ACHTZEHNTES KAPITEL
019
In Riga und wieder fort
Es gab einen Hafen an der Düna-Mündung, der aber auf Anweisung des Erzbischofs geschlossen werden musste, sodass Riga der einzige Ort in weitem Umkreis wurde, an dem es gestattet war, einen Handelsplatz zu errichten. So erst gelangte die Stadt zu ihrer vollen Blüte.
Chronicon Livoniae
 
 
»Da ist sie – die Stadt, in der ich geboren wurde und aufgewachsen bin!«, rief Barbara freudig aus. Sie zügelte ihr Pferd und hielt einen Moment inne.
»Schon auf die Entfernung sieht man diesem Ort seinen Reichtum an«, stellte Erich fest. »Dann werde ich mal hoffen, dass man sich dort auch einen wie mich in der Stadtwache leisten kann!«
Barbara schaute ihn erstaunt an. »Demnach habt Ihr also schon Pläne geschmiedet?«
»Einen Plan würde ich das nicht nennen«, lächelte Erich. »Ich versuche nur, mein Auskommen zu finden. Wie ich bereits erwähnte, bin ich glücklicherweise nicht darauf angewiesen, hier in Riga um jeden Preis die Gunst irgendeines Stadtwachenkommandanten zu erlangen. Vielleicht werde ich weiterziehen. Reval soll auch eine Stadt sein, in der es sich leben lässt, und jenseits der Grenze Pleskau und Nowgorod …«
»Warum bleibt Ihr nicht in Riga und nehmt eine Stellung im Haus meines Vaters an? Wir brauchen stets Wachleute und bewaffnete Männer, die unsere Unterhändler auf Reisen begleiten! Mehr als die Stadtwache bezahlt das Haus Heusenbrink in jedem Fall, darauf könnt Ihr Euch verlassen!«
Erich trieb seinen Apfelschimmel dicht neben Barbaras Pferd und nahm ihre Hand. »Glaubt Ihr, ich könnte das ertragen? In der Nähe einer geliebten Frau zu leben, von der ich weiß, dass sie nie die Meine sein wird? In Eurer Nähe zu sein und doch so strikt von Euch getrennt, wie man es sich nur vorstellen kann?« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann einiges aushalten, aber ich fürchte, dieser Art von Folter wäre ich nicht gewachsen. Darum wird es das Beste sein, wenn ich so schnell wie möglich meiner Wege ziehe, um Euch nicht dauernd zu begegnen.«
»Aber Erich …«
»Ich bin hierher gekommen, um mein Glück zu finden.«
»Ich weiß …«
»Jetzt habe ich es tatsächlich gefunden und muss feststellen, dass dieses Glück gar nicht für mich bestimmt ist. In einem Versepos würde man das für eine vermeintlich witzige Wendung voller Ironie halten. Aber für mich ist es unerträglich!«
Barbara schluckte. Musste das wirklich so sein? Konnten sie nicht einfach ohne Rücksicht auf irgendjemand sonst dem folgen, was sie beide fühlten? Sie musste sich Mühe geben, die Tränen zu unterdrücken. Ihr Verstand sagte ihr, dass Erich recht hatte, aber ihr Gefühl weigerte sich schlichtweg, dies zu akzeptieren.
»Irgendwann – und das wahrscheinlich schon in allernächster Zeit – werdet Ihr jemanden zum Mann nehmen, der Eurem Stand entspricht und Eurem Handelshaus nützt. Jemanden, der besser weiß, wie man mit dem Rechenschieber umgeht und in welchem Verhältnis der Wert verschiedener Münzen zueinander steht, als wie man mit der großen Totensense eines Beidhänderschwertes mit möglichst wenigen Hieben möglichst viele Köpfe von den Schultern schlägt!«
»Was redet Ihr da!«, murmelte sie. Ihre Stimme erstickte in einem sehr schwachen Wispern. Sie sah vor ihrem inneren Auge einzelne Momente ihrer Zukunft: Wie sie an der Seite eines Mannes, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, vor den Altar trat. Ein beklemmendes Gefühl stellte sich dabei ein. Wie sollte es ihr möglich sein, mit einem Mann, den sie nicht im mindesten liebte, solch einen Bund einzugehen? Aber in diese Straße schien ihr Lebensweg fast unweigerlich zu münden.
 
Erich brachte Barbara bis vor das Haus der Heusenbrinks. Dort sollten sich ihre Wege nun endgültig trennen. Sie hatte ihn zwar wiederholt gefragt, ob er nicht mit ins Haus kommen und ihren Vater begrüßen wolle. Erich lehnte das höflich, aber bestimmt ab.
Barbara sah ihm nach, als er die Straße entlangritt. Bevor er in eine Seitenstraße einbog, blickte er sich noch einmal um.
Nur Augenblicke später ging die Tür des Patrizierhauses auf, und Heinrich Heusenbrink stürzte heraus.
»Barbara!«, rief er und musterte sie von oben bis unten. »Ich habe am Fenster gestanden und zuerst gedacht, dass meine Augen mir einen Streich spielen!«
»Nein, ich bin es wirklich«, betonte Barbara und stieg aus dem Sattel. Das Pferd nahm ein Diener am Zügel, der Heinrich Heusenbrink gefolgt war. Heinrich umarmte seine Tochter. »In einem seltsamen Aufzug läufst du herum! Und wo sind unsere Reiter? Die Waffenknechte? Der Wagen?«
»Das ist eine lange Geschichte, Vater. Jedenfalls bin ich froh, Riga lebend erreicht zu haben.«
»Ich habe durch das Fenster gesehen, wie du dich von einem Mann verabschiedet hast … Aber obgleich mir sein Gesicht bekannt vorkam, war das keiner unserer Waffenknechte!«
»Das war Ritter Erich von Belden, und er ist dir in der Tat schon begegnet, wenn auch nur kurz. Vor drei Jahren, als auf dem Markt in Lübeck ein Pferd durchging …«
»Ich erinnere mich dunkel.«
»Der Mann, der mich später vor dem Mordplan meines zukünftigen Gatten warnte.«
»Warum hast du ihn nicht hereingebeten? Er scheint dir in großer Not geholfen zu haben, und da wäre es nur recht und billig, sich dafür erkenntlich zu zeigen.«
Barbara seufzte und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ihr Blick ging in jene Richtung, in die Erich entschwunden war. »Glaub mir, ich habe ihm das angeboten, und nicht nur einmal! Aber er wollte nicht.«
»Und aus welchem Grund?«
»Er hat sehr hohe Ansprüche an das, was er Ehre nennt. Vielleicht hängt es damit zusammen …«
»Weißt du, wo er logieren wird?«
»Ich glaube, das weiß er selbst noch nicht«, gab Barbara zurück.
