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Den Donnerstag begann ich mit einem zweiten Kraftakt. Wenn ich am Abend laufen konnte, dann erst recht am Morgen. Wider Erwarten hatte ich blendend geschlafen, fühlte mich um zehn Jahre jünger und stark wie ein Ochse. Später stellte ich erfreut fest, dass ich sogar ein klein wenig abgenommen hatte, duschte ausgiebig und las die Zeitung von vorne bis hinten. Mein Handy war die Nacht über still geblieben. Also saßen weder meine Töchter in Westerland in Polizeigewahrsam, noch wurden sie in der Jugendherberge vermisst. Und auch Bonnie and Clyde hatten in Neckarhausen keine Dummheiten gemacht.

Es war mir unbegreiflich, wie ich noch vor zwölf Stunden so schwarz hatte sehen können. Und wie konnte ich nur meine Töchter vermissen? Diese herrliche Ruhe in der Wohnung!

Zur Feier des Tages ging ich die dreihundert Meter ins Büro zu Fuß. Sonst fand ich jeden Tag eine andere Ausrede, warum ich den Wagen nehmen musste. Einmal wollte ich nach der Arbeit noch einkaufen, ein anderes Mal sah es zu sehr nach Regen aus, und am dritten Tag war ich – zugegeben – einfach zu faul.

Sönnchen betrachtete mich mit Wohlwollen, als ich leicht verspätet, aber gut gelaunt zum Dienst erschien. Mein Frühstück stand schon parat: Ein Kännchen Kaffee und zwei frische Croissants vom Bäcker an der Ecke. Während ich es mir gut gehen ließ, brach auch noch die Sonne durch. Vor den weit offenen Fenstern sangen Vögel. Das Leben konnte doch hin und wieder ganz schön sein.

»Sommeranfang«, strahlte meine Sekretärin, die offenbar wieder ganz genesen war. Die Termine des Tages waren erträglich, mein Schreibtisch eigentlich gar nicht so unordentlich, wie ich gefürchtet hatte. Warum konnte es nicht immer so sein?

Sowie ich allein war, durchstöberte ich meine Mails. Die von Theresa las ich natürlich als erste. Es gibt Tage, da klappt einfach alles. Sie war nicht mehr sauer auf mich, und zudem war es ihr gelungen, ihren Mann zu einem Wochenendtrip nach Berlin zu überreden, um dort einen Schulfreund zu besuchen, den er schon ewig nicht mehr gesehen hatte. Morgen, am Freitag, würde er gegen Mittag abreisen und erst spät am Sonntagabend zurückkommen.

Na endlich! Wir hatten freie Bahn.

Ich schlug vor, die Tage in meiner so angenehm leeren Wohnung zu verbringen, worüber sie entzückt war, und eigenhändig für die Verpflegung zu sorgen, wovon sie nicht ganz so begeistert war.

»Seit wann kannst du kochen?«, schrieb sie.

»Jeder Mann kann kochen«, antwortete ich. »Manche müssen es nur erst herausfinden.«

Unverzüglich begann ich, mir nun ernsthaft über die Menüfolgen Gedanken zu machen. Am Freitagabend etwas Leichtes natürlich. Vielleicht eine Auswahl von geräuchertem Fisch, Käse und dazu frisches Baguette? Das kam immer gut, machte kaum Arbeit und konnte auch bei größtem Pech nicht schiefgehen. Dazu einen guten Prosecco und vorher ein Süppchen? Mal sehen. Ich sichtete die Datei mit den bisher gefundenen Rezepten auf meinem Laptop, legte eine Einkaufsliste an und pfiff mit den Vögeln draußen um die Wette.

Dann bestellte ich Vangelis und Balke zum Rapport.

»Die beiden haben lange geschlafen«, berichtete Vangelis, heute schon wieder mit entblößtem Hals. Auch ihre Laune hatte sich über Nacht dramatisch gebessert. Sie lächelte sogar ein wenig. »Ihre Nacht war ein wenig unruhig, aber sie haben das Zelt nur einmal kurz verlassen, um ins Gebüsch zu gehen. Vorhin haben sie Tee gekocht und ausgiebig gefrühstückt. Und zurzeit fahren sie im Odenwald spazieren.«

»Was heißt das, ihre Nacht war unruhig?«, fragte ich.

