»Natürlich haben wir genug Platz, und natürlich können wir uns Gäste leisten. Aber du bist immer noch minderjährig, und die Entscheidungen darüber, wohin du gehst und wen du einlädst, müssen von einem Erziehungsberechtigten getroffen werden«, erwiderte er. »Und wenn ich noch dazu bedenke, was passiert ist, als du ein einziges Mal mit einem jungen Burschen allein warst… ich müßte meine gesamte Zeit als Anstandsdame zubringen und…«
»Das ist ungerecht«, protestierte ich.
»Dennoch ist es eine enorme Verantwortung. Mir wäre wesentlich wohler zumute, wenn wir Jillians Rückkehr abwarteten. So lange dauert es ja auch nicht mehr, und außerdem…«
»Ich werde mich zu Tode langweilen, bis Mama nach Hause kommt!« schrie ich. Daraufhin traten auch dem kleinen Troy die Tränen in die Augen.
»Nein, ganz bestimmt nicht«, behauptete Tony und lächelte ganz plötzlich. »Ich werde ein paar Tage nicht ins Büro gehen, und bei diesem wunderbaren Wetter können wir jede Menge unternehmen. Wir könnten ausreiten. Das Schwimmbecken im Freien habe ich schon einlaufen und aufheizen lassen…«
»Das ist nicht dasselbe!« beharrte ich. Ich warf meine Serviette auf meinen vollen Teller. »Ich fühle mich hier eingesperrt.«
»Leigh, du wirst doch jetzt wohl nicht hysterisch werden.
Bisher ist alles so glatt gelaufen, und ich möchte keinesfalls…«
»Das ist mir egal. Es ist einfach ungerecht«, wiederholte ich und stand auf.
»Leigh!« rief Tony, aber ich lief aus dem Zimmer, stürzte die Treppe hinauf und warf mich in meiner Suite auf mein Bett.
Ich drückte Angel an mich und schluchzte, bis ich keinen Ton mehr herausbrachte. Dann setzte ich mich hin, wischte mir die Augen aus und betrachtete meine wunderschöne Puppe. Sie sah mich so mitfühlend an und schien selbst ganz traurig zu sein.
»O Angel«, jammerte ich, »warum kann es mir nicht so wie anderen jungen Leuten in meinem Alter gehen, die in einem ganz normalen Haus mit einer ganz normalen Familie zusammenleben und die Dinge tun können, die Mädchen in meinem Alter tun wollen? Ich mache mir nichts aus all diesem Luxus. Wozu soll er gut sein, wenn er mich nicht glücklich macht?«
Ich seufzte. Natürlich konnte mir meine Puppe keine Antwort darauf geben, aber ich fühlte mich besser, wenn ich mit ihr redete.
Mit Angel im Arm stand ich auf und trat an das Fenster, von dem aus man auf die Gartenanlagen vor dem Haus sehen konnte. »Es ist wie im Gefängnis, Angel. Meine Freunde können nicht herkommen, und ich kann nicht hinfahren und sie besuchen, solange Mama weg ist. Was soll ich Joshua bloß sagen, wenn er anruft? Es ist wirklich zu peinlich.
Wie kann Tony bloß glauben, es würde mir Freude machen, mit ihm allein zu sein? Ich reite gern aus, und ich gehe gern schwimmen, ja; aber ich täte es lieber mit meinen Freunden als mit dem Mann meiner Mutter.«
Als hätte er gehört, daß ich über ihn gesprochen hatte, tauchte er plötzlich unten auf und lief mit forschen Schritten auf das Labyrinth zu. Wenige Momente später war er im Irrgarten verschwunden. Ich war sicher, daß er auf dem Weg in das Häuschen war. Aber was wollte er dort? Warum ließ er es immer noch als Atelier bestehen? Warum hatte er mich belogen, als ich ihn nach dem neuen Gemälde gefragt hatte?
Was also tat er dort?
Aus Neugier, aber auch aus Langeweile und Enttäuschung, setzte ich Angel wieder auf mein Bett, lief die Treppe hinunter und schlich mich durch einen Seitenausgang aus dem Haus, um ihm zu folgen. Ich schlich mich so leise wie ein Spion in die langen, breiten Schatten, die die hohen Hecken warfen. Nie war es mir in diesen Gängen so still und so dunkel erschienen.
Mir wurde klar, daß ich noch nie so spät am Tag in das Labyrinth gelaufen war und nachts schon gar nicht. Wie sollte ich den Rückweg finden? Würde es selbst jetzt schon zu dunkel sein, wenn ich mich weiter hineinwagte? Ich zögerte.
Trotzdem trieb mich eine übermächtige Neugier an. Das leise Knirschen meiner Schritte auf abgebrochenen Zweigen und mein eigener Atem waren die einzigen Laute, die zu hören waren. Schließlich kam ich am anderen Ende des Irrgartens heraus und stand vor dem Häuschen. Die Jalousien waren immer noch geschlossen, aber ich konnte erkennen, daß im Haus helles Licht brannte.
Konnte es sein, daß Tony wieder ein junges Mädchen als Modell hatte? Fürchtete er, Mama oder ich könnten wütend und eifersüchtig werden? In dem Schatten, den die Bäume jetzt warfen, schlich ich in einer kauernden Haltung bis an den niedrigen Zaun und lauschte. Ich hörte leise Musik, aber keine Stimmen.
Behutsam schlich ich durch das Tor und trat an das nächstgelegene Fenster. Man konnte kaum etwas sehen. Nur die Füße der Staffelei waren deutlich zu erkennen. Ich trat ans zweite Fenster. Von dort aus hatte ich einen weit besseren Ausblick auf das Geschehen, denn die Jalousie war nicht ganz heruntergezogen. Es war eines der hinteren Fenster, und aus dieser Perspektive konnte ich die Staffelei von hinten und die Haustür sehen.
Ich kniete mich langsam hin und lugte durch den Spalt über der unteren Kante des Fensterrahmens. Tony hielt sich nicht im Raum auf, aber das Gemälde, das ich entdeckt hatte, als ich Joshua in das Häuschen mitgenommen hatte, stand dort.
Ich schnappte nach Luft, als ich sah, daß Tony an dem Gemälde weitergearbeitet hatte.
Er hatte sich selbst gemalt, wie er nackt neben der weiblichen Gestalt lag, in der sich so viel typische Merkmale meiner Mutter mit meinen Zügen verbanden. Warum hatte er das getan? Was hatte das bloß zu bedeuten?
Ehe ich aufstehen und fortlaufen konnte, tauchte er aus der Küche auf.
Ich schnappte wieder nach Luft. Er war splitternackt!
Er blieb stehen und sah in meine Richtung. Ich spürte, wie mir Eiszapfen über den Nacken glitten, und einen Moment lang konnte ich mich nicht von der Stelle rühren. Hatte er mich entdeckt?
Ohne zu zögern, sprang ich auf und rannte, so schnell ich konnte, zum Gartentor, riß es auf und huschte, so schnell mich meine Füße trugen, durch die Gänge zwischen den Hecken.
17. KAPITEL
HARTE LEKTIONEN
Meine Aufregung und das schwache Licht der Dämmerung bewirkten, daß ich ein paarmal falsch abbog und schließlich mitten im Labyrinth im Kreis herumrannte. Schweißgebadet und in heller Panik blieb ich stehen, um Atem zu holen. Mein Herz schlug so heftig, daß ich glaubte, es würde unter dem Druck und der Anstrengung zerspringen. Ich holte mehrfach tief Luft und versuchte verzweifelt, mich zur Ruhe zu zwingen, damit ich klar denken und meinen Orientierungssinn wiederfinden konnte. Als ich mich zu weit zurücklehnte, verfing sich mein Haar in den Zweigen einer Hecke. Ich schrie, weil ich nicht wußte, wie mir geschah. Ich glaubte, jemand hätte mich gepackt. Als ich merkte, was passiert war, riß ich mich eilig los und rannte weiter, bis ich den Ausgang vor mir sah, der zu Farthy führte. Draußen blieb ich noch einmal stehen, um Atem zu holen und zu lauschen. Hatte Tony mich gesehen? Verfolgte er mich? Ich hörte keine Schritte, gar nichts.
Dennoch kehrte ich eilig ins Haus zurück und rannte die Stufen zu meinen Zimmern hinauf. Sobald ich eingetreten war, schloß ich die Tür hinter mir und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Hinter geschlossenen Lidern sah ich noch einmal dieses neue Gemälde. Tonys linke Hand bedeckte meine rechte Brust vollständig, und er sah lächelnd auf mich herunter. Seine himmelblauen Augen waren so leuchtend gemalt, daß sie aus dem Bild herausschienen wie Strahlen.
Dann sah ich ihn noch einmal vor mir, wie er nackt aus der Küche auftauchte. Ich vermutete, daß er sich ausgezogen hatte, weil er sein eigenes Modell war. Wahrscheinlich lehnte ein Spiegel an einer Wand, dachte ich.
Er hatte nicht nach mir gerufen oder sich eilig angezogen, um die Verfolgung aufzunehmen. Vielleicht hatte er mich doch nicht entdeckt. Ich entschloß mich, kein Wort darüber zu verlieren. Wenn meine Mutter zurückkam, wollte ich ihr alles erzählen. Derartige Dinge mußte sie erfahren.
Ich ging ins Badezimmer, um Wasser in die Wanne einlaufen zu lassen, schüttete Badeschaum hinein und sah zu, wie sich das Wasser leuchtendblau färbte, während mich der süßliche Duft wie Rauch einhüllte.
Ich trat vor meine Kommode und suchte mir ein Nachthemd aus. Nachdem ich es an die Badtür gehängt hatte, setzte ich mich vor die Frisierkommode und bürstete mir das Haar. Ein paar winzige Zweige und Blätter fielen auf den Tisch. Als ich in den Spiegel sah, stellte ich fest, daß mein Gesicht immer noch gerötet war und meine Wangen glühten, als sei ich geohrfeigt worden. Einen Moment lang lehnte ich mich benommen zurück. Dann fiel mir mein Badewasser wieder ein.
So schnell wie möglich zog ich meine Kleider aus und ließ mich in die warme, duftende, beruhigende Flüssigkeit sinken.
Sie umfing mich, und ich schloß die Augen, lehnte mich zurück und stöhnte vor Behagen.
Es könnte sein, daß ich ein paar Minuten lang im Wasser gedöst hatte. Ich weiß es nicht; ich hatte das Zeitgefühl verloren. Plötzlich schlug ich die Augen auf und merkte, daß sich das Badewasser beträchtlich abgekühlt hatte. Ich stand auf und trocknete mich ab. Dann zog ich mein Nachthemd an und glitt unter meine weiche Decke in die Geborgenheit und Wärme meines eigenen Bettes. Ich wollte nur noch schlafen und den ganzen Tag vergessen.
Als ich aus dem Fenster zu meiner Linken sah, entdeckte ich eine silbrige Mondsichel, die durch hauchdünne Wolken schimmerte. Darüber funkelte ein einziger heller Stern. Dann schloß ich die Augen und schlief.
Plötzlich riß ich die Augen auf. Ich konnte fühlen, daß ich nicht allein war. Ich rührte mich nicht; ich lauschte angespannt und wartete. Der schwere Atem eines anderen Menschen war ganz deutlich zu hören. Allmählich drehte ich mich ganz vorsichtig um, bis ich auf dem Rücken lag und aufblicken konnte. In eben dem silbrigen Mondschein, der mich beruhigt hatte einschlafen lassen, stand Tony Tatterton. Seine nackte Brust schimmerte. Ich zitterte so sehr, daß ich glaubte, ich würde stottern, wenn ich den Mund aufmachte, aber meine Worte kamen klar und unbeirrt heraus.
»Tony, was willst du?« fragte ich unwirsch.
»O Leigh, meine Leigh«, flüsterte er. »Es ist an der Zeit, das Gemälde zum Leben zu erwecken. Jetzt ist es an der Zeit für mich, die Versprechen zu halten, die ich dir gegeben habe: dir Dinge zu zeigen, dir etwas beizubringen…«
»Was soll das heißen? Was willst du? Geh, bitte«, flehte ich ihn an, aber er setzte sich auf meine Bettkante. Ich hatte Angst, meinen Blick zu senken und den Umrissen seines Körpers zu folgen, denn auch ohne hinzusehen, konnte ich spüren, daß er vollständig nackt war.
»Du bist genauso schön wie deine Mutter«, murmelte er und streckte die Hand aus, um mein Haar zu streicheln. »Sogar noch schöner. Wohin du auch kommst, die Männer werden dich überall begehren, aber du bist wie ein kostbares Kunstwerk. Niemand sollte dich berühren und mißbrauchen.
Dazu bist du zu schade, denn du bist etwas ganz Besonderes; und doch mußt du wissen, was das heißt und was passieren kann. Du mußt auf alles vorbereitet sein. Ich bin der einzige, der dir alles zeigen kann, denn auf gewisse Weise habe ich dich erschaffen.«
Er legte seine Hand auf mein Gesicht. Ich versuchte zurückzuweichen, aber mein Kopf lag schon auf dem Kissen.
»Ich habe dich aus der Leinwand heraustreten lassen und dir wie Pygmalion Leben und Schönheit eingehaucht. Jeder, der seine Augen an der Puppe weidet, weidet seine Augen an deiner Schönheit, einer Schönheit, die ich mit eben diesen Fingern gestaltet habe«, flüsterte er und ließ seine Fingerspitzen über mein Kinn und meinen Hals gleiten.
»Tony, ich will, daß du auf der Stelle gehst. Verschwinde bitte auf der Stelle«, forderte ich mit zitternder Stimme. Mein Herz schlug heftig, und ich schluckte meinen eigenen Atem und bekam kaum genug Luft, um meine Worte über die Lippen zu bringen.
Er tat, als hätte er mich nicht gehört. Statt zu gehen, zog er die Decke von mir. Ich streckte die Hände aus, um sie mit einem Ruck wieder hochzuziehen, doch er ergriff meine Hand und führte sie an seine Lippen.
»Leigh«, stöhnte er. »Meine Puppe.«
»Verschwinde, Tony. Was tust du da?«
Ich hob den Kopf und die Schultern und sah, daß er tatsächlich vollkommen nackt war. Er glitt neben mich, legte seine Hände auf meine Schenkel und zerrte mein Nachthemd hoch. Ich wollte mit ihm sprechen, ihm sagen, daß ich beinah seine Tochter war und daß er nicht hier sein und diese Dinge tun durfte, aber ich bekam keine Luft. Er hatte mir das Nachthemd bis über die Taille hochgezogen.
Ich stemmte die Hände gegen seine Stirn, um ihn von mir fernzuhalten, doch er war zu kräftig, und er war fest entschlossen.
»Tony, was soll denn das? Laß mich los. Bitte, hör auf!«
Sein Kopf senkte sich auf mich herab, bis seine Lippen meinen Hals berührten. Ich erschauerte und wollte, daß er sofort aufhörte, doch meine kleinen Hände und meine schwachen Arme konnten gegen seine breiten Schultern und seine kräftige Brust nichts ausrichten. Er hatte mir das Nachthemd jetzt bis unter die Achseln gezogen. Als seine Brust sich gegen meinen entblößten Busen preßte, konnte ich seinen gleichmäßigen Herzschlag so deutlich spüren, daß es schien, als sei ich ein Teil von ihm. Seine Lippen lagen jetzt an meinem Ohr.
»Du mußt es erleben, es verstehen, dir darüber bewußt werden«, flüsterte er. »Wenn du diese Erfahrung gemacht hast, weißt du alles und bist vorbereitet. Es ist meine Pflicht, meine Verantwortung, Teil des künstlerischen Schaffensprozesses«, hauchte er und überzeugte sich selbst davon, daß das, was er tat, richtig war.
»Nein, hör auf!«
Ich versuchte, mich gegen ihn zu wehren, indem ich mit meinen winzigen Fäusten auf seine Schultern und seinen Nacken einschlug, doch es waren nur Fliegen auf dem Rücken eines Pferdes – ein lästiges, kleines Ärgernis. Ich spürte, wie seine Beine zwischen meine glitten. Panik stieg in mir auf.
Seine Hände glitten unter mich, und in seiner Umarmung preßte er meine Arme fest an meinen Körper. Seine Lippen bewegten sich über mein Schlüsselbein und sanken zwischen meine Brüste. Ich spürte seine nasse Zungenspitze.
»Dir zeigen… es dich lehren…«
»Tony!«
Mein Körper zitterte und bebte, und ich konnte mich kaum bewegen, da seine starken Arme mich wie Schraubstöcke umklammert hielten. Er drängte voran, stieß sich heftig zwischen meine Beine und preßte sie mit seinen Oberschenkeln auseinander.
»Du mußt es verstehen… ich bin verantwortlich… bitte, wehr dich nicht gegen mich. Laß es dir zeigen… laß mich dich lehren…«
»Hör auf!« schrie ich ein allerletztes Mal, doch mein Aufschrei war vergeblich. Er erzwang von mir, was ich in Liebe hätte geben sollen. Er stieß fest und gezielt zu, und ich öffnete mich ihm. Ein glühender Schmerz durchzuckte mich und ging vorüber. Ich spürte, wie mich Benommenheit und Schwindel befielen. Vielleicht war ich wirklich einen Moment lang ohnmächtig. Mein Körper wurde vollkommen von ihm beherrscht und bewegte sich gemeinsam mit ihm. Einen Moment lang fühlte ich mich wie in Trance, mein Kopf sank auf das Kissen zurück, und der Rest von mir war unter Tonys Körper begraben. Er tat mit mir, was er wollte. In seiner Vorstellung formte er mich auf diese Art erneut.
Meine Schreie waren so lautlos wie die einer Puppe. Ich biß mir fest auf die Unterlippe und versuchte, alles zu ertragen.
Die Glut stieg in ständigen, rhythmischen Wogen von meinen Beinen und meinem Bauch auf und zog immer höher, bis sie mich überwältigte.
Endlich löste sich sein Griff, und seine Finger glitten über meine Lippen und Wangen, und sein Mund folgte seinen Fingern.
»Siehst du es? Fühlst du es, und verstehst du jetzt die Macht?
Jetzt habe ich dich zur Frau gemacht«, jubilierte er leise. »Ich habe mein größtes Kunstwerk vollendet und dich zu einer lebenden Puppe werden lassen.«
Ich stöhnte und schluckte meine Schreie. Meine Wangen waren tränenüberströmt. Ich preßte meine Augen fest zu und spürte, wie sich seine Lippen sachte auf meine Lider senkten, und dann fühlte ich, daß er meine Lippen küßte. Nachdem längere Zeit Stille geherrscht hatte, hob er sich von mir. Aus Angst, er könne sich wieder auf mich legen, wagte ich es nicht, etwas zu sagen oder mich zu rühren. Ich hörte ihn tief seufzen, ehe ich spürte, wie sein Finger über meine Brüste und meinen Bauch strich. Dort ließ er ihn einen Moment lang liegen.
Dann murmelte er: »Meine Puppe. Schlaf gut.«
Ich hörte seine Schritte, die sich entfernten, und in dem Moment, in dem er durch die Tür ging und verschwand, schlug ich die Augen auf. Sowie sich die Tür geschlossen hatte, brach ich in Tränen aus, und meine Schultern bebten. Ich schlug mir die Arme vor die nackte Brust, rollte mich zusammen und schluchzte. Schließlich setzte ich mich auf. Ungläubig starrte ich in das Dunkel. Vielleicht war es nur ein Alptraum gewesen.
Ich wollte alles leugnen, aber mein Körper, der noch von seinen Küssen und der Gewalt bebte, die er mir angetan hatte, sprach eine andere Sprache.
Was sollte ich tun? An wen sollte ich mich wenden? Mama war immer noch fort. Mein Vater war mit seiner neuen Frau unterwegs. Hier gab es nur die Hausangestellten und den kleinen Troy. Ich stand auf und ging ins Bad, und auf dem Weg stützte ich mich an der Wand ab. Ich schaltete das Licht an und musterte mich in dem großen Spiegel. Mein Gesicht war von Tränen verschmiert und scharlachrot. Mein Hals und meine Schultern waren fleckig von den aufgezwungenen Küssen und Liebkosungen. Mir wurde wieder schwindlig, und ich mußte mich setzen.
Ich spielte mit dem Gedanken, Jennifer oder Joshua anzurufen, aber ich schämte mich zu sehr. Was hätte ich sagen sollen? Und was hätte einer von beiden schon tun können? Ich war ganz auf mich selbst gestellt. Ich mußte mir selbst zu Hilfe kommen. Nachdem ich eine Zeitlang tief durchgeatmet hatte, konnte ich wieder aufstehen. Ich schaltete das Licht aus und legte mich ins Bett. Was hätte ich denn sonst tun können? Ich konnte schließlich nicht durch die Hallen von Farthy stürmen und wüten und toben.
Ich streckte die Hand nach Angel aus. Sie wirkte schockiert und betrübt. Ich hielt sie im Arm und preßte sie an mich und suchte bei ihr den Trost, den ich so dringend brauchte. Es war eine Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet die Puppe, die Tony geschaffen hatte, jetzt da war, um mich über die Schrecklichkeiten hinwegzutrösten, die er mir angetan hatte.
Die warme Sonne koste mein Gesicht und zog an meinen Lidern. Ich blinzelte geschwind und versuchte, mich daran zu erinnern, wo ich war und was ich in der vergangenen Nacht hier in diesem Zimmer erlebt hatte. Als ich mich aufsetzte, erwartete ich gewissermaßen, ein Chaos vorzufinden; ich rechnete damit, daß die ganze Welt auf den Kopf gestellt war, wie in meinem Innern alles drunter und drüber ging. Aber um mich herum war alles unverändert. Das Zimmer war aufgeräumt, und alles stand wie immer fein säuberlich an seinem Platz. Die Sonne strahlte ermunternd durch meine Fenster. Selbst Angel schien zu strahlen und sich wieder erholt zu haben.
War das alles nur ein Alptraum gewesen? Ich sah an mir selbst herunter, als könnte ich dort irgendwelche Indizien finden. Meine Arme waren dort blau, wo Tony sie wie ein Schraubstock gegen meinen Körper gepreßt hatte, und meine Schenkel schmerzten, aber ansonsten waren Male seiner Leidenschaft nicht zu entdecken. Und doch hatte ich das Gefühl, daß ich Narben in meinem Innern davongetragen hatte.
Es war kein Alptraum gewesen.
Ich stand langsam auf und fragte mich, was ich jetzt tun sollte. Ich wäre fortgelaufen und ganz zu Daddy gezogen, wenn ich gewußt hätte, wo er sich aufhielt. Ich entschloß mich, zu duschen und mich anzuziehen. Ich wollte nicht nach unten gehen und auf Tony treffen, aber ich konnte auch nicht den ganzen Tag in meinen Zimmern bleiben.
Plötzlich hörte ich Troy an meiner Tür. Er war gekommen, um mich an das Versprechen, etwas mit ihm zu unternehmen, zu erinnern, das ich ihm am Tag zuvor gegeben hatte. Ich wandte mein Gesicht von ihm ab, als er mit mir redete, weil ich fürchtete, er könne das Grauen und Entsetzen in meinen Augen erkennen und erschrecken.
»Du hast gesagt, daß du heute mit mir an den Strand gehst, Leigh. Können wir gleich nach dem Frühstück aufbrechen?
Geht das? Bitte? Wir können Muscheln sammeln.«
»Einverstanden«, sagte ich. »Laß mich nur schnell duschen und mich anziehen. Geh du schon runter, und fang ruhig mit dem Frühstück an.«
»Tony ist auch schon unten«, sagte er.
»Gut.« Ich dachte, daß Tony schon fort sein könnte, wenn ich nach unten kam, und daher ließ ich mir beim Duschen und Anziehen reichlich Zeit. Es sah aus, als würde es ein sehr warmer Tag werden, und deshalb entschied ich mich für meinen Strandspaziergang mit Troy für Shorts und eine kurzärmelige Bluse.
Leider saß Tony, als ich ins Eßzimmer kam, noch da, las sein Wall Street Journal und trank Kaffee. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, als er die Zeitung senkte, um mich anzusehen.
Ich funkelte ihn so wütend, wie es mir möglich war, an, aber er schien nichts davon zu bemerken. Er lächelte strahlend.
»Guten Morgen, Leigh. Es verspricht, ein wunderschöner Tag zu werden. Troy hat mir erzählt, daß ihr beide einen Spaziergang am Strand machen wollt. Vielleicht komme ich mit.«
Ich sah Troy an. Er stocherte mit seiner Gabel in einer halben Grapefruit herum. Seine Krankenschwester ermahnte ihn, nicht mit dem Essen zu spielen. Ohne ein Wort zu sagen, setzte ich mich auf meinen Platz. Das Mädchen schenkte mir Orangensaft ein. Ich warf einen Blick auf Tony und sah, daß er immer noch lächelte und mich beobachtete. Sein Haar war ordentlich zurückgebürstet, und er trug ein weißes kurzärmeliges Hemd mit blauen Streifen und eine hellblaue Freizeithose. Er wirkte ganz munter und ausgeruht.
Wie konnte er bloß so dasitzen? dachte ich. Glaubte er etwa, ich könnte ganz einfach vergessen, was er getan hatte? Er mußte doch damit rechnen, daß ich meiner Mutter alles erzählte… bestimmt ließ sie sich dann von ihm scheiden, und wir könnten von hier fortgehen.
Aber er war offenbar kein bißchen besorgt. Er faltete seine Zeitung ordentlich zusammen und trank einen Schluck Kaffee.
»Troy verdrückt heute morgen ein ganz gewaltiges Frühstück, weil er weiß, wieviel Energie er braucht, wenn er alles tun will, was er sich für heute vorgenommen hat, Leigh«, sagte Tony und zwinkerte. »Stimmt’s, Troy?«
»Mhm«, sagte er und kaute heftig.
»Ich dachte, du hättest vielleicht Lust, heute eine Weile auszureiten, Leigh. Ich habe Curtis gebeten, Stormy und Thunder nach dem Mittagessen für uns bereitzuhalten. Was hältst du davon?«
Ich warf einen Blick auf Troys Krankenschwester und auf Troy.
Beide waren mit anderen Dingen beschäftigt und hörten Tony nicht zu. Dann funkelte ich ihn erbost an.
»Wie kannst du so etwas auch nur vorschlagen?« fragte ich durch zusammengebissene Zähne.
Er zuckte mit den Achseln. »Ich dachte, du hättest vielleicht Lust darauf. Heute ist ein wunderbarer Tag für einen Ausritt.
Ich dachte, du reitest gern.«
»Ich reite gern. Darum geht es nicht«, fauchte ich.
»Worum dann?«
»Du erwartest von mir, daß ich mit dir ausreite, nach dem…
nach dem, was gestern nacht geschehen ist?«
Die Krankenschwester blickte abrupt auf. Tonys Lächeln verflog, aber er ließ eilig einen Ausdruck der Verwirrung folgen.
»Was soll das heißen? Was ist denn passiert?«
Ich sah die Krankenschwester an. Das Dienstmädchen war ebenfalls stehengeblieben und lauschte uns.
»Ich möchte jetzt nicht darüber reden«, sagte ich und trank meinen Saft.
Tony lehnte sich zurück.
»Von mir aus«, sagte er. »Vielleicht fühlst du dich nach dem Mittagessen besser. Wenn ja, dann ist alles bereit. Für mich käme ohnehin nur ein kurzer Ausritt in Frage. Heute morgen hat sich im Büro einiges ergeben, und ich muß heute abend noch nach Boston fahren.«
»Wenn es nach mir ginge, könntest du auf der Stelle hinfahren«, gab ich zurück. Tony reagierte nicht darauf. Er schüttelte den Kopf, verzog das Gesicht und wandte sich wieder seiner Zeitung zu.
Wie konnte er derart Theater spielen? dachte ich. Rechnete er wirklich damit, daß er ungestraft davonkam? Ich entschloß mich, dieser Frage im Moment nicht nachzugehen, um Troy nicht zu erschrecken. Er plapperte jetzt schon über unseren Strandspaziergang und darüber, was er mit den Muscheln vorhatte, die wir gemeinsam sammeln würden. Ich mußte einfach lächeln und mich für ihn freuen.
Tony trank seinen Kaffee aus und stand auf.
»Vielleicht treffe ich euch beide am Strand«, sagte er. Dann entschuldigte er sich und ging. Ich aß mein Frühstück auf und machte mich dann mit Troy auf den Weg zum Strand, ehe Tony dazu kam, sich uns anzuschließen.
Troys unentwegtes fröhliches Geschnatter lenkte mich von meinen finsteren Gedanken ab, und jedesmal, wenn in meiner Vorstellung die gräßlichen Ereignisse der vergangenen Nacht wieder an mir vorbeizogen, stellte Troy mir eine Frage. An jenem Morgen war er besonders aufgeweckt und neugierig, und er hielt mich davon ab, meinen Gedanken nachzuhängen.
»Wodurch bewegen sich die Wolken, Leigh? Siehst du«, sagte er und deutete hin, »die große da war vorhin noch dort drüben, und jetzt ist sie schon hier. Haben sie Flügel?«
»Nein«, erklärte ich lächelnd. »Der Wind bläst sie fort.«
»Und warum bläst der Wind nicht durch die Wolken durch?«
»Ich nehme an, daß er das auch oft tut. Manchmal zerzupft er sie auch, dann werden aus einer großen Wolke mehrere kleine«, erwiderte ich und ließ meine Finger durch sein Haar gleiten. Beim Laufen schwenkte er seinen kleinen Eimer.
»Wenn ich da oben wäre, würde der Wind mich dann auch vor sich her stoßen?«
»Wenn du leicht genug wärst, dann täte er das schon«, sagte ich.
»Und würde er mich auch in Stücke brechen wie eine Wolke?«
»Nur, wenn du aus Luft wärst. Wie kommst du bloß auf solche Gedanken?« fragte ich.
Er zuckte mit den Achseln. »Tony sagt, es gibt Orte, an denen der Wind so heftig weht, daß er Leute vom Boden hochhebt und sie wie Wolken herum wirbelt.«
»O Troy«, sagte ich. Ich blieb stehen und kniete mich hin, um ihn zu umarmen. »Aber hier nicht. Hier bist du sicher.«
»Und wird dich der Wind auch nicht wegwehen?« fragte er skeptisch.
»Nein, das verspreche ich dir«, versicherte ich, obwohl ich in meinem Herzen spürte, daß eine Art Orkan mich durch die Gegend geschleudert und jedes Glück hatte platzen lassen, das ich glaubte, endlich gefunden zu haben.
Er lächelte und riß sich von mir los, um zum Wasser zu laufen.
»Sieh nur! Sieh dir die blauen Muscheln an!« rief er und fing an, seinen kleinen Eimer damit zu füllen.
Ich atmete die frische Meerluft tief ein. Sie schien meine Lunge zu reinigen und die Ängste und die Schwere aus meinem Körper zu spülen. Ich sah mich um, weil ich sicher sein wollte, daß Tony uns nicht folgte. Ich konnte ihn nirgends entdecken und nahm an, daß er gemerkt hatte, daß ich ihn nicht in meiner Nähe geduldet hätte. Als ich zu der Überzeugung gekommen war, daß Troy und ich unsere Ruhe haben würden, gesellte ich mich zu ihm, und wir sahen uns die Muscheln an und füllten sein Eimerchen mit den schönsten, die wir fanden.
Tony war nicht im Haus, als Troy und ich zurückkamen.