»Auch da hätten wir ihm doch helfen können! In unserem Haus gibt es für Freunde immer Gästezimmer!«
Ja, dachte Barbara. Aber genau dort wollte er unter keinen Umständen übernachten. In gewisser Weise konnte sie seinen Beweggrund verstehen, sosehr sie selbst diese Trennung auch schmerzen mochte. Sich andauernd zu begegnen, in der Gewissheit, sich doch fernbleiben zu müssen, wäre sicherlich für beide Seiten eine Qual gewesen.
Barbara versuchte diese Gedanken zu verscheuchen. Sie war wieder daheim in Riga, obwohl es zwischenzeitlich sehr fraglich gewesen war, ob sie es je schaffen würde, hierhin zurückzukehren, zumindest auf direktem Weg.
Gemeinsam mit ihrem Vater ging sie ins Haus. Natürlich prasselten die Fragen nur so auf sie ein, und jede Antwort, die Barbara geben konnte, warf zunächst neue Fragen auf. Was die Besprechungen mit dem Hochmeister in der Marienburg ergeben hatten, stand vorerst im Hintergrund. Barbara berichtete von dem Überfall auf der Nehrung, von Erichs beherztem Eingreifen und dem langen Weg über die Memelburg und die schamaitische Wildnis, den sie daraufhin zurückgelegt hatten.
»Der Bernsteinschmuggel ist zu einem Problem geworden, das auch die Grundlagen unserer Geschäftstätigkeit berühren könnte«, unterrichtete sie im Anschluss ihren Vater. »Der neue Hochmeister hat mit mir dieses Problem zwar nur in allgemeinerer Form erörtert, aber auch er macht sich große Sorgen darüber. Und dieser Ring der schwarzen Kreuze muss eine Vereinigung sein, deren Arme sehr weit reichen. Von Lübeck bis in die Rigaische Bucht und darüber hinaus.«
»In diesem Zusammenhang ist ein Gespräch interessant, das ich vor kurzem mit einem Vertreter des Erzbischofs führte«, erwiderte Heinrich seiner Tochter. »Mal davon abgesehen, dass es ohnehin schon erstaunlich ist, dass der Erzbischof offenbar an engeren Kontakten zur Kaufmannschaft interessiert ist und in uns wohl einen Koalitionspartner hinsichtlich künftiger Konflikte mit dem Orden sieht … Man empfahl mir übrigens ganz unverblümt, noch einmal zu überdenken, ob es nicht ratsam wäre, das Verlöbnis zwischen dir und Matthias Isenbrandt doch noch in eine Ehe münden zu lassen.«
»Das ist nicht dein Ernst, Vater!«
Barbara stieß diese Worte geradezu hervor. Sofort kam ihr das Gespräch mit Gernot von der Tann ins Gedächtnis. Es gab anscheinend mächtige Interessen und gute Argumente, diese Verbindung doch zu vollziehen.
Heinrich Heusenbrink hob beschwichtigend die Hände. »Ich habe lediglich wiederholt, was mir mein Gesprächspartner gesagt hat! Und wenn Bernardus mir so etwas sagt, kann ich davon ausgehen, dass das nicht einfach so dahingeredet, sondern mit dem Erzbischof abgestimmt ist!«
»Mit einem verheiratet zu sein, bei dem ich nie sicher sein könnte, dass er mir nicht irgendetwas in die Nahrung mischen lässt, kann niemand von mir verlangen!«
»Das wollte ich damit auch nicht gesagt haben!«
»Ich habe vielleicht damals zu lange gebraucht, um das so klar zu erkennen, aber: Es wäre für mich unvorstellbar, mit jemandem wie Matthias Isenbrandt Tisch und Bett zu teilen. Letzteres würde mich wohl nur Überwindung, jedoch Ersteres vielleicht das Leben kosten …«
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir Matthias seinerzeit nicht zu hart beurteilt haben. Außer diesem Verdacht, den der Ritter von Belden dir gegenüber äußerte, gab es ja keinerlei Indizien. Und soweit mir bekannt ist, hat es auch keinen Prozess in Lübeck um diese Dinge gegeben.«
»Ich dachte, in diesem Punkt wären wir uns einig«, erwiderte Barbara.
»Das sind wir auch. Und ich versichere dir, dass ich niemandem irgendwelche Versprechungen gemacht habe. Bislang bleibt es beim Status quo, und da wir damals keinen Eid geleistet haben, sind wir einigermaßen aus dem Schneider. Wenigstens würde man dich oder mich nicht gleich wegen Eidbruchs in Haft nehmen, wenn wir nach Lübeck reisen und durch das Holstentor schreiten würden.«
Barbara fühlte Enttäuschung. Allem Anschein nach hatte ihr Vater in der Zwischenzeit durchaus überlegt, ob die Verbindung zum Haus Isenbrandt nicht doch noch zustande kommen könnte. Inwiefern es da eine Rolle gespielt hatte, dass er von dritter Seite mehr oder minder deutlich darauf hingewiesen worden war oder diesen Gedanken in Wahrheit schon seit längerem selbst verfolgte, konnte Barbara nicht ermessen. Sie hatte Verständnis dafür, dass ihr Vater in der sich krisenhaft zuspitzenden Lage nach einem Weg für das Haus Heusenbrink suchte, unbeschadet diese unruhige Zeit zu überstehen. Sie hatte auch Verständnis dafür, dass er in der Wahl seiner Mittel dabei nicht immer zimperlich sein konnte und die Interessen Einzelner hinter diesem Ziel zurückstehen mussten. Wofür sie allerdings gar kein Verständnis hatte, war, dass er höchstwahrscheinlich noch immer an dem zweifelte, was Erich von Belden ihr in jenen Tagen offenbart hatte. Vielleicht griff er aber nur nach jedem Rettungsanker, der sich ihm zu bieten schien.
»Abgesehen davon, dass ich lieber ins Kloster gehen würde, als das Verlöbnis mit Matthias Isenbrandt doch noch einzulösen, bin ich auch der Überzeugung, dass wir die Lübecker nicht brauchen«, erklärte Barbara im Brustton der Überzeugung.
