9
Der Rhein
war klar
und
fischreich.
Breit und
behäbig
geworden, im Sonnenlicht glitzernd, flutete er durch grünes, ebenes Land. Die Wälder hatten weiten Wiesen und die Ruinen umzäunten Weiden Platz gemacht, auf denen Kühe, Pferde, Ziegen und Schafe grasten. Hier und da überragte eine Windmühle das Flachland, versorgte einen Bauernhof mit Strom, und je näher die Madeleine der niederländischen Grenze kam, desto zahlreicher wurden die großen, kreisenden Windmühlenflügel.
Die meiste Zeit verbrachte Gulf unter Deck; in den letzten Stunden waren sie mehrfach vom Ufer aus beschossen worden, und vielleicht war das der Grund dafür, daß ihm Fouchet und seine Leute mit wachsender Feindseligkeit begegneten. Vielleicht sollte die Feindseligkeit aber auch nur ihre Furcht maskieren, die Furcht vor den gespenstischen Stimmen, die er mit aufs Schiff gebracht hatte.
Die Stimmen schwatzten in den Laderäumen und im Ruderhaus, in der Kombüse und den Kajüten, in den Kisten und Fässern, die festgezurrt die Reling säumten. Sie tanzten auf dem Wasser und wirbelten durch die Luft, schlugen wilde Kapriolen, unsichtbar, aber allgegenwärtig, sie zankten sich in der Gischt, im Mahlstrom der Schiffsschraube, rasten im Rauschen des Stroms, drohten, fluchten, phantasierten.
»Das deutsche Volk«, schrie Goebbels den Männern der Madeleine zu, »das deutsche Volk ist ein Sklavenvolk. Es rangiert heute völkerrechtlich hinter der letzten Negerkolonie am Kongo. Und darum fordern wir, daß man den Kampf proklamiert gegen diesen Zustand der Schmach und Not und daß den Männern, denen wir unser Schicksal in die Hand geben, jedes, aber auch jedes Mittel recht ist, diese Ketten der Sklaverei zu zerbrechen. Denn wenn Deutschland stirbt, dann geht das Licht der Welt aus …«
Die Männer zogen den Kopf ein, schwiegen, arbeiteten verbissen weiter, warfen Gulf haßerfüllte Blicke zu. Carmichael lehnte an einer Kiste und rauchte. Sein Gesicht war seltsam fahl. Gulf ging ins Ruderhaus. Fouchet hatte ihm den Rücken zugedreht und ignorierte ihn, genau wie er Adolf Hitler ignorierte, der tief im Schiff vor sich hin brütete.
»Das ganze Universum«, raunte Hitler die Stiege hinauf, »scheint nur von diesem einen Gedanken beherrscht zu sein, daß eine ewige Auslese stattfindet, bei der der Stärkere am Ende das Leben und das Recht zu leben behält und der Schwächere fällt. Dieser Kampf, der uns überall umgibt, der bestimmt, daß, wenn einer fällt, ein anderer sofort an seine Stelle tritt, der als sicher erscheinen läßt, daß, wenn Völker schwach werden, andere Völker sie ablösen; der es ohne Zweifel selbst im Falle des Versagens der ganzen Menschheit nicht zulassen würde, daß etwa die Erde leer würde, sondern daß andere Wesen an ihre Stelle treten würden – dieser Kampf führt zu einer unentwegten Auslese der Besseren und Härteren. Wir wissen, daß dieser Kampf immer nur den Schwächeren beseitigt, den Stärkeren aber noch mehr stärkt, ihn noch härter macht. Das ist die Weltordnung der Kraft und der Stärke. Es gibt keine Weltordnung der Schwäche und Ergebung, sondern nur ein Schicksal der Ergebung. Dieses Schicksal heißt Auslöschen und Vergehen. Seit es eine Welt gibt, herrscht dieses Gesetz …«
Gulf kletterte die Stiege hinunter und ging in seine Kajüte. Ersetzte sich. In der Flasche war noch Rotwein, und er trank.