Troy erkundigte sich nach ihm, und Curtis berichtete, Tony hätte eher als erwartet nach Boston fahren müssen. Curtis sagte, er hätte eine Nachricht für mich hinterlassen – mein Pferd stünde bereit, falls ich am Nachmittag ausreiten wollte.
Ich tat es nicht. Ich verbrachte den Tag mit Troy in seinem Zimmer, las ihm vor und spielte mit ihm. Kurz vor dem Abendessen machten wir einen Spaziergang im Park. Wir nahmen altes Brot mit und fütterten die Vögel, die sich um die Brunnen scharten.
Tony kam zum Abendessen nicht zurück, und ich war froh darüber. Dann überraschte mich Curtis mit der Neuigkeit, daß meine Mutter ein Telegramm geschickt hätte, in dem sie ankündigte, daß sie morgen im Lauf des späten Nachmittags aus ihrem europäischen Kurort zurückkehren würde.
Dem Himmel sei Dank, dachte ich. Ich wollte ihr alles erzählen, bis in die kleinsten Einzelheiten, damit sie verstand, was ich Entsetzliches durchgemacht hatte und was für einen gräßlichen Mann sie geheiratet hatte. Ich war ganz sicher, daß es nur noch eine Frage von Tagen war, bis wir von hier fortgehen würden. Tony mußte für das büßen, was er mir angetan hatte. Wenn meine Mutter wütend auf einen Mann war, konnte sie ein absolut prachtvoller Gegner sein. Ich faßte den Entschluß, mich von nichts besänftigen zu lassen, nicht durch Entschuldigungen, Versprechen, kostspielige Geschenke
– nichts würde mich dazu bewegen, ihm zu verzeihen. Ich vermutete sogar, daß er zu mir kommen und mich anflehen würde, ihm zu verzeihen, wenn er herausfand, daß meine Mutter bald zurückkam.
Als die Dunkelheit hereinbrach, wuchs meine Sorge. Wo ich mich in dem großen Haus auch aufhielt – ich lauschte ständig, ob sich am Haupteingang etwas tat, da ich mit Tonys Rückkehr rechnete. Während die Stunden verrannen, baute sich eine Spannung in mir auf, die wie eine Uhr tickte und sich steigerte bis zu dem Augenblick, in dem er nach Hause kommen und ganz gewiß nach mir sehen würde. Was ich auch zu tun versuchte, um mich abzulenken und zu beschäftigen, es wurde nichts daraus – weder beim Radiohören noch beim Fernsehen, nicht, während ich las oder mich mit Troy unterhielt – nichts konnte meine Gedanken davon abhalten, sich den Geschehnissen der vergangenen Nacht wieder zuzuwenden.
Schließlich zog ich mich mehr aus Angst als aus Müdigkeit in meine Räume zurück, aber in dem Augenblick, in dem ich die Tür hinter mir schloß, hatte ich das Gefühl, in eine Falle gegangen zu sein. Schließlich war das der Ort, an dem es passiert war und an den er vielleicht zurückkehren könnte. Nur das Schlafzimmer meiner Mutter hatte ein Schloß in der Tür.
Sie hatte darauf beharrt, daß es eingebaut wurde, denn sie schätzte es sehr, sich zurückziehen zu können und, wie ich jetzt deutlicher denn je erkannte, die Gelegenheit zu haben, sich ihrem fordernden jungen Ehemann zu entziehen.
Ich hatte eine Idee. Ich zog mir meinen Bademantel an, steckte die Füße in meine Hausschuhe, schnappte mir Angel und begab mich direkt zur Suite meiner Mutter, machte die äußere Tür zum Flur hinter mir zu und schloß sie ab. Nicht nur das gab mir ein Gefühl von größerer Sicherheit, sondern auch das Wissen, daß ich mich im Zimmer meiner Mutter aufhielt, ihr Parfüm roch, ihre Kosmetik, ihre Kleidung und ihre Schuhe sah, sorgte dafür, daß ich mich geborgen fühlte. Ich zog eins ihrer Nachthemden an und tupfte mir Jasminparfum auf den Nacken. Dann kroch ich in ihr Bett, wie ich es früher in Boston oft getan hatte, als ich noch ganz klein gewesen war.
»O Mama«, stöhnte ich, »ich wünschte, du wärst wirklich hier.« Ich legte Angel auf das Kissen neben mich und schaltete die Lampe auf dem Nachttisch aus.
Der Mond war heute nacht schon größer, sein silbriges Licht war heller und nicht von vorüberziehenden Wolken getrübt. Zu Füßen des Mondes hatte sich eine kleine Schar von Sternen versammelt, und ich stellte mir ein Königreich im Himmel vor, über das eine wunderschöne Prinzessin, nämlich der Mond, herrschte, der Dutzende von gutaussehenden Freiern, die Sterne, jeden Wunsch von den Augen ablasen. Dort oben ertönte immer leise, liebliche Musik, und es gab keine Grausamkeit und keine Gemeinheit, keine Kinder von geschiedenen Eltern, keine arglistigen Männer und keine eifersüchtigen Frauen und Mädchen, die sich nur gegenseitig schaden wollten.
»Das ist die Welt, die wir haben sollten, Angel«, flüsterte ich.
»Die Welt, in die wir gehören.«
Ich schloß die Augen und bemühte mich, von dieser Welt zu träumen.
Hätte ich doch nur davonschweben können, mich langsam zum Mond emporschwingen und Teil dieser Welt sein können…
Ich schlief ein, doch Stunden später erwachte ich davon, daß im Wohnzimmer die Lampen angeschaltet wurden. Ich setzte mich eilig auf. Tony stand in der Tür, und sein Gesicht und sein Körper waren im Dunkeln. Plötzlich lachte er. Ich konnte nichts sagen; mein Herz fing an zu klopfen.
»Du sperrst mich also wieder einmal aus«, sagte er und lachte wieder. Konnte es etwa sein, daß er mich für meine Mutter hielt, daß er das Telegramm falsch gedeutet hatte und glaubte, sie sei heute nacht zurückgekommen? Er hielt einen Schlüssel ins Licht.
»Ich habe es dir nie gesagt, aber ich habe den Schlüssel nachmachen lassen, weil ich es satt habe, deine… deine albernen Possen mitzuspielen. Ich habe es auch satt, mich zum Narren halten zu lassen. Als wir uns kennengelernt haben, hast du mich gutaussehend und begehrenswert gefunden. Jetzt, nachdem wir verheiratet sind und du mich dazu gebracht hast, diesen lachhaften Ehevertrag zu unterschreiben, glaubst du, du könntest mich abschieben. Aber da spiele ich nicht mit. Jetzt nicht mehr. Ich bin gekommen, um mir zu holen, was mir von Rechts wegen zusteht und was du von Rechts wegen selbst auch wünschen solltest.«
Er trat ins Zimmer.
»Tony«, sagte ich in einem lauten Flüsterton. »Ich bin nicht Mama. Ich bin Leigh.«
Er blieb stehen, und eine Zeitlang herrschte Schweigen. Da er vom Licht ins Dunkel getreten war, konnte ich seine Augen und seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber ich nahm seine Verwirrung wahr.
»Ich schlafe heute nacht im Schlafzimmer meiner Mutter. Sie ist noch nicht zu Hause. Geh jetzt. Du hast schon genug angerichtet, um dir für alle Ewigkeit meinen Haß zuzuziehen!«
Plötzlich lachte er wieder, diesmal kalt und scharf.
»Du willst also deine Mutter sein«, höhnte er. »Du willst genauso sein wie sie. Du kriechst in ihr Bett, ziehst ihr Nachthemd an und sprühst dich mit ihrem Parfüm ein. Du träumst davon, Jillian, meine Frau, zu sein. Das also malst du dir in deiner Phantasie aus.«
»Nein! Deshalb bin ich nicht hergekommen. Ich bin hergekommen, damit du mir nicht zu nahe kommst.
Verschwinde!«
»Genau wie deine Mutter! Du weigerst dich, dir einzugestehen, was du wirklich willst und was du brauchst.
Das kann ich gut verstehen. Das liegt bei euch in der Familie«, fügte er noch hinzu und lachte.
»Geh weg«, flehte ich ihn verzweifelt an.
»Du hast mich ausgesperrt, genau wie sie es tut«, zischte er.
»Das ist nicht recht. Das lasse ich nicht zu.« Er kam näher. Als er kaum noch einen Meter von mir entfernt war, roch ich den Whisky in seinem Atem. Das erschreckte mich noch mehr. Ich zuckte zusammen und zog die Decke über mich.
»Bitte, Tony, geh weg. Ich fürchte mich vor dir, und ich ekle mich vor dem, was du mir angetan hast. Schon allein bei dem Gedanken daran wird mir übel. Bitte, geh jetzt.«
»So darfst du das nicht empfinden. Du mußt gegen diese Ängste ankämpfen. Verschließt du deshalb die Tür und suchst dir einen Vorwand nach dem nächsten, um mich dir vom Leib zu halten?« fragte er und verwechselte mich schon wieder mit meiner Mutter.
»Nein, Tony. Ich bin nicht Jillian. Ich bin Leigh. Kannst du das denn nicht verstehen? Hörst du mir denn nicht zu?«
»Immer noch wutentbrannt, aber auch die Wut ist eine Leidenschaft. Verstehst du das denn nicht? Du bist erfüllt von Verlangen, Begierde und Lust. Du darfst diese Stimme in deinem Innern nicht mißachten«, sagte er und setzte sich aufs Bett. Ich wich zurück, weil ich dachte, ich könnte auf der anderen Seite aus dem Bett springen und vor ihm davonlaufen, aber er war zu schnell und ahnte rechtzeitig, welchen Fluchtweg ich wählen wollte. Er streckte die Hand aus, umklammerte mein Handgelenk und drehte es um, bis ich die Decke nicht mehr festhalten konnte. Ich schrie vor Schmerz auf, und er ließ mich los, beugte sich aber vor und lag auf meinen Beinen und meinem Bauch.
»Es ist eine wunderschöne Nacht, eine romantische Nacht, eine Nacht, wie sie sich Liebende erträumen.«
»Wir sind kein Liebespaar, Tony«, stöhnte ich unter Tränen.
»O doch, das sind wir. Durch meine Arbeit bin ich in alle Ewigkeit mit dir verbunden.«
»VERSCHWINDE, und laß mich in Ruhe!« schrie ich, als er seine Hand auf meinen Oberschenkel legte. »Meine Mutter wird davon erfahren, von allem, was geschehen ist. Sie wird erfahren, was du mir letzte Nacht angetan hast, und sie wird dich bis in alle Ewigkeit hassen und dich verlassen«, brüllte ich wütend.
Doch er lachte nur wieder.
»Du wirst es deiner Mutter erzählen? Und was willst du ihr sagen? Das, was sie längst weiß oder wenigstens hofft. Was glaubst du denn, wer mich in deine Arme getrieben, wer mich dazu ermutigt hat? Wer hat denn vorgeschlagen, daß ich dich als Modell nehme, als Aktmodell? Ich bin nicht dumm. Ich weiß, warum sie das getan hat, und ich habe es akzeptiert, es sogar selbst angestrebt. Du bist sehr schön, und du wirst noch schöner werden, als sie es ist. Glaubst du denn, das wüßte sie nicht? Glaubst du denn, daß sie das nicht ärgert?«
»Nein«, schrie ich. »Das ist alles gelogen.«
»Ach, ja?« Er lachte. »Sie hat geglaubt, daß wir beide in dem Häuschen miteinander schlafen, und sie hat es geduldet.«
»Du Lügner!« Ich holte zu einem Hieb nach ihm aus, aber er fing meine Faust in der Luft und hielt sie fest.
»Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Ich habe versucht, sie eifersüchtig zu machen, sie dazu zu bringen, daß sie mich wieder begehrt, und deshalb habe ich ihr erzählt, wie erregt du warst und daß du mich aufgefordert hast, mit dir zu schlafen. Weißt du, was sie gesagt hat? Sie war froh, daß du von einem Meister, von einem glühenden Liebhaber, angelernt wirst. Ich wußte, daß sie mir nur schmeicheln wollte, aber sie hat sich wirklich nicht daran gestört.«
»So etwas hätte sie nie gesagt«, behauptete ich und schüttelte den Kopf. »Niemals.« Ich riß mein Handgelenk los. »Du kennst sie doch überhaupt nicht. Du sagst, ihr hättet keine Geheimnisse voreinander, und dabei hat sie ein großes Geheimnis vor dir gehütet«, sagte ich so verächtlich, wie es mir irgend möglich war. »Du kennst noch nicht einmal ihr wahres Alter. Du glaubst, sie sei viele Jahre jünger, als sie in Wirklichkeit ist. Sie würde dir niemals ihr volles Vertrauen schenken.«
»O doch, ich kenne ihr wahres Alter, meine Süße«, sagte er ruhig, so ruhig, daß mir das Herz sank. »Ich habe mir ein vollständiges Bild von ihrer Vergangenheit gemacht. Leider hat mich meine Liebe zu ihr geblendet, und ich habe bis nach der Heirat abgewartet und es erst dann getan. Sie wird nie erfahren, wie sehr ich mich von ihr betrogen gefühlt habe, weil sie mir etwas vorgemacht hat – mir, der ich den Boden angebetet habe, über den sie gelaufen ist. Jetzt lasse ich sie in ihrer Traumwelt weiterleben. Was schadet das schon?«
»Nein, du lügst schon wieder. Geh weg, verschwinde!« Ich stieß ihn von mir, aber diesmal umfaßte er meine beiden Handgelenke, zog mich an sich und küßte mich brutal auf die Lippen. Ich wehrte mich und wollte mich losreißen, aber er war zu stark. Ich schmeckte den Whisky auf meiner Zunge, und mir wurde übel davon.
Er kniete vor mir, beugte sich über mich und preßte meine Hände aufs Kissen.
Wieder einmal wand und wälzte ich mich unter seinem Körper, und wieder einmal zwängte er sich zwischen meine Beine und nahm mich auf dieselbe Art. Es war wie ein Alptraum, der sich wiederholte. Ich weinte, ich flehte, ich bettelte, doch seine Ohren waren für alles andere als die Stimmen verschlossen, die er in seinem Innern hörte: Stimmen der Begierde und der Lust.
Während der ganzen Zeit verwechselte er mich mit meiner Mutter, nannte mich abwechselnd »Jillian« und stöhnte dann wieder »Leigh«. Ich schloß die Augen, wandte den Kopf von ihm ab und versuchte zu verdrängen, was er mir antat. Mein Körper hob und senkte sich unter ihm. Ich konnte nichts tun, um ihn daran zu hindern.
Als ich die Augen aufschlug, sah ich Angel auf dem Kissen neben mir. Ich konnte mühsam meine rechte Hand aus seiner befreien und sie so weit ausstrecken, daß ich meine geliebte Puppe anfassen und ihr Gesicht abwenden konnte, denn in ihren Augen sah ich mein eigenes Entsetzen und meinen Kummer.
Anschließend preßte ich meine Augenlider zu und wartete, bis es zu Ende war.
Er blieb eine Zeitlang auf mir liegen, ehe er sich wie ein Schlafwandler erhob und mich allein ließ. Ich rührte mich nicht von der Stelle. Meine Handgelenke schmerzten, und mein Gesicht fühlte sich an, als sei Schmirgelpapier damit in Berührung gekommen. Ich weinte, bis ich keine Tränen mehr hatte. Dann schloß ich endlich die Augen und zog die Decke wieder über mich und Angel.
Am Morgen stand ich bei den ersten Sonnenstrahlen auf und huschte aus der Suite meiner Mutter zurück in meine eigene und kroch dort ins Bett. Troy kam, um mich zu wecken, doch ich sagte ihm, daß es mir nicht gutginge. Er rannte hinaus, um Tony und die Hausangestellten davon zu unterrichten. Wenige Momente später erschien Mrs. Carter, eines unserer älteren Dienstmädchen, um nachzusehen, was mir fehlte. Ich sagte ihr lediglich, daß ich mich nicht wohl fühlte. Sie sagte, sie würde mir etwas zum Frühstück bringen.
»Möchten Sie, daß ich Mr. Tatterton zu Ihnen schicke?«
»Nein«, rief ich hastig. »Ich möchte niemanden sehen, solange meine Mutter nicht eintrifft.«
»Keinen Arzt?«
»Bitte, gar niemanden«, flehte ich.
»Nun gut. Wir werden Ihnen Tee und etwas zu essen bringen.
Vielleicht fühlen Sie sich dann besser.«
Mich besser fühlen? Kein Essen, kein Arzt, keine Schar von Freundinnen hätte jetzt bewirken können, daß ich mich besser fühlte. Troy sah noch einmal nach mir und war enttäuscht, daß ich nicht aus meinem Zimmer kommen und mit ihm spielen oder Spazierengehen wollte. Ich aß ein wenig von der Hafergrütze, die Mrs. Carter mir brachte, und trank eine Tasse von dem gesüßten Tee.
Tony kam nicht zu mir. Ich war darauf vorbereitet, ihn hinauszuwerfen, zu schreien, eine Szene zu machen und die Aufmerksamkeit sämtlicher Hausangestellter auf uns zu lenken, falls es nötig werden sollte. Vielleicht rechnete er damit und hielt sich deshalb fern von mir.
Mrs. Carter kam mit einem Mittagessen wieder. Ich aß auch jetzt nur wie ein Spatz, knabberte an einem Sandwich und trank einen Schluck Saft. Am späten Nachmittag kam sie und fragte mich noch einmal, ob sie nicht doch einen Arzt holen sollte.
»Nein, ein Arzt kann mir nicht helfen«, erwiderte ich.
»Schicken Sie mir nur meine Mutter in dem Moment, in dem sie kommt.«
»Ja, gut«, sagte Mrs. Carter kopfschüttelnd. Sie nahm das Tablett mit. Bis in den späten Nachmittag hinein döste ich.
Endlich hörte ich, daß sich im Korridor etwas rührte, und ich wußte, daß Mama aus Europa zurückgekommen war. Ich wartete voller Vorfreude und war absolut sicher, daß ihr die Dienstboten von meinem Zustand erzählt hatten.
Die Flurtür wurde aufgerissen, und Mama rauschte herein wie eine frische Böe. Ich zog die Decke zurück und sah zu ihr auf. Sie hatte das Haar zu einem modischen Chignon zusammengesteckt und trug ein dunkelblaues Seidenkostüm, das stark tailliert und an der Taille zugeknöpft war. Sie wirkte gertenschlank, ihr Teint war klar und faltenlos, und ihre Augen strahlten. Kristallohrringe in Form von winzigen Eiszapfen baumelten von ihren Ohrläppchen.
»Leigh van Voreen«, setzte sie an und stemmte die Hände in die Hüften, »wie kannst du es wagen, am Tag meiner Rückkehr krank zu werden? Was fehlt dir? Es ist Sommer. Im Sommer erkältet man sich nicht.«
»O Mama«, rief ich. »Mama.« Ich schlug die Decke ganz zurück und setzte mich hin. »Etwas Schreckliches ist passiert.
Und gleich zweimal!«
»Was soll dieser Unsinn, Leigh? Ich dachte, du bist krank.
Ich hatte kaum das Haus betreten, als Mrs. Carter mir händeringend vorgejammert hat, wie krank du bist, daß du aber keinen Arzt sehen willst und dich weigerst, mit irgend jemandem zu reden. Kannst du dir vorstellen, wie müde ich bin? Weißt du, diese Kur war die reinste Folter«, sagte sie, während sie sich umdrehte und sich verrenkte, bis sie sich in meinem Frisierspiegel sehen konnte, »abzunehmen und die Unvollkommenheiten meines Körpers zu beseitigen. Aber jetzt ist es vorbei, und ich hatte Erfolg. Der Meinung sind alle. Was sagst du dazu?« Sie drehte sich mit erwartungsvollem Gesicht zu mir um und rechnete damit, mit Komplimenten überhäuft zu werden. Aber heute würde sie keine Komplimente von mir zu hören bekommen… nur bittere Wahrheiten. Ich wollte nicht zulassen, daß sich Mama noch länger gegen die Wahrheit verschloß.
»Mama, ich habe hier auf Farthy weit schlimmere Foltern durchgemacht. Tony ist zweimal in mein Zimmer gekommen und hat sich… mir aufgedrängt«, rief ich. »Er… er…« Warum ließ sie mich weiterreden? Mußte ich ihr denn alles bis in die letzten gräßlichen Einzelheiten erzählen? Ich sah sie mit Tränen in den Augen an und erwartete von ihr, daß sie an meine Seite eilen, ihre Arme um mich schlingen und mich mit Umarmungen und Küssen trösten würde…
Sie kam tatsächlich erstaunlich flink an meine Seite. Endlich mußte sie mir zuhören! Doch dann bemerkte ich ihre Augen –
immer ihre Augen! Sie zogen sich jetzt zu bedrohlichen Schlitzen zusammen und funkelten eisig. Oh, wie sehr ich mich fürchtete! Mein Magen zog sich zusammen, und mir wurde entsetzlich flau. Sie glaubte mir nicht! Mamas Augen verrieten immer ihre wahren Gefühle.
»Was?« fragte sie ungläubig. »Was ist denn das für eine alberne Geschichte? Sich dir aufgedrängt? Also wirklich, Leigh. Diese Teenager-Phantasien kennt man ja, aber findest du nicht, daß du etwas zu weit gehst?«
Ich schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Mama. Es ist keine Einbildung. Es ist passiert. Es ist wirklich geschehen.« Da ich endlich ihre volle Aufmerksamkeit auf mich gezogen hatte, mußte ich mich davor hüten, sie wieder zu verlieren. Ich mußte sie dazu bringen, mir zuzuhören. »Laß dir die ganze Geschichte erzählen, bitte. Bitte, hör mir zu.«
»Ich höre«, entgegnete sie, und ihr Gesicht verzog sich vor Abscheu.
»Vorgestern abend bin ich ihm zu dem Häuschen gefolgt.«
»Ihm gefolgt? Warum denn das?«
»Ich war neugierig und wollte wissen, warum er immer noch dort arbeitet.«
»Du hättest nicht einfach hinter ihm herschleichen dürfen, Leigh«, tadelte sie und warf mir Ungehörigkeit vor, ohne sich erst den Rest anzuhören. Ich ging nicht auf sie ein und redete weiter.
»Als ich vor dem Häuschen stand, habe ich durch ein Fenster geschaut und gesehen, daß er noch ein weiteres Bild von mir gemalt hat… von ihm und mir, aber er hat sich selbst nachträglich dazugemalt… nackt!«
»Ach, wirklich?« fragte sie.
»Im nächsten Augenblick ist er dann aufgetaucht, und er war nackt.«
»War er allein?« erkundigte sie sich eilig.
»Ja, aber… jedenfalls bekam ich Angst und rannte schnell wieder ins Haus. Nachdem ich mich ins Bett gelegt hatte, ist er reingekommen… nackt, und er ist über mich hergefallen, und er hat mich gezwungen, mit ihm zu schlafen.«
Sie starrte mich an. Auf ihrem Gesicht stand immer noch ein skeptischer Ausdruck.
»Das hat er getan! Und dann, gestern nacht… ich bin in dein Schlafzimmer gegangen, um mich dort einzuschließen und mich in Sicherheit zu bringen… ist er wieder zu mir gekommen. Er hatte einen Schlüssel. Anfangs dachte er, ich sei du, aber das hat nichts geändert. Er hat sich mir wieder aufgezwungen. O Mama, es war entsetzlich. Ich konnte mich nicht gegen ihn wehren.« Ihr Ausdruck blieb unverändert.
»Mama, hörst du denn nicht, was ich sage?«
Sie ließ die Schultern sinken und schüttelte den Kopf.
»Ich wollte über all das mit dir reden, nachdem ich mich hier wieder eingewöhnt habe«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, es könnte warten, bis ich wieder halbwegs bei Kräften bin.«
»Mit mir über all das reden? Aber woher wußtest du davon?«
»Tony hat mich am Flughafen abgeholt. Er hat mir erzählt, wie du dich benommen hast. Er hat mir nicht erzählt, daß du ihm zu dem Häuschen gefolgt bist, aber er hat mir erzählt, daß du ihn aufgefordert hast, in dein Schlafzimmer zu kommen, und daß er dich splitternackt auf deinem Bett vorgefunden hat, als er zu dir kam.«
»Was? Er lügt.«
»Er hat gesagt, du hättest ihn an den Handgelenken gepackt und ihn auf dich gezogen und ihn angefleht, mit dir zu schlafen, aber er hat sich von dir losgerissen, dich ausgeschimpft und ist gegangen.«
»Mama, hör mir zu…«
»Er hat mir auch erzählt, daß du in mein Zimmer gegangen bist, um so zu tun, als seist du ich, damit er dich kein zweitesmal zurückweist. Er meinte, du hättest sogar eins meiner Nachthemden angezogen und dich mit meinem Parfüm eingesprüht.« Sie sah mich triumphierend an und schnupperte.
»Das ist doch mein Nachthemd, oder nicht? Und du hast mein Parfüm benutzt.«
»O Mama, das habe ich doch alles nur getan, um dir nahe zu sein. Ich hatte solche Angst.«
Als sie mich wieder ansah, war ihr das Mißtrauen deutlich anzusehen. Sie versuchte noch nicht einmal, es vor mir zu verbergen! In diesem Augenblick wogte schwelender Haß in mir auf. Nie zuvor hatte ich so für Mama empfunden. Nie! Sie glaubte mir nicht! Das einzige, was sie interessierte, war Tony… der widerwärtig reiche Tony… ihr junger, ekelhafter Ehemann.
Ich sah Mama zynisch an. O ja, mir war alles klar. Mama dachte gar nicht daran, ihre Position als Herrin von Farthinggale Manor zu gefährden. Was nutzte es ihr, wenn sie Tony dazu gebracht hatte, eine Abmachung zu unterschreiben, die ihr die Hälfte seines Vermögens zusicherte? Ohne seinen Namen war sie nichts… Wenn sie sich entschieden hätte, mir zu glauben, und wenn sie sich von Tony hätte scheiden lassen, dann hätte sie die Achtung und die Privilegien eingebüßt, die ihr als Mrs. Tony Tatterton zustanden. Die Bostoner Gesellschaft würde ihr die Türen vor der Nase zuschlagen, und sie wäre nichts weiter als ein Mädchen aus Texas, dem es lediglich gestattet war, als Außenseiterin zuzuschauen. So sehr ich Mama ihr Glück gönnte, denn tief in meinem Innern liebte ich sie immer noch, konnte ich nicht zulassen, daß Tony ungestraft davonkam. Ich nahm einen letzten Anlauf.
»Mama, ich sage dir die Wahrheit.«
»Also wirklich, Leigh. Deine Geschichte ist empörend. Wie kannst du von mir erwarten, daß ich dir glaube?«
»Ich erwarte von dir, daß du mir glaubst und nicht ihm! Er ist verrückt.«
»Er hat gesagt, du hättest nichts unversucht gelassen, um ihn zu verführen, und als alles nichts genützt hat, hast du… mich verraten. Du hast ihm gesagt, wie alt ich bin«, schloß sie. Sie schien eher verletzt als erbost zu sein.
»Mama, ich… nein, das habe ich gesagt, weil…«
»Wie konntest du das tun? Ich habe niemandem mehr vertraut als meiner eigenen Tochter.«
»Mama, er wußte es längst. Es hat ihm nichts ausgemacht.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Also wirklich, Leigh, du mußt wieder zu dir finden. Ich war selbst einmal ein Teenager; ich weiß, was du durchmachst.
Dein Körper entwickelt sich schnell. Über Nacht bist du zur Frau geworden und hast die Bedürfnisse einer Frau, und dann ist da der gutaussehende Tony Tatterton, der Mann, für den du Modell gesessen hast. Das ist verständlich, und mich trifft auch ein Teil der Schuld, weil ich nicht erkannt habe, wie reif du schon bist, aber du mußt lernen, deine Phantasien und deine Triebe zu zügeln.
Du siehst doch, wie gut ich das kann. Denk daran, was ich dir darüber erzählt habe – ein Mann kann einen zur Erschöpfung treiben. Und denk daran, daß ich dir gesagt habe, was ein anständiges Mädchen nicht tun darf.
Ich bin sicher, daß wir in ein bis zwei Tagen alle wieder so gut miteinander auskommen wie vorher. Tony trägt dir nichts nach. Er ist äußerst verständnisvoll, wenn es um solche Dinge geht. Deshalb führen wir auch eine so gute Ehe.« Sie lächelte.
»Oh, ich kann es kaum erwarten, in ein heißes Schaumbad einzutauchen«, rief sie.
»Mama, du mußt mir glauben… bitte…«
»Jetzt reicht es, Leigh«, fauchte sie. »Ich bestehe darauf, daß du kein Wort mehr darüber verlierst. Eins führt zum anderen.
Ehe man sich versieht, werden die Hausangestellten darüber reden und furchtbare Gerüchte in Umlauf bringen.«
»Es sind keine Gerüchte. Ich phantasiere nicht, und ich lüge nicht!«
»Leigh«, sagte sie eiskalt, »erwartest du im Ernst, ich könnte glauben, daß mein Mann sich meiner Tochter zuwendet, einem Mädchen, das gerade erst zur Frau wird, wenn er mich hat?
Also wirklich«, entrüstete sie sich. »Und jetzt reiß dich zusammen. Ich will, daß du badest und dich anziehst und zum Abendessen nach unten kommst.«
»Aber, Mama…«
»Ich bestehe darauf. Und außerdem«, fügte sie lächelnd hinzu, »habe ich so viele hübsche Dinge in Europa gekauft, die ich dir unbedingt zeigen muß, und ich will dir alles über den Kurort und die Leute erzählen, die ich dort kennengelernt habe.« Ihr Lächeln schwand sofort wieder. »Ich war äußerst erbost, als Tony mir erzählt hat, daß du ihm mein Alter verraten hast, Leigh, aber ich kann dir verzeihen, weil es ihm anscheinend nicht so viel ausmacht, wie ich gefürchtet hatte.
Er ist wirklich ein wunderbarer Mann. Aber ich kann dir beim besten Willen nicht verzeihen, wenn du weiterhin diese…
diese Show abziehst. Also nimm dich jetzt zusammen, und komm zum Abendessen nach unten.« Sie entspannte sich wieder und seufzte tief. »Ach, es gibt nichts Schöneres, als nach einer langen Reise wieder nach Hause zu kommen«, zwitscherte sie und ließ mich allein.
Nach Hause? Hatte sie gerade Farthinggale Manor als ihr Zuhause bezeichnet? Treffender hätte sie es als Hölle beschreiben können! Ich starrte die Stelle an, an der Mama gerade noch gestanden hatte. Träumte ich? Mama weigerte sich, mir zu glauben. Statt mir zu helfen, zog sie sich hinter die gläsernen Mauern ihrer eitlen, hohlen Welt zurück und war nur von sich selbst besessen. Ich wandte mich an meine Puppe.
»O Angel«, seufzte ich. »Wenn du bloß reden könntest! Du bist meine einzige Zeugin.«
18. KAPITEL
KONFRONTATIONEN
Ich stand auf und zog mich an, um zum Abendessen nach unten zu gehen. Obwohl ich den ganzen Tag über nur sehr wenig gegessen hatte, hatte ich keinen Appetit, aber ich hatte die törichte Hoffnung, ich könnte Mama doch noch irgendwie dazu bringen, die Wahrheit zu erkennen. Sie hätte nichts weiter zu tun brauchen, als sich mein Gesicht einmal näher anzusehen, dachte ich. Ich brachte wenig Begeisterung dafür auf, mir das Haar zu bürsten. Es spiegelte mein inneres Befinden wider und wirkte stumpf, matt und schlaff. Die Mattigkeit und die emotionale Erschöpfung war deutlich in meinen Augen abzulesen. Mit hängenden Schultern stieg ich die Stufen hinunter.