»Das ist leicht gesagt, mein Kind«, seufzte Heinrich.
»Ich werde dir noch Einzelheiten von meinen Besprechungen mit dem neuen Hochmeister berichten, und danach wird es auch dir leichterfallen, daran zu glauben! Ich jedenfalls bin überzeugt, dass Ludwig von Erlichshausen einiges im Ordensland verändern wird …«
»Noch gibt es keinen neuen Landmeister in Livland!«
»Ja, aber je länger es Ludwig gelingt, die Wahl hinauszuzögern, desto größer wird sein Einfluss darauf sein. Wir werden davon profitieren, Vater, auch wenn wir noch eine gewisse Durststrecke zu überstehen haben.«
Heinrich Heusenbrinks Gesicht veränderte sich plötzlich. Er sank auf einen Diwan nieder und wurde blass. Dann griff er sich an die linke Brust, dorthin, wo das Herz schlägt. Er atmete schwer, so als hätte man ihn gerade nach einer Hexenprobe aus dem Wasser gezogen, um ihn nach Luft schnappen zu lassen.
»Was ist mit dir, Vater?«
»Nichts! Ich fühle mich nur nicht gut. Das geht schon wieder vorüber.«
»Soll ich einen Medicus holen?«
Er lächelte matt. »In diesen Männerlumpen kannst du dich in der Stadt auf keinen Fall sehen lassen. Was sollen da die Leute denken?« Er stockte. »Du würdest die Kreditwürdigkeit unseres Hauses untergraben, wenn dich jemand erkennen würde …«
Die Leichtigkeit, die diese Worte demonstrieren sollten, wirkte nur gespielt. Barbara kannte ihren Vater gut genug, um zu erkennen, dass es ihm wirklich schlecht ging – mochte er sich noch so sehr dagegen sträuben, dies zuzugeben.
»Dein Zustand erscheint mir ernst, und ich habe nicht vor, dich einfach so sterben zu lassen!«
»So schnell stirbt ein Heusenbrink nicht, Barbara«, hielt Heinrich ihr entgegen. Aber seine Stimme hörte sich kraftlos und belegt an. »Ich schlage vor, du ziehst dich deinem Stand und Geschlecht gemäß an. Heute Abend ist eine Zusammenkunft bei der Compagnie der Schwarzhäupter, bei der ich anwesend sein muss. Bis dahin wird es mir gewiss wieder besser gehen, wenn ich mich ein wenig hinlege und der Diener mir etwas Riechsalz gibt.«
»Und einem Medicus willst du dich wirklich nicht anvertrauen?«
»Ich weiß schon, was ich tue«, erwiderte Heinrich. Er atmete mehrfach tief durch, und tatsächlich schien es ihm nun wieder besser zu gehen. Seine Gesichtsfarbe kehrte zurück, seine Atmung normalisierte sich, und er nahm die Hand von der Brust. Die Gesichtszüge wirkten nun entspannter und nicht mehr vom Schmerz verkrampft. »Geh nur! Wir sprechen später weiter. Es gibt sicher noch so vieles zu berichten und auszutauschen.«
Barbara glaubte in ihrem Rücken Blicke zu spüren. Sie drehte sich herum und erschrak, als sie Thomas Bartelsen in der offenen Tür des Salons stehen sah.
Bartelsen hielt einen Stapel von Dokumenten in der einen und einen frisch gegossenen Bleistift in der anderen Hand und starrte sie erstaunt an.
Barbara war die Erste, die die Fassung zurückgewann, nachdem ihr klar geworden war, dass Bartelsen keine eingebildete Erscheinung war. »Es erstaunt mich, Euch in unserem Haus zu sehen«, sagte sie.
»Das Erstaunen ist ganz auf meiner Seite, obwohl ich natürlich jeden Tag damit gerechnet habe, dass Ihr von Eurer Mission auf der Marienburg zurückkehrt. Wie ich hoffe, mit guten Nachrichten für Euren Vater und Eure Geschäfte.«
»Es ist schön, dass Ihr mich anscheinend erkennt.«
»Gewiss – auch wenn Ihr bei unserer letzten Begegnung …«
»… einen damenhafteren Eindruck gemacht habt?«
»So grob wollte ich das nicht gesagt haben. Und abgesehen davon steht es mir nicht zu, mich zu Eurem Auftritt oder Eurer Kleidung zu äußern.«
»Ihr redet wie jemand, der hier im Haus in Diensten steht!«
»Genau das ist der Fall …«
Heinrich Heusenbrink mischte sich nun in das Gespräch ein. »Ich hätte es dir noch gesagt«, versicherte er. »Thomas Bartelsen hat dem Haus Isenbrandt den Rücken gekehrt, um anderswo neu zu beginnen. Ich habe ihn seit ein paar Tagen als Schreiber und Sekretär eingestellt und bin hochzufrieden mit seiner Arbeit! Seine Buchstaben sind zwar nicht vom allerelegantesten Schwung, aber dafür verrechnet er sich nicht so häufig wie die halbgebildeten Federkünstler, die ich zum Teil gezwungenermaßen einstellen musste, damit all die Arbeit geschafft wird!«
Barbara blieb reserviert. Sie traute den Absichten des Schreibers nicht, und sie fragte sich, inwieweit seine Einstellung in einem Zusammenhang mit dem Ansinnen stand, das Verhältnis zwischen den Heusenbrinks und den Isenbrandts wieder zu verbessern. Konnte das wirklich alles Zufall sein? Eine unbeabsichtigte Gleichzeitigkeit bestimmter Ereignisse, die dann den Anschein einer schicksalhaften Verstrickung erweckte?
Wie gerne hätte Barbara daran geglaubt, dass all dem, was ihr widerfuhr, ein göttlicher Plan zugrunde läge. Sicher vom Herrn geführt zu werden, wer wünschte sich das nicht? Aber die Zweifel wuchsen angesichts ihrer jüngsten Erlebnisse. Sollte etwa Gott dieses leidvolle Chaos geplant haben? Konnte Er wollen, dass Menschen sich trennten, die eigentlich in Liebe verbunden waren, und andere sich verbanden, die sich niemals hätten verbinden dürfen?
»Wir werden gewiss noch Gelegenheit genug haben, uns ausführlich zu unterhalten«, meinte Barbara.
