ACHTZEHNTES KAPITEL

In Riga und wieder fort
Es gab einen Hafen an der Düna-Mündung, der
aber auf Anweisung des Erzbischofs geschlossen werden musste,
sodass Riga der einzige Ort in weitem Umkreis wurde, an dem es
gestattet war, einen Handelsplatz zu errichten. So erst gelangte
die Stadt zu ihrer vollen Blüte.
Chronicon Livoniae
»Da ist sie – die Stadt, in der ich geboren wurde
und aufgewachsen bin!«, rief Barbara freudig aus. Sie zügelte ihr
Pferd und hielt einen Moment inne.
»Schon auf die Entfernung sieht man diesem Ort
seinen Reichtum an«, stellte Erich fest. »Dann werde ich mal
hoffen, dass man sich dort auch einen wie mich in der Stadtwache
leisten kann!«
Barbara schaute ihn erstaunt an. »Demnach habt Ihr
also schon Pläne geschmiedet?«
»Einen Plan würde ich das nicht nennen«, lächelte
Erich. »Ich versuche nur, mein Auskommen zu finden. Wie ich bereits
erwähnte, bin ich glücklicherweise nicht darauf angewiesen, hier in
Riga um jeden Preis die Gunst irgendeines Stadtwachenkommandanten
zu erlangen. Vielleicht werde ich weiterziehen. Reval soll auch
eine Stadt sein, in der es sich leben lässt, und jenseits der
Grenze Pleskau und Nowgorod …«
»Warum bleibt Ihr nicht in Riga und nehmt eine
Stellung im Haus meines Vaters an? Wir brauchen stets Wachleute und
bewaffnete Männer, die unsere Unterhändler auf Reisen begleiten!
Mehr als die Stadtwache bezahlt das Haus Heusenbrink in jedem Fall,
darauf könnt Ihr Euch verlassen!«
Erich trieb seinen Apfelschimmel dicht neben
Barbaras Pferd und nahm ihre Hand. »Glaubt Ihr, ich könnte das
ertragen? In der Nähe einer geliebten Frau zu leben, von der ich
weiß, dass sie nie die Meine sein wird? In Eurer Nähe zu sein und
doch so strikt von Euch getrennt, wie man es sich nur vorstellen
kann?« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann einiges aushalten, aber
ich fürchte, dieser Art von Folter wäre ich nicht gewachsen. Darum
wird es das Beste sein, wenn ich so schnell wie möglich meiner Wege
ziehe, um Euch nicht dauernd zu begegnen.«
»Aber Erich …«
»Ich bin hierher gekommen, um mein Glück zu
finden.«
»Ich weiß …«
»Jetzt habe ich es tatsächlich gefunden und muss
feststellen, dass dieses Glück gar nicht für mich bestimmt ist. In
einem Versepos würde man das für eine vermeintlich witzige Wendung
voller Ironie halten. Aber für mich ist es unerträglich!«
Barbara schluckte. Musste das wirklich so sein?
Konnten sie nicht einfach ohne Rücksicht auf irgendjemand sonst dem
folgen, was sie beide fühlten? Sie musste sich Mühe geben, die
Tränen zu unterdrücken. Ihr Verstand sagte ihr, dass Erich recht
hatte, aber ihr Gefühl weigerte sich schlichtweg, dies zu
akzeptieren.
»Irgendwann – und das wahrscheinlich schon in
allernächster Zeit – werdet Ihr jemanden zum Mann nehmen, der Eurem
Stand entspricht und Eurem Handelshaus nützt. Jemanden, der besser
weiß, wie man mit dem Rechenschieber
umgeht und in welchem Verhältnis der Wert verschiedener Münzen
zueinander steht, als wie man mit der großen Totensense eines
Beidhänderschwertes mit möglichst wenigen Hieben möglichst viele
Köpfe von den Schultern schlägt!«
»Was redet Ihr da!«, murmelte sie. Ihre Stimme
erstickte in einem sehr schwachen Wispern. Sie sah vor ihrem
inneren Auge einzelne Momente ihrer Zukunft: Wie sie an der Seite
eines Mannes, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, vor den
Altar trat. Ein beklemmendes Gefühl stellte sich dabei ein. Wie
sollte es ihr möglich sein, mit einem Mann, den sie nicht im
mindesten liebte, solch einen Bund einzugehen? Aber in diese Straße
schien ihr Lebensweg fast unweigerlich zu münden.
Erich brachte Barbara bis vor das Haus der
Heusenbrinks. Dort sollten sich ihre Wege nun endgültig trennen.
Sie hatte ihn zwar wiederholt gefragt, ob er nicht mit ins Haus
kommen und ihren Vater begrüßen wolle. Erich lehnte das höflich,
aber bestimmt ab.
Barbara sah ihm nach, als er die Straße
entlangritt. Bevor er in eine Seitenstraße einbog, blickte er sich
noch einmal um.
Nur Augenblicke später ging die Tür des
Patrizierhauses auf, und Heinrich Heusenbrink stürzte heraus.
»Barbara!«, rief er und musterte sie von oben bis
unten. »Ich habe am Fenster gestanden und zuerst gedacht, dass
meine Augen mir einen Streich spielen!«
»Nein, ich bin es wirklich«, betonte Barbara und
stieg aus dem Sattel. Das Pferd nahm ein Diener am Zügel, der
Heinrich Heusenbrink gefolgt war. Heinrich umarmte seine Tochter.
»In einem seltsamen Aufzug läufst du herum! Und wo sind unsere
Reiter? Die Waffenknechte? Der Wagen?«
»Das ist eine lange Geschichte, Vater. Jedenfalls
bin ich froh, Riga lebend erreicht zu haben.«
»Ich habe durch das Fenster gesehen, wie du dich
von einem Mann verabschiedet hast … Aber obgleich mir sein Gesicht
bekannt vorkam, war das keiner unserer Waffenknechte!«
»Das war Ritter Erich von Belden, und er ist dir in
der Tat schon begegnet, wenn auch nur kurz. Vor drei Jahren, als
auf dem Markt in Lübeck ein Pferd durchging …«
»Ich erinnere mich dunkel.«
»Der Mann, der mich später vor dem Mordplan meines
zukünftigen Gatten warnte.«
»Warum hast du ihn nicht hereingebeten? Er scheint
dir in großer Not geholfen zu haben, und da wäre es nur recht und
billig, sich dafür erkenntlich zu zeigen.«
Barbara seufzte und strich sich eine Strähne aus
dem Gesicht. Ihr Blick ging in jene Richtung, in die Erich
entschwunden war. »Glaub mir, ich habe ihm das angeboten, und nicht
nur einmal! Aber er wollte nicht.«
»Und aus welchem Grund?«
»Er hat sehr hohe Ansprüche an das, was er Ehre
nennt. Vielleicht hängt es damit zusammen …«
»Weißt du, wo er logieren wird?«
»Ich glaube, das weiß er selbst noch nicht«, gab
Barbara zurück.