Zu meinem Erstaunen saß Mama bereits mit Tony am Tisch.
Ich hörte die beiden lachen, als ich auf das Eßzimmer zukam.
Sobald ich eintrat, unterbrachen sie sich und wandten sich zu mir um. Tony warf einen Blick auf meine Mutter, und dann lächelte er mich an.
»Fühlst du dich wieder besser, Leigh?« fragte er, und sein wahres Gesicht verbarg sich hinter einer Maske väterlicher Sorge.
Ich schwieg und ging an meinen Platz, und dabei spürte ich die Blicke beider auf mir ruhen.
»Ich war gerade dabei«, flötete meine Mutter mit einer heiteren, gutgelaunten Stimme, »Tony von den Walston-Zwillingen zu erzählen. Sie kommen aus Boston, und ihr Vater hat einen Landsitz in Hyannis. Aus einem ihrer Beine kann man meinen ganzen Körper formen. Die Walroß-Zwillinge, so haben wir sie in dem Kurzentrum alle genannt. Allein schon, die beiden zusammen in der Sauna zu sehen!« kicherte sie und warf den Kopf zurück. »Ich meine, jede einzelne Frau dort hat sich in dem Moment, in dem sie die beiden angesehen hat, gleich zwanzig Pfund leichter gefühlt. Das Komischste von allem ist jedenfalls, daß jede von ihnen bei der Kur fünf Pfund zugenommen hatte, statt abzunehmen. Es scheint, als hätten sie Kuchen und Pudding aus der nächsten Ortschaft ins Sanatorium geschmuggelt. Kannst du dir vorstellen, daß jemand so viel Geld ausgibt, um fünf Pfund zuzunehmen?«
Tony schüttelte den Kopf und fiel in ihr Lachen ein. Ich konnte nicht glauben, daß sie so glücklich waren. Nichts, was ich Mama erzählt hatte, war von Bedeutung. Mama erzählte eine Geschichte nach der anderen über die reichen Frauen, die zur Kur gewesen waren. Tony war ein perfektes Publikum für sie. Er lachte und wurde immer nur ernst, wenn sie ernst wurde.
Nachdem sie aufgehört hatte, über die Damen herzuziehen, die mit ihr auf Diät gesetzt worden waren, berichtete ihr Tony ausführlich vom Erfolg der Puppen. Zwischendurch drehte sich meine Mutter immer wieder zu mir um und riß die Augen weit auf, um ihr Erstaunen auszudrücken. Ich weigerte mich, an dem Gespräch teilzunehmen. Dieses eine Mal mußten meine
Wünsche und Bedürfnisse einfach berücksichtigt werden. Ich wußte, daß das, was mir zugestoßen war, entsetzlich war. Es brach mir das Herz, daß sie meine Qualen so mühelos verdrängte.
»Ich möchte, daß du dir ein paar der Dinge ansiehst, die ich in der Schweiz gekauft habe, Leigh«, kündigte meine Mutter an, als der Kaffee serviert worden war. »Sie sind im blauen Zimmer. Ich habe dir auch ein wunderbares Geschenk mitgebracht.«
Sie erhob sich und erteilte Curtis eine Anweisung, als sie das Eßzimmer verließ. Tony und ich standen ebenfalls auf. Als wir ihr folgten, hielt Tony mich am rechten Ellbogen fest. Er wollte verhindern, daß Mama hörte, was er mir zu sagen hatte.
»Ich will nur, daß du weißt, Leigh, daß ich dir nicht verüble, was du Jillian erzählt hast. Wir beide verstehen, wie einem Mädchen zumute ist, daß buchstäblich über Nacht zur Frau wird.« Er lächelte, und seine blauen Augen drückten Sanftmut und Verständnis aus. Sein beiläufiger Tonfall war zum Verrücktwerden. Einen Moment lang hatte ich einen Kloß in der Kehle. Ich schluckte schwer und biß mir fest auf die Zunge.
»Kommst du, Leigh?« rief mir Mama zu.
»Ja«, sagte ich und wandte mich dann entrüstet zu Tony um.
Ich starrte ihn mit Augen an, die Haß und Feuer sprühten. Wut flammte in meiner Brust auf. Mit eisiger Stimme sagte ich: »Es mag sein, daß du sie für den Moment hinters Licht geführt hast, aber mit der Zeit wird sie mir glauben, denn jemand wie du kann sein wahres Ich nicht ewig verbergen.«
Er schüttelte den Kopf mit einem mitleidigen Blick, der mich nur noch mehr aufbrachte.
»Ich hatte gehofft, deine Haltung würde sich ändern, da Jillian jetzt wieder da ist, aber ich sehe, daß alles wahr ist, was man mir über Teenager von heute erzählt hat. Dennoch mußt du wissen, daß ich immer Verständnis und Mitgefühl für dich aufbringen und dich nie lächerlich machen werde.«
»Du bist ekelhaft«, zischte ich durch zusammengebissene Zähne. Er lächelte immer noch. Dann versuchte er, sich bei mir einzuhängen, aber ich wich zurück. »Rühr mich nicht an, nie wieder!«
Er nickte und ließ mich mit einer höflichen Geste vorausgehen. Ich lief meiner Mutter nach. Tony folgte uns nicht ins blaue Zimmer, in dem Mama ihre Einkäufe aufgetürmt hatte. Ich setzte mich aufs Sofa und sah zu, wie sie Pullover, Blusen, Röcke und Ledergürtel auspackte. Sie schenkte mir eine mit Diamanten besetzte goldene Uhr. Sie hatte kunsthandwerkliche Gegenstände gekauft, kleine Plastiken, Schmuckkästchen und Handspiegel, die in Elfenbein gefaßt waren. Zu jedem Gegenstand hatte sie eine Geschichte zu erzählen, wie sie ihn entdeckt hatte, was für ein Geschäft das gewesen war, wie die anderen Frauen darüber geurteilt hatten, wenn sie etwas gekauft hatte. Sie brüstete sich damit, daß die anderen ihr nachgelaufen waren und alles getan hatten, was sie tat, alles gekauft hatten, was sie vor ihnen gekauft hatte.
»Plötzlich fand ich mich in die Rolle eines Idols gedrängt«, prahlte sie. »Kannst du dir das vorstellen? All diese schrecklich reichen, vielgereisten Frauen waren darauf angewiesen, daß ich ihnen sage, was schick ist, was ein echter Kunstgegenstand ist und was ein guter Kauf ist. Ich hätte eigentlich Prozente kassieren sollen.« Sie unterbrach sich und sah mich an, als sähe sie mich zum erstenmal.
»Du siehst ein wenig müde aus, Leigh. Du solltest dich morgen in die Sonne setzen. Du darfst dich nicht einfach in deinen Zimmern verkriechen. Das ist ungesund. Dort ist die Luft stickig und abgestanden, und solche Luft kann der Haut schaden. Ich hatte lange Gespräche mit den Experten in diesem phantastischen Kurort«, sagte sie schnell, ehe ich ihr ins Wort fallen konnte. »Hast du nie bemerkt, daß Schweizerinnen einen ausgezeichneten Teint haben? Das ist teilweise auf ihre Ernährung zurückzuführen«, fuhr sie fort, als säße ich als Schülerin in einer Unterrichtsstunde, »aber teilweise auch auf die Gymnastik, die frische Luft, die Sauna und die Schlammpackungen. Ich habe Tony schon gebeten, mir eine Sauna ins Badezimmer zu bauen«, schloß sie.
»Mama, ich sehe so aus, weil ich eine gräßliche Erfahrung hinter mir habe. Wenn du mir bloß zuhören würdest, ich meine, wirklich zuhören…«
»Du fängst doch nicht etwa schon wieder damit an, Leigh?«
sagte sie und zog einen Schmollmund. »Das halte ich einfach nicht aus. Ich weiß ohnehin nicht, wieso ich noch nicht zusammengebrochen bin, wenn man bedenkt, wie wenig Schlaf und Ruhe ich bekommen habe, seit ich aus der Schweiz abgereist bin. Ich habe mich gezwungen, nur um deinetwillen und für Tony energiesprühend und überschäumend zu wirken, aber jetzt bin ich müde. Ich gehe nach oben.«
»Mama.«
»Gute Nacht, Leigh. Ich hoffe, die Uhr gefällt dir.« Sie ließ mich dort sitzen, inmitten der geöffneten Päckchen und Pakete.
Ich stopfte meine neue Uhr wieder in ihr Etui. Wen interessierte das schon? Was hatten edle und teure Gegenstände jetzt noch zu bedeuten? Glaubte sie etwa, mit Gold und Diamanten ließe sich alles wieder in Ordnung bringen?
Ich war am Boden zerstört und dachte, daß ich ebensogut unsichtbar sein könnte. Mama wird mich nicht ansehen, mich nicht anhören und die Wahrheit nicht erkennen. Der Glanz und Glitzer ihres eigenen Lebens blendeten sie.
Es war auch später jedesmal dasselbe, wenn ich versuchte, diese gräßliche Geschichte anzusprechen. Mama beachtete mich gar nicht. Schließlich gab ich auf. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, allein am Strand spazierenzugehen oder auszureiten. Die Seeluft, die Geräusche der Brandung und der wohltuende Anblick der Wellen wirkten beruhigend auf mich.
Ich las, schrieb in dieses Tagebuch, hörte meine Platten an und verbrachte viel Zeit mit Troy.
Jennifer rief etliche Male an, doch ich rief nie zurück. Auch bei Joshua meldete ich mich nicht. Er hatte ohnehin Ende Juni angerufen, um mir zu sagen, daß er mit seiner Familie Urlaub machen und fast einen Monat lang fort sein würde. Er hatte gehofft, mich vor seiner Abreise noch einmal treffen zu können, aber ich konnte ihn einfach nicht sehen. Wenn er mir ins Gesicht geschaut hätte, hätte er genau gewußt, was passiert war, und er hätte mich dafür gehaßt, das wußte ich ganz genau.
Ich fand Trost in meiner Einsamkeit. Es stellte sich heraus, daß die Natur mir die Mutter und der Vater war, die ich nicht mehr hatte, und sie linderte meine Schmerzen, streichelte mich mit ihren warmen Winden und erfüllte mich mit einem Gefühl von Geborgenheit, das ich in dem großen Haus mit seinen dunklen Winkeln und den riesigen Räumen nicht finden konnte.
Wenn ich Spaziergänge mit Troy unternahm, ließ ich ihn immer vorauslaufen und lauschte seinem kindlichen Plappern, und dabei hörte ich nicht so sehr die Worte wie seine unschuldige, glückliche Stimme. Ich saß gern mit ihm da und schaute aufs Meer und beantwortete seine Fragen, während ich ihm über das weiche Haar strich. Auf gewisse Weise wünschte ich mir, wieder in seiner Welt zu sein, einer kindlichen Welt, der Welt von Puppen, Spielsachen und Zuckerstangen, einer Welt ohne bittere Wahrheiten. Dort konnten sämtliche Schreckgespenster von einer herzlichen Umarmung, einem zarten, tröstlichen Kuß oder einem Versprechen für den morgigen Tag verscheucht werden.
Mama tauchte wieder ins gesellschaftliche Leben ein, besuchte ihre nachmittäglichen Bridgeclubs, sah sich in Boston Theaterstücke an und erledigte ihre Einkäufe. Sie bewirtete beim Abendessen wohlhabende Bekannte oder ließ sich von ihnen zum Essen einladen. Bei verschiedenen Gelegenheiten versuchte sie, mich zum Mitkommen zu überreden. Sie behauptete, ihr ginge es darum, mich mit den Söhnen und Töchtern der Oberschicht zusammenzubringen, aber ich lehnte jedesmal ab.
Tony hielt Abstand, sprach kaum mit mir und vermied es sogar, mich anzusehen, insbesondere, wenn meine Mutter dabei war.
Zu Beginn der dritten Juliwoche erklärte er dann, daß er eine kurze Geschäftsreise nach Europa unternehmen mußte. Mama gab ihm eine ganze Liste mit, auf der stand, was er ihr wo besorgen sollte. Er kündigte an, daß er auch für mich nach etwas Besonderem Ausschau halten wollte, aber ich erwiderte nichts darauf.
Wenige Tage später rief Daddy aus Houston, Texas, an. Er war auf dem Rückweg zur Ostküste und wollte ein Treffen mit mir vereinbaren. Ich hatte ihm immer wieder geschrieben und versucht, ihn dazu zu veranlassen, daß er mich anrief oder mir schrieb, aber er hatte bis jetzt nicht darauf reagiert.
»Ich war viel unterwegs, Prinzessin«, erklärte er. »Deine Briefe haben mich wohl alle um einen oder zwei Tage verfehlt.
Ist alles in Ordnung?«
»Nein, Daddy. Ich muß dich unbedingt sehen«, sagte ich verzweifelt. Er verstummte einen Moment lang am anderen Ende der Leitung.
»Was ist los?« fragte er.
»Ich kann am Telefon nicht darüber reden, aber ich muß dich unbedingt sprechen. Es muß wirklich sein«, betonte ich.
»Deine Mutter kann dir nicht weiterhelfen?«
»Sie… nein, sie kann mir nicht weiterhelfen«, erwiderte ich.
Meine Stimme klang brüchig und ernst.
»Gut. Ich rufe dich an, sobald ich in Boston bin, und dann werden wir alle zusammen essen gehen. Ich müßte übermorgen ankommen.«
»Daddy, ich möchte dich allein treffen«, flehte ich.
»Leigh, ich bin jetzt verheiratet, und Mildred hat an allem in meinem Leben teil. Sie möchte es so haben. Sie ist sehr ärgerlich, wenn ich sie von etwas ausschließe, und sie möchte dich doch so gern besser kennenlernen. Kannst du denn nicht vergessen, daß wir so plötzlich geheiratet haben, und ihr eine Chance geben?« bat er mich.
»Darum geht es diesmal nicht, Daddy. Ich… muß ganz persönliche Dinge mit dir besprechen.«
»Mildred hat auch an meinem Privatleben teil, Leigh«, beharrte er. Wieder einmal war Daddy Wachs in den Händen einer Frau, dachte ich.
»In Ordnung, Daddy. Ruf mich an, sobald du ankommst«, gab ich nach. Ich hatte keine andere Wahl, und es gab niemanden sonst, an den ich mich wenden konnte.
»Abgemacht. Bis bald, Prinzessin«, sagte er und legte auf.
Das Wissen, daß Daddy übermorgen kommen würde, gab mir Auftrieb. Wenn ich ihm erst erzählt hatte, was mir zugestoßen war, mußte er verlangen, daß ich bei ihm blieb.
Zum ersten Mal, seit Tony mir Gewalt angetan hatte, war ich fröhlich und lebhaft. Ich planschte im Schwimmbecken herum, ritt im Galopp und nahm Troy zu einem langen Spaziergang mit, um Muscheln zu sammeln. Ich hatte mehr Appetit als die Wochen zuvor, ließ mir den Teller nachfüllen und aß meinen Nachtisch. Mama bemerkte eine Veränderung, aber ich erzählte ihr nicht, daß Daddys Ankunft unmittelbar bevorstand.
An dem Tag, an dem Daddy in Boston eintreffen sollte, erwachte ich sehr früh. Ich wollte mich in dem Moment, in dem Daddy anrief, von Miles in die Stadt fahren lassen, und deshalb hatte ich mich schon angezogen und gefrühstückt, als meine Mutter nach unten kam. Für den Nachmittag hatte sie ein paar Freundinnen zum Bridge eingeladen, und ich wußte, daß sie Stunden damit zubringen würde, sich zurechtzumachen.
Kurz vor dem Mittagessen rief Curtis mich ans Telefon. Ich stand mit Troy vor der Tür, und wir sahen den Gärtnern bei der Arbeit zu.
»Ist es mein Vater?« fragte ich eifrig.
»Er hat nur gesagt, er riefe in Mr. van Voreens Auftrag an«, erwiderte Curtis in seiner gewohnten nichtssagenden Ausdrucksweise. Ich lief ins Haus und zum Telefon im Wohnzimmer.
»Hallo«, sagte ich. »Hier ist Leigh.«
»Miss van Voreen, mein Name ist Chester Goodman. Ich arbeite für Ihren Vater, und er hat mich gebeten, Sie anzurufen.«
»Ja?« sagte ich ungeduldig, weil er sich so lange bei den Formalitäten aufhielt. Mir war ganz gleich, wie er hieß. Ich wollte nur die Einzelheiten zu Ort und Zeit unseres Treffens hören.
»Er läßt sich entschuldigen. Es tut ihm leid, aber er kann Sie heute nicht treffen.«
»Was?« Ich spürte, wie die Farbe aus meinem Gesicht wich.
Meine Brust kam mir so kalt und leer vor, daß ich sicher war, mein Herz hätte aufgehört zu schlagen. »Warum nicht? Ich muß ihn sehen. Es muß sein!« beharrte ich. »Sagen Sie es ihm, bitte lassen Sie mich selbst mit ihm sprechen. Ich verlange, daß Sie mich mit ihm verbinden.«
»Es tut mir leid, Miss van Voreen, aber er ist nicht mehr hier.
Einer der Ozeandampfer der Van-Voreen-Linie ist im Pazifik gesunken. Die Bergungsarbeiten haben schon begonnen, und er mußte umgehend hinfliegen.«
»O nein!«
»Ich soll Ihnen ausrichten, daß er Sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit anruft. Miss van Voreen?«
Ich antwortete nicht. Ich legte auf und lehnte mich betäubt auf dem Stuhl neben dem Telefon zurück. Hatte Daddy denn nicht die Verzweiflung aus meiner Stimme herausgehört?
Warum hatte er es nicht so einrichten können, daß er mich vorher noch traf, oder warum hatte er mich nicht ganz einfach mitgenommen? Wir hätten im Flugzeug miteinander reden können. Warum war ihm seine Firma wichtiger als seine Tochter?
Plötzlich kam ich auf einen erschreckenden Gedanken.
Vielleicht wußte er es; vielleicht hatte er schon immer gewußt, daß ich in Wirklichkeit gar nicht seine Tochter war, und vielleicht stand ich bei ihm deshalb ganz oben auf der Liste der unwesentlichsten Dinge auf Erden.
Ich vergrub mein Gesicht in den Händen.
»Leigh?« Das war Troy. »Kommst du jetzt wieder raus?«
»Nein«, sagte ich. »Ich fühle mich nicht gut. Ich muß rauf gehen und mich ein Weilchen hinlegen.«
Sein Gesicht wurde lang. »Spielst du später wieder mit mir?«
»Ich weiß es nicht, Troy. Es tut mir leid«, murmelte ich und ging auf die Treppe zu. Ich war so benommen, daß ich gar nicht merkte, wie ich in meine Suite gelangt war. Plötzlich stellte ich fest, daß ich längst in meinem Schlafzimmer stand.
Ich ging zu meinem Bett und legte mich hin. Ich hatte Kopfschmerzen, und mir war ganz komisch im Magen. Mir war so flau, daß ich mir kaum noch zu helfen wußte.
Ich fühlte mich eingesperrt wie in einer Falle. Noch schlechter als jetzt konnte es mir niemals gehen, dachte ich.
Doch es ging mir bald noch schlechter, nämlich schon am nächsten Morgen. Ich hatte die Augen erst wenige Sekunden aufgeschlagen, als es über mich hereinbrach: Wogen von Übelkeit. Eine Woge folgte auf die andere, und sie wurden schlimmer und immer schlimmer, bis ich aufspringen und ins Bad rennen mußte, um mich zu übergeben. Ich fühlte mich so elend, daß ich glaubte, sterben zu müssen. Endlich legte sich die Übelkeit, und ich machte mich auf den Rückweg zu meinem Bett, um mich auszuruhen.
Was war los? Hatte ich etwas gegessen, was mir nicht bekommen war? Aber warum kam die Übelkeit in diesen Wogen? fragte ich mich.
Und dann wurde mir plötzlich etwas bewußt. Ich hatte es vollkommen vergessen, weil mich in diesen letzten eineinhalb Monaten so viele andere Dinge beschäftigt hatten… Meine Periode war überfällig.
Und jetzt auch noch diese morgendliche Übelkeit! O nein, dachte ich, ich bin schwanger!
Ich wartete noch drei Tage, bis ich meiner Mutter davon erzählte, und ich hoffte und betete, daß meine Befürchtungen sich nicht bewahrheiteten, aber mir wurde jeden Morgen gleich nach dem Aufwachen übel.
Schließlich wurde mir klar, daß ich es nicht noch länger vor mir herschieben konnte. Seltsamerweise war mein erster Gedanke, daß sich damit bestätigte, was Mama sich weigerte zu glauben: Tony hatte mich vergewaltigt. Von allein konnte ich schließlich nicht schwanger geworden sein. Natürlich wäre es mir lieber gewesen, wenn sie noch länger an mir gezweifelt hätte, als jetzt diesen Beweis zu haben, aber da es nun einmal so war, war es zwecklos, diese Tatsache nicht dafür zu nutzen, ihr die Wahrheit gewaltsam einzuhämmern, ein für allemal.
Sie machte sich gerade für eine Wohltätigkeitsversammlung zurecht, die sie selbst am Nachmittag auf Farthy geben würde.
Ich fand sie vor ihrer Frisierkommode vor, als sie gerade eine neue Frisur ausprobierte. Sie nahm mich nicht zur Kenntnis, als ich eintrat, und sie hörte mich auch nicht, als ich nach ihr rief.
»Mama, bitte!« rief ich noch einmal. Ihre Lider zuckten, und sie drehte sich sofort um.
»Was ist, Leigh? Siehst du denn nicht, daß ich mich für meine Gäste fertigmache? Ich habe keine Zeit für irgendwelchen Blödsinn«, schnauzte sie mich an.
»Es geht nicht um Blödsinn, Mama«, sagte ich mit einer Stimme, die kalt und nachdrücklich klang. Sie sah offenbar, wie ernst es mir war und legte die Bürste hin.
»Also gut, was ist los?« Sie klapperte mit den Wimpern und wandte die Augen unduldsam zur Decke, um mir deutlich zu verstehen zu geben, wie unerwünscht ich ihr war. »Immer, wenn ich gerade etwas Wichtiges zu tun habe, hast du irgendwelche emotionalen Krisen. Ich weiß auch nicht, was heute bei den jungen Mädchen nicht stimmt. Vielleicht ißt du zuviel Zucker«, schloß sie.
»Mama, wirst du mir jetzt zuhören?« brüllte ich. Mir war danach zumute, auf sie zuzulaufen, sie an den kostbaren Haarsträhnen festzuhalten und sie zu zwingen, mich anzusehen und mich anzuhören.
»Hör auf zu schreien. Ich höre dir aufmerksam zu. Aber sei bitte wenigstens so rücksichtsvoll, dich kurz zu fassen.«
Ich schluckte den Kloß in meiner Kehle und holte tief Atem.
»Als ich dir gesagt habe, was Tony mir angetan hat, hast du mir nicht geglaubt. Du wolltest mir einfach nicht glauben!«
begann ich. Ich konnte nichts dagegen tun, daß meine Stimme schriller wurde und meine Augen sich weit öffneten. Je mehr ich redete, desto mehr redete ich mich selbst in Wut. Mamas Gesichtsausdruck, der ihren Verdruß und ihre Ungeduld zeigte, entfachte die glühenden Kohlen meines Zorns und ließ kleine Flammen aus ihnen auflodern. »Ich habe immer wieder versucht, es dir zu erklären, dir klarzumachen, daß es sich nicht um Teenager-Phantasien handelt, aber du wolltest ja nicht auf mich hören.«
»Und ich will immer noch nichts davon hören. Ich sagte dir doch, daß ich…«
»Mama!« schrie ich. »Ich bin schwanger!«
Als die Worte über meine Lippen kamen, überraschten sie mich selbst. Wir schwiegen beide und waren von der Wahrheit überwältigt. Ein Baby würde geboren werden. Tonys Teufelswerk hatte Folgen, und Gott würde uns alle für die Lust eines Wahnsinnigen büßen lassen.
Mama starrte mich nur einen Moment an, und dann trat ein gepreßtes Lächeln auf ihr Gesicht. Wie gern ich es von ihren Zügen gewischt hätte! Sie lehnte sich zurück und faltete die Hände auf dem Schoß.
»Was hast du gesagt?«
Die Tränen strömten jetzt über meine Wangen, und diesmal konnte ich sie nicht zurückhalten.
»Meine Periode ist schon lange überfällig, und in den letzten Tagen war mir jeden Morgen übel. Er hat mich geschwängert.«
Sie schwieg und sah mich an, als hätte ich gerade in einer Fremdsprache gesprochen. »Verstehst du denn nicht, was ich sage, Mama? Alles, was ich dir erzählt habe, war die Wahrheit, und jetzt bekomme ich ein Baby, Tonys Baby!« kreischte ich und hämmerte ihr die Realität so nachdrücklich ein, wie es nur irgend ging.
»Bist du sicher? Stehen die Daten vollkommen fest?«
»Ja.«
Sie schüttelte den Kopf, und ihre Augen wurden klein; sie waren haßerfüllt.
»Das ist deine eigene Schuld, du dummes Mädchen!« zischte sie gehässig.
»Was?« Ich traute meinen Ohren nicht.
Sie lehnte sich zurück und nickte, um sich die eigenen Überlegungen zu bestätigen.
»Du hast dich vor ihm zur Schau gestellt, ihn in Versuchung geführt, ihn mit deinem jungen, aufkeimenden Körper bestürmt. Und jetzt stehst du da mit dem scheußlichen, peinlichen Ergebnis.«
»Ich habe mich nicht vor ihm zur Schau gestellt, Mama. Du weißt doch…«
»Ja, ich weiß. Glaubst du etwa, Tony sei nicht ständig zu mir gekommen und hätte sich darüber beklagt, wie du ihm anzüglich zugezwinkert hast? Und während ich fort war, hast du ihn aufgefordert, in dein Zimmer zu kommen. Was hast du denn von ihm erwartet, wenn du nackt vor ihm liegst und ihn anflehst, mit dir zu schlafen, und ihm drohst, andernfalls…
solche Dinge über ihn zu erzählen?«
»Was? Hat er dir solche Lügen aufgetischt? Wie kannst du so etwas glauben?« fragte ich erbost.
»Und jetzt sieh nur, was du angerichtet hast«, fuhr sie unbeirrt fort, als hätte ich gar nichts gesagt. Sie hatte Ähnlichkeit mit einer Schauspielerin, die ihren Text immer wieder einstudiert hatte und sich weigerte, mehr zu tun, als ihn nun aufzusagen. »Was soll passieren, wenn das rauskommt?
Überleg dir doch nur, was das für mich bedeutet. Was werden meine Freundinnen von mir denken? Dann wird man uns jetzt wohl zu keiner einzigen Gesellschaft mehr einladen, noch nicht einmal zu einem privaten Abendessen. Wir werden aus der Gesellschaft ausgestoßen… und all das nur, weil meine Tochter vom Sex besessen, egoistisch, unbedachtsam… und eifersüchtig ist. Ja, genau das bist du«, behauptete sie und war offensichtlich mit ihrer Erklärung sehr zufrieden, »und das bist du auch schon immer gewesen. Du bist neidisch auf mich, auf mein Aussehen und auf den Umstand, daß ich einen so jungen und gutaussehenden Mann geheiratet habe, statt an deinen Vater angekettet zu bleiben, einen alten Mann, der mich nicht verdient hat.«
»Das ist nicht wahr!«
»Natürlich ist es wahr. Er hat mir doch erzählt, wie du dich in dem Häuschen benommen hast, wie sehr du dich bemüht hast, ihn zu verführen, während du ihm Modell gestanden hast.«
»Lügen, das sind alles Lügen!« protestierte ich. Warum tat sie das bloß? »Ich wollte ihm nicht Modell stehen. Erinnerst du dich denn nicht? Du hast mich dazu gebracht, es zu tun. Und hinterher, als ich dann zu dir gekommen bin…«
»Ja, du bist zu mir gekommen, weil du erreichen wolltest, daß ich eine Abneigung gegen Tony entwickle. Du hast versucht, mich eifersüchtig zu machen. Genau das hast du getan«, schloß sie, und ihre Augen leuchteten auf. »Du hast geglaubt, wenn du diese Geschichten erfindest…«
»Er hat es getan, Mama! Es waren keine erfundenen Geschichten!«
»Er hat dich angefaßt, aber nicht so, wie du es mich glauben machen wolltest. Und als dir all das nichts genutzt hat, hast du ihn in dein Schlafzimmer gelockt. Als er dir widerstehen wollte, hast du ihm die Wahrheit über mein Alter ins Gesicht geschrien, weil du einen Keil zwischen ihn und mich treiben wolltest!« Ich erkannte, daß sie mir das niemals verzieh. »Und weil er eben doch nur ein Mann ist, ist er dir schließlich erlegen, und jetzt sieh dir nur an, was du damit erreicht hast.
Nun, ich hoffe, du bist stolz auf dich, kleine Prinzessin!«
zischte sie. Sie war mir noch nie derart häßlich erschienen.
»Mama, nichts von alledem ist wahr. Das kannst du doch nicht ernsthaft glauben.«
»Und nachdem ich mich so sehr bemüht habe, dich gut zu erziehen, dir verständlich zu machen, wie Männer und Frauen miteinander umgehen sollten und daß eine Frau ihre Tugend standhaft bewahren muß, wenn sie die Achtung und die Bewunderung der Männer erringen will. Ich habe es dir doch gesagt!« schrie sie. »Anständige Mädchen kennen ihre Grenzen!«
Ihr Schrei ließ jegliche Liebe und Achtung, die mir hoch für sie geblieben war, in Stücke springen. Die Gefühle zerbrachen, zersplitterten und sprangen wie eine hauchdünne Porzellanplatte, und die Scherben rieselten durch meine Erinnerung – Bruchstücke aus liebevollen Gesprächen, Momente aus glücklicheren Zeiten, die abgerissenen Laute von klirrenden Glöckchen und Musik aus geliebten Spieldosen, Lachen, kleine Küsse auf meine Wangen und meine Stirn.
Ich ertrug es einfach nicht mehr. Ich war hier nicht die Eifersüchtige, nicht diejenige, die gelogen und Verrat begangen hatte – das war sie. Und jetzt stellte sie mich, um ihre kleine Welt zu bewahren, wie sie sie haben wollte, als die Sündige hin. Mir sollte alle Schuld zugeschoben werden, obwohl ich diejenige war, der Gewalt angetan worden war.
»Du Lügnerin!« brüllte ich zurück. »Du scheinheilige Heuchlerin! Jetzt verdammst du mich dafür, zu weit gegangen zu sein. Ich kenne die Wahrheit über dich. Ich habe mitangehört, als Großmama Jana mit dir geredet hat, und ich weiß, daß Daddy gar nicht mein richtiger Vater ist, daß du mit einem anderen Mann geschlafen hast und schwanger von ihm warst. Du hast Daddy geheiratet, ohne ihm die Wahrheit zu sagen, damit er glaubt, ich sei sein Kind. Ich wußte es, aber ich habe es als ein tiefes Geheimnis in meinem Innersten bewahrt, obwohl es schrecklich schmerzhaft für mich war.«
»Also, das ist ja…« Sie lehnte sich zurück und sah mich bestürzt an.