»Ich spüre, daß sich etwas regt«, sagte Elizabeth aus der Luft. »Ich spüre deutlich, daß sich etwas bewegt, und das hier im Nichts, im Nirgendwo. Ich höre andere Stimmen, Jakob, und sie werden immer lauter. Sie klingen wie Katzenpfoten auf Linoleum; sie haben die Krallen ausgestreckt und sie kratzen, diese Stimmen. Ich höre sie, aber dich höre ich nicht. Und wenn ich dich höre, dann verstehe ich dich nicht. Nur die anderen, die kein Gesicht haben, die nur aus Worten und Namen bestehen und reden und reden, sie höre ich …«
Gulf stand auf und kehrte an Deck zurück, aber die Feindseligkeit der Franzosen ließ ihn ruhelos vom Heck zum Bug wandern und wieder zurück und erneut in seiner engen Kajüte Zuflucht suchen. Er wartete, und die Zeit verging. Kurz vor der niederländischen Grenze kam Carmichael für eine Weile zu ihm herunter, und von einem Moment zum anderen, so plötzlich, wie sie sich in der Welt der Lebenden zu Wort gemeldet hatten, verstummten die Gespenster.
Der tiefe, tutende Ton eines Signalhorns drang durch den Lärm der Schiffsschraube.
Carmichael stand auf. »Das müssen die Holländer sein.«
Sie eilten hinauf an Deck. Fouchet machte einen nervösen Eindruck. Gestikulierend kam er auf sie zu, die erloschene Pfeife zwischen die Zähne geklemmt, Bart- und Haupthaare gesträubt, so daß er Gulf mehr denn je an einen Gnom aus den Tiefen der deutschen Wälder erinnerte. Er riß die Pfeife aus dem Mund und überschüttete sie mit einem französischen Wortschwall. Carmichael hörte mit geduldiger Miene zu. Als Gulf zum Bug der Madeleine sah, entdeckte er den Grund für Fouchets Erregung. Bewaffnete Schnellboote kreuzten auf dem breiten Strom. Flußabwärts bildeten aneinandergereihte Bojen eine deutlich sichtbare Grenzmarkierung. Weitere Schnellboote ankerten in Ufernähe und vor dem guten Dutzend Lastkähne, die träge auf den Wellen schaukelten. Auf den Uferwiesen standen Schützenpanzer und gefleckte Mannschaftstransporter. Soldaten wimmelten geschäftig wie Ameisen hin und her und waren mit dem Bau von Befestigungen und Unterkünften beschäftigt.
»Sie machen die Grenze dicht«, knurrte Carmichael. »Der Aufstand der Werwölfe scheint die Holländer nervös gemacht zu haben.«
Gulf drehte sich zu ihm um. »Und jetzt?«
»Hoffen wir darauf, daß die Firma uns nicht vergessen hat.«
Carmichael wechselte ein paar Worte mit Fouchet und ging dann ins Ruderhaus, um Funkverbindung mit dem Kommandeur der holländischen Grenztruppen aufzunehmen. Die Madeleine wurde langsamer. Gulf vertrat sich die Beine an Deck und beobachtete, wie zwei der Schnellboote beidrehten und die Madeleine in die Mitte nahmen. Soldaten machten sich bereit, auf den Lastkahn überzusetzen, aber dann drehten die Boote wieder ab und beschleunigten, daß die Gischt ihre Hecks wie Nebel einhüllte.
»Alles in Ordnung«, sagte Carmichael zufrieden, als Gulf ins Ruderhaus zurückkehrte. »Wir können passieren. Vor zwei Stunden haben die Holländer ihre Grenzen zum Restreich wegen dem Aufstand der Werwölfe geschlossen, aber die Firma hat die zuständigen Stellen gebeten, uns durchzulassen. Wir werden bereits in Rotterdam erwartet.«
Die Madeleine näherte sich der Grenzlinie, manövrierte in die markierte Fahrrinne zwischen den schaukelnden Bojen, vorbei an einem der wendigen holländischen Patrouillenboote, und dann hatten sie das Reich verlassen.
Gulf schloß für einen Moment die Augen. Eine Last schien von ihm zu fallen, so wie die Schwere eines Alpdrucks nach dem Erwachen: Die Ruinen, die leeren Geisterstädte, die verrückten Deutschen mit ihrem unstillbaren Haß und ihrer hoffnungslosen Rachsucht – alles lag hinter ihm. Nur noch ein paar Stunden, und er würde wieder in den Staaten sein.
Und die Stimmen?
Er horchte, aber die Stimmen schwiegen. Die Stunden verstrichen, und sie blieben still. Die Madeleine erreichte den Hafen von Rotterdam, ohne daß sich eins der Gespenster zu Wort meldete. Vielleicht schliefen sie, oder sie spürten auf unerklärliche Weise, daß der Aufenthalt in der Alten Welt zu Ende ging und daß die Neue Welt sie erwartete. Und Gulf fragte sich, was geschehen würde, wenn er die Staaten erreichte und sich nach Washington begab, ins Weiße Haus, ins Oval Office, wo Henry Morgenthau von den Toten auferstanden war und vom großen Krieg der Vergangenheit erzählte, von den grausigen Untaten der Deutschen und der gnadenlosen Strafe, die sie dafür verdienten.