»Auch da hätten wir ihm doch helfen können! In
unserem Haus gibt es für Freunde immer Gästezimmer!«
Ja, dachte Barbara. Aber genau dort wollte er unter
keinen Umständen übernachten. In gewisser Weise konnte sie seinen
Beweggrund verstehen, sosehr sie selbst diese Trennung auch
schmerzen mochte. Sich andauernd zu begegnen, in der Gewissheit,
sich doch fernbleiben zu müssen, wäre sicherlich für beide Seiten
eine Qual gewesen.
Barbara versuchte diese Gedanken zu verscheuchen.
Sie war wieder daheim in Riga, obwohl es zwischenzeitlich sehr
fraglich gewesen war, ob sie es je schaffen würde, hierhin
zurückzukehren, zumindest auf direktem Weg.
Gemeinsam mit ihrem Vater ging sie ins Haus.
Natürlich prasselten die Fragen nur so auf sie ein, und jede
Antwort, die Barbara geben konnte, warf zunächst neue Fragen auf.
Was die Besprechungen mit dem Hochmeister in der Marienburg ergeben
hatten, stand vorerst im Hintergrund. Barbara berichtete von dem
Überfall auf der Nehrung, von Erichs beherztem Eingreifen und dem
langen Weg über die Memelburg und die schamaitische Wildnis, den
sie daraufhin zurückgelegt hatten.
»Der Bernsteinschmuggel ist zu einem Problem
geworden, das auch die Grundlagen unserer Geschäftstätigkeit
berühren könnte«, unterrichtete sie im Anschluss ihren Vater. »Der
neue Hochmeister hat mit mir dieses Problem zwar nur in
allgemeinerer Form erörtert, aber auch er macht sich große Sorgen
darüber. Und dieser Ring der schwarzen Kreuze muss eine Vereinigung
sein, deren Arme sehr weit reichen. Von Lübeck bis in die Rigaische
Bucht und darüber hinaus.«
»In diesem Zusammenhang ist ein Gespräch
interessant, das ich vor kurzem mit einem Vertreter des Erzbischofs
führte«, erwiderte Heinrich seiner Tochter. »Mal davon abgesehen,
dass es ohnehin schon erstaunlich ist, dass der Erzbischof offenbar
an engeren Kontakten zur Kaufmannschaft interessiert ist und in uns
wohl einen Koalitionspartner hinsichtlich künftiger Konflikte mit
dem Orden sieht … Man empfahl mir übrigens ganz unverblümt, noch
einmal zu überdenken, ob es nicht ratsam wäre, das Verlöbnis
zwischen dir und Matthias Isenbrandt doch noch in eine Ehe münden
zu lassen.«
»Das ist nicht dein Ernst, Vater!«
Barbara stieß diese Worte geradezu hervor. Sofort
kam ihr das Gespräch mit Gernot von der Tann ins Gedächtnis. Es gab
anscheinend mächtige Interessen und gute Argumente, diese
Verbindung doch zu vollziehen.
Heinrich Heusenbrink hob beschwichtigend die Hände.
»Ich habe lediglich wiederholt, was mir mein Gesprächspartner
gesagt hat! Und wenn Bernardus mir so etwas sagt, kann ich davon
ausgehen, dass das nicht einfach so dahingeredet, sondern mit dem
Erzbischof abgestimmt ist!«
»Mit einem verheiratet zu sein, bei dem ich nie
sicher sein könnte, dass er mir nicht irgendetwas in die Nahrung
mischen lässt, kann niemand von mir verlangen!«
»Das wollte ich damit auch nicht gesagt
haben!«
»Ich habe vielleicht damals zu lange gebraucht, um
das so klar zu erkennen, aber: Es wäre für mich unvorstellbar, mit
jemandem wie Matthias Isenbrandt Tisch und Bett zu teilen.
Letzteres würde mich wohl nur Überwindung, jedoch Ersteres
vielleicht das Leben kosten …«
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir Matthias
seinerzeit nicht zu hart beurteilt haben. Außer diesem Verdacht,
den der Ritter von Belden dir gegenüber äußerte, gab es ja
keinerlei Indizien. Und soweit mir bekannt ist, hat es auch keinen
Prozess in Lübeck um diese Dinge gegeben.«
»Ich dachte, in diesem Punkt wären wir uns einig«,
erwiderte Barbara.
»Das sind wir auch. Und ich versichere dir, dass
ich niemandem irgendwelche Versprechungen gemacht habe. Bislang
bleibt es beim Status quo, und da wir damals keinen Eid geleistet
haben, sind wir einigermaßen aus dem Schneider. Wenigstens würde
man dich oder mich nicht gleich wegen Eidbruchs in Haft nehmen,
wenn wir nach Lübeck reisen und durch das Holstentor schreiten
würden.«
Barbara fühlte Enttäuschung. Allem Anschein nach
hatte ihr Vater in der Zwischenzeit durchaus überlegt, ob die
Verbindung
zum Haus Isenbrandt nicht doch noch zustande kommen könnte.
Inwiefern es da eine Rolle gespielt hatte, dass er von dritter
Seite mehr oder minder deutlich darauf hingewiesen worden war oder
diesen Gedanken in Wahrheit schon seit längerem selbst verfolgte,
konnte Barbara nicht ermessen. Sie hatte Verständnis dafür, dass
ihr Vater in der sich krisenhaft zuspitzenden Lage nach einem Weg
für das Haus Heusenbrink suchte, unbeschadet diese unruhige Zeit zu
überstehen. Sie hatte auch Verständnis dafür, dass er in der Wahl
seiner Mittel dabei nicht immer zimperlich sein konnte und die
Interessen Einzelner hinter diesem Ziel zurückstehen mussten. Wofür
sie allerdings gar kein Verständnis hatte, war, dass er
höchstwahrscheinlich noch immer an dem zweifelte, was Erich von
Belden ihr in jenen Tagen offenbart hatte. Vielleicht griff er aber
nur nach jedem Rettungsanker, der sich ihm zu bieten schien.
»Abgesehen davon, dass ich lieber ins Kloster gehen
würde, als das Verlöbnis mit Matthias Isenbrandt doch noch
einzulösen, bin ich auch der Überzeugung, dass wir die Lübecker
nicht brauchen«, erklärte Barbara im Brustton der
Überzeugung.
