9
Die düstere Ahnung, die uns beide den restlichen Abend über begleitet, ohne dass wir es wagen, die Dinge beim Namen zu nennen, ist zumindest bei Aureljo am nächsten Tag verschwunden. Gorgias hat ihm aufgetragen, eine Rede zu Ehren des Präsidenten vorzubereiten, der in zwei Monaten unsere Sphäre besuchen wird.
»In zwei Monaten«, sagt Aureljo, wobei er jedes Wort betont.
Wider besseres Wissen fühle auch ich mich erleichtert. Gorgias ist immer darauf bedacht, solche hohen Besuche in präziser Perfektion ablaufen zu lassen. Er würde nicht die Rede, die das Aushängeschild seiner Akademie ist, in die Hände einer Person legen, von der er weiß, dass sie in der Zwischenzeit sterben wird.
War es also wirklich ein Missverständnis, das sich inzwischen aufgeklärt hat? Oder bekommen wir einen Aufschub von zwei Monaten? Und wenn ja, warum? Ich wünschte, ich könnte jemanden fragen. Doch der einzige Mentor, dem ich ausreichend vertraue, ist Grauko, und er weiß nichts von der Unterredung in der Bibliothek. Jedenfalls glaube ich das.
Die Vormittagslektionen sind für heute vorbei, wir sitzen an den verschrammten Tischen der Mensa, jeder vor seiner Ernährungszusammenstellung. Ich löffle etwas Breiiges in mich hinein, obwohl mein Magen sich vor Nervosität klein und hart anfühlt. Hoch oben klettert ein Säuberungsteam über die Kuppel und putzt die Hermetoplastscheiben, kratzt gefrorenen Schnee ab.
Der Unterhaltung der anderen folge ich heute nicht, ich suche den farblosen Sentinel. Ich möchte ihn in ein Gespräch verwickeln, wenn auch nur ganz kurz, und seine Stimme hören. Wenn es die gleiche ist wie die des Fremden in der Bibliothek, habe ich zumindest ein Rätsel gelöst.
Den Sentinel entdecke ich nirgendwo, dafür aber Tycho, der mehr auf seinem Stuhl hockt als sitzt und mit der Gabel etwas in sein Essen zeichnet. Die fünf, die mit ihm den Tisch teilen, beobachten ihn fasziniert.
Zwei Löffel noch, den Rest kann ich guten Gewissens zurückgehen lassen. Ich nehme meinen Teller und bringe ihn zur Geschirrstation, dabei mache ich einen Umweg an Tychos Tisch vorbei.
»… ist eine Schaltung, die die Kuppeln miteinander verbindet und die Temperatur überall gleich hält«, höre ich ihn sagen. Das, worin er mit der Gabel malt, muss Spinatersatz sein, es ist grün und zieht Fäden. »Angenommen, man legt einen dieser Sensoren lahm, dann heizt das System die ganze Sphäre weiter und weiter auf, bis …«
Sensoren lahmlegen?
Ich stütze mich mit beiden Händen auf die Tischplatte und lächle strahlend in die Runde. »Es tut mir leid, aber ich muss euch Tycho für ein paar Minuten entführen, ich habe eine Aufgabe für ihn.« In meinem Gesicht sollte nichts als Unbeschwertheit zu lesen sein, gemischt mit ein wenig Ungeduld. Es soll wirken, als würde ich Tycho holen, um ihn zu einem der Sonderdienste einzuteilen – das dürfen die älteren Studenten. Dementsprechend grinsen die anderen mitleidig, als ich den Ärmel seines hellblauen Studentenhemdes packe und ihn von seinem Stuhl ziehe, hinaus aus der Mensa.
Tycho protestiert nicht, gibt keinen Ton von sich. Das muss die Verblüffung sein. Erst als wir den Weg zu den Sporträumen einschlagen, beginnt er, sich zu wehren.
»He! Lass mich los, 7.«
»Keine Chance.« Ich zerre ihn weiter, bis die metallischen Geräusche der Trainingsgeräte störend werden. Außerdem dringt Musik bis auf den Gang hinaus – bestens.