Würde Morgenthau Hitler hören können? Und wenn er ihn hörte, wie würde er reagieren?
Die Madeleine steuerte einen abgelegenen Teil des Hafens an und ging an einem leeren Pier vor Anker. Gulf und Carmichael verabschiedeten sich von Fouchet; der kleine Kapitän schien erleichtert zu sein, daß sie endlich den Kahn verließen, und niemand von der Besatzung sah ihnen nach, als sie über die leicht schwankende Landungsbrücke an Land gingen. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt; Laternen beschienen grauen Beton, dunkle Schuppen, trübes Hafenwasser. Eine schwarze Katze huschte über den Kai und verschwand hinter rostigen Fässern.
Automotoren heulten.
Scheinwerfer stachen durch die Dämmerung.
Und aus den Schatten tauchten zwei Wagen auf: Eine schwere Limousine – ein Mercedes aus den brasilianischen Werken von Daimler-Benz – und ein silberner südafrikanischer Porsche.
Gulf blieb abrupt stehen. Einen Moment lang glaubte er, hinter den Windschutzscheiben blondes Haar zu sehen, kalte Raubtieraugen und die schwarzen Uniformen der ODESSA. Die Gesichter blauäugiger arischer Schlachter, mit Fleischerhaken und Maschinenpistolen in den Händen und dem Totenkopfzeichen am Kragenspiegel.
»Es sind unsere Leute«, sagte Carmichael und klopfte ihm leicht auf die Schulter. »Auch die Firma fährt deutsche Wagen. Kein Grund zur Sorge.«
Die Autos hielten. Eine Frau stieg aus dem Mercedes, bog um den Kühler mit dem silbernen Stern und kam langsam auf sie zu. Ihr Haar war weiß wie das einer Greisin, aber es mußte gebleicht sein, denn ihr Gesicht war jung und faltenlos. Sie war einen Kopf kleiner als Gulf, und als sie prüfend zu ihm aufblickte, bemerkte er, daß ihre Brauen und Wimpern ebenfalls weiß waren.
Sie nickte Carmichael zu, wie man einem guten, alten Bekannten zunickt, aber sie sah ihn nicht an. Ihre Augen blieben auf Gulf gerichtet, und ihre Augen waren rotbraun.
Rotbraun, dachte er, für einen Moment seltsam berührt. Augen wie Elizabeth.
»Mr. Gulf?« sagte sie. »Ich habe den Auftrag, Sie sicher nach Washington zu bringen.« Sie drehte sich zum Wagen um; der Fahrer hatte das Seitenfenster nach unten gekurbelt und händigte ihr einen braunen, mittelgroßen Briefumschlag aus. Sie reichte ihn an Gulf weiter. »Das Flugzeug startet in zwei Stunden. Eine PanAm-Linienmaschine. Sie reisen als der britische Geschäftsmann Steven Coolidge; Coolidge ist Generalvertreter von IBM Großbritannien. Grund der Reise ist seine Teilnahme an einer Vertreterkonferenz in New York. Coolidge ist verheiratet und hat zwei Kinder; einen Jungen, neun Jahre, und ein Mädchen, acht. Er wohnt in London. In dem Umschlag befinden sich Ihr Ticket, Geld, eine Kreditkarte, Reisepaß, persönliche Notizen. Im Wagen liegt ein Aktenkoffer mit geschäftlichen Unterlagen für Sie bereit. Noch irgendwelche Fragen?«
Gulf riß den Umschlag auf, blätterte flüchtig in den Papieren und steckte dann alles in die Innentasche seines Jacketts. »Wozu dieses Täuschungsmanöver? Ist etwas passiert?«
Sie streckte die Hand aus. »Geben Sie mir Ihre alte Brieftasche, Ihren Paß und alle anderen Dinge, die Sie als Jakob Gulf identifizieren könnten. Wir werden dafür sorgen, daß Sie Ihre Papiere in Washington zurückbekommen.«
Achselzuckend kam Gulf der Aufforderung nach.