»Das ist leicht gesagt, mein Kind«, seufzte
Heinrich.
»Ich werde dir noch Einzelheiten von meinen
Besprechungen mit dem neuen Hochmeister berichten, und danach wird
es auch dir leichterfallen, daran zu glauben! Ich jedenfalls bin
überzeugt, dass Ludwig von Erlichshausen einiges im Ordensland
verändern wird …«
»Noch gibt es keinen neuen Landmeister in
Livland!«
»Ja, aber je länger es Ludwig gelingt, die Wahl
hinauszuzögern, desto größer wird sein Einfluss darauf sein. Wir
werden davon profitieren, Vater, auch wenn wir noch eine gewisse
Durststrecke zu überstehen haben.«
Heinrich Heusenbrinks Gesicht veränderte sich
plötzlich. Er sank auf einen Diwan nieder und wurde blass. Dann
griff er sich an die linke Brust, dorthin, wo das Herz schlägt. Er
atmete schwer, so als hätte man ihn gerade nach einer Hexenprobe
aus dem Wasser gezogen, um ihn nach Luft schnappen zu lassen.
»Was ist mit dir, Vater?«
»Nichts! Ich fühle mich nur nicht gut. Das geht
schon wieder vorüber.«
»Soll ich einen Medicus holen?«
Er lächelte matt. »In diesen Männerlumpen kannst du
dich in der Stadt auf keinen Fall sehen lassen. Was sollen da die
Leute denken?« Er stockte. »Du würdest die Kreditwürdigkeit unseres
Hauses untergraben, wenn dich jemand erkennen würde …«
Die Leichtigkeit, die diese Worte demonstrieren
sollten, wirkte nur gespielt. Barbara kannte ihren Vater gut genug,
um zu erkennen, dass es ihm wirklich schlecht ging – mochte er sich
noch so sehr dagegen sträuben, dies zuzugeben.
»Dein Zustand erscheint mir ernst, und ich habe
nicht vor, dich einfach so sterben zu lassen!«
»So schnell stirbt ein Heusenbrink nicht, Barbara«,
hielt Heinrich ihr entgegen. Aber seine Stimme hörte sich kraftlos
und belegt an. »Ich schlage vor, du ziehst dich deinem Stand und
Geschlecht gemäß an. Heute Abend ist eine Zusammenkunft bei der
Compagnie der Schwarzhäupter, bei der ich anwesend sein muss. Bis
dahin wird es mir gewiss wieder besser gehen, wenn ich mich ein
wenig hinlege und der Diener mir etwas Riechsalz gibt.«
»Und einem Medicus willst du dich wirklich nicht
anvertrauen?«
»Ich weiß schon, was ich tue«, erwiderte Heinrich.
Er atmete mehrfach tief durch, und tatsächlich schien es ihm nun
wieder
besser zu gehen. Seine Gesichtsfarbe kehrte zurück, seine Atmung
normalisierte sich, und er nahm die Hand von der Brust. Die
Gesichtszüge wirkten nun entspannter und nicht mehr vom Schmerz
verkrampft. »Geh nur! Wir sprechen später weiter. Es gibt sicher
noch so vieles zu berichten und auszutauschen.«
Barbara glaubte in ihrem Rücken Blicke zu spüren.
Sie drehte sich herum und erschrak, als sie Thomas Bartelsen in der
offenen Tür des Salons stehen sah.
Bartelsen hielt einen Stapel von Dokumenten in der
einen und einen frisch gegossenen Bleistift in der anderen Hand und
starrte sie erstaunt an.
Barbara war die Erste, die die Fassung
zurückgewann, nachdem ihr klar geworden war, dass Bartelsen keine
eingebildete Erscheinung war. »Es erstaunt mich, Euch in unserem
Haus zu sehen«, sagte sie.
»Das Erstaunen ist ganz auf meiner Seite, obwohl
ich natürlich jeden Tag damit gerechnet habe, dass Ihr von Eurer
Mission auf der Marienburg zurückkehrt. Wie ich hoffe, mit guten
Nachrichten für Euren Vater und Eure Geschäfte.«
»Es ist schön, dass Ihr mich anscheinend
erkennt.«
»Gewiss – auch wenn Ihr bei unserer letzten
Begegnung …«
»… einen damenhafteren Eindruck gemacht
habt?«
»So grob wollte ich das nicht gesagt haben. Und
abgesehen davon steht es mir nicht zu, mich zu Eurem Auftritt oder
Eurer Kleidung zu äußern.«
»Ihr redet wie jemand, der hier im Haus in Diensten
steht!«
»Genau das ist der Fall …«
Heinrich Heusenbrink mischte sich nun in das
Gespräch ein. »Ich hätte es dir noch gesagt«, versicherte er.
»Thomas Bartelsen hat dem Haus Isenbrandt den Rücken gekehrt, um
anderswo neu zu beginnen. Ich habe ihn seit ein paar Tagen
als Schreiber und Sekretär eingestellt und bin hochzufrieden mit
seiner Arbeit! Seine Buchstaben sind zwar nicht vom
allerelegantesten Schwung, aber dafür verrechnet er sich nicht so
häufig wie die halbgebildeten Federkünstler, die ich zum Teil
gezwungenermaßen einstellen musste, damit all die Arbeit geschafft
wird!«
Barbara blieb reserviert. Sie traute den Absichten
des Schreibers nicht, und sie fragte sich, inwieweit seine
Einstellung in einem Zusammenhang mit dem Ansinnen stand, das
Verhältnis zwischen den Heusenbrinks und den Isenbrandts wieder zu
verbessern. Konnte das wirklich alles Zufall sein? Eine
unbeabsichtigte Gleichzeitigkeit bestimmter Ereignisse, die dann
den Anschein einer schicksalhaften Verstrickung erweckte?
Wie gerne hätte Barbara daran geglaubt, dass all
dem, was ihr widerfuhr, ein göttlicher Plan zugrunde läge. Sicher
vom Herrn geführt zu werden, wer wünschte sich das nicht? Aber die
Zweifel wuchsen angesichts ihrer jüngsten Erlebnisse. Sollte etwa
Gott dieses leidvolle Chaos geplant haben? Konnte Er wollen, dass
Menschen sich trennten, die eigentlich in Liebe verbunden waren,
und andere sich verbanden, die sich niemals hätten verbinden
dürfen?
»Wir werden gewiss noch Gelegenheit genug haben,
uns ausführlich zu unterhalten«, meinte Barbara.