»Sicher.« Thomas Bartelsen deutete eine Verbeugung an und fuhr dann fort: »Ich soll Euch übrigens Grüße aus Lübeck ausrichten.«
»So?«
»Von Hildegard Isenbrandt. Sie sagt, dass sie Euch und Eure Gesellschaft sehr vermisst hat.«
»Wie geht es ihr?«
»Den Umständen entsprechend, und das meine ich in diesem Fall wörtlich.«
»Sie ist schwanger?«
»Hildegard war mit Marinus van Aachten aus Antwerpen verehelicht.«
»War?«, echote Barbara.
»Wie es so schön heißt: bis der Tod sie scheidet. Marinus van Aachten war ein reicher Greis, der sich mit den Kindern aus seinen ersten Ehen heillos zerstritten hatte. Von Hildegard hat er wohl vor allem einen männlichen Erben erwartet, der noch erziehbar wäre. Jetzt wird das ungeborene Kind der Erbe eines gewaltigen Vermögens, das Hildegard bis zu dessen Volljährigkeit zu verwalten hat.«
»Es freut mich für sie, dass es ihr zumindest materiell gut zu gehen scheint«, sagte Barbara.
»Sie ist nun wieder bei den Isenbrandts zu Lübeck. Matthias unterstützt sie nach Kräften dabei, das Vermögen ihres Mannes zu erstreiten. Es gibt da wohl einen langwierigen Rechtsstreit mit den anderen Kindern des Marinus van Aachten. Da ich einen Teil der Korrespondenz bearbeitet habe, weiß ich einigermaßen über den Stand der Dinge Bescheid, wie er, sagen wir mal, vor drei Monaten noch Gültigkeit hatte.«
Das sieht Matthias ähnlich!, dachte Barbara. Sie konnte sich schlecht vorstellen, dass er Hildegard und ihrem Ungeborenen aus reiner selbstloser Nächstenliebe unter die Arme griff. Vielmehr konnte man unterstellen, dass dies mit handfesten Vorteilen für ihn verbunden sein würde. Sie sollte sich vor ihm in Acht nehmen!, ging es Barbara durch den Kopf, obwohl ihr bewusst war, dass bei ihr vermutlich jegliche Warnung ins Leere liefe. »Wenn Matthias etwas nicht bekommt, wovon er glaubt, dass es ihm zusteht, ist er ja in der Wahl seiner Mittel nicht gerade zimperlich«, stellte Barbara fest. »Hildegard sollte beileibe vorsichtig sein.«
Bevor Barbara in ihr Gemach ging, um sich frisch zu machen und umzuziehen, rief sie einen der Diener und wies ihn an, einen Medicus herbeizuzitieren.
»Euer Vater hat mir ausdrücklich untersagt, das zu tun«, erklärte der Diener, dessen Name Christian lautete und der seit langem bei den Heusenbrinks beschäftigt war. Er hatte seinen Herrn auf vielen Reisen begleitet, und Heinrich hatte absolutes Vertrauen zu ihm.
»Mein Vater will aber vielleicht nicht wahrhaben, was jetzt unbedingt nottut!«, entgegnete Barbara. »Seid offen zu mir – ist das der erste Anfall dieser Schwere?«
»Nein«, gab Christian zu. »Während Ihr auf Reisen wart, ist das schon des Öfteren vorgekommen, und auch zuvor stand es ja schon seit längerem nicht zum Besten mit seiner Gesundheit, wie Ihr wisst. Aber bisher hat sich sein Zustand immer wieder zum Besseren gewendet, und so glaubt er nicht, ernsthaft krank zu sein.«
»Ich möchte, dass ein Medicus geholt wird.«
»Das kann ich nicht tun. Meine Herrschaft vertraut mir.«
»Dann gebt vor, dass der Medicus meinetwegen kommen soll. Nach dem ungewohnten Ritt schmerzen mir die Beine, und ich habe blaue Flecken am ganzen Körper. Das dürfte Grund genug sein, einen Arzt kommen zu lassen! Und außerdem sorgt mir doch bitte dafür, dass ich einen Kübel mit warmem Wasser bekomme. An mir haftet so viel Dreck, dass einem manches Landschwein dagegen reinlich erscheinen muss!«
 
Später kam der Medicus. Barbara hatte sich wieder so zurechtgemacht, dass sie sich Fremden gegenüber sehen lassen konnte. Da sich Heinrichs Zustand in der Zwischenzeit nicht wirklich gebessert hatte, hielt sich sein Ärger darüber, dass Barbara den Arzt unter einem Vorwand hatte rufen lassen, in Grenzen.
Heinrich ließ sich zum Aderlass überreden, auch wenn er an die Wirksamkeit dieser Maßnahme nicht wirklich glaubte. Aber es ging ihm offenbar schlecht genug, um jede nur erdenkliche Möglichkeit einer Besserung in Erwägung zu ziehen. Der Medicus hatte außerdem ein paar Tinkturen dabei, die übel rochen und deren Ingredienzien er nicht verraten wollte. Diese Tinkturen seien auf die schmerzenden Stellen aufzutragen und würden zu einer Linderung führen.
»Ich will hoffen, dass ich am Ende außer meiner Atemnot und dem Gefühl der schrecklichsten Beklemmung nicht noch ein paar üble Geschwüre auf der Haut davontragen werde und jeder mich für aussätzig hält!«, knurrte Heinrich Heusenbrink, von tiefem Hader mit seinem Schicksal und seiner gegenwärtigen Verfassung erfüllt.
»Ihr könnt meinen Maßnahmen durchaus vertrauen«, erklärte der Medicus etwas beleidigt. »Ich habe bereits unzähligen Kranken geholfen, sofern es Gottes Wille war, sie zu retten.«
»Dann will ich dafür beten, dass der Herr für mich nicht schon etwas anderes beschlossen hat«, gab Heinrich klein bei und ließ sich nach dem Aderlass sogar die Tinkturen auftragen, was ihm trotzdem nach wie vor sehr unangenehm war. Es brauchte schon ein nochmaliges gutes Zureden des Medicus, bis er endlich bereit war, die Unbilden auszuhalten, die durch die Tinkturen verursacht wurden. Dazu gehörte unter anderem ein brennendes Juckgefühl, das den Handelsherrn schier rasend zu machen drohte.