»Das ist wahr«, unterbrach ich sie. »All das ist wahr. Aber deine Mutter hat dir geholfen, einen Mann zu finden, einen Mann, der dich liebt und achtet.«
»Das ist ja einfach lachhaft«, schnappte sie. Sie sah sich um, als hätten wir einen Zeugen, den sie für sich gewinnen mußte.
»Was erzählst du denn jetzt schon wieder für Märchen? Ist das schon wieder ein Versuch, Tony und mich
auseinanderzubringen?«
»Hör auf! Hör auf zu lügen!«
»Wie kannst du es wagen, mich derart anzuschreien! Ich bin deine Mutter!«
»Nein, das bist du nicht«, sagte ich kopfschüttelnd und wich vor ihr zurück. »Nein, das bist du nicht. Ich habe keine Mutter, und ich habe keinen Vater.« Ich gestattete es mir, ebenso häßliche Worte zu benutzen, wie sie es getan hatte. »Du hast geglaubt, du könntest alles haben, stimmt’s? Nur vom Besten!«
fauchte ich. »Einen gutaussehenden jungen Ehemann, einen luxuriösen Landsitz, eine Garderobe, die nur aus Modellkleidern besteht, und eine von dir gewählte Mätresse für deinen eigenen Ehemann!« Ich senkte die Stimme, um zu schnurren, wie Mama es bei zahllosen Anlässen getan hatte.
»Sag mir eins, Mama, wann bist du zum ersten Mal auf den Gedanken gekommen? In euren Flitterwochen? Bei der Rückkehr nach Farthy?« Meine Fragen wurden immer sarkastischer, und ich erlaubte Mama keine Antwort, wie sie es allzu häufig mit mir getan hatte. »Wann hast du erkannt, daß deine Schönheit nicht ewig währt, sondern verwittert?« Ich lachte ihr ins Gesicht. »Genauso ist es, du verwelkst! Du wirst von Tag zu Tag älter, Mama. Aber in deinem tiefsten Innern hast du das schon immer gewußt. Ich kann dich nicht mehr ertragen! Dir ist alles andere gleichgültig, nur nicht du selbst und dein kostbares Gesicht. Laß dir eins von mir sagen, Jillian Tatterton, das Spiel ist aus! Du wirst Großmutter! Gibt dir das das Gefühl, jung zu sein? Wenn du auch noch so jung aussehen magst, dann kannst du doch niemals vor der Tatsache davonlaufen, daß du Großmutter bist, und der einzige Mensch, dem du das vorwerfen kannst, bist du selbst!« Ich wandte mich ab und verließ ihre Suite. Ich lief vor ihren Lügen und ihren scheinheiligen Blicken davon. Ich schlug die Tür meines Zimmers hinter mir zu, aber ich weinte nicht. An diesem abscheulichen Ort würde ich nicht mehr weinen. Ich haßte dieses Haus, und mir war verhaßt, was sich hier abgespielt hatte, aber mir war auch verhaßt, was dieser Ort aus mir gemacht hatte. Ich wußte nur noch eins: Ich mußte von hier verschwinden, von diesem Ort der Sünden, der Lügen und der Scheinheiligkeit.
Ich riß die Tür meiner Kleiderkammer auf und schnappte mir einen Koffer. Ich warf achtlos ein paar Kleidungsstücke in den Koffer. Ich machte mir nichts aus meinen schönen Sachen und meinem kostbaren Schmuck. Ich wollte nur noch so schnell wie möglich von hier verschwinden.
Ich klappte meinen Koffer zu und wollte die Suite verlassen, doch in der Tür blieb ich noch einmal stehen und sah mich um, als hätte mich jemand gerufen. Angel starrte mich durch das Zimmer an. Sie wirkte so traurig und verloren, wie ich es war.
Wie hätte ich sie zurücklassen können? Ich zog sie in meine Arme und stürzte mit dem Koffer in der Hand aus dem Zimmer.
Erst als ich die Treppe hinter mich gebracht hatte, blieb ich stehen, um mich zu fragen, was ich eigentlich tat und wohin ich gehen wollte. Ich konnte Farthy nicht zu Fuß verlassen. Im Umkreis von Meilen war weit und breit nichts.
Großmama Jana, dachte ich. Ich mußte zu ihr fahren. Sie konnte mich sicher verstehen. Sie kannte Mama und wußte, was für ein Mensch sie wirklich war. Ich mußte ihr alles erzählen, was sich abgespielt hatte. Ich sah in mein Portemonnaie und stellte fest, daß ich kaum zwanzig Dollar hatte, nicht genug, um die Reise nach Texas zu bezahlen. Ich erinnerte mich daran, wo Tony in seinem Büro kleinere Geldbeträge aufbewahrte, und ich ging hin, um mir das Geld zu holen. Warum auch nicht? dachte ich. Wenn mir jemand etwas schuldig war, dann doch wohl Tony.
In einer Schreibtischschublade lagen fast zweihundert Dollar.
Das war zwar kaum ein Vermögen, aber es reichte doch für den Anfang aus. Ich stopfte das Geld in mein Portemonnaie, richtete mich auf und sah in einen Spiegel. Ich strich mir das Haar zurück, wischte mit einem Taschentuch meine Wangen ab und holte tief Luft. Ich wollte nicht so verzweifelt aussehen, wie mir zumute war. Ich hatte die Absicht, aus dem Haus zu gehen und Miles ganz beiläufig zu bitten, mich nach Boston zu bringen. Falls er Verdacht schöpfte, könnte er meine Mutter fragen, ob es ihr recht war.
Ich trat aus dem Büro und schloß die Tür leise hinter mir. Im Haus war es still. Meine Mutter war wahrscheinlich längst wieder mit ihrer Toilette beschäftigt. Schließlich ging ihr nichts über ihr Aussehen, und sie hatte Leute eingeladen, die sie beeindrucken wollte. Curtis kam aus dem Musikzimmer und blieb stehen. Ich lächelte ihn an und versuchte, alles ganz normal erscheinen zu lassen. Er nickte mir kurz zu und ging weiter zur Küche.
Dann trat ich aus der Haustür. Die Sonne schien so hell, daß ich blinzelte und mir die Hand über die Augen hielt. Es war ein sehr warmer Tag, und große Wolken waren hoch über den tiefblauen Himmel verteilt. Eine sachte laue Brise streichelte mein Gesicht. Die Welt hieß mich willkommen, ermutigte mich, aus dem finsteren, verwunschenen Königreich zu fliehen, das sich Farthinggale nannte.
Miles stand vor dem Haus und polierte den Wagen. So mußte ich ihn nicht erst suchen und dabei die Aufmerksamkeit der Gartenarbeiter auf mich lenken. Er sah auf, als ich auf ihn zukam.
»Ich bin doch nicht zu früh?« fragte ich und lächelte. Ich sah auf meine Armbanduhr und hielt sie ihm dann hin, damit er selbst sehen konnte, wie spät es war.
»Wie?« Er legte sein Poliertuch weg und sah mich verwirrt an. »Hätte ich Sie heute nachmittag irgendwo hinfahren sollen?«
»Zum Bahnhof, Miles. Sagen Sie bloß nicht, daß meine Mutter vergessen hat, es Ihnen heute morgen zu sagen.«
»Nein, sie hat mir nichts gesagt. Ich…«
»Das sieht ihr ähnlich. Wenn sie eine ihrer Wohltätigkeitsveranstaltungen plant, ist sie so aufgeregt und durcheinander, daß sie alles andere vergißt«, flötete ich. Ich wußte, daß er mir glauben würde. »Ich werde meine Großmutter besuchen. Es ist alles vereinbart. Ich fürchte, wir müssen auf der Stelle losfahren, weil ich sonst meinen Zug verpasse.«
»Aber…« Er sah am Haus hinauf.
»Miles?« Ich hob meinen Koffer hoch und sah ihn auffordernd an.
»Ach ja.« Er nahm ihn mir eilig ab und brachte ihn im Kofferraum der Limousine unter. »Ich kann nicht verstehen, warum Curtis mich nicht daran erinnert hat. Er sagt mir doch immer Bescheid, wenn jemand gefahren werden soll.«
»Vielleicht hat Mama auch nicht daran gedacht, es ihm zu sagen«, sagte ich. »Können wir fahren?«
»Was? Ach so, ja.« Er hielt mir die Tür auf, und ich glitt rasch auf den Sitz. Dann stieg Miles auch ein und startete den Motor. Ich behielt die Haustür im Auge und rechnete halbwegs damit, meine Mutter plötzlich schreiend auftauchen zu sehen.
Aber sie erschien nicht, und Miles steuerte auf die lange, gewundene Auffahrt zu. Ich sah aus dem Seitenfenster, und plötzlich entdeckte ich den kleinen Troy und seine Krankenschwester, die von einem Spaziergang am Meer zurückkehrten. In meiner Aufregung und meiner Wut hatte ich nicht nur ihn vollständig vergessen, sondern auch, was mein Fortgehen für ihn bedeuten würde.
»O nein«, murmelte ich vor mich hin. »Troy. Miles«, rief ich.
»Halten Sie doch bitte einen Moment an. Ich habe vergessen, mich von Troy zu verabschieden.«
Ich sprang aus dem Wagen und rief nach Troy. Ich winkte ihm zu. Er blieb stehen und kam dann auf mich zugerannt und schwenkte dabei sein kleines Eimerchen.
»Leigh. Ich habe die größte Muschel gefunden, die du je gesehen hast«, bestürmte er mich. »Sieh nur.« Er blieb atemlos vor mir stehen und stellte seinen Eimer ab. Oben auf vielen kleineren Muscheln lag eine rosa-weiß gemusterte Schneckenmuschel.
»Die ist aber wirklich groß.«
»Und man kann das Rauschen des Meeres in ihr hören.« Er hob sie hoch und hielt sie mir hin. »Hör nur.«
Ich hielt sie mir ans Ohr und nickte lächelnd.
»Das klingt ja ganz so, als käme das Wasser gleich raus und würde mich ganz naß machen«, staunte ich und zog mein Ohr weg, als fürchtete ich mich wirklich. Er lachte.
»Es ist nicht wirklich da drinnen.« Er nahm die Muschel wieder und legte sie in seinen Eimer. Dann sah er die Limousine an. »Wohin fährst du, Leigh?«
»Ich muß für einige Zeit fort, Troy.« Ich nahm seine kleine Hand in meine und kauerte mich hin, um ihm in die Augen sehen zu können. »Und du wirst ein braver Junge sein und versuchen, dich auszuruhen und ordentlich zu essen, solange ich weg bin, ja?«
»Aber wann kommst du zurück?«
»So schnell nicht, Troy.«
»Wird es lange dauern?« Ich nickte. »Dann will ich mit dir kommen.«
»Das geht nicht, Troy. Du mußt hierbleiben, weil du hier gut versorgt wirst.«
»Aber wohin gehst du?« fragte er wieder, und Tränen traten in seine Augen.
»Ich besuche meine Großmutter.«
»Wie kommt es, daß du bisher nie bei ihr warst?« fragte er skeptisch, da sein kleiner Verstand schnell und gut funktionierte.
»Ich hatte bisher immer zuviel zu tun«, log ich.
»Kommst du in Wirklichkeit gar nicht mehr zurück, Leigh?«
fragte er leise.
»Doch, natürlich«, behauptete ich. Ich lächelte und drängte die dicken Tränen zurück, die in meine Augen schossen.
»Nein, du kommst nicht zurück«, sagte er und wich vor mir zurück. »Du verläßt mich und Farthy. Du kommst nicht zurück. Nein, ganz bestimmt nicht.«
»Ich werde zurückkommen, Troy. Ich verspreche es dir.
Irgendwann werde ich wieder zu dir kommen.«
»Versprochen?«
»Hand aufs Herz. Komm, gib mir zum Abschied einen Kuß.
Bitte«, flehte ich ihn an. »Andernfalls werde ich eine schreckliche Reise haben.« Ich verzog das Gesicht und schnitt eine Grimasse, die besagte, daß ich jetzt schon ganz außer mir war.
Er erbarmte sich und legte seine kleinen Arme um meinen Hals. Ich gab ihm einen Kuß auf die Wange und drückte ihn fest an mich. Dann gab er mir einen Schmatz und wich zurück.
Ich stand auf, lächelte ihm zu und ging zum Wagen zurück.
»Leigh!« rief er. »Warte!«
Ich blieb an der Tür stehen. Er griff in seinen Eimer und holte die Schneckenmuschel heraus.
»Nimm sie mit«, bot er mir an.
»O nein, Troy. Die wirst du behalten.«
»Nein«, sagte er und schüttelte heftig den Kopf. »Nimm sie mit, dann wirst du mich nicht vergessen.«
»Ich kann dich ohnehin nicht vergessen, Troy. Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, sagte ich, doch er blieb beharrlich dort stehen und hielt mir die Schneckenmuschel hin. »Na gut. Ich danke dir.«
»Wenn du sie dir ans Ohr hältst, wirst du das Meer und mich hören«, versprach er und drehte sich um, um wieder zu seiner Krankenschwester zu laufen. Ich sah ihm noch einen Moment lang nach und stieg dann in den Wagen.
»Lassen Sie uns bitte losfahren, Miles«, sagte ich. »So schnell wie möglich.«
Er verzog das Gesicht und sah mich immer noch mit einem gewissen Argwohn an, doch dann fuhren wir los. Wir kamen durch das Haupttor, aber ich sah mich nicht um. Statt dessen hielt ich mir Troys Muschel ans Ohr und lauschte, und dabei hörte ich seinen leisen Ruf.
Er rief nach mir. »Leigh… Leigh…«
19. KAPITEL
EIN BESUCH IM ZIRKUS
Ich war noch nie allein verreist, aber ich ließ mir meine Ängste und Unsicherheiten nicht anmerken. Als wir am Bahnhof angekommen waren, holte Miles meinen Koffer aus dem Kofferraum der Limousine und wartete meine Anweisungen ab.
»Ich kann den Koffer jetzt selbst nehmen, Miles«, erklärte ich.
»O nein, Miß Leigh. Ich übergebe ihn dem Gepäckträger.
Wohin wollen Sie?«
»Es ist schon gut, Miles. Ich möchte von jetzt an ganz auf mich gestellt sein. Mir gefällt die Vorstellung, allein zu verreisen«, behauptete ich und lächelte ihn freundlich an, um meine Nervosität zu verbergen. Er zögerte einen Moment, ehe er meinen Koffer abstellte.
»Nun, dann wünsche ich Ihnen eine gute Reise, Miß Leigh«, sagte er.
»Danke, Miles.« Ich nahm schnell meinen Koffer und lief in den Bahnhof. Auf dem Weg blieb ich noch einmal stehen, um ihm zuzuwinken. Ob ich ihn wohl je wiedersehen würde? Er stand da und starrte hinter mir her, aber er folgte mir nicht.
Viele Leute eilten durch den Bahnhof, und es wurden Ansagen zu den verschiedenen Zügen und Zielorten gemacht.
Dieser ganze Rummel war aufregend, aber gleichzeitig auch erschreckend. Ich sah einen großen rothaarigen Polizisten an einem Zeitungsstand stehen. Er sah jung aus und hatte ein freundliches Gesicht, und daher ging ich direkt auf ihn zu.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich, »aber könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich eine Fahrkarte nach Texas kaufen kann?«
»Nach Texas?« fragte er lächelnd. »Texas ist ein großer Staat.«
Der Mann hinter dem Zeitschriftenstand lachte. »Sie wissen doch sicher, wohin Sie dort wollen, oder?«
»Ja, Sir, natürlich weiß ich das.«
»Biegen Sie an der nächsten Ecke nach rechts in den Gang ab«, sagte er, »und am Ende des Ganges finden Sie die Fahrkartenschalter.«
»Danke«, sagte ich.
»Sagen Sie, das ist wirklich eine hübsche Puppe, die Sie da im Arm haben, genauso hübsch wie Sie«, sagte er. Ich hatte ganz vergessen, wie fest ich Angel umklammerte. Ich lächelte und machte mich auf den Weg. »Sie laufen doch nicht etwa von zu Hause weg, oder?« rief er mir nach.
»O nein, Sir.«
Er und der Zeitschriftenverkäufer lachten wieder. Als ich am Fahrkartenschalter stand, verlangte ich eine Fahrkarte nach Fullerton, Texas. Das war wirklich alles, was ich über den Wohnsitz von Großmama Jana wußte. Wenn ich dort ankam, könnte ich sie anrufen und sie bitten, mich abzuholen.
Der Fahrkartenverkäufer grinste breit.
»Fullerton, Texas?« Er sah in seine Fahrpläne. »Da fährt kein Zug durch, Miß. Wie heißt denn der nächste größere Ort?«
»Oh, ich bin nicht sicher. Ich glaube…«
»Houston? Dallas? El Paso?«
Ich geriet in Panik. Wenn ich mich nicht schnell entschied, glaubte er gewiß, daß ich eine Ausreißerin war. Dann konnte es sogar passieren, daß er den Polizisten zu sich winkte, und nichts wäre gräßlicher, peinlicher und erniedrigender gewesen, als in einem Polizeiwagen nach Farthy zurückgebracht zu werden, während Mama ihre Gäste begrüßte.
»Dallas«, sagte ich eilig. Mir ging es nur darum, nach Texas zu kommen. Wenn ich erst einmal in ihrer Nähe war, konnte ich Großmama Jana anrufen.
»Gut, Dallas«, sagte er. »Das Beste, was ich Ihnen anbieten kann, ist eine Fahrkarte nach Atlanta, und dort müssen Sie umsteigen. Dort werden Sie jedoch länger Aufenthalt haben, es sei denn, Sie nehmen den Zug morgen früh.«
»Nein, mir macht der Aufenthalt nichts aus«, stammelte ich.
»Nun gut. Eine Rückfahrkarte, nehme ich an?«
»Nein«, entgegnete ich rasch. »Einfach.«
»Erste Klasse, zweite Klasse oder Schlafwagen?«
»Erste Klasse«, erwiderte ich.
Er nickte und machte sich daran, meine Fahrkarte auszufüllen. »Das macht dann einhundertzweiundsechzig Dollar.«
Einhundertzweiundsechzig! Somit blieb mir nicht mehr viel Geld für alles andere. Vielleicht hätte ich doch die zweite Klasse nehmen sollen, dachte ich, aber ich zahlte, ohne zu zögern. Ich wollte mir nicht anmerken lassen, daß ich nicht viel Geld für die Reise bei mir hatte. Er gab mir die Fahrkarte.
»Sie fahren von Bahnsteig C ab, in circa fünfzehn Minuten.
Das ist dort drüben rechts. Sie können den Bahnsteig nicht verfehlen.«
»Danke.« Ich nahm meine Fahrkarte und machte mich auf den Weg. Als ich jetzt tatsächlich die Fahrkarte in der Hand hielt und mich auf den Weg zum Bahnsteig machte, wurde mir plötzlich erst wirklich bewußt, was ich tat. Mein Herz pochte so heftig, daß ich glaubte, ich würde ohnmächtig umfallen und Aufsehen erregen.
Es gab kein Zurück, dachte ich, und nachdem der Zug ratternd in den Bahnhof eingefahren war, stieg ich ein, sobald die Türen geöffnet wurden. Ich fand schnell mein Abteil und setzte mich auf einen Fensterplatz. Dann hob ich meinen Koffer ins Gepäcknetz, setzte Angel dicht neben mich und wartete angespannt. Es war noch Platz für mindestens drei andere Leute, aber nur ein älterer Herr kam in mein Abteil. Er nickte mir zu, lächelte, setzte sich und fing augenblicklich an, Zeitung zu lesen.
Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Mein Herz schlug im Takt der Räder, die sich auf den Schienen drehten. Der Bahnhof verschwand hinter uns, und wir schossen ins Zwielicht hinaus und fuhren nach Süden, fort von der einzigen Welt, die ich je gekannt hatte.
»Ihre Fahrkarte, Miß«, sagte der Schaffner. Ich hielt sie fest umklammert und reichte sie ihm schnell. Er lochte sie und lächelte. Ich lehnte mich zurück und sah aus dem Fenster, als sich der Zug voranschlängelte und mich in die Tunnel der Dunkelheit und über die
Berge neuen Horizonten
entgegenbrachte. Wir schienen in die hereinbrechende Nacht zu fahren, und die Dunkelheit kroch auf uns zu. Ich konnte vereinzelte Sterne sehen, die durch die Wolken funkelten. Sie waren mir nie ferner erschienen als jetzt.
Der Zug fuhr und fuhr. Von Zeit zu Zeit sah ich die Lichter anderer Städte oder alleinstehender Häuser in der Ferne, und ein warmer gelber Schein drang durch die Fenster. In diesen Häusern saßen Familien zusammen beim Abendessen. Diese Kinder fühlten sich bei Eltern, die sie liebten, geborgen und in Sicherheit. Sie waren nicht so reich wie ich, und ihr Zuhause hätte man in einem kleinen Winkel von Farthinggale Manor unterbringen und dort gänzlich übersehen können, aber sie schliefen heute nacht in ihren eigenen Betten, und ihre Eltern gaben ihnen einen Gutenachtkuß. Mütter deckten kleine Kinder sorgsam zu. Väter küßten sie auf die Wangen oder auf die Stirn und versprachen ihnen einen noch schöneren oder glücklicheren nächsten Tag.
Ich hatte niemanden, der mir einen glücklicheren oder schöneren Tag versprach, niemanden außer Angel. Sie und ich saßen da wie zwei Kinder, die sich verlaufen hatten und ins Unbekannte zogen. Wir waren müde und hungrig und fühlten uns jetzt schon reichlich einsam. Der Herr, der mir gegenübersaß, musterte mich zwar neu gierig, als ich Angel entschlossen auf meinen Schoß setzte, aber ich ließ sie dort sitzen und drückte sie fest an mich, als der Zug weiter rollte.
Mein Entschluß stand fest. Es gab kein Zurück mehr, weder jetzt noch irgendwann. Bald ließ mich der monotone Rhythmus der Räder müde werden, und ich schlief ein.
Mitten in der Nacht erwachte ich jäh. Es war dunkel im Abteil, aber die Lichter in den Gängen brannten, und daher konnte ich mich schnell wieder erinnern, wo ich war und was ich getan hatte. Der Herr mir gegenüber war mit der aufgeschlagenen Zeitung auf dem Schoß eingeschlafen. Sein Körper wankte mit den Bewegungen des Zugs von einer Seite auf die andere. Ich rollte mich wieder zusammen und schloß die Augen. Wenige Momente später war ich wieder eingeschlafen.
In der ersten Morgendämmerung erwachte ich und sah auf Bauernhöfe und ebene Felder hinaus. Der ältere Herr war bereits wach.
»Wie weit fahren Sie, Miß?« fragte er.
»Bis Atlanta.«
»Ich steige an der nächsten Station aus. Sie haben noch rund fünf Stunden vor sich. Sie können im Speisewagen frühstücken. Eine sehr hübsche Puppe«, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung auf Angel. »Ich glaube nicht, daß ich schon einmal eine so schöne Puppe gesehen habe«, fügte er mit einem bewundernden Lächeln hinzu.
»Danke.«
»Sie fahren nach Hause?«
Ich hielt es für besser, ja zu sagen. Auf gewisse Weise war ich vielleicht sogar auf dem Heimweg, dachte ich zu meiner Rechtfertigung.
Er streckte sich.
»Ich auch«, sagte er. »Ich bin fast einen Monat unterwegs gewesen. Ich bin Handlungsreisender, Schuhe für den Großhandel.«
»Es muß hart für Sie sein, so lange von Ihrer Familie getrennt zu sein.«
»Das kann man sagen. Es gibt nichts Schöneres, als nach Hause zu kommen. Meine Kinder sind natürlich alle schon erwachsen. Trotzdem freue ich mich. Wir haben fünf Enkel«, fügte er hinzu und lächelte voller Stolz.
Ich lächelte zurück, und dann dachte ich daran, daß Mama auch bald ein Enkelkind haben würde, sich aber bestimmt nicht so darüber freute wie dieser Mann. Ihr Enkelkind war von ihrem neuen Ehemann gezeugt worden. Die krankhaft verzerrte und finstere Welt von Farthy würde mein Baby für alle Zeit verfolgen. Das war fast ein Grund, es nicht zu behalten.
Aber vielleicht konnte ich eine andere Welt finden, eine Welt, die vollkommen anders als Farthy war, und vielleicht konnte ich mein Kind in diese Welt mitnehmen. Könnte ich es doch nur, könnte ich es doch nur, könnte ich es doch nur. Zum Rhythmus der Räder sagte ich es immer wieder vor mich hin wie ein stummes Gebet. Dann lehnte sich mein Magen vor Hunger auf.
»Ich denke, ich sollte etwas frühstücken«, meinte ich und stand auf.
»Ich kann auf Ihre Puppe aufpassen«, bot sich der Herr an.
»O nein, Sir. Wohin ich auch gehe, ich nehme sie immer mit«, sagte ich. »Und außerdem ist sie genauso hungrig wie ich.«
Er lachte, und ich ging, um den Speisewagen zu suchen.
Der Mann war schon ausgestiegen, als ich zurückkam. Die nächsten dreieinhalb Stunden verbrachte ich allein und sah aus dem Fenster. Als ich die Durchsage hört, daß wir in Kürze Atlanta erreichten, fing mein Herz wieder an zu pochen. Die erste Etappe meiner langen, traurigen Reise war vorüber. Ich war weit weg von Farthy, und inzwischen war Mama mit Sicherheit außer sich vor Wut. Ich fragte mich, was sie unternehmen würde. Ob sie die Polizei verständigte, oder hatte sie Angst vor einem Skandal? Versuchte sie, mit Tony in Europa Kontakt aufzunehmen?
Eins war sicher, dachte ich, sie würde ihre Wohltätigkeitsveranstaltung auf Farthy nicht abbrechen.
Niemand, der zu Besuch kam, hätte ihrem Gesicht ansehen können, daß etwas nicht stimmte, und sie hatte sicherlich das Personal angewiesen, niemandem gegenüber auch nur ein Wort über die Ereignisse zu erwähnen.
Ich blieb einen Moment lang auf dem Bahnsteig stehen und las alle Schilder, die den Fahrgästen Auskunft darüber gaben, wo sie welche Anschlüsse bekamen. Der Bahnhof von Atlanta war größer als der in Boston, und es schienen riesige Menschenmengen durch die Gegend zu eilen. Ich fand einen Informationsschalter in der großen Schalterhalle und zeigte der jungen Frau, die dort saß, meine Fahrkarte.
»Sie müssen dort drüben nach links abbiegen und dann gleich wieder nach rechts. Sie werden die Schilder sehen, aber Ihr Zug fährt nicht vor acht Uhr heute abend ab.«
Ich kaufte mir eine Illustrierte, bevor ich auf den richtigen Bahnsteig ging. Er war wesentlich breiter und länger als der Bahnsteig in Boston. Gleich rechts daneben war ein kleiner Wartesaal, und ich ging direkt darauf zu und setzte mich ziemlich weit hinten auf eine Bank. Dann zählte ich mein Geld. Ich hatte nicht mehr viel übrig und hoffte, daß es noch für ein Mittag- und ein Abendessen ausreichte.
»Ich wette, daß ich einen der Eindollarscheine in einen Fünfdollarschein verwandeln kann«, sagte jemand, und als ich aufblickte, sah ich in die leuchtendsten schwarzen Augen, die ich je gesehen hatte. Der junge Mann, der vor mir stand, hatte dichtes dunkles Haar, das wie Ebenholz schimmerte, und seine Haut war gebräunt. Er war groß, sah gut aus und hatte breite Schultern, die die Nähte seines dünnen, kurzärmeligen Hemds zu sprengen schienen.
»Wie bitte?«
»Du brauchst mir nur einen dieser Dollarscheine einen Moment lang anzuvertrauen, und dann zeige ich es dir«, sagte er und setzte sich neben mich. Ich weiß nicht, warum ich es tat, aber ich reichte diesem Jungen einen meiner wertvollen Dollarscheine. Ich wußte, daß arglose Reisende, insbesondere junge Mädchen wie ich, Opfer von Schwindlern und Gaunern werden konnten. Aber er gefiel mir.
Soweit ich sehen konnte, hatte er nichts in den Händen, und er hatte auch keine langen Ärmel, unter denen er etwas verbergen konnte. Er faltete meinen Dollar vor meinen Augen sorgsam, sooft es ging. Dann schloß er die Hand darum und drehte sie um, und ich konnte nur noch seine geschlossene Faust von oben sehen. Er hielt sie vor mich hin und lächelte.
»So, und jetzt berühre meine Hand«, forderte er. Seine Augen funkelten vergnügt.
»Ich soll deine Hand berühren?« Er nickte. Ich legte einen Finger auf den Knöchel seines Mittelfingers und zog ihn schnell wieder zurück. Er lachte.
»Du wirst dir die Finger schon nicht verbrennen, aber es hat genügt«, sagte er und drehte seine Hand um. Die Handfläche wies jetzt wieder nach oben. Dann faltete er vor meinen Augen den Schein auseinander, und es stimmte wahrhaftig – es war ein Fünfdollarschein!
»Wie hast du das gemacht?« fragte ich mit aufgerissenen Augen.
Er zuckte mit den Achseln. »Zauberei, was sonst? Jedenfalls hat es geklappt, und jetzt nimm deine fünf Dollar«, sagte er und reichte mir den Schein. »So, wie du dein Geld bis auf den letzten Penny gezählt hast, sieht es ganz danach aus, als könntest du vier Dollar mehr gebrauchen«, sagte er.
»Ach, ja?« Mein Gesicht wurde glutrot. »Ich bin es jedenfalls nicht gewöhnt, Geld von Fremden anzunehmen, noch nicht einmal Zaubergeld«, erwiderte ich und drückte ihm den Fünf dollarschein wieder in die Hand.
»Na gut, dann bin ich eben kein Fremder«, sagte er. Er lehnte sich zurück und hielt die Hände mit den Handflächen nach oben vor sich hin. »Ich heiße Thomas Luke Casteel, aber so ziemlich alle nennen mich einfach Luke. Und wer bist du?« Er hielt mir die Hand hin.
Ich starrte ihn an und wußte nicht, ob ich lachen oder aufstehen und weggehen sollte. Er sah zu gut aus, um ein Betrüger zu sein, fand ich; oder besser gesagt, ich hoffte es.
»Leigh van Voreen.« Ich drückte ihm die Hand.
»Siehst du, jetzt sind wir keine Fremden mehr, und du kannst das Zaubergeld behalten.«
»Ich brauche es wirklich nicht. Ich habe genug, um mein Ziel zu erreichen. Ich bestehe darauf, daß du den Schein wieder in meinen Dollar zurückverwandelst.«
Er lachte. »Den Zauber, mit dem man das Geld zurückverwandelt, kenne ich nicht. Tut mir leid.«
»Es ist sehr dumm von dir, dein Geld zu verschenken.«
Er zuckte mit den Achseln. »Wie gewonnen, so zerronnen.
Außerdem war es weit mehr als vier Dollar wert, dein Gesicht zu sehen, als ich dir meinen Trick vorgeführt habe«, sagte er und sah mich fest an. Ich spürte, wie ich errötete.