»Noch etwas«, fügte sie hinzu. »Ich bin Ihre Frau; Laureen.« Sie ließ ein Lächeln aufblitzen. »Natürlich nur für die Dauer des Fluges.«
»Natürlich«, brummte Gulf. »Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Steigen wir ein. Wir können während der Fahrt zum Flughafen reden.«
Gulf und Carmichael nahmen im Fond des Mercedes Platz, während Laureen wieder auf den Beifahrersitz glitt. Der Sportwagen zog an ihnen vorbei und sie folgten ihm über die fahlbeleuchtete Hafenstraße. Carmichael zündete sich eine Zigarette an. Auch der Fahrer rauchte. Die weißhaarige Frau – meine Frau, dachte Gulf ironisch – sah nervös aus dem Seitenfenster, dann nach vorn und wieder zur Seite, hinaus in die zunehmende Nacht. Schließlich drehte sie sich halb zu ihnen um.
»Und?« sagte sie.
»Sie haben gesprochen«, erwiderte Carmichael mit belegter Stimme. »Auf der Madeleine. Hitler, Göring, Goebbels und die anderen Gespenster. Sie haben den Dom verlassen und sind uns auf die Madeleine gefolgt. Wahrscheinlich sind sie noch immer bei uns; hier im Wagen. Unsichtbar, schweigend. Zuerst haben wir geglaubt, daß sie nur in der Nacht reden, aber das war ein Irrtum. Sie sprechen, wann es ihnen beliebt. Im Morgengrauen, am Tag, in der Abenddämmerung, der Nacht. Wenn Sie Glück haben, werden Sie sie selbst hören …«
Der Fahrer schien tief in seinen Sitz zu rutschen. Das Gesicht der Frau blieb unbewegt. Ihre Augen, dachte Gulf wieder. Sie hat Elizabeths Augen. Hat man sie deshalb ausgewählt? Aber es war ein absurder Gedanke. Er verdrängte ihn.
»Haben Sie eine Erklärung dafür, daß Ihnen die Stimmen folgen, Mr. Gulf?« fragte Laureen.
»Nein.«
Sie runzelte die Stirn. »Keine Vermutung? Nichts? Überrascht es Sie nicht? Haben Sie es vielleicht sogar erwartet? Wußten Sie es?«
»Was soll das?« sagte er scharf. »Glauben Sie etwa, daß ich etwas damit zu tun habe? Daß ich dafür verantwortlich bin?«
»Ich habe Ihnen nur eine Frage gestellt. Mehr nicht. Warum sind Sie so gereizt?«
Carmichael beugte sich nach vorn. »Wir haben eine anstrengende Zeit hinter uns. Eine gefährliche Reise. Wenn Sie mit uns im alten Reich gewesen wären, würden Sie es verstehen. Es liegt an den Stimmen. Sie sind unheimlich, diese Stimmen. Sie machen mir Angst.«
Sie ignorierte ihn. »Ich habe den Auftrag, Ihnen diese Fragen zu stellen, Mr. Gulf. Es ist nichts Persönliches. Was ich denke oder glaube, spielt keine Rolle. Wichtig ist, was die Firma glaubt.«
»Und was«, entgegnete Gulf mit schneidender Stimme, »glaubt die CIA?«
»Sie waren der erste Mensch, zu dem die Toten gesprochen haben. Mit Ihnen hat alles begonnen. Und jetzt folgen Ihnen diese Gespenster. Halten Sie das für einen Zufall?«
Gulf sah nach draußen. Sie hatten den Hafen hinter sich gelassen, und der Mercedes schoß mit hoher Geschwindigkeit durch die Nacht, über das dunkle Asphaltband der Autobahn.