Zusätzlich verabreichte ihm der Medicus deshalb einen Kräutersud zur Beruhigung, woraufhin Heinrich bald in den Schlaf der Erschöpfung fiel – nicht ohne Barbara zuvor noch einmal zu ermahnen, der Zusammenkunft der Schwarzhäupter beizuwohnen, da diese für seine geschäftlichen Beziehungen ins Ausland wichtig sei.
Als Heinrich eingeschlafen war, konnte Barbara ihn nicht mehr fragen, in welcher Eigenschaft und aus welchem Anlass er als Gast der Schwarzhäupter-Compagnie in deren Festsaal geladen war.
Dort versammelte sich die Bruderschaft der in Riga ansässigen ausländischen Kaufleute, die nicht das Bürgerrecht der Stadt besaßen. Normalerweise hatten weder die Heusenbrinks noch andere Rigaer Zugang zu deren Treffen, es sei denn, es bestand ein besonderer Anlass dafür.
»Wisst Ihr mehr darüber?«, wandte sie sich an Thomas Bartelsen, nachdem sie ihren Vater der Aufsicht einer Magd überlassen hatte.
»Euren Vater hat diese Einladung ebenso verwundert, wie sie Euch jetzt erstaunt. Aber inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Schwarzhäupter einen engeren Kontakt zum Haus Heusenbrink wünschen und an der Meinung interessiert sind, die hier zu verschiedenen Themen vertreten wird.«
»Die Schwarzhäupter haben sich in der Vergangenheit immer auf die Seite derer geschlagen, die unsere Position untergraben wollten«, stellte Barbara fest. Kein Wunder, dass ihrem Vater dieses Treffen so wichtig war. Anscheinend erwarteten die Schwarzhäupter tiefgreifende Veränderungen in Riga und darüber hinaus im gesamten Ordensland. Veränderungen, aus denen man eventuell Profit schlagen konnte. Die Zeiten des alten Bernsteinregals gingen vielleicht dem Ende entgegen.
»Ich werde versuchen, meinen Vater zu vertreten«, sagte sie.
»Mit Verlaub, es ist die Frage, ob man Euch dort akzeptieren wird. Eure Jugend spricht ebenso dagegen wie Euer Geschlecht«, gab Bartelsen zu bedenken.
»Das lasst meine Sorge sein«, wies sie den Schreiber zurück. Auch wenn Bartelsen recht haben mochte – ihr blieb gar nichts anderes übrig, als ihr Bestes zu geben und zu versuchen, sich durchzusetzen. Notfalls gegen alle Widrigkeiten. Dass viele der Schwarzhäupter sie noch aus einer Zeit kannten, als sie ein kleines Mädchen gewesen war, erhöhte natürlich nicht gerade den Respekt ihr gegenüber. Andererseits hatte sie einen wichtigen Trumpf auf ihrer Seite, der dafür sorgen würde, dass man ihr trotz allem zuhören würde.
Bernstein.
»Wenn Ihr wollt, werde ich Euch begleiten«, bot Bartelsen an.
»Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob ich Euch vertrauen kann«, gestand Barbara ihre Zweifel.
»Da es Euer Vater tut, könnt Ihr es auch, denke ich. Und wenn Euer Misstrauen daher rührt, dass ich den Isenbrandts diente, deren Schwiegertochter Ihr beinahe geworden wärt, so kann ich Euch beruhigen. Die Isenbrandts zähle ich ganz gewiss nicht mehr zu den Personen, denen ich mich verpflichtet fühle.«
»Ach, nein?«
»Durch sie habe ich den Menschen verloren, der mir am wichtigsten war. Welchen Grund hätte ich, ihnen zu dienen oder in ihrem Interesse zu handeln?« Und dann berichtete Thomas Bartelsen ihr von den mysteriösen Umständen, unter denen eine gewisse Rieke Börnsen umgekommen war, und dass man drei schwarze Kreuze in einem Kreis auf ihrer Stirn gesehen hatte.
»Ihr habt meinem Vater diese Dinge ebenfalls berichtet, wie ich annehme«, schloss Barbara.
»Gewiss. Andernfalls, da will ich ganz offen sein, hätte er mich wohl kaum eingestellt, auch wenn er sagt, dass er jedem Sünder einen neuen Anfang zugesteht.«
»Es tut mir leid, was Euch zugestoßen ist«, sagte Barbara. »Seine Liebe zu verlieren ist mit Sicherheit einer der schlimmsten Schicksalsschläge, die einem widerfahren können.«
»Ist Euch eigentlich klar, dass Ihr um ein Haar ein ähnliches Schicksal erlitten hättet wie Rieke?«, fragte Thomas Bartelsen.
Barbara horchte auf. »Was wisst Ihr darüber?«
»Ich habe ein Gespräch zwischen Ältermann Kührsen und Jakob Isenbrandt mitbekommen. Es war Zufall, dass ich diese Unterhaltung hören konnte, und ich habe mich so still verhalten, dass mich keiner der beiden bemerkte, was in dem Isenbrandt’schen Haus mit seinen knarrenden Fußbodenbohlen nicht so ganz einfach ist, wie Euch vielleicht in Erinnerung geblieben sein dürfte.«
»Worüber wurde gesprochen?«
»Über die Aussage einer gewissen Mina Lodarsen, die vom Henker wegen Giftmischerei zu Tode gebracht worden war. Und darüber, dass Matthias offenbar plante, Euch mit einer Substanz, die er bei dieser Giftmischerin erworben hatte, langsam zu vergiften.«
»Ist Matthias Mitglied einer geheimen Bruderschaft, die sich Ring der schwarzen Kreuze nennt?«, fragte Barbara. »Wisst Ihr auch darüber etwas?«
Bartelsen sah sie verwundert an. Ihre zielstrebige Nachfrage schien ihn zu verwirren. Aber dann verstand er, was die Ursache für die Gefasstheit war, mit der die junge Frau die Nachricht des geplanten Mordes aufgenommen hatte. »Ihr wusstet schon vorher davon, nicht wahr? Ich habe Euch nichts verraten, was man eine Neuigkeit nennen könnte.«
»Nein, nur einen alten Verdacht bestätigt. Und nun verratet mir, was Ihr über diese Bruderschaft wisst, von der ich sprach. Eine Bruderschaft von Mördern, die ihren Opfern ein Zeichen auf die Stirn malen, das auch Ihr kennt.«
Bartelsen schluckte. »Ja, Ihr habt recht. Und glaubt mir, ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um mehr herauszufinden. Aber ich musste erkennen, dass es da unsichtbare Grenzen gibt, die ein einfacher Schreiber wie ich nicht überschreiten kann und darf. Ich weiß nur eins: Diese geheime Bruderschaft, von der Ihr gesprochen habt, verfügt über derart weitreichende Verbindungen, dass weder Ihr noch ich uns davon wirklich eine Vorstellung zu machen vermögen. Wo immer ihnen das Recht im Weg ist, sorgen sie dafür, dass es gebeugt wird. Es scheint niemand mächtig genug zu sein, dass sie nicht irgendetwas gegen ihn in der Hand hätten, womit sie erpressen können, was sie begehren.«
Barbara nickte. »Ja, so wird es wohl leider sein.«
»Ihr wart für diese Menschen nur eine Spielfigur. In bestimmten Zusammenhängen wart Ihr für diesen Ring wichtig – und falls sein Interesse je wieder erwacht, solltet Ihr auf der Hut sein.«
Barbara überlegte kurz. Sie dachte über Bartelsens Vorschlag, sie zu begleiten, nach und entschied sich dann dafür, dieses Angebot anzunehmen.