»Bist du ein Zauberer?«
»Eigentlich nicht. Ich habe hier in der Nähe in einem Zirkus gearbeitet, und von den Zirkusleuten habe ich viele Tricks gelernt. Es ist phantastisch, solche Leute zu kennen. Sie halten zusammen und gehen gemeinsam durch dick und dünn. Sie sind unglaublich hilfsbereit, und manche von ihnen sind schon um die ganze Welt gereist und wissen sehr viel. Einfach dazusitzen und ihnen zuzuhören, wenn sie miteinander reden –
da kann man viel lernen. Wissen und Erfahrung sind die Dinge, die einen älter machen«, fügte er stolz hinzu.
»Du siehst nicht allzu alt aus.«
»Ich bin siebzehn. Aber allzu alt scheinst du auch nicht zu sein.«
»Ich bin fast vierzehn.«
»Na, dann sind wir ja nicht viel älter als Romeo und Julia«, sagte er. »Die Herzogin hat mir von ihnen erzählt. Sie war in Europa Schauspielerin. Jetzt tritt sie in der Messerwerfernummer mit ihrem Mann auf.«
»Soll das heißen, daß sie dasteht, während er Messer dicht neben sie wirft?«
»Ja.«
»Das könnte ich nie. Und was wäre, wenn ihr Mann wütend auf sie wäre?« fragte ich.
Luke lachte wieder. »Darüber werden in allen Zelten Witze gemacht. Es ist nicht so gefährlich, wie es aussieht. Es ist eine reine Frage der Technik wie bei fast allen anderen Zirkusnummern auch, aber genau das ist es, was ich am Zirkus liebe – die Illusionen, die Scheinwelt, die Spannung.«
»Das klingt, als könnte es Spaß machen. Was tust du dort?«
»Ich habe nur nebenher dort gearbeitet, weil ich einfach dabeisein wollte. Ich will eines Tages Kundenfänger für einen Zirkus werden, du weißt schon, der Mann, der die Leute anlockt.« Er sprang auf und rief: »Kommt, ihr Leute, hereinspaziert zur größten Schau der Welt. Wir haben einäugige Riesen, eine Schlangenfrau, die bärtige Dame, Boris, den Löwenbändiger, die tollsten Akrobaten und Trapezkünstler!« zählte er auf, als stünde er auf einem Podest.
Leute, die in der Nähe saßen, drehten sich zu uns um, aber es schien ihn nicht zu stören, daß er die Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Wie mache ich das?«
»Ausgezeichnet.«
»Danke, ich übe ständig, aber es ist schwer, denn da, wo ich herkomme, wissen die Leute nicht viel über den Zirkus. Sie wissen überhaupt ziemlich wenig«, sagte er betrübt.
»Woher kommst du?«
»Aus einer Gegend in West-Virginia, die man unter dem Namen ›The Willies‹ kennt. Das ist in den Bergen oberhalb von Winnerrow«, erklärte er, und ich merkte, daß er eine tiefe Zuneigung zu seiner Heimat hatte. »Wenn man lange genug in den Bergen lebt, bekommt man einfach Zustände – vor allem wenn die Wölfe heulen und die Luchse schreien. Dort oben streifen wilde Tiere durch die Gegend. Man muß gut auf seine Welpen aufpassen«, fügte er hinzu und lachte.
»So, wie du das sagst, klingt es nicht sehr verlockend. Kein Wunder, daß du fortgegangen bist, um im Zirkus zu arbeiten.«
»Nein, das war nur Spaß. So schlimm ist es dort gar nicht.
Eigentlich vermisse ich sogar die Ruhe und den Frieden der Wälder. Die meiste Zeit hört man nur die Vögel singen oder das Rauschen eines kristallklaren Gebirgsbachs in der Nähe.
Und die Gerüche fehlen mir – das saftige grüne Laub im Sommer, die Fichtennadeln, die wildwachsenden Blumen. Es ist schon toll, Eichhörnchen aus der Nähe zu sehen, und wenn morgens die Sonne aufgeht und ihren Kopf über die Berge hebt oder durch die Bäume lugt, dann fühlt man sich… ich weiß es nicht… lebendig, nehme ich an.«
»Und jetzt stellst du es einfach herrlich hin«, sagte ich. »Was von beidem stimmt?«
»Beides. So, und wohin fährst du?«
»Ich fahre nach Texas«, sagte ich. »Fullerton, Texas. Ich will zu meiner Großmutter.«
»Ach? Und wo kommst du her?«
»Aus Boston und Cape Cod.«
»Wie kannst du von zwei Orten kommen?« fragte er. Ich lachte, doch das schien ihn zu verletzen. Ich merkte, daß er ein sehr sensibler junger Mann war, der nicht für dumm gehalten werden wollte.
»Meine Familie ist an mehreren Orten zu Hause«, erzählte ich. »Ich bin in Boston aufgewachsen, aber ich habe außerhalb von Boston gewohnt.«
Er nickte. »Klingt, als hättest du recht.«
»Was soll das heißen?«
»Du hast es nicht nötig, daß ich deinen Einer in einen Fünfer verwandle«, sagte er verdrossen. Ich starrte ihn einen Moment lang an und schüttelte dann den Kopf.
»Doch, ich kann ihn gut gebrauchen«, gestand ich.
Seine Augen drückten Interesse aus. »Wieso?«
»Ich habe nicht genug Geld mitgenommen, als ich weggegangen bin. Ich hatte keine Ahnung, wieviel eine Fahrkarte kostet.«
Er nickte nachdenklich. »Wahrscheinlich bist du überstürzt abgereist. Stimmt das?« fragte er, doch ich schaute ihn nicht an. »Sag mal, was ist das, was du so fest an dich preßt?« Er beugte sich vor, um Angel besser sehen zu können. »Eine Puppe!« rief er erstaunt.
Meine Augen sprühten Funken. »Das ist nicht einfach irgendeine Puppe; es ist eine ganz besondere Puppe, ein Sammlerstück. Es ist ein Kunstwerk«, sagte ich mit scharfer Stimme.
»Ach so, ich verstehe. Entschuldige, bitte. Darf ich sie mir mal genauer ansehen? Ich verspreche dir auch, daß ich vorsichtig mit ihr umgehe.«
Ich sah ihn fest an. Er machte einen so aufrichtigen Eindruck, daß ich ihm Angel reichte. Er nahm sie behutsam entgegen und betrachtete ihr Gesicht. Dann pfiff er durch die Zähne.
»Du hast recht. Das ist wirklich ein Kunstwerk. Ich habe noch nie eine Puppe gesehen, die so liebevoll bis in alle Einzelheiten gearbeitet ist.« Er ließ sie sinken und musterte mich. Dann sah er die Puppe wieder an. »Warte mal. Diese Puppe sieht dir sehr ähnlich.«
»Das soll sie auch«, erwiderte ich und nahm sie behutsam an mich. »Ich… ich habe dafür Modell gestanden.«
»Ach, das ist ja wirklich etwas ganz Besonderes, und auch die Kleider scheinen ziemlich fein zu sein.«
»Das sind sie auch.«
»Na, das erklärt doch, warum du dich an deine Puppe klammerst, als hinge dein Leben davon ab.«
»Ich klammere mich nicht an sie, als ginge es um mein Leben«, versetzte ich.
Er lachte wieder. Wenn er lächelte, trat ein warmer Glanz in seine Augen. Nichts an seinem Lächeln war höhnisch, anzüglich oder gekünstelt; es ließ sich nicht mit Tonys hämischem Spott vergleichen. Lukes Lächeln wärmte mich und gab mir ein Gefühl von Sicherheit.
»Ich wollte dich doch nur aufziehen. Und wohin mußt du von hier aus fahren?«
»Nach Texas. Dallas.«
»Das ist noch weit. Wann fährt dein Zug ab?«
»Leider erst um acht Uhr abends.«
»Um acht Uhr abends! Das sind ja noch endlose Stunden. Du kannst doch nicht die ganze Zeit hier sitzen bleiben. Hier ist es staubig und schmutzig und laut. Kennst du denn niemanden in Atlanta?« Ich schüttelte den Kopf, und er dachte einen Moment nach. »Hättest du Lust, dir den Zirkus anzusehen? Ich kann dich umsonst reinbringen. Die Zeit würde schneller vergehen, und später kann ich dich wieder zum Bahnhof bringen.«
»Ich weiß nicht so recht. Ich…«
»Warst du je in einem Zirkus?«
Ich dachte nach. Als kleines Mädchen war ich einmal in Europa im Zirkus gewesen, aber ich konnte mich kaum noch daran erinnern.
»Nein«, sagte ich.
»Dann ist die Sache doch entschieden«, rief Luke und schlug die Hände zusammen. »Komm schon.« Er griff nach meinem Koffer. Ich blieb sitzen. »Komm schon, ich tue dir nichts, und es wird dir Spaß machen.«
Ich überlegte mir sein Angebot. Ich mußte wirklich noch schrecklich lange warten, und er sah nett aus und war so freundlich. Warum denn nicht? entschied ich und stand auf.
»Prima. Ich habe gerade einen Freund zum Bahnhof gebracht und wollte mich eben auf den Rückweg machen«, erklärte er mir, als er mich aus dem Bahnhof führte. »Der Zirkus ist nicht weit von hier. Er bleibt nur noch zwei Tage hier und zieht dann weiter nach Jacksonville.«
»Das klingt, als würdet ihr viel herumreisen«, bemerkte ich.
Er schritt zielstrebig und selbstsicher durch den Bahnhof. Ich bewunderte ihn dafür, daß er in seinem Alter schon so selbstbewußt war. Ganz anders als Joshua. Als wir aus dem Bahnhof kamen, führte er mich auf den Parkplatz und deutete auf einen zerbeulten hellbraunen Kleinlaster.
»Das ist mein Rolls-Royce«, sagte er. »Toll ist er nicht, aber er bringt mich überall hin. Ich wette, du bist schickere Fahrzeuge gewöhnt«, fügte er hinzu und zwinkerte.
Ich gab keine Antwort. Er hielt mir die Tür auf, und ich stieg ein. Auf dem Boden lagen drei leere Bierflaschen. Er hob sie schnell auf und warf sie auf die Ladefläche. Der Sitz hatte Risse, und am Armaturenbrett baumelten lose Drähte. Er stieg ein und ließ den Motor an. Er stotterte und starb gleich darauf ab. »Komm schon, Lulu Belle, du solltest unseren Fahrgast beeindrucken und nicht so stur sein. Wie die meisten Frauen«, lachte er, »ist sie launisch.«
»Männer sind genauso launisch«, gab ich zurück.
Der Laster sprang an, und wir fuhren zum Zirkus.
»Hat deine Familie mit dem Zirkus zu tun?« fragte ich ihn.
»Meine Familie?« Er lachte wieder. »Himmel, nein. Mein Daddy war die meiste Zeit seines Lebens so eine Art Farmer und Schwarzbrenner. Ma ist eine hartarbeitende Frau. Sie hat sechs von meiner Sorte großgezogen, und ich fürchte, das ist nicht spurlos an ihr vorübergegangen«, sagte er, und sein Gesicht wurde sanft und traurig. »Du weißt ja, wie man so schön sagt: Entscheidend ist nicht, wie weit man gereist ist, sondern wie schlecht die Straße war.«
»Sechs Kinder sind eine ganze Menge. Wie viele Buben und wie viele Mädchen?«
»Alles Buben, und das hat ihr Leben noch härter gemacht, nehme ich an. Sie hatte nie eine Tochter, die ihr bei der Hausarbeit geholfen hätte.«
»Wo sind deine Brüder?«
»Sie sind weit verstreut. Zwei sind schon auf Abwege geraten. Ehe ich von zu Hause fortgegangen bin, haben wir gehört, daß Jeff und Landon wegen Ladendiebstahls im Gefängnis sitzen.«
»Das tut mir leid«, murmelte ich. Ich hatte nie jemanden kennengelernt, dessen Brüder oder nahe Verwandte Verbrecher waren. Unwillkürlich fürchtete ich mich und fragte mich jetzt doch, ob es nicht ein Fehler gewesen war, mit ihm in den Lastwagen zu steigen.
»Ja, Mama hat es hart getroffen«, sagte er kopfschüttelnd.
»Was ist ein Schwarz… Schwarz…«
»Ein Schwarzbrenner? Junge, Junge, das klingt ja, als hättest du hinter hohen, dicken Mauern gelebt. Schwarzbrenner brennen Whisky, sie stellen ihn illegal her und verkaufen ihn unter der Hand. Sie haben ihre eigenen, selbstgebastelten Destillierapparate und produzieren diesen billigen Whisky, den sie dann überall verkaufen. Die meiste Zeit macht ihnen niemand Ärger, aber ab und zu kommt es vor, daß jemand vom Staat auftaucht. Ma paßt es nicht, daß Pa Whisky brennt, und daher tut er es heute kaum noch. In der letzten Zeit hat er seltsame Arbeiten angenommen, als Mädchen für alles. Er ist handwerklich sehr geschickt, ein guter Zimmermann. Wenn wir schon von Puppen und so was sprechen, du solltest mal die Holzfiguren sehen, die er schnitzt, wenn er Lust dazu hat. Er kann doch wirklich Stunden über Stunden auf unserer Veranda sitzen und an einem blöden Stück Holz rumschnitzen, und hinterher ist es dann ein Karnickel oder ein Eichhörnchen und sieht so echt aus, daß man meint, es könnte ihm jeden Moment aus der Hand springen.«
Ich lachte. Er hatte eine so bildhafte Ausdrucksweise, und doch klang alles so wahr, so realistisch und so aufrichtig. Ich mochte ihn, und in gewisser Weise beneidete ich ihn um das Leben, das er geführt hatte, und um die einfache Welt, in der er aufgewachsen war.
Er bog ein paarmal ab, und bald sah ich die orangefarbenen Zirkuszelte vor uns aufragen. Menschenscharen gingen ein und aus. Luke winkte einem Mann zu, der den Verkehr regelte, und dann kehrte er um, damit er durch eine Lücke in der Absperrung fahren konnte, die aus Pflöcken und Seilen bestand. Wir holperten über das Feld und kamen an den Elefanten vorbei, die uns mit wenig Interesse musterten, und dann hielt Luke hinter einem der kleineren Zelte an.
»Ich arbeite hier«, erklärte Luke. »Ich füttere die Tiere und reibe sie trocken. Das ist nicht der tollste Job, aber er gibt mir die Möglichkeit, beim Zirkus zu sein. Komm. Wir können deinen Koffer und deine Puppe ins Zelt bringen. Ich habe eine Matratze in der Ecke liegen. Das ist mein Platz. Dort macht sich niemand an deinen Sachen zu schaffen.« Er bemerkte mein Zögern und fügte hinzu: »Ein Gutes an den Zirkusleuten ist, daß sie sich niemals bestehlen. Das mag ich an ihnen – ihre moralischen Grundsätze. Das funktioniert viel besser als in der übrigen Welt.«
Ich stieg aus und folgte ihm ins Zelt. Dort standen Eimer und Reinigungsgeräte, Futtersäcke, Leinen und andere Gerätschaften. Ganz hinten lag eine alte Matratze auf einem Polster aus Heu. Das mußte sein Lager sein.
»Hier schlafe ich«, erklärte er. »Das sind meine Sachen.« Er deutete auf einen Rucksack. »Warum packst du deine Puppe nicht in deinen Koffer und läßt ihn gleich neben meinem Rucksack stehen?«
Ich nickte und öffnete meinen Koffer. Er stand neben mir und sah auf mich herunter, als ich Angel sorgsam einwickelte und sie in den Koffer legte. Dann schloß ich den Koffer wieder, und er stellte ihn neben seinen Rucksack.
»So. Und jetzt laß uns unseren Spaß haben«, sagte er. Ich ging mit ihm aus dem Zelt und folgte ihm zu den Buden, die wie auf einem Volksfest aufgebaut worden waren. Dort konnte man Eßbares kaufen, aber man konnte auch spielen und reiten.
Es war ein wunderbarer Tag für ein Volksfest und einen Zirkusbesuch. Es waren gerade so viele Wolken am Himmel, daß die Sonne nicht heiß herunterbrannte, und doch war es warm, und ein lauer Wind wehte. Alle kannten Luke, und als ich sah, wie sie ihm zuwinkten und ihn begrüßten, wußte ich, daß sie ihn sehr gern hatten.
Sobald wir auf dem Rummelplatz angekommen waren, überredete er mich, mit ihm Riesenrad zu fahren. Es war zwar kein allzu großes, aber als wir oben angekommen waren, hatten wir einen wunderbaren Ausblick auf Atlanta. Die Kabine schaukelte hin und her, und mir blieb die Luft weg. Ich quietschte vor Freude, und Luke lachte und legte seinen Arm um meine Schultern. Ich fühlte mich geborgen in seinen starken Armen.
»Möchtest du ein Bier?« fragte er, nachdem wir ausgestiegen waren. »Ich kann es umsonst bekommen.« Er zwinkerte mir zu. Dabei wies er auf den jungen Mann, der den Ausschank betrieb.
»Nein, danke«, erwiderte ich. Er brachte mir eine Limonade mit.
Anschließend versuchte er sein Glück im Pfeilwerfen. Er war sehr verärgert, als er nichts gewann.
»Probier etwas anderes«, riet ich ihm. »Mein Vater hat immer wieder zu mir gesagt, wenn etwas einfach nicht klappen will, soll man es eine Zeitlang bleiben lassen und etwas anderes tun.«
Er nickte nachdenklich. »Du hast recht, Leigh. Manchmal kann ich hartnäckig und dumm sein, und dann verspiele ich in meiner Wut alles. Es ist schön, einen vernünftigen Menschen bei sich zu haben«, sagte er und schaute mich zärtlich an. In diesem Moment verhallte jeder Laut um mich herum, als würden nur wir auf dieser Welt existieren.
»Komm«, drängte er und nahm aufgeregt meine Hand, um mich weiterzuziehen. Wir blieben bei einem Ballspiel stehen.
Es ging darum, drei Milchflaschen von einem Korb zu werfen.
Für einen Vierteldollar bekam man zwei Wurf. Luke nahm die Bälle entgegen und holte aus. Dann drehte er sich zu mir um.
»Faß sie an, damit sie mir Glück bringen«, bat er und reichte mir den ersten Ball.
»Ich bringe im allgemeinen kein Glück«, entgegnete ich.
»Mir wirst du Glück bringen«, beharrte er. Es tat mir gut, wie er das sagte. Ich nahm den Ball in die Hand, dann warf er damit. Er traf die Flaschen so gekonnt, daß alle drei vom Korb fielen.
»Ein Sieger!« rief der Mann, der an dem Stand arbeitete.
Dann griff er hinter sich und holte einen dicken, kleinen schwarzen Teddybären vom Regal und reichte ihn Luke.
»Für dich«, sagte er und drückte ihn mir in die Hand. »Er ist zwar nicht so schön wie deine Puppe, aber vielleicht bringt er dir Glück.«
»Er ist sehr hübsch und süß«, sagte ich und drückte den weichen Bären an meine Wange. »Mir gefällt er. Danke, Luke.«
Er lächelte und führte mich weiter. Er kaufte einen riesigen Hot Dog und ließ ihn mit allen erdenklichen Saucen garnieren.
Wir machten uns darüber her. Es machte Spaß, von beiden Seiten gleichzeitig zu essen. Unsere Nasen stießen aneinander, als wir in der Mitte ankamen, und wir kicherten.
»Ich muß noch die Elefanten füttern«, sagte er. »Und dann können wir ins Zelt und uns die Clowns und Akrobaten und alle Zirkusnummern ansehen, okay?«
»Ja, klar.« Ich folgte ihm vom Rummelplatz. Er fand eine Holzkiste, auf die ich mich setzen konnte, um ihm bei der Arbeit zuzusehen. Er zog sein Hemd aus und griff nach der Mistgabel. Die Sonne schimmerte auf seinem glatten, muskulösen Rücken. Er hatte breite Schultern, die sich anspannten und seine Kraft deutlich zeigten, als er große Heuballen hochhob und sie vor den Elefanten ablegte. Er arbeitete direkt neben ihnen, neben diesen gewaltigen Beinen, von dem jedes einzelne einen Menschen hätte tottreten können, und er stand nur wenige Zentimeter von ihren dicken, muskulösen Rüsseln entfernt, aber er schien sich nicht zu fürchten, und die Elefanten achteten sorgsam darauf, ihn nicht anzurempeln. Nachdem er ihnen das Futter vorgesetzt hatte, füllte er große Eimer mit Wasser und stellte jedem Tier einen hin. Sie tauchten ihre Rüssel hinein. Es war ein komischer Anblick, und ich mußte unwillkürlich lachen.
»Sind das nicht wunderschöne Geschöpfe?« fragte mich Luke, als er fertig war. »Sie sind so groß und kräftig und doch so sanftmütig. Wenn die Menschen ihre Kräfte besäßen, würden sie nur ständig aufeinander einprügeln«, fügte er bitter hinzu. »Nun ja. Ich wasche mich schnell, und dann gehen wir in den Zirkus. Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja, bestens«, sagte ich und drückte meinen weichen Teddybären immer noch an mich.
»Den kannst du auch bei deinem Koffer lassen«, sagte er.
»Wenn du willst.«
»Einverstanden.« Ich ging ins Zelt und legte das Stofftier zu meinem Koffer. Als ich wieder herauskam, sah ich Luke drüben an einem Wasserhahn stehen. Er hielt sich einen Schlauch über den Kopf und ließ sich das Wasser über Kopf und Oberkörper laufen. Er trocknete sich gründlich ab und kam dann zurück.
»Ich will mir nur noch schnell das Haar kämmen«, sagte er.
»Ich muß mich schon herrichten, wenn ich mit einer so schönen Frau zusammen bin.« Er lächelte zwar bei diesen Worten, aber ich merkte trotzdem, daß er es ernst meinte, und das ließ mein Herz schneller schlagen. Er ging ins Zelt und kam mit ordentlich frisiertem Haar wieder heraus. Es war so dicht und hatte diesen Ebenholzschimmer, daß ich am liebsten mit der Hand darüber gestrichen hätte.
»Bereit, Mylady?« fragte er und reichte mir seinen Arm.
»Ja.« Ich hängte mich bei ihm ein, und wir gingen zum Zirkuszelt. Wir konnten den Ausrufer hören, der die Menge in die nächste Vorstellung locken wollte, und Lukes Augen strahlten. Als wir uns in die Schlange stellten, die sich vor dem Einlaß gebildet hatte, spürte ich, wie die Spannung zunahm.
Kinder lachten aufgeregt, und auch ihre Eltern wirkten lebhaft und fröhlich in ihrer Vorfreude.
Der Kartenkontrolleur nickte Luke nur zu, und wir konnten hineingehen. Er zog mich zu den Plätzen, die er für die besten von allen hielt. Als wir saßen, kaufte er Erdnüsse und für mich eine Limonade, für sich ein Bier.
Ich wandte mich der Manege zu. Die Musik hatte eingesetzt, und die Clowns fielen herein. Sie ohrfeigten sich und stolperten übereinander, spritzten sich gegenseitig mit Wasserpistolen an und ließen sich Ballons, die mit Wasser gefüllt waren, auf die Köpfe fallen.
Während die Clowns noch miteinander spaßten, führte ein junges Mädchen, das gewiß nicht älter als ich war und ein goldenes Kostüm trug, auf dem bunte Pailletten in allen Farben glitzerten, auf einem Schwebebalken akrobatische Kunststücke vor, schlug Purzelbäume, stand auf den Händen oder auf dem Kopf, machte Saltos vorwärts und rückwärts und raubte dem Publikum den Atem. Der
Ansager kündigte eine
Zirkusnummer nach der anderen an: Jongleure, Zauberer, Parterreakrobaten.
Ein Trommelwirbel ertönte, und zwei gutaussehende Männer und eine wunderschöne Frau kamen mitten in das Zelt gelaufen, verbeugten sich und kletterten dann an Seilen unter die Zirkuskuppel. Mein Herz schlug vor Spannung schneller.
Wohin ich auch schaute, es gab überall etwas zu sehen. Als ich mich zu Luke umdrehte, merkte ich, daß er mich die ganze Zeit anschaute.
»Es ist aufregend, nicht wahr?« sagte er. »Verstehst du jetzt, warum ich den Zirkus liebe?«
»O ja. Es ist wundervoll.«
»Das ist erst der Anfang«, meinte er. »Wir werden uns das Programm ganz ansehen.«
Er verschlang seine Finger mit den meinen und hielt sachte meine Hand. Ich hatte nichts dagegen – im Gegenteil, es war mir äußerst angenehm. Die Musik und das Gelächter, die spektakulären Auftritte und das ständige Plaudern über die einzelnen Nummern, der Applaus und die Spannung, die in der Luft hing, ließen Stunden zu Minuten und Minuten zu Sekunden werden. Ich verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum.
Solange ich dort im Zirkus saß, dachte ich noch nicht einmal an meine Lage und daran, daß ich von zu Hause fortgelaufen war. Es war, als hätte die Welt aufgehört sich zu drehen.
In der Pause kauften wir Hamburger und Pommes frites in Tüten. Dann aßen wir Eis am Stiel mit Karamel und Mandelsplittern. Luke bezahlte ständig alles, obwohl ich ihm anbot, einen Teil meines Geldes dafür auszugeben.
»Du hast doch nur Zaubergeld«, lachte er. »Das wäre unfair.
Sobald du es den Verkäufern gibst, löst es sich in ihren Händen auf und verschwindet.«
»Luke, ich kann nicht zulassen, daß du alles bezahlst. Du arbeitest so hart für dein Geld.«
»Mir macht das nichts aus. Es gibt nicht viel, wofür ich mein Geld ausgeben könnte, und ich hatte noch nie Gelegenheit, es für jemanden auszugeben, der so schön und so nett ist wie du, Leigh«, sagte er. Wir hielten uns wieder an den Händen. Einen Moment lang brachte ich kein Wort heraus. Obwohl wir im Zirkuszelt saßen und von Hunderten von Menschen umgeben waren, hatte ich wieder das Gefühl, daß wir ganz allein waren.
Bevor ich begriff, was geschah, beugte er sich zu mir vor und gab mir einen schnellen Kuß auf die Lippen.
»Entschuldige«, sagte er. »Ich war so fasziniert, daß ich…
ich… ich konnte es einfach nicht lassen«, stammelte er.
»Es ist schon gut.« Ich wandte mich wieder der Manege zu, aber mein Herz klopfte so heftig, daß ich glaubte, man könne es über das Gelächter und Getöse um uns herum hören. Luke schwieg, aber ab und zu sahen wir uns an und lächelten.
Erst nach der Abschlußnummer der Vorstellung dachte ich wieder an die Zeit. Ich schaute auf meine Armbanduhr und erschrak.
»Luke, sieh doch nur, wie spät es ist! Ich werde meinen Zug verpassen!«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er, aber er war auch erschrocken. Wir versuchten, rasch das Zelt zu verlassen, doch die Menschenmenge war dicht, und die Leute drängten sich an allen Ausgängen. Uns blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis wir an der Reihe waren. Sobald wir aus dem Zelt kamen, rannten wir über das Gelände zu Lukes Zelt. Luke sauste hinein und kam mit meinem Koffer und dem Teddy in der Hand wieder heraus. Dann stiegen wir in seinen Lastwagen.
Er sprang nicht an. Er versuchte es immer wieder. Er schlug wütend auf das Armaturenbrett und stieg aus, um die Motorhaube zu öffnen und sich am Motor zu schaffen zu machen. Es dauerte eine Weile, aber endlich gelang es ihm, den Wagen anzulassen, und wir fuhren zum Bahnhof. Keiner von uns beiden sagte ein Wort; wir dachten beide viel zu sehr an die Zeit und die Fahrt. Es herrschte dichter Verkehr auf den Straßen, und die Wagen, die auf die Schnellstraßen einbiegen wollten, stauten sich. Luke fluchte, und entschuldigte sich sofort bei mir. Ich bemühte mich, ihn zu beruhigen. Er tat sein Bestes und fädelte sich laufend von einer Spur in die andere ein.
Als wir auf den Parkplatz fuhren, blieben mir noch weniger als fünf Minuten. Luke konnte keine Parklücke finden.
Schließlich hielt er den Wagen einfach an.
»Mir ist es egal, wenn ich einen Strafzettel bekomme«, sagte er. »Komm schnell.«
Er schnappte nach meinem Koffer und half mir beim Aussteigen. Dann rannten wir zum Bahnhof. In der Schalterhalle schienen sich noch mehr Leute aufzuhalten als bei meiner Ankunft. Wir liefen durch den Gang, der zum richtigen Bahnsteig führte, aber als wir mit keuchenden Lungen den Bahnsteig fast erreicht hatten, fuhr mein Zug ab.
»O nein«, rief ich.
Wir standen da und sahen zu, wie der Zug schneller fuhr und schließlich verschwand. Jetzt saß ich in Atlanta fest. Luke drehte sich zu mir um.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte besser auf die Zeit achten müssen.«
»Ich bin selbst schuld.« Ich nahm ihm meinen Koffer ab und sah zum Wartesaal mit seinen harten Bänken.
»Warte.« Er hielt mich am Arm fest. »Ich kann dich nicht die ganze Nacht hier sitzen lassen. Viel kann ich dir nicht bieten, nur eine Matratze auf einem Lager aus Heu, aber…«
»Was?« Ich verstand nicht sofort, was er gesagt hatte. Ich war noch zu benommen.
»Natürlich schlafe ich auf einem anderen Heulager. Du kannst nicht hierbleiben«, flehte er mich an.
Was kann mir noch zustoßen? dachte ich. Ich hatte das Gefühl, einem Blatt zu ähneln, das dem Wind auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist und von einer Richtung in die andere gewirbelt wird, ein einsames Blatt, das der Wind weit von der Gegend fortgetrieben hatte, in der es einst gekeimt hatte und gewachsen war.
Luke nahm mir den Koffer wieder ab und ergriff meine Hand. Ich sagte nichts und ließ mich widerstandslos von ihm in die Nacht hinausführen.
20. KAPITEL
JEMAND, DER AUF MICH AUFPASST
Ich war immer noch benommen, als ich Luke zu seinem Lastwagen folgte. Er schloß die Tür auf, half mir beim Einsteigen, und dann machten wir uns auf den Rückweg zum Zirkus.
»Mach dir keine Sorgen, Leigh«, tröstete Luke mich. »Ich setze dich morgen früh ganz bestimmt rechtzeitig in den Zug.
Vor uns liegt eine Tankstelle, und daneben gibt es ein Münztelefon. Soll ich dort anhalten, damit du deine Großmutter anrufen und ihr sagen kannst, daß du erst einen Tag später kommst?«
Ich schwieg. Ich kam mir vor wie jemand, der auf einem Karussell sitzt und von einer Seite auf die andere gewirbelt wird, ohne je irgendwo anzukommen.
»Leigh? Meinst du nicht, du solltest sie anrufen, damit sie sich keine Sorgen macht, wenn du nicht im Zug sitzt?«
»O Luke«, sagte ich und konnte den Tränenstrom nicht länger zurückhalten. »Meine Großmutter weiß nicht, daß ich komme. Ich bin von zu Hause fortgelaufen!«
»Was?« Er fuhr langsamer. »Du bist fortgelaufen?« Er bog in eine Seitenstraße ein und hielt den Wagen an.
»Deshalb hattest du also nicht genug Geld für die Reise dabei. Aber warum bist du ausgerissen, Leigh? Mir kam es so vor, als hättest du in New England in Saus und Braus gelebt.«
Ich weinte noch heftiger. Er rückte auf dem Sitz näher zu mir und nahm mich zärtlich in die Arme.