»Sicher.« Thomas Bartelsen deutete eine Verbeugung
an und fuhr dann fort: »Ich soll Euch übrigens Grüße aus Lübeck
ausrichten.«
»So?«
»Von Hildegard Isenbrandt. Sie sagt, dass sie Euch
und Eure Gesellschaft sehr vermisst hat.«
»Wie geht es ihr?«
»Den Umständen entsprechend, und das meine ich in
diesem Fall wörtlich.«
»Sie ist schwanger?«
»Hildegard war mit Marinus van Aachten aus
Antwerpen verehelicht.«
»War?«, echote Barbara.
»Wie es so schön heißt: bis der Tod sie scheidet.
Marinus van Aachten war ein reicher Greis, der sich mit den Kindern
aus seinen ersten Ehen heillos zerstritten hatte. Von Hildegard hat
er wohl vor allem einen männlichen Erben erwartet, der noch
erziehbar wäre. Jetzt wird das ungeborene Kind der Erbe eines
gewaltigen Vermögens, das Hildegard bis zu dessen Volljährigkeit zu
verwalten hat.«
»Es freut mich für sie, dass es ihr zumindest
materiell gut zu gehen scheint«, sagte Barbara.
»Sie ist nun wieder bei den Isenbrandts zu Lübeck.
Matthias unterstützt sie nach Kräften dabei, das Vermögen ihres
Mannes zu erstreiten. Es gibt da wohl einen langwierigen
Rechtsstreit mit den anderen Kindern des Marinus van Aachten. Da
ich einen Teil der Korrespondenz bearbeitet habe, weiß ich
einigermaßen über den Stand der Dinge Bescheid, wie er, sagen wir
mal, vor drei Monaten noch Gültigkeit hatte.«
Das sieht Matthias ähnlich!, dachte Barbara. Sie
konnte sich schlecht vorstellen, dass er Hildegard und ihrem
Ungeborenen aus reiner selbstloser Nächstenliebe unter die Arme
griff. Vielmehr konnte man unterstellen, dass dies mit handfesten
Vorteilen für ihn verbunden sein würde. Sie sollte sich vor ihm in
Acht nehmen!, ging es Barbara durch den Kopf, obwohl ihr bewusst
war, dass bei ihr vermutlich jegliche Warnung ins Leere liefe.
»Wenn Matthias etwas nicht bekommt, wovon er glaubt, dass es ihm
zusteht, ist er ja in der Wahl seiner Mittel nicht gerade
zimperlich«, stellte Barbara fest. »Hildegard sollte beileibe
vorsichtig sein.«
Bevor Barbara in ihr Gemach ging, um sich frisch
zu machen und umzuziehen, rief sie einen der Diener und wies ihn
an, einen Medicus herbeizuzitieren.
»Euer Vater hat mir ausdrücklich untersagt, das zu
tun«, erklärte der Diener, dessen Name Christian lautete und der
seit langem bei den Heusenbrinks beschäftigt war. Er hatte seinen
Herrn auf vielen Reisen begleitet, und Heinrich hatte absolutes
Vertrauen zu ihm.
»Mein Vater will aber vielleicht nicht wahrhaben,
was jetzt unbedingt nottut!«, entgegnete Barbara. »Seid offen zu
mir – ist das der erste Anfall dieser Schwere?«
»Nein«, gab Christian zu. »Während Ihr auf Reisen
wart, ist das schon des Öfteren vorgekommen, und auch zuvor stand
es ja schon seit längerem nicht zum Besten mit seiner Gesundheit,
wie Ihr wisst. Aber bisher hat sich sein Zustand immer wieder zum
Besseren gewendet, und so glaubt er nicht, ernsthaft krank zu
sein.«
»Ich möchte, dass ein Medicus geholt wird.«
»Das kann ich nicht tun. Meine Herrschaft vertraut
mir.«
»Dann gebt vor, dass der Medicus meinetwegen kommen
soll. Nach dem ungewohnten Ritt schmerzen mir die Beine, und ich
habe blaue Flecken am ganzen Körper. Das dürfte Grund genug sein,
einen Arzt kommen zu lassen! Und außerdem sorgt mir doch bitte
dafür, dass ich einen Kübel mit warmem Wasser bekomme. An mir
haftet so viel Dreck, dass einem manches Landschwein dagegen
reinlich erscheinen muss!«
Später kam der Medicus. Barbara hatte sich wieder
so zurechtgemacht, dass sie sich Fremden gegenüber sehen lassen
konnte. Da sich Heinrichs Zustand in der Zwischenzeit nicht
wirklich gebessert hatte, hielt sich sein Ärger darüber, dass
Barbara den Arzt unter einem Vorwand hatte rufen lassen, in
Grenzen.
Heinrich ließ sich zum Aderlass überreden, auch
wenn er an die Wirksamkeit dieser Maßnahme nicht wirklich glaubte.
Aber es ging ihm offenbar schlecht genug, um jede nur erdenkliche
Möglichkeit einer Besserung in Erwägung zu ziehen. Der Medicus
hatte außerdem ein paar Tinkturen dabei, die übel rochen und deren
Ingredienzien er nicht verraten wollte. Diese Tinkturen seien auf
die schmerzenden Stellen aufzutragen und würden zu einer Linderung
führen.
»Ich will hoffen, dass ich am Ende außer meiner
Atemnot und dem Gefühl der schrecklichsten Beklemmung nicht noch
ein paar üble Geschwüre auf der Haut davontragen werde und jeder
mich für aussätzig hält!«, knurrte Heinrich Heusenbrink, von tiefem
Hader mit seinem Schicksal und seiner gegenwärtigen Verfassung
erfüllt.
»Ihr könnt meinen Maßnahmen durchaus vertrauen«,
erklärte der Medicus etwas beleidigt. »Ich habe bereits unzähligen
Kranken geholfen, sofern es Gottes Wille war, sie zu retten.«
»Dann will ich dafür beten, dass der Herr für mich
nicht schon etwas anderes beschlossen hat«, gab Heinrich klein bei
und ließ sich nach dem Aderlass sogar die Tinkturen auftragen, was
ihm trotzdem nach wie vor sehr unangenehm war. Es brauchte schon
ein nochmaliges gutes Zureden des Medicus, bis er endlich bereit
war, die Unbilden auszuhalten, die durch die Tinkturen verursacht
wurden. Dazu gehörte unter anderem ein brennendes Juckgefühl, das
den Handelsherrn schier rasend zu machen drohte.