»Begleitet mich zur Compagnie der Schwarzhäupter«, sagte sie. »Wie ich annehme, sind einige von ihnen Euch bekannt …«
»Ganz gewiss sogar! Gut die Hälfte von ihnen dürfte jedes Jahr ein paar Wochen in Lübeck verbracht haben, und kaum einer ist dann am Isenbrandt’schen Haus vorbeigegangen.«
»So werdet Ihr wohl Gelegenheit haben, ein paar alte Bekanntschaften aufzufrischen.«
»Nehmt außer mir auch jemanden mit, der mit dem Schwert umzugehen versteht! Ihr solltet Euch zu Eurer eigenen Sicherheit selbst in Riga niemals mehr ohne Bewachung bewegen, denn die Häscher der Ringler könnten überall sein.«
»Wer weiß?«, murmelte Barbara, »vielleicht sitzen einige von ihnen sogar mit uns am Tisch bei den Schwarzhäuptern.«
»Der Verdacht ist durchaus begründet«, stimmte Bartelsen zu.
Das Haus, in dem die Compagnie der Schwarzen Häupter zu tagen pflegte, seit man dort vom Stadtrat den oberen Saal gemietet hatte, glich mit seinen steilen Giebeln einem der üblichen Patrizierwohnhäuser, nur war es mit seiner Firsthöhe von fast sechzehn Klaftern sehr viel höher. Zwischen acht und zehn Stockwerke von normaler Wohnhöhe hätte man darin unterbringen können, aber das Schwarzhäupterhaus, wie man es unterdessen zu nennen begonnen hatte, diente ausschließlich als Versammlungsort. Die Compagnie traf sich dort im Obergeschoss, der Rat und die einzelnen Zünfte und Gilden kamen darunter zusammen.
Außer von Thomas Bartelsen ließ sich Barbara auch noch von zwei Waffenknechten begleiten, die im Dienst ihres Vaters standen. Bei jemandem, der etwas mit dem Bernsteinhandel zu tun hatte, wurden stets Reichtümer vermutet, und so war Heinrich Heusenbrink vor allem auf Reisen immer in der Gefahr gewesen, überfallen, ausgeraubt oder entführt zu werden.
Mochten die Ordensritter auch für die Verteidigung gegen äußere Angriffe sorgen – was die persönliche Sicherheit betraf, hatten die Heusenbrinks von jeher eher Männern vertraut, die in ihrem eigenen Sold standen.
Die beiden Waffenknechte hießen Bram und Michael und dienten den Heusenbrinks seit langer Zeit.
Sie waren beide mit Rapier und Dolch bewaffnet und hatten in der Vergangenheit ihre Schlagkraft schon in der einen oder anderen brenzligen Situation unter Beweis gestellt.
Der Weg zum Haus der Schwarzen Häupter war nicht weit, und Barbara sah keinen Anlass, extra einen Wagen anspannen zu lassen. Zudem herrschte gerade in den frühen Abendstunden oft ein reger Verkehr, wenn die Marktstände aufgelöst wurden und die Händler mit ihren Wagen nach und nach ihre Verkaufsplätze verließen.
Am Haus der Compagnie der Schwarzen Häupter angelangt, ließ man sie dort anstandslos ein. Dem Wächter an der Tür war sie bekannt. Ihre eigenen Waffenknechte wurden nur bis in die Vorhalle gelassen. Gunter Spießlauf, der derzeit unter den Schwarzhäuptern den Vorsitz führte, kam Barbara und Bartelsen entgegen. Als er davon hörte, dass es Heinrich Heusenbrink zu schlecht ging, um an dem Treffen teilzunehmen, zeigte Spießlauf sich sehr betroffen. Er kam aus Danzig und genoss dort das Bürgerrecht. Erst in den letzten Jahren hatte er den Hauptteil seiner Geschäfte nach Riga verlegt und ein großes Lagerhaus am Hafen bauen lassen. Barbara war bereits das Gerücht zu Ohren gekommen, dass er mit der Vermietung der Lagerräume inzwischen mehr einnahm als mit seinen eigentlichen Geschäften, bei denen es zumeist um Tuche und Keramik ging.
Die bisher strikte Handhabung des Ordensmonopols verhinderte, dass Spießlauf sich am Bernsteinhandel beteiligen konnte, was er gern getan hätte. Mehrfach hatte er in der Vergangenheit versucht, die Stellung der Heusenbrinks als privilegierte Bernsteinhändler im Auftrag des Ordens zu untergraben, doch das war ihm nicht gelungen.
Thomas Bartelsen kannte er ebenfalls, wie sich herausstellte. Bei verschiedenen Gelegenheiten in Lübeck und Danzig war man sich in der Vergangenheit begegnet. »So habt Ihr nach neuen Ufern gesucht«, stellte Spießlauf stirnrunzelnd fest. »Lübeck mag zwar der Nabel der Hanse sein, aber niemand sollte das ganze Leben lang nur auf diesen Nabel starren! Man scheint Euch ja im Haus Heusenbrink großes Vertrauen entgegenzubringen.«
»Ich habe keinen Grund, mich in irgendeiner Weise zu beklagen«, tat Barbaras Begleiter kund.