»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
»Sie sind entführt worden. Von dem im Rheinland operierenden Werwolf-Kommando Heinrich Himmler. Auf Befehl der ODESSA, wie wir wissen. Unsere Anti-Terror-Einheit hat Sie befreit und nach Köln geflogen, um die Stimmen im Dom zum Schweigen zu bringen, aber es ist Ihnen nicht gelungen. Im Gegenteil, jetzt haben die Stimmen den Dom verlassen, und wie Carmichael sagte, ist es sehr wahrscheinlich, daß sie Ihnen folgen. Macht Sie das nicht auch stutzig?«
Gulf lachte humorlos auf. »Ich kenne diese Art von Fragen. Ich habe ähnliche Fragen schon vor einem Jahr gehört. Von Ihren Kollegen. Als Ihre Kollegen feststellen mußten, daß es nicht die Elektrische Klette, sondern tatsächlich Elizabeth ist, die zu mir spricht, aus dem Grab, aus dem Jenseits. Meine Antwort ist die gleiche wie damals. Ich habe nichts damit zu tun. Ich habe keine Erklärung dafür. Ich weiß so wenig wie Sie, wie alle anderen. Ich bin als erster Mensch von den Stimmen heimgesucht worden, und es war meine Frau, die sich als erste aus dem Totenreich gemeldet hat. Das ist alles. Ich weiß nicht, warum Elizabeth spricht. Ich weiß nicht, warum Adolf Hitler von den Toten wiederauferstanden ist.«
»Aber die Stimmen folgen Ihnen. Die ganze Zeit haben sie im Kölner Dom gewartet, und erst als Sie kamen, haben sie den Dom verlassen.« Laureen befeuchtete ihre Lippen. »Wir suchen nach einer Erklärung, Mr. Gulf. Nach einer Erklärung für Ihre Rolle in diesem Spiel. Warum wollte die ODESSA Sie in die Hände bekommen? Weil Bormann wußte, daß Sie wie eine Art Magnet auf diese Gespenster wirken? Weil er hoffte, durch Sie den Führer und die anderen toten Nazi-Größen nach Deutsch-Amerika holen zu können, in seinen Andenbunker?«
»Es war nicht meine Idee, ins alte Reich zu fliegen«, wehrte Gulf ab. »Kennedy hat mich darum gebeten. Und Ihr Kollege Splitz hat den Plan entwickelt. Ich habe mitgemacht, weil die vage Hoffnung bestand, daß meine Mission Erfolg haben könnte. Es ist nicht meine Schuld, daß der Plan fehlschlug. Es ist nicht meine Schuld, daß Hitler den Dom verlassen hat. Glauben Sie denn im Ernst, daß ich dafür verantwortlich bin? Halten Sie mich etwa für einen Agenten der ODESSA?«
Sie lächelte kühl. »Sind Sie ein ODESSA-Mann?«
»Sie müssen verrückt sein!« entfuhr es Gulf. »Sie müssen wirklich verrückt sein, wenn Sie das glauben!«
»Sie waren vor zwei Jahren in Deutsch-Amerika. Unter anderem haben Sie sich mit Wachsmann getroffen, dem jetzigen Direktor der deutsch-amerikanischen Raumfahrtbehörde, die wie alle überstaatlichen Einrichtungen des Andenpaktes von der Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen kontrolliert wird.«
»Es ging um die Kletten«, verteidigte sich Gulf. »Nur um diese verdammten Kletten, die Elizabeth auf mich angesetzt hat. Sonst nichts. Wachsmann war an ihrer Entwicklung maßgeblich beteiligt. Ich wollte von ihm erfahren, ob es eine sichere Möglichkeit gibt, die Kletten zu beseitigen. Das war alles.«
»Und Ihre verstorbene Frau«, fuhr Laureen unbeeindruckt fort, »hat sich mehrfach für längere Zeit in Germania aufgehalten, der brasilianischen Hauptstadt. Ihr letzter Besuch fand wenige Monate vor ihrem Tod statt. Und nach unseren Informationen hat sie den Nazis eine gewisse Sympathie entgegengebracht.«
»Den Nazis?« Gulf schüttelte den Kopf. »Nein, nicht den Nazis. Elizabeth bewunderte die Deutschen, ja, das stimmt, sie bewunderte sie, weil die Vertreibung aus Europa die Deutschen nicht gebrochen hat. Elizabeth bewunderte sie für ihre Tüchtigkeit, ihre wissenschaftlichen Leistungen. Ihre Kultur hat sie fasziniert. Aber sie machte einen Unterschied zwischen den Nazis und den Deutschen.«
»Trotzdem – Sie werden verstehen, daß wir unter den gegebenen Umständen mißtrauisch sein müssen. Man wird Sie in den Staaten noch einmal befragen; nicht unbedingt, weil man Sie für einen Agenten Bormanns hält, obwohl …« – wieder blitzte ihr kühles, mechanisches Lächeln auf – »obwohl auch diese Möglichkeit besteht. Aber vielleicht erinnern Sie sich doch an etwas, an einen Anhaltspunkt, eine Beobachtung, irgend etwas, das uns hilft, das Rätsel zu lösen. Denn wir müssen eine Lösung finden. So schnell wie möglich. Sie wissen, was derzeit im Reich geschieht.«
Gulf nickte. »Die Werwölfe. Sie erheben sich.«