Zusätzlich verabreichte ihm der Medicus deshalb
einen Kräutersud zur Beruhigung, woraufhin Heinrich bald in den
Schlaf der Erschöpfung fiel – nicht ohne Barbara zuvor noch einmal
zu ermahnen, der Zusammenkunft der Schwarzhäupter beizuwohnen, da
diese für seine geschäftlichen Beziehungen ins Ausland wichtig
sei.
Als Heinrich eingeschlafen war, konnte Barbara ihn
nicht mehr fragen, in welcher Eigenschaft und aus welchem Anlass er
als Gast der Schwarzhäupter-Compagnie in deren Festsaal geladen
war.
Dort versammelte sich die Bruderschaft der in Riga
ansässigen ausländischen Kaufleute, die nicht das Bürgerrecht der
Stadt besaßen. Normalerweise hatten weder die Heusenbrinks noch
andere Rigaer Zugang zu deren Treffen, es sei denn, es bestand ein
besonderer Anlass dafür.
»Wisst Ihr mehr darüber?«, wandte sie sich an
Thomas Bartelsen, nachdem sie ihren Vater der Aufsicht einer Magd
überlassen hatte.
»Euren Vater hat diese Einladung ebenso verwundert,
wie sie Euch jetzt erstaunt. Aber inzwischen hat sich
herausgestellt, dass die Schwarzhäupter einen engeren Kontakt zum
Haus Heusenbrink wünschen und an der Meinung interessiert sind, die
hier zu verschiedenen Themen vertreten wird.«
»Die Schwarzhäupter haben sich in der Vergangenheit
immer auf die Seite derer geschlagen, die unsere Position
untergraben wollten«, stellte Barbara fest. Kein Wunder, dass ihrem
Vater dieses Treffen so wichtig war. Anscheinend erwarteten die
Schwarzhäupter tiefgreifende Veränderungen in Riga und darüber
hinaus im gesamten Ordensland. Veränderungen, aus denen man
eventuell Profit schlagen konnte. Die Zeiten des alten
Bernsteinregals gingen vielleicht dem Ende entgegen.
»Ich werde versuchen, meinen Vater zu vertreten«,
sagte sie.
»Mit Verlaub, es ist die Frage, ob man Euch dort
akzeptieren wird. Eure Jugend spricht ebenso dagegen wie Euer
Geschlecht«, gab Bartelsen zu bedenken.
»Das lasst meine Sorge sein«, wies sie den
Schreiber zurück. Auch wenn Bartelsen recht haben mochte – ihr
blieb gar nichts anderes übrig, als ihr Bestes zu geben und zu
versuchen,
sich durchzusetzen. Notfalls gegen alle Widrigkeiten. Dass viele
der Schwarzhäupter sie noch aus einer Zeit kannten, als sie ein
kleines Mädchen gewesen war, erhöhte natürlich nicht gerade den
Respekt ihr gegenüber. Andererseits hatte sie einen wichtigen
Trumpf auf ihrer Seite, der dafür sorgen würde, dass man ihr trotz
allem zuhören würde.
Bernstein.
»Wenn Ihr wollt, werde ich Euch begleiten«, bot
Bartelsen an.
»Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob ich Euch
vertrauen kann«, gestand Barbara ihre Zweifel.
»Da es Euer Vater tut, könnt Ihr es auch, denke
ich. Und wenn Euer Misstrauen daher rührt, dass ich den Isenbrandts
diente, deren Schwiegertochter Ihr beinahe geworden wärt, so kann
ich Euch beruhigen. Die Isenbrandts zähle ich ganz gewiss nicht
mehr zu den Personen, denen ich mich verpflichtet fühle.«
»Ach, nein?«
»Durch sie habe ich den Menschen verloren, der mir
am wichtigsten war. Welchen Grund hätte ich, ihnen zu dienen oder
in ihrem Interesse zu handeln?« Und dann berichtete Thomas
Bartelsen ihr von den mysteriösen Umständen, unter denen eine
gewisse Rieke Börnsen umgekommen war, und dass man drei schwarze
Kreuze in einem Kreis auf ihrer Stirn gesehen hatte.
»Ihr habt meinem Vater diese Dinge ebenfalls
berichtet, wie ich annehme«, schloss Barbara.
»Gewiss. Andernfalls, da will ich ganz offen sein,
hätte er mich wohl kaum eingestellt, auch wenn er sagt, dass er
jedem Sünder einen neuen Anfang zugesteht.«
»Es tut mir leid, was Euch zugestoßen ist«, sagte
Barbara. »Seine Liebe zu verlieren ist mit Sicherheit einer der
schlimmsten Schicksalsschläge, die einem widerfahren können.«
»Ist Euch eigentlich klar, dass Ihr um ein Haar ein
ähnliches Schicksal erlitten hättet wie Rieke?«, fragte Thomas
Bartelsen.
Barbara horchte auf. »Was wisst Ihr darüber?«
»Ich habe ein Gespräch zwischen Ältermann Kührsen
und Jakob Isenbrandt mitbekommen. Es war Zufall, dass ich diese
Unterhaltung hören konnte, und ich habe mich so still verhalten,
dass mich keiner der beiden bemerkte, was in dem Isenbrandt’schen
Haus mit seinen knarrenden Fußbodenbohlen nicht so ganz einfach
ist, wie Euch vielleicht in Erinnerung geblieben sein
dürfte.«
»Worüber wurde gesprochen?«
Ȇber die Aussage einer gewissen Mina Lodarsen, die
vom Henker wegen Giftmischerei zu Tode gebracht worden war. Und
darüber, dass Matthias offenbar plante, Euch mit einer Substanz,
die er bei dieser Giftmischerin erworben hatte, langsam zu
vergiften.«
»Ist Matthias Mitglied einer geheimen Bruderschaft,
die sich Ring der schwarzen Kreuze nennt?«, fragte Barbara. »Wisst
Ihr auch darüber etwas?«
Bartelsen sah sie verwundert an. Ihre zielstrebige
Nachfrage schien ihn zu verwirren. Aber dann verstand er, was die
Ursache für die Gefasstheit war, mit der die junge Frau die
Nachricht des geplanten Mordes aufgenommen hatte. »Ihr wusstet
schon vorher davon, nicht wahr? Ich habe Euch nichts verraten, was
man eine Neuigkeit nennen könnte.«
»Nein, nur einen alten Verdacht bestätigt. Und nun
verratet mir, was Ihr über diese Bruderschaft wisst, von der ich
sprach. Eine Bruderschaft von Mördern, die ihren Opfern ein Zeichen
auf die Stirn malen, das auch Ihr kennt.«
Bartelsen schluckte. »Ja, Ihr habt recht. Und
glaubt mir, ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um mehr
herauszufinden. Aber ich musste erkennen, dass es da unsichtbare
Grenzen gibt, die ein einfacher Schreiber wie ich nicht
überschreiten kann und darf. Ich weiß nur eins: Diese geheime
Bruderschaft, von der Ihr gesprochen habt, verfügt über derart
weitreichende Verbindungen, dass weder Ihr noch ich uns davon
wirklich eine Vorstellung zu machen vermögen. Wo immer ihnen das
Recht im Weg ist, sorgen sie dafür, dass es gebeugt wird. Es
scheint niemand mächtig genug zu sein, dass sie nicht irgendetwas
gegen ihn in der Hand hätten, womit sie erpressen können, was sie
begehren.«
Barbara nickte. »Ja, so wird es wohl leider
sein.«
»Ihr wart für diese Menschen nur eine Spielfigur.