»Eigentlich war dieses Treffen ja zu einem mehr unverbindlichen Gedankenaustausch gedacht, der nicht unbedingt von einem Schreiber festgehalten werden sollte«, brachte Gunter Spießlauf seine bislang nicht so recht fassbaren Vorbehalte gegen Bartelsen schließlich auf den Punkt.
»Ich kann Euch versichern, dass es auch keineswegs von mir beabsichtigt war, ein Protokoll anfertigen zu lassen«, ergriff nun wieder Barbara das Wort. »Andererseits lege ich auf den Rat dieses Mannes großen Wert und möchte daher, dass er dasselbe hört wie ich, sodass wir uns später darüber mit meinem Vater austauschen können.«
»Wie Ihr meint«, nickte Spießlauf.
Sie wurden in einen der kleineren Säle des Schwarzhäupterhauses geführt, denn der Rahmen, in dem diese Zusammenkunft stattfand, sollte laut dem Vorsitzenden Spießlauf ja eher vertraulich denn offiziell sein. An einer Tafel warteten bereits die ersten geladenen Kaufleute vor ihren Trinkbechern, die sie sich wohl schon mehrfach hatten auffüllen lassen. Dementsprechend ausgelassen war die Stimmung.
Barbara entdeckte über dem Kamin eine Statue des heiligen Mauritius, der als Mauretanier mit dunkler Hautfarbe dargestellt wurde. Er war der Schutzheilige der Compagnie, und von seinem schwarzen Haupt leitete sich ihr Name ab.
Nachdem Barbara den Raum betreten hatte, verstummten die Gespräche. Niemand hatte offenbar damit gerechnet, anstatt Heinrich Heusenbrink an diesem Abend seiner Tochter zu begegnen. Gunter Spießlauf erklärte mit ein paar einleitenden Worten den Grund dafür, dass der Handelsherr sich vertreten lassen musste. »Aber da ja allgemein bekannt ist, dass das Haus Heusenbrink irgendwann einmal in das Erbe seiner Tochter übergehen wird, und weiterhin bekannt ist, dass sie schon jetzt in die Geschäfte vielfach einbezogen worden ist, könnte es sicherlich sehr aufschlussreich sein, ihre Ansichten zu verschiedenen Fragen zu erfahren, die uns allen mehr oder minder unter den Nägeln brennen.«
Für einen Moment war ein Geraune unter den Kaufleuten zu hören, ehe Gunter Spießlauf schließlich fortfuhr: »Da unsere Compagnie ja ursprünglich von unverheirateten Kaufleuten gegründet wurde, ist aller Wahrscheinlichkeit nach auch in diesem Kreis der eine oder andere Junggeselle, der sich einen Einstieg ins Bernsteingeschäft auf diese Weise vorstellen könnte.«
»Nichts dagegen – wenn man sich sicher sein könnte, dass in diesem Fall das Haus Heusenbrink ein Verlöbnis auch ernst meint!«, rief einer der Anwesenden.
Daraufhin brach zunächst einmal Gelächter aus. Innerlich kochte Barbara. Sie war bestimmt nicht hierher gekommen, um sich verspotten zu lassen. Aber sie gab sich alle Mühe, sich äußerlich nichts anmerken zu lassen. Ihre Züge gefroren zu einem freundlichen, unbeteiligt wirkenden Lächeln, das so aussehen sollte, als ob sie die Bemerkungen nicht träfen. Wer sich verwundbar zeigte, auf den wurde noch heftiger eingedroschen – und auch wenn das in diesem hochvornehmen Saal nur mit Worten geschah, hatte Barbara doch nicht die Absicht, so etwas unnötig herauszufordern. Jetzt zahlte sich aus, dass sie ihren Vater schon oft begleitet und ihn bei Verhandlungen schwierigster Art beobachtet hatte.
»Nun, etwas Wagemut sollte schon jedem eigen sein, der sich in ein neues Geschäftsfeld begibt!«, erwiderte Barbara und erntete dafür nun ebenfalls Gelächter. »Wie sollte das mit einem wie Euch klappen, wenn Ihr selbst das vergleichsweise harmlose Risiko scheut, dass Eure Braut es sich anders überlegen könnte?«
Mit dieser schlagfertigen Reaktion hatte Barbara bei vielen der Schwarzhäupter beträchtlich an Sympathie gewonnen.
Die Anwesenden amüsierten sich köstlich.
»Nichts für ungut«, meinte nun der Handelsherr, der die spitze Bemerkung gemacht hatte. Barbara kannte seinen Namen, er hieß Sven Katthult und kam von der Insel Bornholm. »Aber die Heirat einer bestimmten Person, die ich hier und jetzt nicht näher erwähnen möchte, scheint doch so gut wie die einzige Möglichkeit zu sein, am Bernsteinhandel teilzuhaben!«
Erneut brach Gelächter aus, so manchem der Anwesenden wollte das allerdings beinah im Halse stecken bleiben.
»Genau damit sind wir bereits bei einem der zentralen Probleme, die uns alle seit geraumer Zeit beschäftigen«, ergriff nun wieder Gunter Spießlauf das Wort. »Bei der Willkür des Ordens nämlich. Zurzeit mag es mancher so sehen, dass das Haus Heusenbrink davon profitiert, weil man es mit Handelsprivilegien bedacht hat. Aber es könnte der Augenblick kommen, da sich viele Dinge ändern und neue Bündnisse geschlossen werden sollten.«
»Neue Bündnisse? Warum so sibyllinisch und nicht klar heraus, wer sich mit wem verbünden soll?«, fragte Barbara.
»Nun, die Entwicklung im preußischen Teil des Ordenslandes wird Euch nicht ganz unbekannt geblieben sein, nehme ich an«, meinte Spießlauf.
»Ich war vor kurzem noch dort«, berichtete Barbara.
»Dann werdet Ihr ja gespürt haben, wie es in einigen Städten gärt. Es könnte der Tag kommen, da man auch hier in Livland einen Bund gegen Gewalt gründen müsste …«
»… der dann aber nicht gleich eine leichte Beute unseres heißgeliebten Erzbischofs Silvester Stodewescher werden dürfte!«, ergänzte ein anderer, schon etwas älterer Sprecher, nachdem er einen tiefen Schluck aus seinem Krug genommen hatte.
»Oder gewisser Kreise in Lübeck!«, fügte Barbara hinzu.