»Ja, die Werwölfe erheben sich«, bestätigte Laureen. »Der Aufstand hat sich wie ein Flächenbrand über das gesamte Reichsgebiet ausgebreitet. Bombenattentate, Überfälle, Entführungen, Hinterhalte. Allein ein Anschlag auf die Alliierte Militärkommandantur hat über zweihundert Tote gefordert. In Hamburg wurde der Marinestützpunkt der Briten mit Raketen beschossen. Ein Zerstörer versenkt, mehrere Nachschubfrachter schwer beschädigt. Am Koblenzer Dreieck haben die Franzosen mit einer großangelegten Werwolf-Offensive zu kämpfen. Uns liegen Meldungen vor, daß deutsche Selbstmordkommandos ins Saarland eingesickert sind und Terroraktionen gegen Polizei- und Militärstationen durchführen. Feuergefechte an der polnischen Grenze. Bombenanschläge auf die israelischen Botschaften in London und Paris. Illegale Radiosender hetzen die Deutschen zum Volkskrieg gegen die Alliierten auf. Berchtesgaden und der Obersalzberg sind vor wenigen Stunden zu befreiten Gebieten erklärt worden. Ein russisches Kriegsschiff hat vor der holsteinischen Küste einen südafrikanischen Frachter aufgebracht; er hatte moderne Boden-Luft-Raketen, Minen und fast zehntausend Schnellfeuergewehre und die entsprechende Munition an Bord, alles aus den argentinischen Krupp-Fabriken.«
»Uns wird nichts anderes übrigbleiben, als die Küsten des Reiches zu blockieren«, knurrte Carmichael. »Um den Guerilleras den Nachschub aus Deutsch-Amerika abzuschneiden. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.«
»Es ist zu spät«, sagte Laureen. »Die Informationen über das Ausmaß der Kämpfe lassen keinen anderen Schluß zu. In den letzten Jahren muß die ODESSA ungeheure Waffenmengen ins Reich geschleust haben. Die Werwölfe verfügen über lasergesteuerte Luftabwehrraketen, elektronische Radarstörsysteme, panzerbrechende Waffen, weitreichende Haubitzen. Die russische Garnison hat fast die Hälfte ihrer Kampfhubschrauber verloren, bevor die Sowjets überhaupt begriffen, was vor sich ging. Die Einheiten der Roten Armee an der russischen Westgrenze sind in Alarmbereitschaft versetzt worden. Der Kreml hat Washington informiert, daß für morgen die Landung von zwei Fallschirmjägerbataillonen in Brandenburg geplant ist, und die drei Westalliierten gleichzeitig ersucht, ebenfalls Truppen ins Reich zu entsenden.«
»Ich verstehe das nicht«, murmelte Gulf. »Ich verstehe es einfach nicht. Ich meine, selbst mit der Unterstützung Deutsch-Amerikas haben die Werwölfe keine Chance. Nicht die geringste Chance. Der Aufstand ist zum Scheitern verurteilt. Sie werden alle sterben.«
»Meinen Sie, das kümmert diese Nazis?« sagte Laureen. »Glauben Sie mir, jeder einzelne von diesen Werwölfen ist krank. Wahnsinnig. Für sie ist es die Erfüllung ihrer Wünsche, im Kampf für Führer, Volk und Vaterland zu fallen. Dem Werwolf-Orden geht es nicht um Sieg, sondern um Zerstörung, ziellose, planlose Zerstörung. Als Bormann Anfang 1945 die Partisanen-Organisation Werwolf gründete, tat er dies nicht in der Hoffnung, das Kriegsglück noch einmal zu wenden, sondern nur um der Zerstörung willen. Er wußte genau, daß der Krieg nicht mehr gewonnen werden konnte. Die Werwölfe sollten töten und selbst getötet werden. Menschenopfer. Barbarische Menschenopfer, und heute ist es nicht anders. Bormann, die ODESSA, die Werwölfe – sie sind alle wahnsinnig.«
Laureen holte tief Luft. »Deutsch-Amerika macht mobil. Reservisten werden einberufen, Soldaten aus dem Urlaub zurückbeordert, Vorbereitungen für die Umstellung der Wirtschaft auf Kriegsproduktion getroffen.«
»Krieg?« sagte Gulf. »Glauben Sie wirklich, daß es Krieg geben wird?«
»Vielleicht. Alles ist möglich. Ich sagte schon, die Nazis sind verrückt. Ihnen ist alles zuzutrauen. Sogar, daß sie einen Weltkrieg anzetteln, um nach Köln pilgern zu können. Um im Dom die Stimme ihres Führers zu hören.«
»Aber Hitler ist nicht mehr in Köln.«
»Die Latinodeutschen wissen das nicht«, erinnerte Laureen. Sie schüttelte ihr weißes, schulterlanges Haar. »Und für uns alle ist es besser, wenn es noch eine Weile so bleibt.«
Schweigen. Die schwere Limousine schoß durch die Nacht, dem Flughafen entgegen. Gulf erwartete halb, daß Elizabeth das Schweigen nutzen und ihre Stimme erheben würde, aber Elizabeth sagte nichts. Hitler, Göring, Goebbels, Heydrich, Rosenberg – keiner sprach. Vielleicht waren die Gespenster auf der Madeleine zurückgeblieben. Oder sie hatten ihn verlassen und gingen ihre eigenen Wege, jetzt, wo die Grenzen des alten Reiches hinter ihnen lagen. Vielleicht brauchten sie ihn nicht mehr. Vielleicht war er frei von ihnen.