In bestimmten Zusammenhängen wart Ihr für diesen Ring wichtig – und
falls sein Interesse je wieder erwacht, solltet Ihr auf der Hut
sein.«
Barbara überlegte kurz. Sie dachte über Bartelsens
Vorschlag, sie zu begleiten, nach und entschied sich dann dafür,
dieses Angebot anzunehmen.
»Begleitet mich zur Compagnie der Schwarzhäupter«,
sagte sie. »Wie ich annehme, sind einige von ihnen Euch bekannt
…«
»Ganz gewiss sogar! Gut die Hälfte von ihnen dürfte
jedes Jahr ein paar Wochen in Lübeck verbracht haben, und kaum
einer ist dann am Isenbrandt’schen Haus vorbeigegangen.«
»So werdet Ihr wohl Gelegenheit haben, ein paar
alte Bekanntschaften aufzufrischen.«
»Nehmt außer mir auch jemanden mit, der mit dem
Schwert umzugehen versteht! Ihr solltet Euch zu Eurer eigenen
Sicherheit selbst in Riga niemals mehr ohne Bewachung bewegen, denn
die Häscher der Ringler könnten überall sein.«
»Wer weiß?«, murmelte Barbara, »vielleicht sitzen
einige von ihnen sogar mit uns am Tisch bei den
Schwarzhäuptern.«
»Der Verdacht ist durchaus begründet«, stimmte
Bartelsen zu.
Das Haus, in dem die Compagnie der Schwarzen
Häupter zu tagen pflegte, seit man dort vom Stadtrat den oberen
Saal gemietet hatte, glich mit seinen steilen Giebeln einem der
üblichen Patrizierwohnhäuser, nur war es mit seiner Firsthöhe von
fast sechzehn Klaftern sehr viel höher. Zwischen acht und zehn
Stockwerke von normaler Wohnhöhe hätte man darin unterbringen
können, aber das Schwarzhäupterhaus, wie man es unterdessen zu
nennen begonnen hatte, diente ausschließlich als Versammlungsort.
Die Compagnie traf sich dort im Obergeschoss, der Rat und die
einzelnen Zünfte und Gilden kamen darunter zusammen.
Außer von Thomas Bartelsen ließ sich Barbara auch
noch von zwei Waffenknechten begleiten, die im Dienst ihres Vaters
standen. Bei jemandem, der etwas mit dem Bernsteinhandel zu tun
hatte, wurden stets Reichtümer vermutet, und so war Heinrich
Heusenbrink vor allem auf Reisen immer in der Gefahr gewesen,
überfallen, ausgeraubt oder entführt zu werden.
Mochten die Ordensritter auch für die Verteidigung
gegen äußere Angriffe sorgen – was die persönliche Sicherheit
betraf, hatten die Heusenbrinks von jeher eher Männern vertraut,
die in ihrem eigenen Sold standen.
Die beiden Waffenknechte hießen Bram und Michael
und dienten den Heusenbrinks seit langer Zeit.
Sie waren beide mit Rapier und Dolch bewaffnet und
hatten in der Vergangenheit ihre Schlagkraft schon in der einen
oder anderen brenzligen Situation unter Beweis gestellt.
Der Weg zum Haus der Schwarzen Häupter war nicht
weit, und Barbara sah keinen Anlass, extra einen Wagen anspannen zu
lassen. Zudem herrschte gerade in den frühen Abendstunden oft ein
reger Verkehr, wenn die Marktstände aufgelöst wurden und die
Händler mit ihren Wagen nach und nach ihre Verkaufsplätze
verließen.
Am Haus der Compagnie der Schwarzen Häupter
angelangt, ließ man sie dort anstandslos ein. Dem Wächter an der
Tür war sie bekannt. Ihre eigenen Waffenknechte wurden nur bis in
die Vorhalle gelassen. Gunter Spießlauf, der derzeit unter den
Schwarzhäuptern den Vorsitz führte, kam Barbara und Bartelsen
entgegen. Als er davon hörte, dass es Heinrich Heusenbrink zu
schlecht ging, um an dem Treffen teilzunehmen, zeigte Spießlauf
sich sehr betroffen. Er kam aus Danzig und genoss dort das
Bürgerrecht. Erst in den letzten Jahren hatte er den Hauptteil
seiner Geschäfte nach Riga verlegt und ein großes Lagerhaus am
Hafen bauen lassen. Barbara war bereits das Gerücht zu Ohren
gekommen, dass er mit der Vermietung der Lagerräume inzwischen mehr
einnahm als mit seinen eigentlichen Geschäften, bei denen es
zumeist um Tuche und Keramik ging.
Die bisher strikte Handhabung des Ordensmonopols
verhinderte, dass Spießlauf sich am Bernsteinhandel beteiligen
konnte, was er gern getan hätte. Mehrfach hatte er in der
Vergangenheit versucht, die Stellung der Heusenbrinks als
privilegierte Bernsteinhändler im Auftrag des Ordens zu
untergraben, doch das war ihm nicht gelungen.
Thomas Bartelsen kannte er ebenfalls, wie sich
herausstellte. Bei verschiedenen Gelegenheiten in Lübeck und Danzig
war man sich in der Vergangenheit begegnet. »So habt Ihr nach neuen
Ufern gesucht«, stellte Spießlauf stirnrunzelnd fest. »Lübeck mag
zwar der Nabel der Hanse sein, aber niemand sollte das ganze Leben
lang nur auf diesen Nabel starren! Man scheint Euch ja im Haus
Heusenbrink großes Vertrauen entgegenzubringen.«
»Ich habe keinen Grund, mich in irgendeiner Weise
zu beklagen«, tat Barbaras Begleiter kund.