»He, ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung. Wenn ein so netter Mensch wie du fortlaufen wollte, muß es gute Gründe gegeben haben.«
Ich schluchzte. Ich konnte mich einfach nicht mehr zusammennehmen und zitterte in Lukes Armen. Mir wurde kalt, und meine Zähne klapperten. Luke schlang seine Arme fester um mich und rieb mit seiner Handfläche meinen Arm, um mich zu wärmen.
»Ganz ruhig«, sagte er und küßte mich zart auf die Stirn, und dann legten sich seine Lippen auf meine Wangen, um die Tränen fortzuküssen. Ich schnappte nach Luft und schluckte.
»Ich bin selbst hundertmal ausgerissen. Verflixt, in einem gewissen Sinne reiße ich im Moment auch wieder aus, aber irgendwie schaffe ich es immer wieder, den Weg nach Hause zu finden. Du wirst es auch schaffen.«
»Ich will nicht zurück, nie mehr«, schluchzte ich.
Er nickte. »Junge, du mußt schlimme Sachen erlebt haben.«
»Es war schlimm«, sagte ich. Ich holte tief Atem, lehnte mich zurück und erzählte ihm die ganze Geschichte – die Scheidung meiner Eltern, was ich mitangehört hatte, als ich das Gespräch zwischen meiner Mutter und Großmama Jana belauscht und die Wahrheit über meine Mutter erfahren hatte, wie Tony Tatterton war, wie es auf Farthy zuging und wie es gewesen war, für die Porträtpuppe Modell zu stehen. Dann weinte ich wieder und erzählte ihm, daß Tony mich vergewaltigt hatte und meine Mutter mir nicht glauben wollte, als ich es ihr erzählt hatte.
»Und als ich festgestellt habe, daß ich schwanger bin, bin ich zu meiner Mutter gelaufen, weil ich dachte, jetzt müßte sie mir endlich glauben, aber statt mir zu helfen, hat sie mir die Schuld an allem gegeben. Mir!« Ich stöhnte.
Luke hatte sich an die Tür des Lastwagens gelehnt und hörte mir aufmerksam zu.
»Ich dachte, solche Dinge spielen sich nur da ab, wo ich herkomme, nur bei den Hinterwäldlern. Ich schätze, so reich zu sein, ist doch nicht das Wahre«, meinte er schließlich. Dann wurde seine Stimme hart. »Ich wünschte, ich hätte diesen Tony Tatterton jetzt vor mir. Ich würde ihm den Kopf abreißen.«
Ich mußte plötzlich lachen.
»Siehst du? Ich wußte doch, daß ich dich aufheitern kann.
Jedenfalls tut es mir jetzt leid, daß ich dir im Zirkus diesen ganzen Imbißkram vorgesetzt habe. Das ist nicht das Richtige für deinen Zustand.
Wir gehen jetzt in eine Gaststätte, die ich kenne. Da gibt es gute Hausmannskost, genau wie bei meiner Ma.«
»Oh, aber ich habe gar keinen Hunger mehr, Luke. Ich bin nur schrecklich müde.«
»Klar. Das ist ja verständlich. Ich weiß, was wir machen«, sagte er und schnippte mit den Fingern. »Ich besorge dir ein Zimmer in einem Motel, damit du es bequem hast. Ein Bett im Heu in einem Zirkuszelt ist nicht der rechte Ort für ein Mädchen, das ein Baby bekommt«, erklärte er entschlossen und streckte die Hand nach dem Zündschlüssel aus.
»O Luke, ich kann nicht zulassen, daß du so viel Geld für mich ausgibst. Ich habe selbst gesehen, wie hart du für jeden Penny arbeitest.«
»In dem Punkt wirst du nicht nach deiner Meinung gefragt«, erwiderte er. Ich sah ein, daß es sinnlos war, mit ihm zu streiten. Wenn Thomas Luke Casteel zu einem Entschluß gelangt war, war er stur und beharrlich. »Du brauchst deinen Schlaf, deine Bequemlichkeit und ein ordentliches Badezimmer. Manche Motels haben sogar Zimmer mit Fernseher«, sagte er und wendete den Wagen, um wieder auf die Hauptstraße zu fahren.
Er bat mich, ihm mehr über Farthy zu erzählen, und ich beschrieb ihm die großen Räume einzeln und erzählte ihm von dem Irrgarten, dem riesigen Swimmingpool, den Tennisplätzen, den Ställen und dem Privatstrand. Er pfiff durch die Zähne und schüttelte den Kopf.
»Ich wußte zwar, daß es reiche Leute gibt, aber daß sie gleich so reich sein können, war mir nicht klar. Klingt, als besäße dieser Tony Tatterton ein ganzes Land für sich.«
»Ja, so ungefähr.«
»Und all das Geld verdient er damit, daß er Spielzeug für reiche Leute herstellt?« fragte er ungläubig.
»Ja«, bestätigte ich, »aber diese Spielsachen sind sehr teuer.«
»Wie deine Puppe wohl auch, nehme ich an. Warum hast du sie mitgenommen, wenn er sie gemacht hat?« fragte er.
»Ich konnte Angel doch nicht zurücklassen! Ich habe sie im Arm gehalten, wenn ich geweint habe, und ich habe sie im Arm gehalten, wenn ich gelacht habe. Sie kennt meine geheimsten Gedanken und Träume, und sie weiß von all den entsetzlichen Dingen, die mir zugestoßen sind. Tony Tatterton hat sie gemacht, aber sie hat viel mehr von mir als von ihm«, erklärte ich.
»Angel?«
»So nenne ich sie. Sie ist mein Schutzengel«, gestand ich leise und erwartete, daß er über die zarte und zerbrechliche Scheinwelt eines jungen Mädchens lachen würde, aber er lächelte nur verständnisvoll.
»Das ist aber sehr hübsch«, sagte er. »Das ist wunderschön.«
Er drehte sich zu mir um. »So werde ich dich von jetzt an nennen… Angel. Das paßt viel besser zu dir als Leigh.«
Ich spürte, daß ich errötete. Dann schluchzte ich.
»Warum weinst du denn jetzt?«
»Ich weine, weil ich das Glück hatte, jemanden wie dich zu treffen, einen netten Menschen. Die meisten Mädchen in meinem Alter haben Angst, allein zu verreisen, weil es so viele schlechte Menschen gibt.«
»Ja, aber wenn du mich nicht getroffen hättest, hättest du deinen Zug erwischt«, erinnerte er mich wieder.
»Aber ich wollte die Vorstellung doch mit dir ansehen, und es war wunderbar, Luke.« Ja, das stimmte, denn dort hatte ich eine Zeitlang all meine Sorgen vergessen können.
»Wirklich? Das freut mich sehr. Ich fand es auch wunderbar.
Es war, als sähe ich all das zum ersten Mal, weil ich es mit dir zusammen gesehen habe. Deine Art, die Dinge anzusehen, ist so frisch und unvoreingenommen, Angel. Irgendwie fühle ich mich dadurch… ich weiß nicht… ich fühle mich wichtiger und bedeutender, wenn ich mit dir zusammen bin«, sagte er und nickte, nachdem er die Worte ausgesprochen hatte.
Ich sah ihn nicht an. Ich wollte nicht, daß er mir ins Gesicht sehen konnte, denn es wäre mir peinlich gewesen, ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn mochte. Er hatte keine besondere Schulbildung, er war nicht reich, und er kleidete sich nicht elegant wie die Jungen in Allandale, aber er hatte eine Art, mit der Welt zurechtzukommen, die ich bewunderte. Luke Casteel war erst siebzehn Jahre alt, aber er war ein Mann.
Er hielt vor einem Motel.
»Das brauchst du wirklich nicht zu tun, Luke«, sagte ich und legte meine Hand auf seine.
»Ich weiß. Ich tue das auch nicht, weil ich es tun muß. Ich tue es, weil ich es tun will. Und jetzt wirst du mit Angel hier sitzenbleiben und geduldig warten. Ich komme gleich mit deinem Zimmerschlüssel wieder«, sagte er und ging zum Empfang. Ich lehnte mich zurück und schloß die Augen. Er hatte recht: Ich war so müde, daß ich wirklich ein bequemes Bett für die Nacht brauchte. Die Reise, der Tag im Zirkus und der Schock über den verpaßten Zug hatten mich erschöpft. Ich nickte auch tatsächlich ein, während er an der Rezeption war, um mir ein Zimmer zu besorgen. Ich erwachte jäh, als er die Tür aufriß und in den Wagen sprang.
»So«, rief er und fuchtelte mit dem Schlüssel vor meiner Nase herum. »Ein hübsches Zimmer mit zwei Betten und einem Fernsehapparat.«
»Ich glaube nicht, daß ich die Augen offenhalten und fernsehen könnte. Du hättest ein billigeres Zimmer nehmen sollen.«
»Sie kosten hier alle dasselbe«, erklärte er und hielt vor dem Bungalow an. Er nahm meinen Koffer und schloß die Tür auf.
Ich drückte Angel an mich und folgte ihm.
Es war ein kleines Zimmer mit schmutziggrauen Wänden und hellgrünen Vorhängen, die verstaubt wirkten. Darin standen zwei Betten mit einem zerschrammten Holztisch dazwischen und zwei Nachttischen. Auf jedem Nachttisch stand eine kleine Lampe, und die gelben Lampenschirme waren fleckig und verstaubt. Auf Farthy gab es Abstellkammern, die doppelt so groß wie dieses Zimmer waren, aber daran störte ich mich nicht. Die weiche Matratze sah äußerst einladend aus. Luke stellte meinen Koffer ab und ging ins Bad. Er schaltete das Licht an und sah sich genau um.
»Sieht aus, als würde alles funktionieren. Bist du sicher, daß du nichts essen willst? Wie wäre es mit einer schönen heißen Tasse Tee? Eine halbe Meile weiter gibt es ein Restaurant direkt an der Straße. Ich bräuchte nur ein paar Minuten, um dir etwas Warmes zum Trinken zu besorgen. Und vielleicht etwas Süßes, du mußt doch essen«, sagte er und musterte mich besorgt.
»Meinetwegen«, sagte ich. »Ich werde mich inzwischen waschen und mich ins Bett legen.«
»Prima. Ich bin im Nu wieder da.« Er klatschte in die Hände und lief hinaus.
Wieder mußte ich über seine Begeisterung lächeln. Er wollte etwas für mich tun, als wäre er für mein Wohlergehen verantwortlich. Vielleicht war ich dem bösen Zauber, der mich verfolgt hatte, jetzt entronnen.
Ich duschte, zog eines meiner zarten Seidennachthemden an und löste mein Haar. Es fiel strähnig über meine Schultern, aber ich war zu müde, um es zu waschen und es auszubürsten.
Ich gelobte mir, es am kommenden Morgen gleich zu tun.
Dann kroch ich mit Angel an meiner Seite unter die Decke eines der Betten. Das Bettzeug war hart und steif und roch nach Stärke, aber ich war viel zu erschöpft, um mich daran zu stören. Luke klopfte sachte an die Tür und kam dann mit heißem Tee, Maiskuchen mit Marmeladefüllung und einer Flasche Bier zurück, die er für sich mitgebracht hatte. Er stellte alles auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett ab und zog sich einen Stuhl heran. Er sah mich so besorgt an, wie er es getan hätte, wenn er der hoffnungsvolle Vater gewesen wäre.
Seine dunklen Augen schimmerten zart und liebevoll. Er lächelte und deutete auf Angel. »Diese Puppe sieht dir wirklich unglaublich ähnlich. Ihr habt beide so schönes Haar«, sagte er und strich Angel zärtlich über die Haare.
»Angels Haar ist in Wirklichkeit mein Haar.«
»Im Ernst?« Ich nickte, und er riß die Augen weit auf. Dann beugte er sich zu mir vor. »Ich habe noch nie etwas so Bezauberndes und Schönes wie euch beide gesehen, wie ihr dort nebeneinander liegt«, sagte er mit zarter Stimme.
»Danke, Luke. Du bist sehr nett zu mir.«
Er starrte mich einen Moment lang an und stand dann auf.
»Du kommst doch hier zurecht?«
»Wohin gehst du?«
»Zurück in mein Zelt.«
»Warum kannst du denn nicht hierbleiben? Da steht noch ein Bett, und du hast für das Zimmer bezahlt, Luke. Du solltest dich jetzt nicht ins Heu legen.« Ich wußte, daß er meine Verzweiflung hören würde, aber ich war noch nie zuvor ganz allein in einem Motelzimmer gewesen.
»Bist du sicher, daß du nichts dagegen hast?«
»Natürlich habe ich nichts dagegen.«
»Na gut. Ich schätze, ich schaffe es, früh genug aufzustehen, um die Tiere zu füttern und zu tränken.«
»Du kannst ja fernsehen, wenn du noch nicht müde bist«, bot ich ihm an. »Mich… stört das nicht…«
Ich schlief im Nu ein, aber mitten in der Nacht wachte ich voller Entsetzen auf. Ich hatte vergessen, wo ich war. Ohne es zu wollen, schrie ich vor Angst laut auf. Sekunden später spürte ich Luke neben mir im Dunkeln.
»Angel, Angel«, murmelte er und strich mir übers Haar. »Es ist alles gut. Du bist hier sicher. Ich bin Luke. Ich bin hier, bei dir. Mach dir keine Sorgen. Ich möchte, daß du dir nie mehr die geringsten Sorgen machen mußt.« Mir wurde klar, wo ich war, aber ich war noch so verschlafen, daß ich kaum seine Lippen auf meiner Wange spürte und seine Worte wahrnahm.
Die Worte kamen mir ohnehin eher wie Worte aus einem Traum vor, Worte, die mein Schutzengel mir zuflüsterte.
»Ich will mich von jetzt an um dich kümmern, auf dich aufpassen, dich beschützen, dich lieben. Nie mehr wird dir jemand, und sei er auch noch so reich und mächtig, etwas antun. Ich werde dich in eine Welt führen, in der dir nichts Böses mehr geschehen kann. Wirst du mit mir kommen, mein Engel? Kommst du mit mir?«
»Ja«, murmelte ich vor mich hin. »O ja, ja«, und dann war ich wieder eingeschlafen.
Als ich am Morgen erwachte, lag Luke neben mir im Bett. Ich war in seinen Armen eingeschlafen, und ich hatte mich noch nie so geborgen oder glücklich gefühlt. Seine Lider flatterten, und er schlug die Augen auf und sah mich einen Moment lang an, ehe er lächelte. Dann küßte er mich zart auf die Lippen.
»Guten Morgen«, sagte er. »Wie fühlst du dich?«
»Viel besser. Aber warum…«
»Warum ich in dein Bett gekommen bin? Du hattest einen bösen Traum, nehme ich an, und du bist schreiend aufgewacht.
Ich habe dir gut zugeredet und bin neben dir eingeschlafen.
Hast du das etwa alles vergessen?« fragte er und wirkte enttäuscht. »Alles, was ich gesagt habe und was du gesagt hast?«
»Ich glaube schon, obwohl mir Worte in Erinnerung sind, die mir wie Worte aus einem Traum erscheinen.«
»Es war kein Traum; es waren meine Worte, und ich habe sie ernst gemeint.« Sein Gesicht nahm wieder diesen entschlossenen und unbeugsamen Ausdruck an. »Ich habe dir gesagt, daß ich mich um dich kümmern und dich beschützen will, immer und für alle Zeiten, und ich habe es ernst gemeint.«
»Was sagst du da, Luke?« Ich setzte mich auf und hielt die Decke schützend vor mich, weil ich mein dünnes Seidennachthemd trug. Er setzte sich ebenfalls auf.
»Ich weiß, daß du das Kind deines Stiefvaters zur Welt bringen wirst, aber davon braucht niemand sonst etwas zu erfahren. Sollen doch alle glauben, daß es mein Kind ist. Ich will dieses Kind für mich haben, weil ich dich für mich haben will.«
»Wie meinst du das?« Ich hatte ihn verstanden, aber ich wollte es genau hören.
»Ich meine, daß ich dich heiraten und dich für immer und alle Zeiten als meinen Engel haben will. Ja, ich weiß, ein Leben beim Zirkus ist nicht das Richtige für zwei junge Menschen, für die alles gerade erst anfängt, und schon gar nicht, wenn sie ein Baby erwarten«, fuhr er aufgeregt fort. »Aber ich habe mir alles ganz genau überlegt. Ich will dich mitnehmen, mit dir in die Berge zurückgehen und ganz von vorn anfangen. Ich habe Pläne und Ideen. Ich will genug Geld verdienen, um eine eigene Farm aufzubauen, und das schaffe ich auch, Angel. Ich sage nicht, daß es am Anfang nicht hart sein wird«, fuhr er fort, ehe ich ihn unterbrechen konnte. »Es kann sogar sehr schwer werden. Wir werden eine Zeitlang bei meiner Familie wohnen müssen, aber ich werde Tag und Nacht arbeiten und genug Geld verdienen, bis wir das Geld für die Anzahlung zusammengespart haben und uns ein eigenes Heim bauen können.
Es wird dir dort sehr gut gefallen, Angel. Ich verspreche dir, daß du begeistert sein wirst. Es ist nicht das, was du gewohnt bist, bei weitem nicht, das steht natürlich fest, aber es ist ein freies und reines Leben, ein Leben in der Natur, ein Leben weit ab von Menschen, die sich mehr aus sich selbst machen als aus denen, die sie lieben.«
»Luke, du willst der Vater meines Kindes sein? Das willst du wirklich?« fragte ich ungläubig.
»Solange es heißt, daß ich dich auch bekomme, Angel. Fahr nicht zu deiner Großmutter«, flehte er. »Was du mir erzählt hast, klingt ohnehin nicht so, als könntest du dort glücklich werden. Du kennst sie kaum, und sie ist alt und hat ihre festgefahrenen Vorstellungen. Und außerdem«, sagte er und sprach damit eine Befürchtung aus, die ich in meinem eigenen Herzen hegte, »was ist, wenn sie dir nicht glaubt? Was ist, wenn sie denkt, daß du genauso bist wie ihre Tochter? Dann könnte es passieren, daß sie dich nach Hause zurückschickt.
Ich werde dich nie fortschicken, Angel.«
»Aber du kannst doch nicht zurückgehen und arbeiten. Du liebst den Zirkus, Luke«, rief ich.
»Nicht halb so sehr, wie ich dich liebe, Angel. Nie zuvor ist etwas in mein Leben getreten, das so süß und so kostbar ist wie du. Wenn ich mit dir zusammen bin, fühle ich mich erst als ganzer Mensch, so voller Hoffnung. Ich zweifle nicht daran, daß ich alles erreichen kann, was ich mir erträume, solange ich dich habe. Du gibst mir das Gefühl, wichtig zu sein, so wichtig wie jeder andere auch. Ich würde mich für dich abschuften.
Willst du nicht ja sagen? Bitte.«
Im ersten Moment war ich sprachlos. Vor rund vierzehn Jahren war meine Mutter schwanger gewesen und hatte den Mann, den ich für meinen Daddy gehalten hatte, dazu überlistet, sie zu heiraten, ohne ihm je die Wahrheit zu sagen.
Hätte er sie je so haben wollen, wie Luke mich wollte, wenn er die Wahrheit gekannt hätte? Wie anders wäre mein Leben von Anfang an verlaufen? Wie anders würde es für mein Baby sein, wenn es einen Vater hatte, der die Wahrheit kannte und akzeptierte? Ich glaubte wirklich, daß Lukes Liebe zu mir so stark war, daß sie auch noch für mein Baby ausreichte.
Ich spürte, daß die neue Hoffnung jegliche Angst und Beklommenheit von mir abfallen ließ. Dieser gutaussehende, liebevolle junge Mann wollte mich unter allen Umständen haben, und er wollte mich sogar noch, nachdem er meine Geschichte gehört hatte und von meinem Kind wußte. Er liebte mich so sehr, daß er gewillt war, dieses Kind als sein Kind anzusehen und die Dinge aufzugeben, die ihm Spaß machen, um mir eine Freude damit zu machen.
Eine solche Selbstlosigkeit war mir nie begegnet. Warum konnte mein Daddy mich nicht so sehr lieben wie Luke und bereit sein, seine geschäftlichen Interessen einmal zu vergessen, um mir zu helfen und mich zu beschützen? Warum konnte meine Mutter sich nicht mehr um mich als um sich selbst sorgen? Lukes Liebe war aufrichtiger und wahrer, denn er war bereit, Opfer für mich zu bringen.
Und dann dachte ich, Liebe heißt nicht nur, Opfer zu bringen, sondern auch, Opfer bringen zu wollen, mehr Freude daran zu haben, dem geliebten Menschen etwas Gutes zu tun als sich selbst. Wie glücklich ich dran war, jemanden gefunden zu haben, der mich derart liebte.
Ich sah Angel an. Sie schien zu lächeln. Vielleicht war sie doch mein Schutzengel; vielleicht hatte sie Luke zu mir oder mich zu ihm geführt. Und jetzt wollte Luke eben dieser Schutzengel für mich sein.
Luke bemerkte, wie ich Angel ansah.
»Was sagt sie dir?« fragte er leise und voller Hoffnung.
»Sie sagt mir, daß ich ja sagen soll, Luke«, flüsterte ich, und diese Worte waren ebensosehr für mich bestimmt wie für ihn.
Seine dunklen Augen strahlten. Wie schön sein Lächeln doch war. Er war ein junger Mann von der Sorte, die mit jedem Jahr, das verging, noch besser aussehen würde, und er würde mein Mann sein.
Luke umarmte mich, und wir küßten uns.
Eine Reise, die ich mit Wut, Angst und Hoffnungslosigkeit angetreten hatte, war plötzlich zu einer Reise voller Liebe und Hoffnung geworden. Ich weinte jetzt andere Tränen. Es waren Tränen des Glücks, und sie waren wärmer. Ich schmiegte mich dicht an Thomas Luke Casteel und hielt ihn fest. Mein Herz schlug vor Glück schneller.
Der Zirkusdirektor war nicht böse darüber, daß Luke so plötzlich ausschied. Luke erklärte, daß er mich heiraten und ein neues Leben in seiner alten Heimat beginnen wollte. Die Neuigkeiten verbreiteten sich schnell unter dem ganzen Zirkusvolk. Als wir zu seinem Zelt zurückkamen, um seine Sachen zu holen, hatte sich schon eine Schar von Gratulanten dort versammelt. Es war eine ungewöhnliche Schar, um es mild auszudrücken. Ich wurde der bärtigen Frau vorgestellt, und sie gratulierte mir, den siamesischen Zwillingen, Zwergen, dem dicksten Mann der Welt, dem größten Mann der Welt und dem stärksten Mann der Welt, aber auch Jongleuren, Feuerschluckern, Akrobaten und dem Messerwerfer und seiner Frau. Dann erschien der Zauberer, der Erstaunliche Mandello, mit seiner herausgeputzten Helferin und forderte mich auf, ihm die Hand zu geben. Ich sah Luke an – der nickte. Plötzlich spürte ich etwas in meiner Hand. Ich öffnete sie und sah einen Ring mit einer hübschen Imitation von einem Bergkristall.
»Ein Geschenk vom Erstaunlichen Mandello«, erklärte er.
»Dein Ehering.« Das Publikum, das sich um uns versammelt hatte, machte »Aaaah« und »Ooooh«, als hätte er mir etwas wirklich Wertvolles überreicht. Sie alle lebten wirklich in einer Welt der Illusionen, aber es gefiel mir. Ich kam mir vor, als sei ich in ihre Welt eingetreten, eine Welt, die in einer rosig gefärbten Blase eingeschlossen war.
»Oh, danke. Er ist wunderschön.« Auf Farthy hatte ich Ringe, Armbänder und Ketten mit echten Diamanten, aber hier, in Lukes Zirkus, inmitten all dieser freundlichen und glücklichen Menschen, empfand ich diesen Ring als das Kostbarste und Schönste, was ich je geschenkt bekommen hatte. Alle diese Menschen hatten Luke sehr gern und wünschten ihm nur das Beste.
»Wir werden auf dem Weg beim Friedensrichter weiter unten auf der Straße anhalten«, kündigte Luke an. Ein aufgeregtes Murmeln zog sich durch die Menge. Jemand sagte: »Kommt, gehen wir«, und die gesamte Schar der Zirkusleute folgte uns zum Haus des Friedensrichters. Es war mit Sicherheit eine Hochzeit, die er und seine Frau nie vergessen würden.
Der Richter konnte das Zeremoniell nicht in seinem Büro durchführen. Unsere Gäste drängten sich sogar in seinem geräumigen Wohnzimmer und verteilten sich auf der Veranda.
Die siamesischen Zwillinge, zwei Männer, die in den Zwanzigern sein mußten und an den Hüften zusammengewachsen waren, spielten Klavier. Sie zwängten sich auf den Klavierhocker und gaben eine Version des Brautmarschs zum Besten. Ich schaute mich um, sah der bärtigen Frau in die Augen, und mein Blick fiel auf die lächelnden Gesichter der Jongleure, Zwerge und Akrobaten, und ich dachte an Mamas Hochzeit.
Es schien hundert Jahre her zu sein, aber ich erinnerte mich noch daran, wie unbehaglich mir zumute gewesen war, als ich diesen kunstvoll herausgeputzten Brautjungfern durch das breite Treppenhaus gefolgt war. Jetzt stand ich im Haus dieses gewöhnlichen Friedensrichters und heiratete einen jungen Mann, den ich gerade erst kennengelernt hatte, und wir waren von Zirkusvolk umgeben. Das hätte sich Mama in ihren wildesten Träumen nie ausmalen können, dachte ich.
»Nun, ich glaube«, sagte der Richter, als er sich vor uns hinstellte und sich umsah, »wir können jetzt anfangen.«
Der Richter war ein großer, dünner Mann mit einem roten Schnurrbart und grünen Augen. Ich wußte, daß ich sein Gesicht nie vergessen würde, denn er sprach jetzt die Worte aus, die mich für immer und alle Zeiten an Thomas Luke Casteel binden würden. Lukes Zukunft war meine Zukunft, seine Leiden waren meine Leiden, sein Glück war mein Glück.
In einem wahren Sinne ähnelten unsere Leben zwei Zügen, die von verschiedenen Seiten aufeinander zugefahren waren und sich zusammengeschlossen hatten, um ihre Reise gemeinsam fortzusetzen.
Die Frau des Friedensrichters, eine kleine, rundliche Frau mit einem freundlichen Gesicht, stand neben ihm, und auch sie hatte die Augen vor Staunen weit aufgerissen.
Der Richter begann, und als er an die Stelle gekommen war, an der er fragte, ob ich Luke Casteel zu meinem liebenden Mann nehmen und ihn achten und lieben würde, bis daß der Tod uns scheidet, schloß ich die Augen und dachte an Daddy.
»Ja«, sagte ich und drehte mich zu Luke um und sah ihm tief in die dunklen Augen, in denen ich das Versprechen seiner Liebe erkannte. »Ja, das will ich.«
»Und du, Thomas Luke Casteel, gelobst du, Leigh Diane van Voreen zu achten und zu lieben in guten und in schlechten Zeiten, bis daß der Tod euch scheidet?«
»Ja, das will ich«, sagte er mit einer männlichen Entschlossenheit, die mir fast den Atem verschlug. Er sah aus, als sei er bereit, bis in den Tod zu kämpfen, um mich glücklich zu machen.
»Dann erkläre ich euch kraft meines Amtes zu Mann und Frau. Sie dürfen die Braut jetzt küssen.«
Wir küßten uns wie zwei Liebende, die über ein weites Feld gelaufen waren, um sich in die Arme zu sinken. Die Zirkusleute jubelten und drängten sich um uns. Ich mußte mich bücken, damit die Zwerge mir einen Kuß geben konnten, um mir Glück zu wünschen. Die Akrobaten hatten Reis aufgetrieben und reichten ihn aus vollen Händen an viele andere weiter, damit sie uns damit bewerfen konnten, als wir das Haus des Richters verließen.
Wir stiegen in Lukes Lastwagen und winkten ihnen zu. Alle standen jetzt auf dem Rasen vor dem Haus und winkten und lächelten und warfen uns Kußhände zu, alle bis auf eine Frau in einem purpurroten Kleid mit einem passenden Stirnband.
Von ihren Ohren baumelten lange Ohrringe aus Blattsilber, und sie hatte ein dunkles Gesicht und noch dunklere Augen als Luke. Sie wirkte ernst und nüchtern und stand abseits von der Menge.
»Wer ist diese Frau, Luke?« fragte ich und deutete auf sie.
»Ach, das ist Gittle, die ungarische Wahrsagerin.«
»Sie wirkt so ernst und so besorgt«, sagte ich beklommen.
»So schaut sie immer«, erklärte Luke. »Das ist ihre übliche Rolle, nur deshalb wird sie von den Leuten ernst genommen.
Mach dir keine Sorgen. Es hat nichts zu bedeuten, Angel.«
»Ich hoffe, du hast recht, Luke«, murmelte ich, als wir losfuhren. Ich sah mich um und winkte, als wir über die Zufahrt zum Haus des Richters holperten und in die Hauptstraße einbogen. Wenige Momente später lag alles hinter uns, und Angel und ich waren auf dem Weg in ein neues Leben, eine andere Welt.
Ich sah mich noch einmal um. Am Horizont waren Gewitterwolken aufgezogen, aber wir fuhren fort von ihnen, fuhren auf der Hauptstraße voran, als seien wir vor drohendem Regen, Wind und Kälte auf der Flucht. Vor uns in der Ferne war der Himmel strahlend blau, warm und einladend. Das hieß doch gewiß, daß alles, was traurig und abscheulich war, hinter uns lag. Selbst meine Erinnerung an das finstere Gesicht der Wahrsagerin konnte sich nicht gegen den warmen Glanz durchsetzen, mit dem uns die Sonne willkommen hieß.
Ich drückte Angel an mich.
»Glücklich?« fragte Luke.
»O ja, Luke, das bin ich.«
»Ich auch. Ich bin so glücklich wie ein Schwein im…«
»In was?«
»Schon gut, vergiß es. Von jetzt an muß ich aufpassen, was ich sage. Ich will ein besserer Mensch werden.«
»O Luke, ich bin nichts weiter als ein Mensch, der in einer Welt glücklich zu werden versucht, die einem manchmal schon schreckliche Schläge versetzen konnte.«
»Nein, das bist du nicht. Du bist mein Engel, und Engel kommen vom Himmel. Sag mal«, fügte er lächelnd hinzu,
»wenn wir ein Mädchen bekommen, dann wäre doch Heaven gar kein schlechter Name für sie. Was hältst du davon?«
Ich liebte ihn dafür, daß er gesagt hatte: »Wenn wir ein Mädchen bekommen…«
»O ja, Luke, Heaven wäre wirklich hübsch.«
»Und weißt du was? Deinen Namen geben wir ihr auch gleich noch. Dann werden wir sie also Heaven Leigh Casteel nennen«, sagte er.
Er lachte, und wir fuhren auf die Sonne zu.
21. KAPITEL
THE WILLIES
Die Fahrt nach Winnerrow und in die Berge war in Lukes altem Laster lang und beschwerlich. Kurz nachdem wir aufgebrochen waren, wurde der Motor zu heiß, und Luke mußte eine Meile zu Fuß laufen, um Wasser von einer Tankstelle zu besorgen. Er entschuldigte sich immer wieder dafür, daß er mich an einem heißen Tag im Laster warten ließ.