Frei …
Aber Elizabeth, dachte er. Elizabeth wird bei mir bleiben, auch wenn die anderen gehen. Sie wird mich nie verlassen. Sie hat den Tod besiegt, und sie wird nicht erlauben, daß das Leben uns trennt.
Nach einer Weile fragte er: »Was geschieht nach unserer Ankunft in den Staaten?«
»Kennedy hat den Nationalen Sicherheitsrat zusammengerufen«, antwortete Laureen. »Sie werden an der Sitzung teilnehmen und dem Rat Bericht erstatten. Möglicherweise bringt man Sie aber direkt ins Hauptquartier der CIA. Falls sich die Gespenster wieder melden sollten, glaube ich nicht, daß man Sie ins Weiße Haus läßt. Schließlich weiß niemand, was geschieht, wenn Morgenthau und Hitler aufeinandertreffen.«
»Der Flughafen«, unterbrach der Fahrer. »Wir sind gleich da.«
»In Ordnung.« Die Frau sah Gulf nachdenklich an. »Von jetzt an sind Sie Steven Coolidge. Und ich bin Ihre Frau. Vergessen Sie das nicht. Trevor« – sie nickte Carmichael zu – »wird sich von uns trennen und später wieder zu uns stoßen. Im Flughafengebäude sind ein Dutzend unserer Leute postiert. Zwar rechnen wir nicht damit, daß die ODESSA Ihre Spur bis hier verfolgt hat, aber wir wollen kein Risiko eingehen. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn die ODESSA Sie nach Deutsch-Amerika entführt und die Stimmen Ihnen folgen … wenn Adolf Hitlers Stimme in Germania erklingt und Joseph Goebbels die Exil-Nazis zum Krieg aufruft wie damals in den vierziger Jahren, zum totalen Krieg gegen die ganze Welt.«
Ja, dachte Gulf, vielleicht sind sie deshalb zurückgekommen. Vielleicht ist das wirklich der Grund für die Auferstehung der toten Nazi-Führer. Sie wollen das, was sie damals begonnen haben, zu Ende führen. Und diesmal wird es wirklich das Ende sein: Unser aller Ende, das Ende allen Lebens auf der Erde. Asche, dachte er. Nur Asche wird bleiben. Das Land und die Städte werden brennen, und die Menschen werden mit ihnen in Flammen aufgehen.
Sie erreichten den Flughafen und stiegen aus. Die Nacht war warm und schwül, die Luft roch abgestanden. Nach den Tagen im Reich, in der reinen Luft der unberührten Wälder, war sie wie ein Knebel. Gulf und Laureen warteten, bis Carmichael in der Abfertigungshalle verschwunden war, und folgten dann langsam.
»Was machen wir«, fragte Gulf, »wenn sie wieder zu sprechen beginnen, die Stimmen?«
»Nichts«, erklärte sie. »Wir gehen weiter. Einfach weiter. Als wäre nichts geschehen.«
In der Halle war die Luft noch drückender als draußen. Menschenschlangen drängten sich vor den Abfertigungsschaltern, die Wartesäle waren überfüllt – die Krise im Reich machte sich bereits bemerkbar. Auf dem Weg zum PanAm-Schalter sah sich Gulf verstohlen um. Nichts. Niemand kümmerte sich um sie, niemand schenkte ihnen Beachtung. Am Schalter zeigten sie ihre Tickets vor und nahmen die Bordkarten in Empfang. Formalitäten. Sie hatten einen wohltuenden Einfluß auf Gulfs Nerven. Er entspannte sich. Die niederländischen Beamten an der Paßkontrolle warfen nur einen flüchtigen Blick auf ihre britischen Pässe, durchleuchteten das Handgepäck und ließen sie passieren.