»Wir sollten unsere Interessen klar erkennen«, erklärte Sven Katthult nun mit einer für Barbara überraschenden Nüchternheit, zumal er zuvor noch versucht hatte, sie nach Kräften lächerlich zu machen. »Solange das Bernsteinmonopol besteht und Euer Haus vom Orden privilegiert wird, gibt es für die Heusenbrinks keinen Grund, die Seiten zu wechseln oder einen Bund gegen Gewalt wie in Preußen zu unterstützen. Doch falls sich das Blatt wenden sollte und der Orden seinen Einfluss und sein Monopol verliert, dann wärt Ihr zu schwach, um Eure Position zu halten. Ihr brauchtet Verbündete.«
Barbara war sich vollkommen darüber im Klaren, dass sie ihre Worte nun sehr sorgfältig wählen musste. »Ich habe mit meinem Vater sehr oft über die Veränderungen gesprochen, die der Lauf der Zeit mit sich bringt«, sagte sie und bemerkte, dass es plötzlich so still im Raum war, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Offensichtlich war es ihr gelungen, von ihren Gesprächspartnern wenigstens so ernst genommen zu werden, dass man bereit war, ihr Gehör zu schenken. »Niemand, der bei Verstand ist, wird unter veränderten Bedingungen neue Bündnisse ausschließen.«
Sven Katthult lachte. »An Euch muss eine Diplomatin verloren gegangen sein«, meinte er und leerte den restlichen Inhalt seines Krugs in einem Zug.
 
Mitternacht war bereits vorbei, als Barbara sich in Begleitung von Thomas Bartelsen und ihren beiden Waffenknechten auf den Rückweg machte.
An den Öllaternen und Kerzenfackeln, die die Straßen der nächtlichen Stadt erleuchten sollten, wurde mit Absicht gespart, denn die vorherrschende Meinung im Rat war, dass ein Übermaß an nächtlicher Beleuchtung eine Aufforderung zu sündigem Lebenswandel darstellte. Damit würden nur Wirtsleute und Dirnen ermutigt, ihre Geschäfte allzu lang auszudehnen. So war es in den Straßen verhältnismäßig dunkel; eine im Vergleich mit anderen Städten höhere Zahl von Nachtwächtern sollte allerdings dafür sorgen, dass niemand sich des Nachts bedroht fühlen musste.
Barbara fröstelte, sie zog sich den Mantel enger um die Schultern und schlug den Kragen hoch. Von der Düna her wehte ein kühler Wind, der durch die geraden, wohlgeordnet wirkenden Straßen fegte.
»Ihr habt Euch großartig geschlagen«, lobte Bartelsen. »Es mag viele Gründe für die Schwarzhäupter gegeben haben, Euch zu verachten – doch in meinen Augen habt Ihr diese sämtlich widerlegt.«
»Ihr wart schon ein Schmeichler, als ich Euch zum ersten Mal vor drei Jahren in Lübeck begegnete …«, gab Barbara zurück.
»Damals wollte ich nur Eure Enttäuschung darüber abmildern, dass Ihr nicht von Eurem Verlobten am Hafen empfangen wurdet!«, verteidigte sich Bartelsen.
»Diese Enttäuschung war so offensichtlich?«
»Euer Gesicht war ein offenes Buch!«
 
Keine fünfzig Schritte waren sie noch vom Eingang des Heusenbrink’schen Hauses entfernt, als plötzlich etwas durch die Luft schoss. Mit einem röchelnden Laut sank Bram, einer der beiden Waffenknechte, zu Boden. Ein Armbrustbolzen war ihm in den Mund gefahren und ließ einen Schwall von Blut herausschießen. Er taumelte einen Schritt zurück, ehe ihn ein zweiter Bolzen in die Brust traf, durch ihn hindurchtrat und anschließend im Gebälk der nächsten Hauswand stecken blieb. Bram sank zu Boden und blieb reglos liegen. Barbara wirbelte herum. Der Schuss musste aus dem Schatten auf der anderen Straßenseite abgegeben worden sein. Da Michael, der zweite Waffenknecht, eine Laterne in der Hand gehalten hatte und sie sich obendrein auch noch im Lichtkegel einer der wenigen Kerzenfackeln befanden, war es für den Schützen keine Schwierigkeit gewesen, sein Ziel zu treffen. Michael warf die Lampe zu Boden und hatte den Griff gerade am Rapier, als ihn ebenfalls ein Bolzen traf.
»Lauft!«, rief Bartelsen.
Doch von allen Seiten strömten schattenhafte Gestalten herbei, die allesamt bewaffnet waren. Barbara wurde gepackt, sie versuchte sich zu wehren. Von den Männern konnte sie kaum die Gesichter erkennen. Dann zog ihr jemand einen Sack über den Kopf. Ein Schrei gellte durch die Nacht, und sie glaubte Thomas Bartelsens Stimme zu erkennen.
Kräftige Hände fassten sie und schleiften sie mit sich. Raue Stimmen waren zu hören. Sie sprachen nur das Nötigste in Form knapper Anweisungen auf Platt.
Hufschlag und die Geräusche eines Gespanns drangen als Nächstes an ihre Ohren. Es quietschte nur äußerst wenig und war offenbar so gut geschmiert worden, wie es sich die meisten Leute nicht leisten konnten. Das Pech, mit dem man die Achsen einrieb, um sie leichtgängiger, schneller und vor allem auch weniger geräuschvoll zu machen, war nämlich ziemlich teuer.
Grob wurde sie hochgehoben. Sie strampelte und versuchte sich zu wehren, was allerdings nur die Wirkung hatte, dass sie hart auf den Boden fiel, erneut gepackt und dann auf den Kasten des Gespanns geworfen wurde. Sie begann zu schreien. Irgendjemand musste sie doch hören und ihr helfen! Vielleicht war gerade einer der Nachtwächter in der Nähe. Der Sack, den man ihr über den Kopf gezogen hatte, dämpfte ihre Stimme stark ab, aber ihren Peinigern war das Risiko wohl dennoch zu groß. Mit einem harten Gegenstand bekam sie einen furchtbaren Schlag, und danach war ihr schwindelig. Alles drehte sich. Sie hatte das Gefühl, in einen tiefen, sehr finsteren Schlund zu fallen, der keinen Boden zu haben schien.
Sie hörte noch, wie der Kutscher die Peitsche knallen ließ und die Pferde antrieb, und sie spürte, wie der Wagen sich rumorend und immer schneller in Bewegung setzte. Dann schwanden ihr die Sinne.