Ich sagte ihm, das sei schon in Ordnung und mich könnte jetzt nichts mehr unglücklich machen. Trotzdem beharrte er darauf, daß wir vor einem kleinen Restaurant außerhalb von Atlanta anhielten, damit ich etwas Kaltes trinken und er sich ein kühles Bier bestellen konnte. Er kippte es schnell hinunter und bestellte das nächste.
»Macht es dir keine Sorgen, daß du so viel Bier trinkst, Luke?« fragte ich ihn.
Er dachte nach, als sei er bisher nie auf den Gedanken gekommen.
»Ich weiß es nicht. Da, wo ich herkomme, kommt es einem ganz normal vor, schwarzgebrannten Whisky und Bier zu trinken. Wir machen uns kaum je Gedanken darüber.«
»Vielleicht könnt ihr gar nicht darüber nachdenken, weil ihr zuviel trinkt, Luke«, deutete ich behutsam an.
»Wahrscheinlich hast du recht.« Er lächelte strahlend. »Du paßt jetzt schon auf mich auf. Das gefällt mir, Angel. Ich weiß einfach, daß ich nur um deinetwillen ein besserer Mensch werde. Eins verspreche ich dir, Angel. Ich werde tun, was ich kann, um dich glücklich zu machen, und wenn ich doch etwas tue, was dich traurig macht, dann schrei mich hemmungslos an. Es ist ein gutes Gefühl, von dir geschimpft zu werden.« Er küßte mich auf die Wange. Mir wurde ganz warm ums Herz.
Ich entdeckte auf dem Tresen ein paar Postkarten und entschloß mich, eine zu kaufen, um sie an meine Mutter zu schicken. Ich dachte, es könnte ohne weiteres für lange Zeit das letzte sein, was meine Mutter von mir hören würde. Ich dachte lange nach, ehe ich anfing zu schreiben.
Liebe Mama,
es tut mir leid, daß ich fortlaufen mußte, aber du wolltest mir ja nicht zuhören. Auf meiner Reise habe ich einen wunderbaren jungen Mann kennengelernt der Luke heißt. Er sieht gut aus und ist nett und sehr liebevoll, und er hat sich entschlossen, mich zu heiraten und der Vater meines Kindes zu werden.
Luke und ich sind auf dem Weg in seine Heimat, und wir haben vor, uns dort unser eigenes Leben aufzubauen.
Ganz gleich, was du gesagt oder getan hast, wünsche ich dir dennoch viel Glück und hoffe, daß du dich in der Lage siehst, mir dasselbe zu wünschen.
Liebe Grüße Leigh
Ich klebte eine Briefmarke darauf und warf die Karte vor dem Restaurant in einen Briefkasten. Dann fuhren wir weiter.
Luke fuhr den ganzen Tag und die ganze Nacht durch. Ich fragte ihn immer wieder, ob er nicht müde sei, aber er behauptete, daß er jetzt mehr Energie als je zuvor in seinem ganzen Leben hätte. Er hatte es so eilig, nach Winnerrow zu kommen, daß er nur noch anhalten wollte, um zu tanken, zu essen und die Toilette aufzusuchen. Wir legten Meilen über Meilen zurück, und ich schlief mehrfach ein. Als die ersten Strahlen der Morgendämmerung am Horizont aufzogen, waren wir im Bergland und fuhren immer höher hinauf. Mir fiel auf, daß die Abstände zwischen den Tankstellen immer größer wurden und daß die neuerbauten Motels von kleinen Hütten abgelöst wurden, die sich in den schattigen dichten Wäldern verbargen.
Wir fuhren wieder bergab und kamen in ein Tal. Hier lagen die weiten grünen Felder außerhalb von Winnerrow, gepflegte Bauernhöfe, auf deren Feldern Sommergetreide wuchs.
»Nach diesen Bauernhöfen«, sagte Luke, »wirst du die Häuser der Ärmsten im ganzen Tal sehen, die nicht viel besser dran sind als echte Hinterwäldler. Dort oben«, sagte er und deutete auf die Hügel, die vor uns lagen, »haben die Grubenarbeiter und Schwarzbrenner ihre Hütten.«
Ich sah gespannt zu den Hügeln hinauf. Die winzigen Häuschen, die sich über den Berghang verteilten, wirkten so friedlich und unaufdringlich, fast so, als seien sie dort gewachsen und Teil der natürlichen Umgebung.
»Es gibt hier auch reiche und wohlhabende Menschen«, erklärte Luke und wies auf den hintersten Winkel des Tales.
»Siehst du, wo der fruchtbarste Schlamm von den Bergen von den heftigen Regenfällen im Frühjahr heruntergeschwemmt wird? Er landet in den Gärten von Winnerrow und gibt denen, die es am wenigsten brauchen, fruchtbaren Boden. Sie pflanzen dort Tulpen, Narzissen, Iris, Rosen und alles andere an, was ihr reiches, kleines Herz begehrt«, fügte er bitter hinzu.
»Du kannst die Städter nicht allzu gut leiden, stimmt’s, Luke?« fragte ich. Er schwieg einen Moment, und dann stieß er die Worte durch zusammengebissene Zähne hervor.
»Wir werden durch die Hauptstraße fahren, und dann siehst du, daß dort die Gewinner leben. Nach dieser Reihe von Gewinnern heißt vielleicht die ganze Stadt.«
»Gewinner?«
»Die Besitzer der Kohlenbergwerke haben sich hier auf Kosten der Verlierer ihre großen Häuser gebaut: Bergarbeiter, die an Lungenkrankheiten und dergleichen sterben. Dann gibt es noch die Besitzer der Baumwollentkörnungsmaschinen, die den Stoff für Bett- und Tischwäsche herstellen, und die Besitzer der Baumwollspinnereien, in denen die unsichtbaren Fusseln durch die Luft schweben und von so vielen Arbeitern eingeatmet werden. Das Zeug setzt sich in ihren Lungen ab, und niemand hat je einen der Besitzer auf Schadenersatz verklagt«, sagte er erbost.
»Hast du oder hat einer deiner Familienangehörigen je in den Minen oder in den Spinnereien gearbeitet, Luke?« fragte ich.
»Meine Brüder haben eine Zeitlang dort gearbeitet, als sie noch jünger waren, aber sie konnten nie länger in einer Stellung bleiben und sind dann weitergezogen. Mein Pa dachte gar nicht daran, eine solche Arbeit anzunehmen. Lieber hat er sich abgemüht, um von der Feldarbeit zu leben.
Zwischendurch hat er seltsame Jobs angenommen, oder er hat schwarzgebrannten Whisky verkauft. Ich kann nicht sagen, daß ich ihm das vorwerfe.
Eins sollte ich dir gleich vorweg sagen, Angel: Die Städter können die Leute aus den Bergen nicht besonders gut leiden.
In der Kirche müssen wir in den hintersten Reihen sitzen, und sie halten ihre Kinder von unseren Kindern fern.«
»Aber das ist ja entsetzlich, Luke. Wie kann man solche Dinge nur an kleinen Kindern auslassen?« rief ich und versuchte, mir auszumalen, wie sehr ihn das früher getroffen haben mußte. »Niemand sollte sich besser als andere vorkommen.«
»Gut, aber erzähl das mal dem Bürgermeister von Winnerrow«, sagte er lächelnd. »Ich wette, das brächtest du fertig. Ich kann es kaum erwarten, dich in die Kirche mitzunehmen, Angel. Ich kann es kaum erwarten«, sagte er kopfschüttelnd.
Wir kamen an eine Weggabelung, und Luke bog nach rechts ab. Hier endete die Teerstraße, und wir fuhren über harten Lehm und Kies. Wir fuhren immer weiter durch die Wälder und kamen schließlich auf einen holprigen Feldweg. Die Gerüche von Geißblatt, Walderdbeeren und Himbeersträuchern stiegen in meine Nase. Hier in den Bergen von West Virginia war es kühl und frisch und klar, und ich fühlte mich sofort lebendiger. Es war, als reinigte mich die Bergluft und schwemmte all das Schlechte aus meinem Körper.
»Wir sind fast da, Angel. Du brauchst nicht mehr lange durchzuhalten. Warte nur, bis Ma dich erst mustert.«
Ich hielt den Atem an. Wo lebte seine Familie? Konnte sie so tief in den Wäldern leben? Wie konnten sie hier ein Haus mit Rohren haben, die an eine Kanalisation oder an die Wasserversorgung angeschlossen waren? Und wo waren die elektrischen Leitungen und die Telefonkabel? Alles, was ich sah, waren Bäume und Sträucher.
Plötzlich glaubte ich, Musik zu hören. Luke strahlte über das ganze Gesicht.
»Pa sitzt auf der Veranda und fiedelt«, sagte er.
Wir fuhren um ein paar kräftige Bäume herum, die dicht zusammen wuchsen, und hielten an. Wir waren da – hier war Luke zu Hause. Ich konnte nicht vermeiden, daß ich erstaunt nach Luft schnappte. Zwei kleine Hunde, die es sich an einem sonnigen Fleckchen bequem gemacht hatten, sprangen auf und bellten aufgeregt.
»Das sind Kasey und Brutus«, sagte Luke. »Meine Hunde.
Und hier bin ich zu Hause.«
Zu Hause! dachte ich. Die Hütte war aus alten Holzstämmen mit zahllosen knorrigen Astlöchern gebaut. Das Dach bestand aus verrostetem Blech. Die Hütte hatte Dachrinnen mit Fallrohren und Regenfässern, und mir wurde klar, daß sie wirklich dazu dienten, Wasser darin zu sammeln.
Über die Vorderfront der Hütte zog sich eine schiefe, baufällige Veranda, auf der zwei Schaukelstühle standen. Ein Mann, den ich mühelos als Lukes Vater erkennen konnte, saß mit einem Banjo auf dem Schoß da. Er hatte pechschwarzes Haar und dunkle Haut, und er wirkte zwar, als hätte er ein hartes Leben hinter sich, aber sein Gesicht wies nach wie vor schöne Züge auf – eine gerade römische Nase, ausgeprägte Wangenknochen und ein festes Kinn. Er wirkte derb, aber als er Luke sah, lächelte er sanft und liebevoll.
Die Frau, die neben ihm saß und häkelte, wirkte wesentlich strenger. Sie hatte ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, der ihr auf den Rücken fiel. Sie schien etwa so alt wie meine Mutter zu sein, aber als ich sie genauer betrachtete, merkte ich, daß sie viel älter aussah. Ich sah, daß ihr etliche Zähne fehlten und daß sie Falten um die Augen und auf den Schläfen hatte. Die Furchen auf ihrer Stirn waren tief und deutlich zu sehen.
Lukes Mutter mußte einmal eine sehr hübsche Frau gewesen sein. Sie hatte Lukes dunkle Augen, und wenn ihr Haar auch von grauen Strähnen durchsetzt war, schimmerte es doch seidenweich. Sie machte einen stolzen und entschlossenen Eindruck. Sie war fast so groß wie Luke. Ich sah, daß ihre Hände rauh und männlich wirkten, weil sie ihre Fingernägel kurz geschnitten und Schwielen auf den Händen hatte.
»Ma!« rief Luke und sprang aus dem Lastwagen. Sie umarmte ihn heftig. Mütterlicher Stolz und Freude strahlten in ihren Augen. Lukes Vater legte das Banjo auf den Schaukelstuhl und sprang schnell die Stufen von der Veranda herunter, um seinen Sohn zu begrüßen und zu umarmen.
»Hallo, Luke«, sagte sein Vater. »Diesmal habe ich dich nicht so schnell zurückerwartet. Wieso hast du es dir anders überlegt?« fragte er und ließ seine Hände immer noch auf Lukes Schultern liegen.
»Wegen Angel«, sagte Luke.
»Angel?«
Lukes Eltern drehten sich zu mir um.
»Angel, komm raus, und sag Ma und Pa guten Tag. Ma«, fuhr Luke fort, während ich aus dem Wagen stieg, »ich möchte dir meine Frau vorstellen, Angel.«
»Deine Frau!« rief seine Mutter aus. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß, als ich näher kam, und ihr ungläubiger Ausdruck wurde von der Enttäuschung abgelöst, die sich auf ihrem Gesicht breitmachte. »Ist sie nicht etwas zu jung und zu zerbrechlich für das Leben hier?« fragte sie. Ich blieb vor ihr und Lukes Vater stehen und wartete darauf, daß er mich vorstellen würde.
»Angel, ich möchte dir meine Ma Annie und meinen Pa Toby Casteel vorstellen. Ma, das ist mein Engel. Mit richtigen Namen heißt sie Leigh, aber ich finde, Angel paßt besser zu ihr.«
»Ach ja?« sagte seine Mutter und sah mich immer noch ungläubig an.
»Willkommen bei uns zu Hause«, sagte sein Vater und umarmte mich.
»Wann hast du denn das getan, Luke?« fragte seine Mutter und starrte mich weiterhin an.
»Gestern in Atlanta. Wir haben uns getroffen und uns sofort verliebt. Wir sind vom Friedensrichter getraut worden, alles wie es sich gehört, und wir hatten die größte und beste Hochzeitsgesellschaft, die ihr je gesehen habt – alle meine Freunde vom Zirkus. Stimmt’s, Angel?«
»Ja«, nickte ich. Ich war schrecklich gehemmt, weil Lukes Mutter mich immer noch ungeniert anstarrte. Jede Mutter wäre argwöhnisch gewesen und hätte die Frau kritisch betrachtet, die ihr Sohn nach Hause mitbrachte, dachte ich, aber Lukes Mutter schien schockiert und enttäuscht zu sein.
»Wie alt bist du?« fragte sie mich.
»Ich bin fast vierzehn«, antwortete ich. Ich spürte, wie die Tränen in meine Augen traten. Sogar hier, in der ärmsten Gegend auf Erden, hatten die Leute etwas an mir auszusetzen.
»Dein Alter ist nicht das Problem«, meinte Lukes Mutter,
»aber man braucht eine Menge Mumm, um hier zu leben, Kind. Zeig mir mal deine Hände«, forderte sie mich auf. Sie nahm meine Hände und drehte sie um. Sie fuhr mit ihren schwieligen Fingern über meine zarten Handflächen und schüttelte den Kopf. »Du hast noch keinen Tag in deinem Leben wirklich zugepackt, stimmt’s, Mädchen?«
Ich riß meine Hände unwillig zurück. »Ich kann so hart arbeiten wie jeder andere auch«, erwiderte ich. »Ich bin sicher, daß Ihre Hände auch einmal so zart wie meine waren.«
Einen Moment lang herrschte drückendes Schweigen, und dann lächelte sie. »Na, den Stolz einer Casteel hast du jedenfalls. Ich wußte doch, daß es einen Grund geben muß, wenn mein Sohn sich in dich verliebt hat.« Sie wandte sich wieder an Luke, der dastand und vor Freude strahlte.
»Willkommen zu Hause, mein Sohn. Wie sehen deine Pläne aus?«
»Angel und ich werden eine Zeitlang bei dir und Pa leben, Ma. Ich möchte mir bei Mr. Morrison in Winnerrow einen Job besorgen und Schreiner lernen. Er war schon immer darauf aus, daß ich für ihn arbeite. Dann werde ich uns ein schönes Haus bauen, vielleicht unten im Dorf, und dort werde ich das Land bestellen, Kühe, Schweine und Pferde züchten und dafür sorgen, daß wir ein anständiges, ordentliches Leben führen können. Ich werde ein Haus bauen, das für uns alle groß genug ist, und du und Pa, ihr werdet von diesem Berg herunterkommen und so leben, wie alle Menschen leben sollten«, fügte er hinzu.
Seine Mutter zog die Schultern hoch, und jeder Rest eines Lächelns schwand von ihrem Gesicht.
»Wir sind nicht niedriger gestellt und nicht schlechter als die Leute unten im Tal, Luke. Du hast bisher noch nie schlecht über das Leben in den Bergen geredet. Hier bist du geboren und aufgewachsen, und deshalb bist du heute nicht weniger wert.«
»Das habe ich auch nicht gesagt, Ma. Ich will jetzt nur einfach etwas Großes vollbringen«, sagte er und nahm mich an der Hand. »Ich habe jetzt eine große Verantwortung.«
Seine Mutter sah mich weiterhin argwöhnisch an.
»Na, wenn wir das nicht feiern müssen«, sagte Pa Casteel.
»Ma? Kochen wir doch die Kaninchen.«
»Die Kaninchen sind für den Sonntag da«, erwiderte sie.
»Dann jage ich eben neue.«
»Du hast schon lange genug gebraucht, um die da zu jagen«, schimpfte sie, aber davon ließ er sich nicht einschüchtern.
»Ich bin jetzt wieder da, Ma«, sagte Luke. »Fleisch wird es jetzt wieder genug geben.«
»Hm«, sagte sie skeptisch. »Na gut. Dann solltest du jetzt am besten deine Sachen ins Haus bringen, Angel«, sagte sie zu mir.
»Sie hat nur einen einzigen Koffer«, sagte Luke.
»Nur einen Koffer?« Annie Casteel riß die Augen auf und faßte ein ganz neues Interesse an mir. »Sie sieht aus, als hätte sie eine Wagenladung Zeug dabei. Komm mit rein, und sieh zu, wie ich einen Eintopf mit Kaninchen zubereite, und dabei kannst du mir alles über dich erzählen.«
»Ich hole den Apfelwein, Luke«, verkündete Pa hinter uns.
»Toby Casteel, ich warne dich. Du und dein Sohn, ihr werdet heute nicht zuviel trinken!«
Lukes Vater lachte. Luke und er folgten Annie und mir, als wir die wackligen Stufen hinaufstiegen und in die Hütte traten.
Schon von dem Moment an, in dem ich die Hütte zum ersten Mal gesehen hatte, hatten sich meine Erwartungen beträchtlich zurückgeschraubt, aber auf das, was ich in ihrem Innern vorfand, war ich trotzdem noch nicht vorbereitet.
Die Hütte bestand aus zwei kleinen Räumen, zwischen denen ein zerschlissener Vorhang eine Art Tür bildete, hinter der ich das Schlafzimmer vermutete. Mitten in dem großen Raum stand ein gußeiserner Herd und daneben etwas, was ein alter Küchenschrank zu sein schien. Darin waren Mehl, Zucker, Kaffee und Tee.
»Wie du sehen kannst«, setzte Annie an, »haben wir nicht gerade ein Schloß, aber wir haben ein Dach über dem Kopf.
Unsere Kuh gibt uns frische Milch, und wenn unsere Hühner dazu aufgelegt sind, legen sie auch mal ein Ei. Die Schweine und Ferkel laufen frei herum und drängen sich nachts unter der Veranda zusammen. Du wirst hören, wie sie einträchtig mit den Hunden und Katzen und allen, die sonst noch ihr Bett dort unten aufschlagen, schnarchen«, sagte sie und wies mit einer Kopfbewegung zum Fußboden.
Ich glaubte gewiß nicht, daß sie übertrieb. Der Boden der Hütte hatte zwischen den schiefliegenden Balken Ritzen von mindestens zwei Zentimetern Breite. Als ich mich umsah, stellte ich fest, daß es nirgends ein Bad gab. Wohin gingen sie, wenn sie auf die Toilette gehen wollten? Wie duschten sie?
Lukes Mutter las meine Gedanken. Sie lächelte, als sie meinen fragenden Blick sah.
»Falls du dich fragst, wo die Toilette ist, die ist draußen.«
»Draußen?«
»Erzähl mir nur nicht, daß du noch nie von einem Abort gehört hast, Kind?«
»Ein Abort?« Ich warf Luke einen Blick zu.
»Sei unbesorgt, Angel. Als allererstes werde ich dir einen eigenen Abort bauen. Sobald ich morgen aus der Stadt zurückkomme, werde ich damit anfangen.«
»Was ist ein Abort?« fragte ich zaghaft.
Lukes Mutter lachte.
»Du hast dir doch wirklich ein Stadtkind ausgesucht, was, Luke? Ein Abort ist eine Toilette, Angel. Man geht zu diesem kleinen Häuschen, wenn die Natur ruft, und dort setzt man sich auf ein Brett mit zwei Löchern.«
Möglicherweise wurde ich ein wenig blaß. Ich weiß es nicht.
Aber Lukes Mutter lächelte jetzt nicht mehr, sondern sah ihren Sohn vorwurfsvoll an. Er stellte meinen Koffer ab und umarmte mich.
»Ich werde dir etwas wirklich Hübsches bauen, Angel.
Schließlich werde ich im Handumdrehen genug Geld haben, um uns ein Haus im Tal zu bauen.«
»Weißt du, wie man Kaninchen zubereitet?« fragte Annie Casteel. Ich blickte auf und sah, wie sie zwei tote Kaninchen an den Ohren aus einem kleinen Kühlbehälter zog. Ich schnappte nach Luft und schluckte. »Warte nur, wenn ich sie erst gehäutet habe, zeige ich dir das Rezept von meiner Mutter.«
»Ma kocht das beste Kaninchen, das du je gegessen hast«, schwärmte Luke.
»Ich habe noch nie Kaninchen gegessen, Luke«, sagte ich und kämpfte mühsam gegen meine Atemnot an.
»Dann wirst du bald eine Köstlichkeit kennenlernen«, erwiderte er. Ich nickte hoffnungsvoll, holte tief Atem und sah mich um. Lukes Mutter und Vater waren so ziemlich die ärmsten Menschen, die ich je gesehen hatte, aber wenn ich mir Toby Casteel anschaute, sah ich ein strahlendes, glückliches Lächeln auf seinem Gesicht. Lukes Mutter strotzte vor Stolz und Kraft. Ich war durcheinander, müde und verängstigt. Das Leben hatte mich in genau dem Augenblick vor eine neuerliche Herausforderung gestellt, in dem ich geglaubt hatte, in ein verzaubertes Leben voller Glück einzutreten. Aber ich erkannte, daß hier die Zeit und der Platz für Tränen fehlten.
Hier gab es nur Arbeit, den Kampf ums Überleben. Vielleicht war das gar nicht schlecht für mich. Vielleicht würde ich stärker, kräftiger und robuster, und vielleicht konnte ich dann dem Bösen ins Gesicht sehen.
»Jemand muß diese Kartoffeln schälen«, sagte Annie Casteel und deutete auf einen Berg Kartoffeln, die auf dem Boden lagen.
»Das mache ich«, erbot ich mich freiwillig, obwohl ich es noch nie getan hatte. Sie sah mich skeptisch an, aber das bestärkte mich nur in meiner Entschlossenheit. »Wo ist der Kartoffelschäler?« fragte ich. Lukes Mutter lächelte. »Wir haben keine tollen Geräte, Angel. Nimm einfach dieses Taschenmesser da, und schneid nicht zuviel ab.«
Dann wandte sie sich um. »Luke, du wirst Angels Sachen jetzt hinter den Vorhang bringen.«
»Hinter den Vorhang? Aber wo werdet ihr schlafen, du und Pa?« fragte Luke mit einem besorgten Blick.
»Wir schlagen uns ein Lager auf dem Fußboden auf. Das ist kein Problem. Wir haben doch schon öfter auf Decken auf dem Boden geschlafen, stimmt’s, Pa?«
»Das kann man wohl sagen.«
»Aber…«
»Jetzt fang bloß nicht an zu streiten, Luke. So wie ich dich kenne, wirst du gleich ein Baby wollen. Ich habe sogar den Verdacht, du hast vielleicht schon damit angefangen«, sagte sie und sah mich an, als sei es ihr möglich, mir die Schwangerschaft im Gesicht anzusehen. »Alle Casteels werden in Betten gezeugt«, fügte sie hinzu. »Ich hoffe und bete, daß es immer so bleiben wird.«
»Einverstanden, Ma.« Luke zog den Vorhang zurück, und dahinter stand ein breites Messingbett mit einer alten, durchgelegenen, fleckigen Matratze auf ausgeleierten Sprungfedern. Wie groß war doch der Unterschied zwischen diesem Bett und dem in dem billigen Motel, in dem wir die letzte Nacht geschlafen hatten, dachte ich. Aber es war unser erstes Ehebett. Wir mußten uns damit begnügen.
Zwei verschiedenere Welten als die von Farthinggale Manor und die der Casteels konnte es wohl nicht geben. Ich hatte mich entschlossen, von Farthy fortzulaufen, und ich hatte mich gleich so weit davon entfernt, daß es schien, als existierten meine Mutter und Tony und alles, was ich zurückgelassen hatte, auf einem fernen Planeten in einem anderen Sonnensystem. Ich war schockiert und fürchtete mich, aber ich war entschlossen, nicht umzukehren.
Trotz ihrer rauhen Art, ihrer derben Ausdrucksweise und ihrer kritischen Blicke stellte ich fest, daß man sich mühelos mit Annie Casteel unterhalten konnte. Sie hörte wirklich zu, wenn ich etwas sagte, und sie lauschte mit Interesse und einem Ausdruck des Erstaunens auf dem Gesicht, als ich ihr meine Lebensgeschichte erzählte. Natürlich sagte ich ihr nicht, daß Tony mich vergewaltigt hatte. Luke wollte, daß ich das Geheimnis meiner Schwangerschaft vor seinen eigenen Eltern bewahrte. Annie wollte wissen, warum ich fortgelaufen war, und ich erklärte, daß der neue Ehemann meiner Mutter Annäherungsversuche unternommen hatte und daß meine Mutter mir die Schuld daran gegeben hatte.
»Ohne einen Daddy, der sich um mich kümmert, und mit einer Mutter, die mir nicht glaubt, habe ich mich so einsam und allein gefühlt, daß ich beschlossen habe, fortzulaufen. Ich war auf dem Weg zu meiner Großmutter, als ich Luke getroffen und mich in ihn verliebt habe«, erklärte ich. Sie nickte und reichte mir die Karotten zum Abschaben und waschen. Als ich ihr aber von den Puppen und von Angel erzählte, bestand sie darauf, daß ich die Arbeit augenblicklich niederlegen und Angel aus meinem Koffer hole, damit sie endlich einmal etwas so Schönes und Kostbares zu sehen bekam. Ihre Augen strahlten vor Freude.
»Als ich ein kleines Mädchen war, mußte mir mein Pa eine Puppe aus einem dicken Ast schnitzen. Ich habe nie etwas Zartes und Reizvolles besessen, und so was habe ich noch nie gesehen, auch nicht unten in Winnerrow in den Schaufensterauslagen. Und als ich dann verheiratet war, hatte ich keinen Grund, eine Puppe zu kaufen, weil ich sechs Jungen und kein Mädchen bekommen habe. Nach einer Weile habe ich den Versuch aufgegeben, ein Mädchen zu bekommen. Ich hoffe, wenn ihr ein Baby kriegt, du und Luke, wird es ein Mädchen«, sagte sie, und ich merkte, daß diese derbe, harte Frau so sanft und zart wie jede andere Frau sein konnte. Es tat mir leid für sie, daß ihr Leben so schwer war.
»Das hoffe ich auch, Mrs. Casteel«, sagte ich. Sie starrte mich einen Moment lang an, ehe sie etwas sagte.
»Du sagst Ma zu mir«, bestimmte sie, und ich lächelte. »Und jetzt wollen wir diesen Eintopf aufsetzen. So wie ich die beiden kenne, werden sie eher nach dem Essen schreien wie störrische Maultiere, als man es glauben sollte.«
»Ja, Ma.«
Zum ersten Mal in meinem Leben benutzte ich ein Plumpsklo, und dann setzte ich mich an den kleinen Eßtisch und aß etwas, wovon ich im Traum nicht geglaubt hatte, daß ich es herunterbringen könnte. Aber es schmeckte köstlich.
Nach dem Essen spielte Pa auf seinem Banjo, und Luke und er sangen alte Lieder aus den Bergen und tranken schwarzgebrannten Whisky. Ich sah, daß sie beide schon einen kleinen Schwips hatten. Pa zog Luke auf die Füße, damit er tanzte, und dann legte er selbst auch einen Tanz hin. Nach einer Weile schimpfte Ma sie aus, sie sollten nicht so dummes Zeug machen. Luke warf mir einen schnellen Blick zu, und ich schüttelte den Kopf. Das reichte aus, um ihn sofort zu ernüchtern.
Kurz bevor wir ins Bett gingen, setzten Luke und ich uns noch auf die Veranda und lauschten den Geräuschen des Waldes – den Schreien der Eulen, dem Heulen der Kojoten und dem Quaken der Frösche aus den Sümpfen. Es gab mir wirklich ein Gefühl von Frieden und Geborgenheit, mit Luke dazusitzen, seine Hand zu halten und zu den Sternen aufzublicken, obwohl ich Meilen von der Zivilisation entfernt war, die ich kannte, und in einer Hütte lebte.
Als wir gemeinsam unter die Decke krochen, umarmte ich Luke und küßte ihn liebevoll. Er war erregt, aber er hielt sich zurück.
»Nein, Angel«, flüsterte er. »Wir werden warten, bis du das Baby bekommen hast und ich dir ein ordentliches Zuhause bieten kann, in dem wir weitab von den Ohren anderer schlafen und uns lieben können.«
Ich wußte, was er meinte. Die alten Sprungfedern quietschten schon, wenn wir uns nur umdrehten. Auf der anderen Seite des Vorhangs schnarchte Pa, und unter dem Holzfußboden schnaubten die Schweine, und die Hunde winselten, wie Ma es angekündigt hatte. Etwas kratzte am Holz. Ich hörte eine Katze fauchen, und dann war alles so still, wie es nur sein konnte, wenn der Wind durch die Bäume und die Ritzen im Boden und in den Wänden der kleinen Hütte pfiff. Pas schwarzgebrannter Whisky ließ Luke sehr schnell einschlafen. Bei mir dauerte es etwas länger, aber schließlich schloß ich die Augen und schlief.
Am Morgen stand Luke früh, aber frisch und ausgeruht auf und fuhr nach Winnerrow, um sich um eine Anstellung als Schreiner zu kümmern. Pa arbeitete mit einem Bauern zusammen, der Burl hieß. Er half ihm, einen neuen Stall zu bauen, um sich damit etwas Geld zu verdienen. Nach dem Frühstück setzte sich Ma hin, um zu häkeln. Ich entschloß mich, mir einen Putzlappen, einen Eimer und ein Scheuermittel zu suchen und mein Bestes zu tun, um die Hütte zu putzen. Ma schien über meine Bemühungen belustigt zu sein, aber als sie wieder in die Hütte kam und sah, daß ich die Fenster geputzt hatte und daß ihre Küchengeräte blinkten, nickte sie beifällig.
Anschließend führt sie mich in ihren kleinen Garten, und ich half ihr beim Unkraut jäten, während sie über ihre Vergangenheit sprach und mir erzählte, wie sie aufgewachsen war. Sie sprach auch von ihren anderen Söhnen, Lukes Brüdern, und ich erkannte, wie aufgebracht sie über die beiden war, die im Gefängnis saßen.