»Dort«, sagte Laureen. »Unser Flugsteig.« Sie sah zur Leuchtanzeige. »In einer halben Stunde können wir an Bord gehen.«
Gulf entdeckte unter den wartenden Passagieren Carmichael in der Begleitung einer schwarzhaarigen Frau, offenbar einer CIA-Agentin. Sie ignorierten ihn. Sein Blick wanderte zum benachbarten Flugsteig; der Warteraum leerte sich und die ersten Passagiere bestiegen den Zubringerbus zur startbereiten Maschine. Ein Flugzeug der Lufthansa. Linienflug nach Rio de Janeiro.
Nach Deutsch-Amerika. Ins Nazi-Land.
Gulf fröstelte.
Laureen zupfte an seinem Ärmel und zog ihn halb aus dem Warteraum. Plötzlich wirkte sie nervös. »Halten wir uns besser etwas abseits. Nur zur Sicherheit. Für den Fall, daß doch etwas passiert.«
Gulf runzelte die Stirn; aber er schwieg. Er warf Carmichael einen verstohlenen Seitenblick zu. Der Agent machte einen irritierten Eindruck.
»Küß mich«, sagte Laureen.
Er starrte sie verblüfft an.
»Küß mich, verdammt noch mal!« zischte sie.
Er küßte sie. Ihr Mund war weich, halb geöffnet. Er spürte ihre Zunge, ihre Arme, ihren Körper. Kleine Brüste, schmale Hüften, schlank, fast sehnig. Der Körper einer Sportlerin. Und sie roch gut.
Hinter ihm schrie jemand, gefolgt von einem lauten Poltern. Dann gellten ein Dutzend aufgeregte Stimmen durcheinander.
Carmichael! dachte Gulf sofort.
Er riß sich von Laureen los und fuhr herum. Carmichael und die schwarzhaarige Frau lagen reglos, ohnmächtig oder tot, auf dem Boden. Ein dicker Mann mit Hornbrille und in einem schlecht sitzenden braunen Anzug kniete nieder, eine kleine schwarze Arzttasche neben sich, und schien sie zu untersuchen, aber dann verstellten Schaulustige den Blick.
Etwas stach in seine Hand.
Er stieß einen gepreßten Schmerzenslaut aus und zog die Hand zurück. Laureen lächelte eigentümlich. Zwischen den Fingern hielt sie eine kleine Nadel.
»Laureen«, keuchte er, »was hat das …« Seine Stimme versagte. Laureens lächelndes Gesicht verschwamm vor seinen Augen. »Laureen …!« Ihm wurde heiß, alles drehte sich um ihn. Die Beine gaben unter ihm nach, aber ehe er stürzen konnte, stützten ihn kräftige Hände.
»Können wir Ihnen helfen?« fragte ein dunkelhäutiger, schwarzhaariger Mann in Stewarduniform. Und sein Begleiter, der dicke Mann mit der Arzttasche, den er soeben noch neben Carmichael gesehen hatte, fügte freundlich hinzu: »Ich bin Arzt.«
»Sehr freundlich von ihnen«, lächelte Laureen. »Mein Mann hat einen kleinen Schwächeanfall. Wenn Sie mir helfen würden, ihn ins Flugzeug zu bringen, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
Sie lächelte, und der dunkelhäutige, hilfsbereite Steward lächelte ebenfalls, genau wie der dicke Doktor, und Gulf war innerlich ganz taub, hölzern, ohne Willenskraft. Eine Droge! dachte er. Laureen … sie hat mir eine Droge injiziert … Aber der Gedanke war nicht beunruhigend. Es spielte keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle.
»Zum Glück haben wir dieselbe Maschine«, erklärte der Steward, und ein paar Schritte weiter lagen Carmichael und die schwarzhaarige CIA-Agentin leblos auf dem Boden, und von irgendwo drang Geschrei, aber es war unwichtig.
»Wie geht es dir?« fragte ihn Laureen.
Er sagte nichts.
Sie küßte ihn auf die Wange. »Wir steigen jetzt ins Flugzeug. Komm!«
Willig folgte er dem sanften Druck ihrer Hand. An seiner anderen Seite ging der dicke Doktor und hinter ihnen der freundliche Steward, und da schienen auch noch andere Männer zu sein, aber es spielte keine Rolle. Dann waren sie durch die Tür und draußen im Freien, stiegen in einen wartenden Kleinbus und fuhren der Maschine auf dem Rollfeld entgegen.
Ein Name stand am weißen, mächtigen Rumpf des Flugzeugs. Die Buchstaben flimmerten vor Gulfs Augen, und erst, als sie die Maschine erreicht hatten, konnte er die Schrift entziffern.
Lufthansa.
Aber es war nicht wichtig.
Nichts war wichtig.
Nichts.