Balke grinste seine Fingernägel an. »Dass sie ununterbrochen pimpern, heißt das. Junge Liebe eben.«

»Wir haben sie fest im Griff«, fügte Vangelis hinzu, der das Thema nicht zu behagen schien. »Wir sind mit drei Fahrzeugen dran.«

An dieser Front schien es also vorläufig keine Probleme zu geben. Wir kamen zum Fall Seligmann.

»Das Blut in seinem Haus stammt definitiv von ihm«, referierte Vangelis. »Das ist jetzt amtlich. Bleibt nur noch die Frage: Hat ihn jemand verletzt …«

»… oder war er es selbst?«, führte Balke ihren Gedanken zu Ende, da ihr Handy Alarm schlug. »Das würde erklären, warum wir keine Spuren von einem Täter gefunden haben.«

Vangelis gab halblaut einige knappe Anweisungen und beendete das Gespräch. »Sie machen Schießübungen. Im Wald irgendwo westlich von Erbach.«

»Vielleicht sind Bonnie and Clyde hier, um ihn zu treffen?«, überlegte ich.

»Und gleichzeitig ist er auf dem Weg nach Malaga.« Balke grinste. »So blöd muss man erst mal sein.«

Schon wieder meldete sich Vangelis’ Handy. »Sie haben aufgehört mit der Ballerei«, berichtete sie nach dem kurzen Gespräch. »Und jetzt machen sie …«, missmutig starrte sie in ihr Notizbuch, »so eine Art Picknick.«

»Picknick?«, fragte Balke interessiert.

Vangelis wand sich. »Sie haben ihre Decke ausgebreitet, und … nun ja, es ist eben eine ziemlich einsame Gegend da.«

»Wow!« Balke grinste so breit wie selten. »Die zwei müssen die Vögelgrippe haben.«

»Was halten Sie davon, wenn wir in der Zwischenzeit ihr Zelt durchsuchen?«, schlug ich Vangelis vor. »Sie scheinen ja im Moment ein wenig abgelenkt zu sein.«

Sie schüttelte entschieden den Kopf. Offenbar ging es ihrem Genick wirklich sehr viel besser.

»Lieber nicht. Sie könnten den Eingang irgendwie präpariert haben und es später merken. Und dann wären sie schneller weg, als wir gucken können.«

Meine beiden Mitarbeiter erhoben sich.

»Noch eine Kleinigkeit«, sagte Vangelis schon im Gehen. »Dieses Strafmandat hat Seligmann sich auf der Straße von Hirschberg nach Wald-Michelbach geholt. Da war sechzig wegen einer Baustelle, und er ist mit fast neunzig geblitzt worden. Aber er behauptet, das Verkehrsschild sei nicht zu sehen gewesen, weil es durch einen Ast verdeckt war.«

»Was soll er denn löhnen?«, wollte Balke wissen.

»Dreißig.«

»Und deshalb macht er so ein Theater?«

»Ich nehme an, es geht hier nicht um Geld, sondern ums Prinzip«, meinte ich.

 

In den folgenden Stunden fuhren Bonnie and Clyde scheinbar ziellos im südlichen Odenwald spazieren. Später erkundeten sie Eberbach und aßen dort im Alten Badhaus sehr gediegen und in aller Ruhe zu Mittag. Ihre Siesta verbrachten sie an einer verschwiegenen Stelle am Neckarufer und taten das, was Verliebte tun, wenn die Sonne scheint und sie sich unbeobachtet fühlen.

Ich verbrachte den Tag mit Routinekram. Reisekostenabrechnungen, Spesenquittungen, Haushaltsplanung für die zweite Jahreshälfte, Urlaubsanträgen und dergleichen. Nebenher machte ich Pläne fürs Wochenende.

Noch war ich mit der Menüzusammenstellung nicht zufrieden. Theresa mochte Fisch. Aber Fisch war heimtückisch, das wusste ich aus trauriger Erfahrung. Doch es gab genug andere Tiere, die man essen konnte. Im Internet fand ich eine überwältigende Menge äußerst appetitanregender Rezepte, das Problem war jedoch oft die Beschaffung der Zutaten. Wo kaufte man zum Beispiel einen Auerhahn? Wachteln? Rebhühner? Ein Rehkitz? Also vielleicht doch lieber Fisch? Meine Datei mit Kochrezepten wuchs und wuchs.