»Wir sind arm, und wir haben nie vornehm getan«, sagte sie,
»aber wir sind immer ehrliche Leute gewesen. Abgesehen natürlich von dem schwarzgebrannten Whisky, aber das geht die Regierung eigentlich nichts an. Diese Steuereinzieher tun doch nichts anderes, als die großen Geschäftsleute zu beschützen, die Schnaps brennen und ihn zu unverschämten Preisen verkaufen. Das könnten sich die Leute hier oben niemals leisten, und wenn die Schwarzbrenner nicht wären, hätten sie gar keinen Schnaps. Aber glaub nicht, daß ich viel vom Trinken halte. Genau damit haben sich nämlich meine Söhne in Schwierigkeiten gebracht. Ich kann es nur einfach nicht mitansehen, wenn ein armer Kerl Ärger kriegt, weil er sich seinen Whisky selbst braut. Verstehst du, Angel?«
»Ja, Ma.«
»Hm«, sagte sie und sah mir bei der Arbeit zu. »Vielleicht gewöhnst du dich doch noch hier ein und wirst eine gute Ehefrau. Wenigstens macht es dir nichts aus, dir die Hände schmutzig zu machen.«
Es war komisch, wie stolz ich mich bei diesen Worten fühlte.
Ich stellte mir den Gesichtsausdruck meiner Mutter vor, wenn sie mich jetzt hätte sehen können. Sie wollte schon sterben, wenn sie auf Farthy mit einem staubigen Gegenstand in Berührung kam, und hier hockte ich jetzt und grub mit meinen Fingern die weiche, kühle Erde auf. Und dabei fühle ich mich gar nicht schlecht, dachte ich. Aber ich wollte mich trotzdem für Luke hübsch machen, wenn er von seinem ersten Arbeitstag in Winnerrow zurückkam.
»Aber es ist doch auch in Ordnung, wenn ich mir hinterher die Hände wasche, mir die Nägel reinige und mir vielleicht ein paar Tropfen von der Lotion, die ich mitgebracht habe, in die Finger reibe, oder, Ma?«
Wie sie lachte!
»Natürlich, Kind. Verdammt, glaubst du etwa, ich würde nicht gern aussehen wie eine dieser eleganten, reichen Frauen aus Winnerrow?«
»Vielleicht kann ich dir dabei helfen, Ma«, sagte ich. »Laß dir nachher von mir das Haar bürsten, und du kannst auch meine Handcreme benutzen.«
Sie sah mich erstaunt an. »Hm, mal sehen.«
Die Vorstellung schien sie zu erschrecken, aber sie ließ mich gewähren. Ich durfte ihr das Haar ausbürsten und sie frisieren.
Dann holten wir ihr bestes Kleid und eines meiner Kleider heraus und machten uns so fein wie möglich, um Luke und seinen Vater zu empfangen, wenn sie von der Arbeit zurückkamen. Pa kam als erster nach Hause.
»Was soll denn das heißen?« fragte er, als er uns auf der Veranda sah. »Heute ist doch nicht etwa Sonntag, oder?«
»Jetzt hör mir mal zu, Toby Casteel, es braucht doch nicht Sonntag zu sein, damit ich anständig aussehe, oder?« polterte Ma. Er war bedrückt und verwirrt und wandte sich an mich, weil er verstehen wollte, was er falsch gemacht hatte. »Dir würde es auch nichts schaden, wenn du dich wäschst und dir ab und zu etwas Anständiges zum Abendessen anziehst.
Schließlich bist du immer noch ein gutaussehender Mann.«
»So, bin ich das? Wenn du das sagst, dann ist es wohl wahr«, sagte er und zwinkerte mir zu.
»Ja, Pa, das stimmt«, bestätigte ich, und er strahlte. Er ging hinter die Hütte, badete sich in Regen wasser und zog sich dann auch seine besten Sachen an, seinen »Sonntagsstaat«. Zu dritt setzten wir uns auf die Veranda und warteten auf Lukes Heimkehr.
Es dauerte nicht lange, bis wir seinen Lastwagen hörten, der über den Bergpfad holperte. Ab und zu hupte er.
»Oha«, machte Ma. Sie warf mir schnell einen warnenden Blick zu. Mein Herz schlug schneller. Was war los? Was hatte das zu bedeuten?
Luke hielt hupend vor der Hütte. Dann sprang er aus dem Wagen und ließ die Tür hinter sich offenstehen. Er preßte eine Sechserpackung Bier an sich, aber drei der Flaschen waren schon geleert.
»Wir haben Grund zum Feiern«, rief er und lachte.
»Was zum Teufel…«, sagte Pa.
»Zum Henker mit dem Kerl!« fauchte Ma.
Luke wankte umher und lächelte blöde. Dann sah er uns drei endlich genauer an.
»Was zum…« Er deutete auf uns, als stünde jemand neben ihm. »Sieh dir die bloß an… was zum… ach so, ihr feiert auch alle.«
»Luke Casteel«, sagte ich und stemmte die Hände in die Hüften. »Wie kannst du es wagen, so nach Hause zu kommen?
Erstens hättest du mit dem Lastwagen vom Weg abkommen und verunglücken können, und jetzt siehst du auch noch so dämlich aus, daß ich heulen könnte.«
»He?«
»Gib’s ihm«, spornte Ma mich an.
»Wir bemühen uns hier, um alles schön zu machen, und dann kommst du betrunken nach Hause.« Ich drehte mich hastig um.
Tränen strömten über mein Gesicht, als ich in die Hütte stürmte.
Ich ließ mich auf unsere Matratze fallen und weinte. Kurz darauf folgte mir ein wesentlich nüchternerer Luke Casteel. Er kniete sich neben mich hin und strich mir übers Haar.
»O Angel«, sagte er. »Ich habe mich doch nur für uns gefreut und wollte feiern. Ich habe die Arbeit bekommen und zudem noch herausgefunden, daß ich verbilligtes Bauholz kaufen kann.«
»Das ist mir ganz egal, Luke. Wenn du etwas zu feiern hast, dann solltest du warten und es mit uns zusammen feiern. Ich habe dir doch schon gesagt, daß mir das viele Bier Sorgen macht, und du hast mir versprochen, weniger zu trinken. Und jetzt muß das passieren.«
»Ich weiß, ich weiß. Oh, es tut mir so leid«, stammelte er.
»Ich werde die übrigen Bierdosen nehmen und sie vom Berg werfen«, gelobte er. »Und wenn du mir nicht verzeihst, stürze ich mich gleich hinterher.«
»Luke Casteel«, schrie ich und drehte mich zu ihm um. »Sag nie so etwas. Niemals!« Meine Augen sprühten Funken. Ich konnte sehen, wie sehr ihn das überraschte.
»Junge, bist du schön, wenn du wirklich wütend wirst«, sagte er. »Ich habe dich noch nie so wütend gesehen, aber ich will dich nicht wütend machen. Ich verspreche es dir.« Er hob die Hand. »Ich werde nicht mehr trinken und dann Auto fahren.
Gibst du mir noch eine Chance?«
»O Luke Casteel, du weißt doch genau, daß ich dir eine Chance gebe«, sagte ich, und wir fielen uns in die Arme und küßten uns.
»Ich habe etwas Bauholz im Lastwagen«, sagte er. »Und ich werde auf der Stelle anfangen, dir einen Abort zu bauen.«
Ich folgte ihm vors Haus und sah zu, wie er das Holz ablud.
Ma warf mir einen beifälligen Blick zu, weil ich ihn so schnell ernüchtert hatte. Dann wandte sie sich an Luke.
»Wofür ist das Holz da?« fragte sie ihn.
»Für Angels Toilette«, sagte er, und das brachte Ma und Pa Casteel zum Lachen.
»Na los, macht euch ruhig über mich lustig«, rief Luke, »aber wenn ihr das Ergebnis seht, werdet ihr nicht mehr lachen.«
Luke baute wirklich das schönste Plumpsklo, das man sich denken konnte. Hinterher strich er es weiß und bestand darauf, daß wir es nicht Abort, sondern Toilette nannten. Ma zog ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit damit auf.
»Ich suche jetzt meinen Abort auf. Ich meine natürlich, die Toilette«, sagte sie immer wieder, und dann wandte Luke den Blick von ihr ab und schüttelte den Kopf.
Es wurde Herbst. Luke nahm Reparaturen an der Hütte vor und probierte einiges aus, was er in seiner Schreinerlehre lernte. Er baute Ma ein paar Schränke und Regale und besserte die Veranda und die Stufen zur Veranda aus, um beides stabiler zu machen. Er schloß manche der Ritzen im Boden und in den Wänden, aber seine Arbeit in der Stadt nahm immer mehr von seiner Zeit in Anspruch. Schon bald kam er erst nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause und war todmüde, fast zu müde, um noch zu Abend zu essen. Manchmal roch sein Atem nach Whisky. Immer, wenn ich ihn darauf ansprach, behauptete er, nur einen kleinen Schluck getrunken zu haben, um den Tag zu überstehen.
»Er versucht, mir die Arbeit von zwei Männern aufzubrummen, Angel«, klagte er eines Abends nach dem Essen. Wir machten einen Spaziergang auf einem Pfad durch die Wälder, der zu einem Kamm führte, von dem aus man auf das Tal hinunterschauen konnte. Es war ein atemberaubender Ausblick. Wir konnten meilenweit die Lichter in den Häusern sehen. »Alle Geschäftsleute in Winnerrow nutzen die Leute aus den Bergen früher oder später aus«, erklärte Luke. »Ich nehme mich zusammen, weil ich sobald wie möglich mit unserem eigenen Haus beginnen möchte, aber es wird immer schwerer.«
»Mir gefällt nicht, daß du deine Sorgen und deinen Ärger im Alkohol ertränkst, Luke. Kannst du dir nicht eine andere Arbeit suchen?«
»Für uns Leute aus den Bergen gibt es nicht viele Arbeitsstellen.«
»Ich habe nachgedacht, Luke. Vielleicht sollte ich versuchen, Kontakt zu meinem Daddy aufzunehmen. Ihm gehört eine Dampfschiffahrtsgesellschaft, und ich bin sicher, daß er eine gute Stellung für dich hätte.«
»Was für eine Arbeit soll das sein? Soll ich im Maschinenraum eines Dampfers arbeiten und die meiste Zeit von dir getrennt sein?«
»Ich bin sicher, daß er dir eine Büroarbeit geben könnte, Luke.«
»Mir? Büroarbeit? Da käme ich mir vor wie ein Eichhörnchen, das in einen Käfig gesperrt wird. Nein, nein, das ist nichts für mich. Ich muß im Freien sein können oder das aufregende Leben beim Wanderzirkus führen, das einem noch mehr Freiheit gibt.«
»Möchtest du vielleicht wieder zum Zirkus gehen, wenn das Baby geboren ist, Luke?« fragte ich. »Wenn du willst, gehe ich mit.«
»Nee. Das Zirkusleben ist hart, und man ist ständig unterwegs. Ich halte durch, bis wir uns ein eigenes Haus bauen können«, sagte er.
»Ich könnte meinem Daddy schreiben und ihn bitten, mir einen Teil meines Geldes zu schicken. Außerdem habe ich auch noch Geld in einem Treuhänderfonds auf Farthy.«
»Wir wollen dieses Geld nicht haben«, fuhr mich Luke an. Es war das allererste Mal, daß er böse auf mich wurde. Sogar im Dunkeln konnte ich sehen, daß seine Augen entrüstet funkelten. »Ich kann selbst für uns sorgen.«
»Ich wollte damit nicht sagen, daß du das nicht kannst, Luke.«
Er nickte, und es tat ihm sofort leid, daß er seine Stimme gegen mich erhoben hatte.
»Es tut mir leid, daß ich wütend geworden bin, Angel. Ich bin nur einfach so erschöpft.«
»Ma hat recht, Luke. Du solltest dir einen Tag freinehmen.
Selbst, wenn du einmal Freizeit von deiner Arbeit hast, arbeitest du ständig hier. Wir wollen uns am kommenden Sonntag alle fein anziehen und in die Kirche gehen. Bitte, Luke.«
»Also gut, meinetwegen«, sagte er nachgiebig.
Ma war glücklich darüber, daß wir alle in die Kirche gehen wollten, aber als wir am folgenden Sonntag dort erschienen, erkannte ich erst, was Luke gemeint hatte, als er mir erzählt hatte, die Städter sehen auf die Menschen aus den Bergen herab. Sobald wir die Kirche betreten hatten, hätte man die Luft mit einem Messer schneiden können. Sämtliche eleganten Städter drehten sich zu uns um und starrten uns an, und ihre drohenden, finsteren Blicke sagten uns deutlich, daß wir auf den hintersten Plätzen zu bleiben hatten. Ma und Pa Casteel nahmen schleunigst neben anderen Farmern Platz, die ich vom Sehen kannte, aber ich rührte mich nicht von der Stelle.
Luke sah mich neugierig an. Er sah in seinem Anzug mit Krawatte und dem glatt zurückgekämmten dunklen Haar so gut aus, und trotz meiner Schwangerschaft fand ich mich noch genauso hübsch wie diese Frauen und Mädchen aus Winnerrow. Mein Kleid war so teuer, wenn nicht teurer gewesen, als die meisten anderen, und niemand hatte so zartes, weiches Haar wie ich. Durch das Waschen mit Regenwasser war mein Haar noch schöner geworden und glänzte noch mehr als bei meiner Ankunft in den Willies.
Ich sah zwei leere Plätze ganz vorn und zog Luke mit mir. Er blieb einen Moment lang stehen und sah mir dann ins Gesicht.
»Ich dachte, du wolltest, daß ich dem Bürgermeister von Winnerrow bei der erstbesten Gelegenheit meine Meinung sage«, flüsterte ich. Er strahlte mich an.
»Verdammt, das habe ich wirklich gesagt.« Er folgte mir zu den freien Plätzen. Die Leute auf der Kirchenbank wichen zurück, als sei ein kräftiger Windstoß über sie hinweggefegt.
Alle rissen die Augen weit auf, und Neugier mischte sich mit Entrüstung, aber ich hielt ihren Blicken stand, bis sie die Augen niederschlugen. Der Geistliche trat auf die Kanzel und hielt eine schöne Predigt über brüderliche Liebe.
Hinterher kam Ma zu mir und sagte: »Ich hatte recht, als ich dich das erste Mal gesehen habe, Angel. Du hast den Mut einer Casteel. Ich bin stolz auf dich.«
»Danke, Ma.«
Am Sonntag nach dem Kirchgang versammelten sich die Leute aus den Bergen zu einem Fest. Sie spielten auf ihren Instrumenten und tanzten und aßen gemeinsam. Ich half beim Bedienen, und dann setzte ich mich hin, als Luke und Pa sangen und Banjo spielten. Die Männer tanzten, und die Frauen klatschten.
Vor tausend Jahren hatte ich eine Geburtstagsfeier auf Farthy veranstaltet. Meine Mutter hatte eine teure Band und Leckereien von einem Partyservice bestellt. Meine Schulfreundinnen waren fein herausgeputzt gewesen. Damals dachte ich, das sei das tollste Fest, das ich je erlebt hatte.
Aber hier unter diesen einfachen Bergbauern, die von ihren Träumen sangen oder komische Lieder über die Bräuche dieser Gegend zum besten gaben, war ich noch glücklicher. Hier konnte niemand vornehm tun. Ich fühlte mich wohl und entspannt.
Natürlich sah ich, wie viele der Mädchen aus den Bergen Luke sehnsüchtig anstarrten, denn wenn er sich feinmachte, sah er wie ein Filmstar aus. Ein Mädchen, Sarah Williams, warf mir aus ihren grünen Augen einen gehässigen Blick zu, als sie ihn zum Tanzen aufforderte. Sie zerrte ihn regelrecht auf die Tanzfläche und sah mich ständig an, während sie mit ihm tanzte. Sarah hatte feuerrotes Haar und war fast so groß wie Luke. Sie umklammerte ihn und preßte sich dicht an ihn.
Ich war eifersüchtig, denn sie war ein hübsches, schlankes Mädchen und schob nicht so wie ich einen Bauch vor sich her.
Sobald der Tanz geendet hatte, kehrte Luke zu mir zurück und riß sich buchstäblich aus Sarahs Umklammerung los.
»Sarah ist ein hübsches Mädchen, Luke«, sagte ich und wandte den Blick von ihm ab.
»Das mag sein, Angel, aber ich habe nur Augen für dich.« Er drehte mein Gesicht zu sich um, damit ich ihm in die dunklen Augen sehen konnte, in denen Liebe, Stolz und Hoffnung standen. »Ich hätte mich gar nicht erst von ihr auf die Tanzfläche zerren lassen sollen«, warf er sich selbst vor. »Das macht der Whisky mit mir. Du hast mich schon oft genug davor gewarnt!«
»Ich will dir nicht wie ein keifendes Weib vorkommen, Luke.«
»Tust du nicht. Überhaupt nicht.« Er schüttelte den Kopf, als eines der anderen Mädchen ihn auffordern wollte.
»O Luke, manchmal habe ich das Gefühl, dich anderen wegzunehmen, indem ich dich zum Vater meines Kindes mache.«
»Sei still«, flüsterte er und legte mir seinen Finger auf die Lippen. »Es ist unser Kind, und du nimmst mir nichts, was ich gern hätte.«
»Du siehst müde aus, Angel«, fügte er dann hinzu. »Laß uns nach Hause gehen. Ich hatte genug zu essen und zu trinken.«
»Aber es macht dir doch solchen Spaß, Luke.«
»Ich wäre lieber mit meinem Engel allein zu Hause«, sagte er.
Mein Herz war wieder heil und ganz. Als wir an jenem Abend zur Hütte zurückkehrten, lachten wir alle und redeten aufgeregt durcheinander, bis wir uns schlafen legten. Luke und ich krochen unter unsere Steppdecke und umarmten uns. Nie hatte ich mich geborgener und glücklicher gefühlt. Ab und zu strampelte das Baby, und Luke, der sich an mich preßte, konnte es auch spüren.
»Ich weiß ja nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist«, sagte er, »aber was es auch sein mag, es hat deinen Stolz und deinen Mut, Angel. Ich werde nie vergessen, wie du die reichen Leute heute angesehen hast, bis sie die Augen niedergeschlagen haben.«
»Und ich werde nie vergessen, wie gut du ausgesehen hat und wie viele Mädchen dir schöne Augen gemacht haben, Luke Casteel.«
»Ach, hör schon auf.«
»Es sieht ganz so aus, als hätten wir unserem Kind jede Menge zu erzählen, wenn er oder sie alt genug ist, um zuzuhören und zu verstehen, was wir sagen, nicht wahr, Luke?«
»Ja, soviel steht fest«, sagte er. Er küßte mich und hielt mich im Arm.
Ende November schneite es. Mit dem Anbruch der Nacht kam die beißende Kälte und legte sich wie eine eisige Decke über die Berge. Der Wind fegte zeitweise erbarmungslos durch die Hütte, und ich hüllte mich in unsere Decke und setzte mich zu dem Kohleofen. Wenn Luke abends nach Hause kam, zog er mich an sich und rieb mich warm und verfluchte dabei die Kälte.
Am Heiligen Abend aßen wir das beste Fleisch, das wir uns leisten konnten. Pa hatte Simon Burl einen Truthahn abgekauft, und er war stolz darauf. Ma und ich hatten Handschuhe und Pullover für Pa und Luke gestrickt, und Luke brachte Geschenke für alle mit nach Hause: neue Kämme für Ma, eine Tabakspfeife für Pa, die aus dem Strunk eines Maiskolbens geschnitzt war, und für mich etwas ganz Besonderes, was er hinter dem zerschlissenen Vorhang, der unser Schlafzimmer abtrennte, mit mir auspacken wollte.
Ich setzte mich aufs Bett und schnürte sorgsam die Bänder auf. Dann hob ich den Deckel der Schachtel und zog das Seidenpapier zur Seite, um die schönsten Puppenkleider vorzufinden, die ich je gesehen hatte, Kleider für Angel. Er hatte ihr ein Hochzeitskleid gekauft, mit einem Schleier, dessen durchsichtiges Gewebe von einer winzigen Kappe mit Glitzersteinen herabhing. Das lange Kleid war aus weißer Spitze und mit Unmengen von funkelnden Glasperlen bestickt, und die weißen Schuhe waren aus Spitze und weißem Satin gefertigt, und sogar Seidenstrümpfe, die man an einem winzigen Strumpfgürtel festmachte, gehörten dazu.
»O Luke, das ist ja wunderschön. Ich kann es kaum erwarten, sie anzuziehen«, rief ich aus.
»Du hast keine ordentliche Hochzeit in einem ordentlichen Brautkleid gehabt, und ich dachte, wenigstens Angel sollte ein Brautkleid bekommen«, sagte er.
»Wie lieb von dir, Luke.« Ich zog Angel ihre schönen neuen Sachen an, und dabei fiel mein Blick auf das Medaillon, das an ihrer Halskette hing und auf dem »In Liebe, Tony« stand.
Dieses scheußliche Ding konnte ich nicht länger an Angels Hals hängen lassen. Ich riß ihr die Kette ab und warf sie mit viel Schwung aus dem Fenster. Dann kamen wir mit Angel heraus, um sie Ma und Pa zu zeigen.
Später, als Ma und ich das Geschirr spülten, beugte sie sich zu mir herüber und flüsterte.
»Ich hätte nie gedacht, daß mein Luke so werden könnte, Angel. Ich hatte immer Angst, er könnte genauso werden wie seine Brüder, denn er schaut ganz gern tief ins Glas, aber du hältst ihn davon ab, zu weit zu gehen. Wenn er dir weh tut, dann nur, weil er selbst schrecklich leidet. Solange er dich hat, wird er sich niemals in echte Schwierigkeiten bringen. Ich glaube, er hatte seinen Glückstag, als er dich gefunden hat.«
»Danke, Ma«, sagte ich, und mir traten Tränen in die Augen.
Sie lächelte und umarmte mich, zum ersten Mal wirklich.
Wenn wir auch sehr arm waren und in einer Hütte lebten, die so groß wie eines der Badezimmer auf Farthy war, war ich doch glücklich.
Der nächste Monat war hart für uns. Es schneite fast täglich, und es war bitterkalt. Der Ofen strömte mindestens soviel Rauch wie Wärme aus, aber wir mußten ständig nachlegen und konnten das Feuer nie herunterbrennen lassen. Allabendlich entschuldigte sich Luke bei mir für das Wetter und verbrachte Stunden damit, mir die Zehen und die Finger warmzureiben, aber irgendwie schafften wir es, bis Anfang Februar das Tauwetter einsetzte. Ein wolkenloser Tag folgte auf den anderen, und die Sonne strahlte herunter und schmolz das Eis auf den Ästen. Nachts funkelten Schnee und Eis wie Diamanten und verwandelten den Wald um uns her in ein von Juwelen bedecktes Wunderland.
Wenn ich es mir richtig ausrechnete, war meine Schwangerschaft so weit fortgeschritten, daß ich das Kind in wenigen Wochen gebären würde. Ma war so gut wie eine gelernte Hebamme, da sie bei vielen Geburten mitgeholfen und sechs eigene Kinder zur Welt gebracht hatte. Luke wollte mich in die Stadt bringen, damit ich dort zum Arzt ging, aber ich fühlte mich bei Ma sicher und sah nicht ein, warum Luke fast zwei Monatsgehälter für einen Arzt ausgeben sollte, der auch nichts anderes tun konnte als Ma.
Das Baby war rege, und ich war kurzatmig. Mein Kreuz tat weh. Ich wollte meinen Anteil an der Hausarbeit erledigen, aber Ma bestand darauf, daß ich mich häufiger ausruhte. Sie spornte mich allerdings an, soviel wie möglich zu laufen.
Als das Wetter sich besserte und der Winter den Wald nicht mehr gar so fest im Griff hatte, nahmen Luke und ich unsere abendlichen Spaziergänge zu dem Bergkamm wieder auf. Von unserem Aussichtspunkt aus war der weite winterliche Nachthimmel überwältigend.
An diesem Abend Anfang März war ich ganz dick angezogen. Es war zwar nicht mehr so kalt wie bisher, doch Luke bestand darauf, daß ich die Pullover und den Mantel trug und dazu die Socken, die Ma mir gestrickt hatte. Als wir auf dem Bergkamm standen, zog ich meine Wollhandschuhe aus, um seine Hand halten und seine warmen Finger spüren zu können.
Wir standen einen Moment lang stumm da und waren beide ganz benommen von den Tausenden und Abertausenden von Sternen, die sich über den tiefschwarzen Nachthimmel zogen.
Unter uns lagen die Häuser im Tal, und ihre erleuchteten Fenster sahen auch wie Sterne aus.
»Eines Tages«, sagte Luke, »wird eins dieser Häuser dort unten im Tal unseres sein. Das schwöre ich dir, Angel.«
»Ich weiß, daß es so kommen wird, Luke. Ich glaube an dich.«
»Dann sitzen wir in unserem Wohnzimmer, und ich lege die Füße hoch und rauche meine Pfeife, und du strickst oder häkelst, und unser Baby spielt auf dem Fußboden zwischen uns. Wir haben es warm und fühlen uns geborgen. Das ist alles, was ich mir wünsche, Angel. Erträume ich mir zuviel?«
»Das glaube ich nicht, Luke.«
»Ma und Pa glauben, daß es unmöglich ist«, sagte er traurig.
»Das liegt nur daran, daß es für sie nicht erreichbar war, aber für uns ist es möglich, Luke.«
Er nickte und umarmte mich. Mein Baby strampelte.
»Spürst du es, Luke?« fragte ich und legte seine Hand auf meinen Bauch. Er lächelte.
»Ich glaube, es ist ein Mädchen, Luke.«
»Vielleicht. Ich liebe dich, Angel.« Er sah mich an. »Ich liebe dich mehr, als je ein Mann eine Frau geliebt hat.«
Mein Baby bewegte sich wieder, und mein Bauch fühlte sich hart an. An diesem Abend hatte ich größere Schmerzen denn je. In der letzten Zeit war ich nachts oft von den Schmerzen aufgewacht, und auch morgens hatte ich noch Schmerzen.
Aber ich hatte nicht geklagt, weil ich nicht wollte, daß Luke sich Sorgen machte und nicht zur Arbeit ging. Vielleicht bedeuteten die Schmerzen nur, daß der Zeitpunkt nah war, dachte ich, aber Ma schien nicht glücklich darüber zu sein.
»Ich glaube, das Baby will rauskommen und von nun an bei uns sein, Luke. Der Zeitpunkt ist schon ganz nah.«
»Einen besseren Zeitpunkt könnte es gar nicht geben«, sagte er. »So wie der Himmel mit all diesen Sternen lodert, ist es eine gute Nacht für die Geburt eines Babys, vor allem, wenn es ein Mädchen ist und wir sie Heaven nennen.«
Ein stechender Schmerz ließ mich fast in die Knie gehen, aber ich schnitt eine Grimasse und hielt durch, damit Luke nichts merkte und sich keine Sorgen machte. Er war so glücklich und optimistisch, und ich wollte nichts zulassen, was seine Stimmung hätte beeinträchtigen können. Dennoch fürchtete ich mich ein wenig. Ich konnte mir vorstellen, daß das zu erwarten war, und wahrscheinlich ging es jeder Frau so, die ihr erstes Kind bekam, insbesondere, wenn sie noch so jung war wie ich.
»O Luke, bring mich zur Hütte zurück und halt mich fest.
Halte mich, wie du mich noch nie gehalten hast«, sagte ich. Er küßte mich, und wir machten uns auf den Rückweg.
»Warte«, sagte ich und hielt ihn zurück.
Ich drehte mich noch einmal um, um ein letztes Mal die Sterne anzusehen.
»Was ist, Angel?« fragte Luke.
»Wenn ich heute nacht die Augen zumache, will ich all diese Sterne hinter geschlossenen Lidern sehen. Ich möchte mir vorkommen, als schliefe ich im Himmel ein.«
Er lachte, und dann machte der Weg im Wald eine Biegung, und die Sterne waren verschwunden.
EPILOG
Ich drehe die Seite um, aber dort ist nichts mehr geschrieben, auf der nächsten Seite nicht und auch nicht auf der übernächsten. Schließlich finde ich zwischen der letzten Seite des Tagebuchs und dem Einband ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Ich falte es behutsam auseinander, weil es so alt ist, daß es sich anfühlt, als könne es in meinen Fingern zu Staub zerfallen. Es ist ein Brief von einer Detektei.
Lieber Mr. Tatterton,
wie Sie wissen, habe ich Ihre Stieftochter in den Bergen von West-Virginia ausfindig gemacht. In meinem letzten Bericht habe ich Ihnen die Bedingungen geschildert, unter denen sie lebt, und ich habe Ihnen berichtet, daß sie schwanger ist.
Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie. Gestern hat mein Assistent, dem ich den Fall übergeben habe, sich gemeldet, um zu berichten, daß er vom Tod Ihrer Tochter erfahren hat. Anscheinend ist sie bei der Geburt gestorben. Er sagte mir, sie hätte nicht unter ärztlicher Betreuung gestanden und das Kind in ihrer Hütte in den Bergen zur Welt gebracht.
Das tut mir leid für Sie.
Er hat außerdem berichtet, daß das Kind am Leben ist und daß es sich um ein Mädchen handelt.
Ich erwarte weitere Anweisungen.
Hochachtungsvoll
L. Stanford Banning,
Privatdetektiv
Einen Moment lang bekomme ich keine Luft. Diese Luft hier in dieser alten, staubigen Suite ist so abgestanden und muffig.
»Annie!«
Luke ruft mich.
»Ich bin hier, Luke.«
Im nächsten Moment steht er in der Tür. »Sämtliche Besucher sind eingetroffen, Annie. Und sie fragen nach dir. Es ist an der Zeit«, sagte Luke. Ich nickte. »Was hast du getan?«
»Ich habe nur dagesessen und gelesen.«
»Was hast du gelesen?« Er kommt näher.
»Eine Geschichte, eine seltsame, traurige, aber sehr schöne Geschichte, die Geschichte meiner Großmutter.« Ich halte die Tränen zurück, doch Luke sieht sie in meinen Augen.
»Laß uns jetzt gehen, Annie. Dieser Ort bedeutet Traurigkeit und Kummer. Du gehörst nicht hierher.«
»Ja.« Ich lächele. Wie gut Luke aussieht, genauso gut, wie sein Großvater ausgesehen haben muß. Er streckt die Hand aus, und ich nehme sie und stehe auf. Wir verlassen die Suite, und ich bleibe noch einmal stehen.
»Was ist?«
»Nichts«, sage ich. »Ich will das nur wieder zurücklegen.
Irgendwie habe ich das Gefühl, es gehört hierher unter all die anderen Erinnerungen.« Ich stecke das Tagebuch wieder in den Leinenbeutel und lege ihn in die Schublade zurück. Dann sehe ich mich noch einmal um und eile zu Luke.
Wir steigen die breite Treppe hinunter. Ich bleibe stehen. Mir ist, als hätte ich das Lachen eines kleinen Jungen gehört. Ich glaube sogar, ich kann ihn rufen hören: »Leigh! Leigh!«
Ich lächele.
»Was ist?« fragt Luke noch einmal.
»Ich habe mir nur gerade meinen Vater als einen kleinen Jungen vorgestellt, wie er meine Großmutter ruft, damit sie mit ihm spielt.«
Luke schüttelt den Kopf.
Wir steigen wieder die Stufen hinunter und laufen durch die große Eingangshalle. Ist das Musik, was ich hinter mir höre?
Angels Geburtstagsparty? Ein Klavierkonzert für reiche Gäste?
Mein Vater, der Chopin übt? Oder ist es nur der Wind, der sich durch die Ritzen einen Weg in das große Haus bahnt?
Vielleicht ist es all das zugleich.
Ich verlasse mit Luke das Haus und schließe die riesige Tür hinter mir, und die Frage und die Antwort darauf lasse ich mit all den anderen in diesem gewaltigen Haus zurück, auf Farthinggale Manor.