Ich bleibe stehen, drehe Tycho zu mir herum und packe ihn an den Schultern. »Worüber hast du gerade gesprochen?«
»Was?«
»Die Schaltung, die die Kuppeln miteinander verbindet, und was passiert, wenn man einen Sensor außer Betrieb setzt.«
Er grinst schief. »Ich habe zwei technischen Nieten das Heizsystem der Sphären erklärt.«
»Und ihnen beigebracht, wie man es sabotiert?«
Jetzt begreift er, worauf ich hinauswill. »Sabotiert? Quatsch! Ich habe nur deutlich gemacht, wo die Schwachstellen sind.« Seine Augen werden schmal. »Das ist Lernstoff, übrigens. Ich staune, dass du das nicht weißt, 7.«
»Ich habe keine technischen Fächer belegt. Und ich heiße Ria, 89.«
»Noch 89.« Er streckt sich ein wenig. »Bei den nächsten Leistungsproben springe ich mindestens fünf Plätze vor, wenn nicht mehr.«
Ich sehe ihn an, ohne zu lächeln. »Vielleicht.«
»Nein, das steht fest.«
»Nichts steht fest.« War es sein unvorsichtiges Geschwätz, das ihn auf die Liste der angeblichen Verschwörer gebracht hat? Aber wieso dann auch Aureljo, Tomma, Fleming und mich?
Ich senke meine Stimme. »Kennst du jemanden, der Dantorian heißt?«
»Ja«, antwortet Tycho, ohne zu zögern. »Keine Gefahr für mich. Oder dich. Er schreibt Gedichte, erforscht alte Worte und malt merkwürdiges Zeug. Die Mentoren finden ihn großartig. Ein zweiter Picann, sagen sie.«
Das ist ganz schön hoch gegriffen. Picann gilt als Genie, er ist der Künstler, der die Lange Nacht für die Nachwelt festgehalten hat. In Bild und Sprache.
Wenn es stimmt, was Tycho sagt, wird die Sache immer rätselhafter. Sollte Dantorian wirklich ein solches Ausnahmetalent sein, würde der Bund ihn nicht so einfach opfern. Keinen Künstler, die gelten als völlig harmlos, als bunte Vögel. Sie würden ihn umerziehen lassen oder notfalls in den Norden schicken, bis er seinen Fehler einsieht, aber sie würden sein Talent nicht einfach zerstören.
Tycho regt sich in meinem Griff, er versucht, seine Schultern aus meinen Fingern zu befreien, lässt es aber bleiben, als ich den Kopf schüttle. Die Geräusche der Trainingsgeräte zerhämmern metallisch meine Gedanken.
»Was hast du gemeint mit ›Nichts steht fest‹?«, versucht Tycho sie zu übertönen.
»Leise!«
»Aber –«
»Sprich leise, okay? Wie lange bist du schon an der Borwin-Akademie?«
Er antwortet nicht gleich, sondern studiert mein Gesicht. In seinem Blick liegt Vorsicht, was generell gut ist.
»Seit etwas mehr als fünf Monaten.«
»Wo warst du vorher?«
»An der Wittgenstein-Akademie. Sphäre Neu-Aachen.«
Eine Akademie mit gutem Ruf. Sie zu absolvieren genügt im Allgemeinen für einen hohen Posten. Dass sie Tycho trotzdem zu uns versetzt haben, bedeutet, dass sein Können weit über dem Durchschnitt liegen muss.
»Hast du Kontakte zu Außenbewohnern?«
Sein Kopf zuckt eine Winzigkeit nach oben, ich muss einen wunden Punkt getroffen haben. Als ich ihn an seinem Hemd näher zu mir ziehe, sträubt er sich.
»Hast du?«
»Nein!«
Ich glaube nicht, dass er lügt, aber er verschweigt etwas. In seinen Augen steht Trotz. Wieso? Ich brauche einen Moment, dann begreife ich.
»Du bist kein Vitro.«
Wieder versucht er, sich aus meinem Griff zu winden, und diesmal lasse ich es zu.
»Ja. Na und? Ich stecke euch trotzdem alle in die Tasche.«
Ich habe noch nie zu denen gehört, die die Aufgelesenen für Sphärenbürger zweiter Klasse halten. Ich denke an das schreiende Mädchen, das ich vor wenigen Tagen in den Armen gehalten habe, und überlege, wie alt Tycho wohl war.
»Was soll die Fragerei?« Er hat sich gefangen und geht zum Gegenangriff über. Aber immerhin nimmt er sich meine Mahnung zu Herzen und spricht leise.
Etwas in mir möchte ihm alles erzählen. Er ist intelligent, er könnte Schlüsse ziehen, auf die ich bisher nicht gekommen bin. Und er ist schon einmal von denen im Stich gelassen worden, die für ihn verantwortlich waren. Er wird mir glauben, wenn ich ihm sage, dass es vielleicht gerade ein zweites Mal passiert.
Ich lege die Hand, an der sich mein Salvator befindet, auf den Rücken und gebe ihm durch eine Geste zu verstehen, er soll das Gleiche tun. »Kannst du dir irgendeinen Grund vorstellen, warum man dich für einen Verräter halten könnte?«
Irritiertes Blinzeln. Tycho antwortet nicht gleich, sondern wägt die Frage genau ab, um am Ende den Kopf zu schütteln. »Für unvorsichtig schon«, meint er. »Für jemanden, der die Regeln nicht immer ernst nimmt. Aber nicht für einen Verräter.« Das Wieso spricht er nicht aus, aber es steht ihm ins Gesicht geschrieben.