Am späten Nachmittag rief Vangelis an – Bonnie and Clyde waren wieder unterwegs. Neckar abwärts, in Richtung Heidelberg. Ab jetzt klingelte mein Telefon häufiger.

Immer noch fehlte mir ein Rezept für Sonntagmittag, mit dem ich Eindruck schinden konnte. Aber wo bekam man ein Milchlamm? Konnten zwei Menschen zusammen ein Milchlamm aufessen? Und was war das überhaupt? Klang das nicht verdächtig nach Baby? Nein, dann also doch Fisch. Irgendetwas musste sich doch finden lassen, das auch einem weniger geübten Koch gelang.

Eine Weile steckten Bonnie and Clyde im Heidelberger Berufsverkehr fest, und für kurze Zeit waren sie weniger als zweihundert Meter von meinem Büro entfernt. Dann ging es weiter in Richtung Westen. Sie fühlten sich offenbar völlig sicher.

Seezungenröllchen mit einer leichten Zitronensoße, dazu Reis und gemischtes Frühlingsgemüse. Frühlingsgemüse Ende Juni? Egal – es klang lecker und nicht weiter schwierig. Nur das Zerlegen des Fischs schien ein wenig kompliziert. Kopf abschneiden, Haut mit ruckartiger Bewegung vom Schwanz her abziehen. Nun ja, andere Menschen schafften das auch. Ich druckte mir das Rezept samt Einkaufsliste und Weinvorschlag aus.

Um kurz vor fünf herrschte für kurze Zeit Alarmstimmung. Bonnie and Clyde fuhren im Schritttempo die Eppelheimer Goethestraße entlang. Ohne anzuhalten, passierten sie das Haus der Familie Braun, das von Seligmann. Anscheinend hatten sie den Verstand verloren, hielten sich für genial und unverwundbar. Eine nicht nur für sie gefährliche Mischung. Dann fuhren sie gemächlich zurück in Richtung Campingplatz.

Was hatten sie in Eppelheim gewollt? Den Täter treibt es an den Tatort zurück, gut. Aber wollten sie wirklich nur noch einmal den Ort ihrer Heldentat besichtigen? Oder hatten sie vorgehabt, jemanden zu besuchen? Seligmann zum Beispiel, dessen offen stehende Garagentür auf den ersten Blick verriet, dass er nicht zu Hause war?

Sönnchen teilte mir mit, Liebekind wolle mich sprechen. Aber bevor ich seiner Aufforderung Folge leisten konnte, platzte Balke herein.

»Dieses Handy, das ist wirklich ein Knüller!«

»Setzen Sie sich erst mal hin und kommen Sie zu Atem.«

Balke nahm gehorsam Platz und sah mich an mit dem aufgekratzten Blick eines Schuljungen, der ganz alleine eine schwierige Mathe-Aufgabe gelöst hat, die im Unterricht noch gar nicht dran gewesen war.

»Ich habe eben die Daten gekriegt, mit wem Bonnie and Clyde die ganze Zeit telefoniert haben. Es war immer dieselbe Nummer. Sie gehört zu einem finnischen Handy, mit Sicherheit auch geklaut. Aber jetzt kommt’s: Anfangs, so ab Februar, haben sie etwa alle zwei, drei Wochen telefoniert. Und zwar – halten Sie sich gut fest – immer entweder an einem Montag- oder einem Donnerstagnachmittag.«

»Jetzt müssen Sie nur noch dieses andere Handy finden …«

»Und dann haben wir unseren dritten Mann.« Balkes Strahlen nahm noch ein wenig an Leuchtkraft zu. »Ab Ende April war dann eine Weile Funkstille, und dann hat es noch genau einen einzigen Anruf gegeben, und zwar am Abend vor dem Überfall.«

»Wer hat wen angerufen?«

»Immer der andere, unser großer Unbekannter. Er hat den Plan ausbaldowert, seine Komplizen informiert und dann in aller Ruhe abgewartet, bis irgendwann einmal so viel Geld im Safe lag, dass es sich richtig lohnte.« Balke lehnte sich zufrieden zurück und faltete die Hände im Genick. »Ich bin überzeugt, damit haben wir den Missing Link zwischen Seligmann und Bonnie and Clyde. Hundert Pro. Seligmann ist unser dritter Mann.«

 

