Dort öffnete er das mehrstöckige Mausoleum, das die Gruft der Familie Dubois enthielt.

Und er sah im Dämmerlicht in der Gruft das Gefach, auf dem Blanches Name und ihr Geburts-und Sterbedatum standen. Das ihren Sarg mit der Leiche enthielt. Allan zitterte am ganzen Körper. Er lief zur Gerätehütte des Friedhofaufsehers und holte sich eine Spitzhacke.

Ein Totengräber beobachtete ihn, wie er damit zurück in die Gruft lief. Rasch holte er seinen Vorgesetzten sowie zwei Friedhofsgärtner. Doch es ertönten keine dumpfen Schläge aus der Gruft, vor der Allans Pferd angebunden stand. Helen wurde geholt. Sie fuhr mit einem Einspänner zum Alten Friedhof, stand dann vor dem marmornen Mausoleum, dessen Spitze ein weißer Engel krönte und in dem zwanzig Dubois’ ihre letzte Ruhe fanden.

Aus der Gruft, deren Zugangstür offen stand, hörte sie Allans Stimme: »Ruhe sanft, mein Herz und mein Leben. Wenn meine Zeit vollendet ist, werde ich zu dir gehen. Zu mir kehrst du niemals zurück. Nimmermehr. - Blanche, meine Blanche. Ach, wäre ich doch gestorben an deiner Statt. Warum muss ich das erleben? Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren wurde. - Jede Minute mit dir werde ich als Kostbarkeit und als eine Krönung meines Lebens im Gedächtnis behalten. Du warst mein Licht, meine Sonne, mein Weib...«

Helen winkte die Friedhofsangestellten, wegzugehen. Sie war sehr gerührt. Jetzt verzieh sie Allan alles. Er hatte sie grausam enttäuscht. Doch er hatte Blanche über alles geliebt und dagegen nicht angekonnt. Es war eine Liebe, weit über alles Maß hinaus, wie es sie nur sehr selten gab.

Abgöttisch, verzehrend, bis in den Wahnsinn und weit über den Tod hinaus. Jedenfalls von Allans Seite aus. Helen wartete eine Weile, bevor sie die Gruft betrat. Allan schaute sie an.

»Du hast mir Betäubungsmittel eingeflößt«, sagte er ihr auf den Kopf zu. »Ich spüre den Nachgeschmack.«

Helen fragte nicht, woher er ihn kannte.

»Es musste sein«, sagte sie. »Es war im Sinn meiner Schwester. Blanche würde nicht wollen, dass du ihretwegen den Verstand verlierst und ihre Beisetzung verhinderst. Das bist du ihr schuldig. Du darfst ihr Andenken und eure Liebe nicht entweihen.«

Allan schaute trüb drein und nickte.

»Ja, Schwägerin«, sagte er. »Bring mich nach Hause.«

»Komm, Allan. Wir wollen nach Hause gehen.«

Allan verließ folgsam die Gruft. Die Spitzhacke lag am Boden. Er war hinter Helens Einspänner hergeritten. Sie benutzte diesen Einspänner auch für Krankenbesuche. Sie brachte Allan zu seiner Villa, aus deren Fenstern schwarze Tücher gehängt worden waren, als Zeichen der Trauer. Helen sprach mit Allan. Er schien ihr gefestigt zu sein.

Ernst, traurig, aber wieder bei halbwegs klarem Verstand. Allmählich überwand er den Schock. Helen riskierte es, ihn allein zu lassen. Zwei Tage später ging Allan wieder in seinen Kontor und nahm die Geschäfte auf. Er war in sich gekehrt, doch er wirkte gefaßt. Sein Bürovorsteher teilte Helen mit, dass er in geschäftlichen Angelegenheiten den üblichen Scharfsinn bewies.