»Eigentlich war dieses Treffen ja zu einem mehr
unverbindlichen
Gedankenaustausch gedacht, der nicht unbedingt von einem Schreiber
festgehalten werden sollte«, brachte Gunter Spießlauf seine bislang
nicht so recht fassbaren Vorbehalte gegen Bartelsen schließlich auf
den Punkt.
»Ich kann Euch versichern, dass es auch keineswegs
von mir beabsichtigt war, ein Protokoll anfertigen zu lassen«,
ergriff nun wieder Barbara das Wort. »Andererseits lege ich auf den
Rat dieses Mannes großen Wert und möchte daher, dass er dasselbe
hört wie ich, sodass wir uns später darüber mit meinem Vater
austauschen können.«
»Wie Ihr meint«, nickte Spießlauf.
Sie wurden in einen der kleineren Säle des
Schwarzhäupterhauses geführt, denn der Rahmen, in dem diese
Zusammenkunft stattfand, sollte laut dem Vorsitzenden Spießlauf ja
eher vertraulich denn offiziell sein. An einer Tafel warteten
bereits die ersten geladenen Kaufleute vor ihren Trinkbechern, die
sie sich wohl schon mehrfach hatten auffüllen lassen.
Dementsprechend ausgelassen war die Stimmung.
Barbara entdeckte über dem Kamin eine Statue des
heiligen Mauritius, der als Mauretanier mit dunkler Hautfarbe
dargestellt wurde. Er war der Schutzheilige der Compagnie, und von
seinem schwarzen Haupt leitete sich ihr Name ab.
Nachdem Barbara den Raum betreten hatte,
verstummten die Gespräche. Niemand hatte offenbar damit gerechnet,
anstatt Heinrich Heusenbrink an diesem Abend seiner Tochter zu
begegnen. Gunter Spießlauf erklärte mit ein paar einleitenden
Worten den Grund dafür, dass der Handelsherr sich vertreten lassen
musste. »Aber da ja allgemein bekannt ist, dass das Haus
Heusenbrink irgendwann einmal in das Erbe seiner Tochter übergehen
wird, und weiterhin bekannt ist, dass sie schon jetzt in die
Geschäfte vielfach einbezogen worden ist, könnte es sicherlich sehr
aufschlussreich sein, ihre Ansichten
zu verschiedenen Fragen zu erfahren, die uns allen mehr oder
minder unter den Nägeln brennen.«
Für einen Moment war ein Geraune unter den
Kaufleuten zu hören, ehe Gunter Spießlauf schließlich fortfuhr: »Da
unsere Compagnie ja ursprünglich von unverheirateten Kaufleuten
gegründet wurde, ist aller Wahrscheinlichkeit nach auch in diesem
Kreis der eine oder andere Junggeselle, der sich einen Einstieg ins
Bernsteingeschäft auf diese Weise vorstellen könnte.«
»Nichts dagegen – wenn man sich sicher sein könnte,
dass in diesem Fall das Haus Heusenbrink ein Verlöbnis auch ernst
meint!«, rief einer der Anwesenden.
Daraufhin brach zunächst einmal Gelächter aus.
Innerlich kochte Barbara. Sie war bestimmt nicht hierher gekommen,
um sich verspotten zu lassen. Aber sie gab sich alle Mühe, sich
äußerlich nichts anmerken zu lassen. Ihre Züge gefroren zu einem
freundlichen, unbeteiligt wirkenden Lächeln, das so aussehen
sollte, als ob sie die Bemerkungen nicht träfen. Wer sich
verwundbar zeigte, auf den wurde noch heftiger eingedroschen – und
auch wenn das in diesem hochvornehmen Saal nur mit Worten geschah,
hatte Barbara doch nicht die Absicht, so etwas unnötig
herauszufordern. Jetzt zahlte sich aus, dass sie ihren Vater schon
oft begleitet und ihn bei Verhandlungen schwierigster Art
beobachtet hatte.
»Nun, etwas Wagemut sollte schon jedem eigen sein,
der sich in ein neues Geschäftsfeld begibt!«, erwiderte Barbara und
erntete dafür nun ebenfalls Gelächter. »Wie sollte das mit einem
wie Euch klappen, wenn Ihr selbst das vergleichsweise harmlose
Risiko scheut, dass Eure Braut es sich anders überlegen
könnte?«
Mit dieser schlagfertigen Reaktion hatte Barbara
bei vielen der Schwarzhäupter beträchtlich an Sympathie
gewonnen.
Die Anwesenden amüsierten sich köstlich.
»Nichts für ungut«, meinte nun der Handelsherr, der
die spitze Bemerkung gemacht hatte. Barbara kannte seinen Namen, er
hieß Sven Katthult und kam von der Insel Bornholm. »Aber die Heirat
einer bestimmten Person, die ich hier und jetzt nicht näher
erwähnen möchte, scheint doch so gut wie die einzige Möglichkeit zu
sein, am Bernsteinhandel teilzuhaben!«
Erneut brach Gelächter aus, so manchem der
Anwesenden wollte das allerdings beinah im Halse stecken
bleiben.
»Genau damit sind wir bereits bei einem der
zentralen Probleme, die uns alle seit geraumer Zeit beschäftigen«,
ergriff nun wieder Gunter Spießlauf das Wort. »Bei der Willkür des
Ordens nämlich. Zurzeit mag es mancher so sehen, dass das Haus
Heusenbrink davon profitiert, weil man es mit Handelsprivilegien
bedacht hat. Aber es könnte der Augenblick kommen, da sich viele
Dinge ändern und neue Bündnisse geschlossen werden sollten.«
»Neue Bündnisse? Warum so sibyllinisch und nicht
klar heraus, wer sich mit wem verbünden soll?«, fragte
Barbara.
»Nun, die Entwicklung im preußischen Teil des
Ordenslandes wird Euch nicht ganz unbekannt geblieben sein, nehme
ich an«, meinte Spießlauf.
»Ich war vor kurzem noch dort«, berichtete
Barbara.
»Dann werdet Ihr ja gespürt haben, wie es in
einigen Städten gärt. Es könnte der Tag kommen, da man auch hier in
Livland einen Bund gegen Gewalt gründen müsste …«
»… der dann aber nicht gleich eine leichte Beute
unseres heißgeliebten Erzbischofs Silvester Stodewescher werden
dürfte!«, ergänzte ein anderer, schon etwas älterer Sprecher,
nachdem er einen tiefen Schluck aus seinem Krug genommen
hatte.
»Oder gewisser Kreise in Lübeck!«, fügte Barbara
hinzu.