»Kann sein, dass es trotzdem jemand tut. Offenbar gibt es Hinweise, dass du Teil einer Verschwörung bist, die den gesamten Sphärenbund bedroht.«
»Wer hat das gesagt?« In seiner Stimme liegen weder Angst noch Unglaube, nur ehrliches Interesse.
Ich werde auf keinen Fall Namen nennen. »Jemand, der genug Macht hat, um dich hinrichten zu lassen.«
Das Wort lässt seine Augen groß werden. »Ich habe nichts mit einer Verschwörung zu tun!«, beteuert er, diesmal ein wenig zu laut für meinen Geschmack.
»Schhh. Okay, etwas anderes: Wann hast du Jordans Chronik gelesen?« Es ist ein Bluff, aber ich will ihm eine spontane Reaktion entlocken.
Tycho stutzt und denkt nach. »Habe ich gar nicht. Sollte ich? Ist das ein Standardwerk?«
Ich schüttle leicht den Kopf. »Nein, schon gut. Aber denk noch mal genau nach. Es muss einen Grund geben, wieso du verdächtigt wirst. Wenn dir etwas dazu einfällt, egal was, dann –«
Er legt den Kopf schief. »Du auch, nicht wahr? Dich halten sie auch für eine Verräterin.«
Es muss die Dringlichkeit in meiner Stimme gewesen sein, die ihn die richtigen Schlüsse hat ziehen lassen. Ein cleveres Kerlchen, keine Frage.
Ich streite es nicht ab und er nickt. »Wer noch? Ah, deshalb hast du mich nach Dantorian gefragt. Das ist doch aber lächerlich. Was soll er schon groß tun? Die Sphärenwände rot pinseln, damit die Prims leichter darauf zielen können?«
Ich muss lachen, es fühlt sich gut an. »Ich weiß es nicht. Genau das ist das Problem. Ich habe keine Ahnung, was sie uns vorwerfen, denn niemand stellt uns zur Rede.« Ich drücke den Arm mit dem Salvator fester gegen meinen Rücken, reibe ihn gegen den Stoff meines Hemdes. Das müsste für Störgeräusche sorgen.
»Es ist gut möglich, dass es dabei bleibt«, fahre ich fort. »Dass es keinen Prozess gibt, nichts dergleichen.«
Tychos Zähne graben sich in seine Unterlippe, dann nickt er kurz. »Nur eine Hinrichtung also.«
Drei Minuten später trennen wir uns. Ich habe ihm noch in kurzen Worten die Umstände geschildert, unter denen ich alles erfahren habe, und ihm gesagt, dass wir möglicherweise abgehört werden. Tycho hat es zur Kenntnis genommen, ohne Gegenfragen zu stellen, ohne ungläubig oder panisch zu reagieren. Nur aufmerksam.
Den Nachmittag verbringe ich im Sprachzentrum der Akademie. Ich übersetze vom Russischen ins Spanische und zurück, denke mit Wehmut daran, dass ich mich für Schwedisch-Lektionen angemeldet habe. Meine zwölfte Fremdsprache, die zu lernen ich vermutlich nicht mehr die Zeit haben werde. Einmal mehr rufe ich mir die Stimme des Fremden ins Gedächtnis, die Art, wie er das Wort getötet ausgesprochen hat. Ich weiß, dass ich es gehört habe, trotzdem zweifle ich zwischendurch an meiner Erinnerung, denn um mich herum ist alles wie immer. Die Studenten, die über ihren Datenterminals brüten, das leise Summen der Belüftung, das fahle Licht, das durch die Kuppelscheiben fällt. Ich weiß, was mich bedroht, und kann es dennoch nicht glauben. Aber das ist ein Fehler, ich darf der Normalität nicht auf den Leim gehen, sondern muss aufmerksam sein, aufmerksamer als je zuvor.
Am frühen Abend werde ich ins Medcenter gerufen, neue Nahrung für mein Misstrauen. Man könnte meine Tötung als medizinischen Unfall inszenieren – eine falsche Injektion, ein fehlerhaft dosiertes Medikament und die Todesliste schrumpft auf fünf.
Was können sie von mir wollen? Ich war gestern erst dort, seitdem habe ich keinen Alarm mehr ausgelöst, habe mich nach Vorschrift ernährt und ausreichend geschlafen. Auf dem Weg zu Kuppel 7 gehe ich alle Szenarien durch, die mir einfallen. Dass sie jemanden zum Analysieren und Etikettieren einer Sonderlieferung von Blutkonserven brauchen – es wäre nicht das erste Mal. Doch dafür werden üblicherweise Studenten mit medizinischem Schwerpunkt und geringerer Reihung rekrutiert.