Liebekinds Stirn durchfurchten wieder einmal Sorgenfalten. »Dieser Herr Möricke gräbt fast täglich einen neuen Fall aus«, seufzte er, noch bevor ich richtig saß. »Mir war gar nicht bewusst, dass es in unserer schönen Stadt so viele Verbrechen gibt.«

»Ich hoffe, es geht nicht schon wieder um den Missbrauch Minderjähriger.«

»Das zum Glück nicht. Da scheint ihm inzwischen doch ein wenig die Munition ausgegangen zu sein. Aber er macht jetzt eine regelrechte Serie aus seinem derzeitigen Lieblingsthema: Wie oft unsere Polizei versagt.«

Ich schob ihm ein kopiertes Blatt über den Schreibtisch. »Vielleicht hilft uns das hier, ihm ein bisschen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Möricke hat letzten Herbst eine Nacht in einer unserer Zellen verbracht. Alkohol am Steuer, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Beamtenbeleidigung, die ganze Palette. Eine Streife hat ihn gestoppt, weil er nicht mehr geradeaus fahren konnte. Er wurde zu zwanzig Tagessätzen verurteilt plus acht Wochen Führerscheinentzug.«

Die Stirn meines Chefs wurde sichtbar glatter. Er schob die schwere, schwarz umrandete Brille hoch und überflog das Papier.

»Was schlagen Sie vor?«

»Mit Ihrem Einverständnis lasse ich es auf ein paar Umwegen der Rhein-Neckar-Zeitung zuspielen. Und ich werde dafür sorgen, dass es dort in die richtigen Hände gerät.«

»Es soll aber nicht so aussehen, als wollten wir Rache üben.«

Wir nickten uns zu.

Ich erhob mich.

Feierabend. Zeit für Theresa. Wir hatten uns kurzfristig verabredet.

 

»Ich fürchte, sie haben etwas gerochen«, sagte Vangelis, die ich zu meinem Missvergnügen in meinem Büro antraf. Es schien vorläufig nichts zu werden mit meinen Plänen für den Abend. »Sie packen. Das Zelt steht aber noch. Vielleicht haben sie vor, diese Nacht noch zu bleiben und erst morgen früh zu fahren. Aber es wird brenzlig.«

Seufzend sank ich in meinen Sessel. »Was ist schiefgegangen?«

Sie hob die Schultern. Sie brauchte nichts zu sagen. Wir hatten sie letzte Nacht nicht festgenommen, wie sie vorgeschlagen hatte, das war schiefgegangen. Sollten sie uns entwischen, dann war es meine Schuld.

»Was schlagen Sie vor?«, wiederholte ich den Satz, den Liebekind eben erst zu mir gesagt hatte.

»Im Augenblick können wir nichts unternehmen. Mir sind da zu viele Leute in der Nähe. Den Platz zu räumen, ohne dass die zwei etwas merken, ist praktisch unmöglich. Vielleicht später, wenn sie schlafen.«

»Falls sich in der kommenden Nacht eine Gelegenheit ergibt, dann schlagen wir zu«, entschied ich. »Und wenn nicht, dann lassen wir sie fahren und greifen sie uns an einer Stelle, wo wir keine Unbeteiligten gefährden.«

Sie konnte es sich doch nicht verkneifen, ihren Triumph noch ein wenig auszukosten: »Es sieht ja leider nicht so aus, als wollten sie uns noch zu ihrem Komplizen führen, nicht wahr?«

Als ich den Römerkreis wieder einmal im Laufschritt überquerte, summte mein Handy. Eine SMS von Louise. Ich las sie im Gehen und wäre deshalb um ein Haar von einem Bus angefahren worden. Das Wort, das am häufigsten vorkam, war »Scheiße«. Sylt war total scheiße, das Wetter war scheiße, das Wasser viel zu scheißkalt zum Baden, die Jugendherberge war megaoberscheiße und das norddeutsche Essen natürlich sowieso. Die beknackten Jungs hatten nichts als Wodka im Kopf, die Lehrer nervten, und Sarah hatte ein kleines bisschen Zahnschmerzen.

Ich schickte ihr eine aufmunternde Nachricht zurück und hoffte, dass die beiden aus dieser Erfahrung wenigstens lernten, wie schön sie es zu Hause hatten. Und ich nahm mir vor, sie nicht gleich wieder mit gesunder Ernährung zu plagen, wenn sie zurückkamen.