»Wir sollten unsere Interessen klar erkennen«,
erklärte Sven Katthult nun mit einer für Barbara überraschenden
Nüchternheit, zumal er zuvor noch versucht hatte, sie nach Kräften
lächerlich zu machen. »Solange das Bernsteinmonopol besteht und
Euer Haus vom Orden privilegiert wird, gibt es für die Heusenbrinks
keinen Grund, die Seiten zu wechseln oder einen Bund gegen Gewalt
wie in Preußen zu unterstützen. Doch falls sich das Blatt wenden
sollte und der Orden seinen Einfluss und sein Monopol verliert,
dann wärt Ihr zu schwach, um Eure Position zu halten. Ihr brauchtet
Verbündete.«
Barbara war sich vollkommen darüber im Klaren, dass
sie ihre Worte nun sehr sorgfältig wählen musste. »Ich habe mit
meinem Vater sehr oft über die Veränderungen gesprochen, die der
Lauf der Zeit mit sich bringt«, sagte sie und bemerkte, dass es
plötzlich so still im Raum war, dass man eine Stecknadel hätte
fallen hören können. Offensichtlich war es ihr gelungen, von ihren
Gesprächspartnern wenigstens so ernst genommen zu werden, dass man
bereit war, ihr Gehör zu schenken. »Niemand, der bei Verstand ist,
wird unter veränderten Bedingungen neue Bündnisse
ausschließen.«
Sven Katthult lachte. »An Euch muss eine Diplomatin
verloren gegangen sein«, meinte er und leerte den restlichen Inhalt
seines Krugs in einem Zug.
Mitternacht war bereits vorbei, als Barbara sich
in Begleitung von Thomas Bartelsen und ihren beiden Waffenknechten
auf den Rückweg machte.
An den Öllaternen und Kerzenfackeln, die die
Straßen der nächtlichen Stadt erleuchten sollten, wurde mit Absicht
gespart, denn die vorherrschende Meinung im Rat war, dass ein
Übermaß an nächtlicher Beleuchtung eine Aufforderung zu
sündigem Lebenswandel darstellte. Damit würden nur Wirtsleute und
Dirnen ermutigt, ihre Geschäfte allzu lang auszudehnen. So war es
in den Straßen verhältnismäßig dunkel; eine im Vergleich mit
anderen Städten höhere Zahl von Nachtwächtern sollte allerdings
dafür sorgen, dass niemand sich des Nachts bedroht fühlen
musste.
Barbara fröstelte, sie zog sich den Mantel enger um
die Schultern und schlug den Kragen hoch. Von der Düna her wehte
ein kühler Wind, der durch die geraden, wohlgeordnet wirkenden
Straßen fegte.
»Ihr habt Euch großartig geschlagen«, lobte
Bartelsen. »Es mag viele Gründe für die Schwarzhäupter gegeben
haben, Euch zu verachten – doch in meinen Augen habt Ihr diese
sämtlich widerlegt.«
»Ihr wart schon ein Schmeichler, als ich Euch zum
ersten Mal vor drei Jahren in Lübeck begegnete …«, gab Barbara
zurück.
»Damals wollte ich nur Eure Enttäuschung darüber
abmildern, dass Ihr nicht von Eurem Verlobten am Hafen empfangen
wurdet!«, verteidigte sich Bartelsen.
»Diese Enttäuschung war so offensichtlich?«
»Euer Gesicht war ein offenes Buch!«
Keine fünfzig Schritte waren sie noch vom Eingang
des Heusenbrink’schen Hauses entfernt, als plötzlich etwas durch
die Luft schoss. Mit einem röchelnden Laut sank Bram, einer der
beiden Waffenknechte, zu Boden. Ein Armbrustbolzen war ihm in den
Mund gefahren und ließ einen Schwall von Blut herausschießen. Er
taumelte einen Schritt zurück, ehe ihn ein zweiter Bolzen in die
Brust traf, durch ihn hindurchtrat und anschließend im Gebälk der
nächsten Hauswand stecken blieb. Bram sank zu Boden und blieb
reglos liegen. Barbara
wirbelte herum. Der Schuss musste aus dem Schatten auf der anderen
Straßenseite abgegeben worden sein. Da Michael, der zweite
Waffenknecht, eine Laterne in der Hand gehalten hatte und sie sich
obendrein auch noch im Lichtkegel einer der wenigen Kerzenfackeln
befanden, war es für den Schützen keine Schwierigkeit gewesen, sein
Ziel zu treffen. Michael warf die Lampe zu Boden und hatte den
Griff gerade am Rapier, als ihn ebenfalls ein Bolzen traf.
»Lauft!«, rief Bartelsen.
Doch von allen Seiten strömten schattenhafte
Gestalten herbei, die allesamt bewaffnet waren. Barbara wurde
gepackt, sie versuchte sich zu wehren. Von den Männern konnte sie
kaum die Gesichter erkennen. Dann zog ihr jemand einen Sack über
den Kopf. Ein Schrei gellte durch die Nacht, und sie glaubte Thomas
Bartelsens Stimme zu erkennen.
Kräftige Hände fassten sie und schleiften sie mit
sich. Raue Stimmen waren zu hören. Sie sprachen nur das Nötigste in
Form knapper Anweisungen auf Platt.
Hufschlag und die Geräusche eines Gespanns drangen
als Nächstes an ihre Ohren. Es quietschte nur äußerst wenig und war
offenbar so gut geschmiert worden, wie es sich die meisten Leute
nicht leisten konnten. Das Pech, mit dem man die Achsen einrieb, um
sie leichtgängiger, schneller und vor allem auch weniger
geräuschvoll zu machen, war nämlich ziemlich teuer.
Grob wurde sie hochgehoben. Sie strampelte und
versuchte sich zu wehren, was allerdings nur die Wirkung hatte,
dass sie hart auf den Boden fiel, erneut gepackt und dann auf den
Kasten des Gespanns geworfen wurde. Sie begann zu schreien.
Irgendjemand musste sie doch hören und ihr helfen! Vielleicht war
gerade einer der Nachtwächter in der Nähe. Der Sack, den man ihr
über den Kopf gezogen hatte, dämpfte ihre
Stimme stark ab, aber ihren Peinigern war das Risiko wohl dennoch
zu groß. Mit einem harten Gegenstand bekam sie einen furchtbaren
Schlag, und danach war ihr schwindelig. Alles drehte sich. Sie
hatte das Gefühl, in einen tiefen, sehr finsteren Schlund zu
fallen, der keinen Boden zu haben schien.
Sie hörte noch, wie der Kutscher die Peitsche
knallen ließ und die Pferde antrieb, und sie spürte, wie der Wagen
sich rumorend und immer schneller in Bewegung setzte. Dann
schwanden ihr die Sinne.