Dass jemand krank geworden ist und mich sehen will.
Ich wünschte, ich würde unter den Menschen, die mir entgegenkommen, Aureljo entdecken. Ich möchte ihm sagen, wohin ich gehe, damit er nach mir fragen kann, falls ich nicht wiederkomme. Vielleicht würde er mich sogar begleiten.
Die einzige Möglichkeit, die ich habe, um ihn zu informieren, ist, ihm eine Nachricht auf sein Datenterminal zu schicken: Muss ins Medcenter, versuche pünktlich zum Abendessen in der Mensa zu sein.
Mehr wage ich nicht. Habe Angst, traue keinem, verkneife ich mir.
Vielleicht injizieren sie mir eine Wahrheitsdroge. Etwas Derartiges gibt es, ich erinnere mich an den Vortrag einer Ärztin.
Das wäre großartig.
Der Gedanke trägt mich die restliche Strecke zum Medcenter. Sie sollen mich unter Einfluss dieser Droge befragen, dann ist meine Unschuld erwiesen. Ich bin keine Verschwörerin, sondern unterstütze den Bund auf jede denkbare Art. Ich kann mich entlasten, Aureljo, die anderen. Es wäre die perfekte Lösung.
Doch in dem Untersuchungszimmer warten drei Chirurgen auf mich, zwei Frauen und ein Mann. Sie freuen sich ganz offensichtlich, mich zu sehen, setzen mich auf einen Stuhl und betrachten mich von allen Seiten.
»Eine leichte Betonung der Wangenknochen.«
»Das Kinn stärker herausarbeiten, aber nur einen Hauch.«
»Das Haar auf jeden Fall so lassen, dieses rötliche Braun ist ideal. Kürzer muss es werden, natürlich, aber sonst …«
»Die Nase ist gut. Wenn wir sie zwei Millimeter schmäler machen, ist sie perfekt.«
Eine der Chirurginnen, eine dunkeläugige, blasshäutige Schönheit, ist vor mir in die Hocke gegangen und zieht probeweise eine meiner Augenbrauen in Richtung Schläfe. »Du wirst hinreißend aussehen. Schon die Ausgangsbasis ist sehr gut, aber wenn du in einigen Jahren Sprecherin des Präsidenten werden solltest, musst du makellos sein.«
Das ist es also. Sie wollen mich operieren, das ist ein gutes Zeichen. Wozu sollten sie sich die Mühe machen, wenn ich kurz darauf abgeschlachtet werden würde?
Außer, die Operation ist ein Vorwand genau dafür: Auf dem OP-Tisch gestorben, während der Narkose, ein Herzstillstand. Damit hat niemand gerechnet, wir bedauern es sehr …
Ich tue alles, um mir meine Zerrissenheit nicht anmerken zu lassen, bringe ein paar fröhlich klingende Worte heraus und stelle die Frage, die mich bewegt, wie nebenbei. »Ich wusste gar nicht, dass es schon so bald so weit ist. Von wem kommt denn die plötzliche Anweisung?«
Der Chirurg sieht von seinem Terminal auf. Er muss selbst operiert sein; ein so ebenmäßiges Gesicht ist selten Zufall.
»Vom Rektor persönlich. Er findet, du hast dich außergewöhnlich entwickelt, und deshalb wirst du wohl früher in die Öffentlichkeit treten als die meisten anderen.«
Von Gorgias also. Die Information muss ich sickern lassen. Während ich mich strahlend dafür bedanke, klebt mein Blick auf den manipulierten Fotografien, die den Tisch bedecken. Zehn-, zwanzigmal mein Gesicht, auf jedem Bild einen Hauch anders.
Gorgias lässt mich operieren. Kann sein, dass er mich als mögliche künftige Sprecherin des Präsidenten sieht, nachdem ich mich bewährt habe.
Oder als bleichen, leblosen Körper unter einer grünen Operationsabdeckung.
Jedes Wort, das die Ärzte äußern, kann zwei Bedeutungen haben. Dass alles in Ordnung ist, dass ich eine Zukunft habe. Oder dass die Akademie einen unauffälligen Weg gefunden hat, um mich zu beseitigen.
»Gibt es schon ein genaues Datum für die Operation?«, frage ich die dunkelhaarige Ärztin.
Sie drückt auf ihrem Terminal herum. »Wir haben einen Termin in sieben Wochen fixiert. Bis dahin ist ausreichend Gelegenheit für uns, jeden Schnitt genau zu überlegen.« Sie sieht mich an, ihre perfekten Lippen lächeln über perfekten Zähnen. »Nicht nervös sein. Du hast noch Zeit, dich darauf einzustellen.«