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In den meisten englischen Industriestädten gibt es derart heruntergekommene Viertel, dass sich nur die verzweifeltsten, in Selbstmitleid versackten Junkies und Alkoholiker, die Ausgestoßenen einer fürsorglichen und mitfühlenden Gesellschaft, bereitfinden, dort zu wohnen. Einige wenige alte Menschen, die gern woanders leben würden, sich einen Umzug aber nicht leisten können, bewohnen die obersten Stockwerke der Hochhäuser und verfluchen den Tag, als die Stadtverwaltung in den sechziger Jahren ihre Reihenhäuschen aus dem neunzehnten Jahrhundert aus angeblich gesundheitlichen und hygienischen Gründen abreißen ließ. Tatsächlich geschah es im Interesse ehrgeiziger Architekten, die erpicht darauf waren, sich einen Ruf zu erarbeiten, und im Interesse von Stadträten, die erpicht darauf waren, sich die Taschen mit den Zahlungen von Baulöwen zu füllen, deren einziges Interesse darin bestand, haufenweise Geld zu scheffeln.

Eins dieser Gebiete liegt am Ortsrand von Ipford, und dorthin war Mrs. Rottecombe gerade unterwegs. Sie kannte den Landstrich ziemlich gut, zu gut, um es jetzt auch nur zu erwähnen. Einer auf ihrer ersten langen Liste von Klienten vor der Ehe mit Harold Rottecombe hatte in der Nähe von Ipford ein Ferienhaus gehabt, wo sie das eine oder andere Wochenende verbrachte. Als der Kunde so nachlässig war, während der Arbeit seinen Schöpfer aufzusuchen, war sie Hals über Kopf nach London gezogen, um nicht vor Gericht zur Todesursache befragt zu werden. Sie hatte den Namen geändert und den einer Tante mütterlicherseits angenommen, die an Alzheimer litt und nicht mehr wusste, wer sie selbst war, geschweige denn, ob ihre Nichte ihre Tochter war oder nicht. Der Trick funktionierte. Danach ging es nur noch darum, einen respektablen Ehemann zu finden, und da Ruth eine raffinierte und ehrgeizige Frau war, wurde sie Mitarbeiterin in Harold Rottecombes Wahlkreisbüro und machte so seine Bekanntschaft. Von dort zum Standesamt war es nur ein kleiner Schritt. Trotz seiner politischen Intelligenz ahnte Harold nicht einmal, wen er da geheiratet hatte. Er würde es nie erfahren, außer … außer es käme zur Scheidung. Kurz, Ruth Rottecombe hatte ihn, um die Sprache ihrer Jugend zu benutzen, »an den Eiern gepackt«. Und je weiter er auf dem glatten Pfahl der Politik nach oben kletterte, desto weniger würde er wollen, dass ihre Vergangenheit in der Öffentlichkeit bekannt wurde. Bisher hatte sie nur einen Fehler begangen, nämlich mit Bob Battleby zu verkehren. Und natürlich stand sie vor dem Problem, den Mann im Kofferraum des Volvo auf elegante Weise loszuwerden. Wer auch immer er sein mochte, ihr Instinkt verriet ihr, dass er ein gebildeter verheirateter Mann war und kein Reporter irgendeines schmutzigen Boulevardblattes. Seiner Frau oder der Polizei zu erklären, wie seine Hose abhanden gekommen war, würde ihm nicht leicht fallen.

Als sie endlich in Ipford eintraf, wurde es bereits dunkel. Sie umfuhr den Ort und näherte sich der heruntergekommenen Wohngegend über eine Nebenstraße. Das Viertel war in einem viel schlimmeren Zustand, als sie in Erinnerung hatte. Kein Mensch war zu sehen, nirgends brannte Licht, und die meisten Fenster waren verrammelt. Analphabeten mit Farbdosen hatten ganze Wände mit obszönen Graffiti besprüht. Ruth bog in eine dunkle Gasse ohne Straßenlaternen ein, hielt unter einem hoch aufragenden Hochhaus und machte den Motor aus. Sie stieg aus und schaute sich vorsichtig um und zu den schwarzen oder verrammelten Fenstern auf beiden Seiten der Gasse hoch. In einiger Entfernung hörte sie das Geräusch von Lastwagen auf der Autobahn, doch ansonsten war es totenstill. Drei Minuten später hatte sie die Zeitungen und Kartons entfernt, das Klebeband von seinen Handgelenken gewickelt, den Knebel herausgezogen und schleifte nun Wilt an den Füßen in die Gosse, wobei sie mit seinem Kopf gegen den Rinnstein stieß. Dann schmiss sie die Heckklappe des Kombis zu und fuhr weiter, musste aber feststellen, dass sie sich in einer Sackgasse befand. Sie wendete und fuhr den Weg zurück, den sie gekommen war, wobei ihre Scheinwerfer Wilts fast nackte Gestalt erfassten. Erfreut bemerkte sie, dass sein Kopf blutete. Sie bemerkte nicht, dass eins der Sperrholzbretter, mit denen ein Fenster im zweiten Stock des Hochhauses verrammelt war, zur Seite geschoben war, als sie nach rechts abbog und Richtung Autobahn fuhr. Mittlerweile war sie zwar müde, aber euphorisch. Sie hatte sich einer Gefahr für Harolds Ruf und ihren eigenen Einfluss entledigt. Allerdings vergaß sie auf der Rückfahrt nach Meldrum Slocum, sich Wilts Jeans, Stiefel, Socken und seines Rucksacks zu entledigen, die immer noch unter den Pappkartons lagen. Als sie schließlich Leyline Lodge erreichte, war sie völlig erledigt und fiel ins Bett. Weit hinter ihr war das Sperrholzbrett in dem Hochhaus längst wieder an Ort und Stelle.

Eine Stunde später kam eine Gruppe betrunkener Skinheads am Ende der Gasse vorbei, entdeckte den Mann im Rinnstein und kam näher, um ihn sich genauer anzusehen.

»Eine beschissene alte Schwuchtel«, schloss einer von ihnen aus der Tatsache, dass Wilt keine Hose trug. »Geben wir ihm den Stiefel.« Und nachdem sie ihre Einstellung gegenüber Schwulen demonstriert hatten, indem sie ihm ein paarmal in die Rippen und einmal ins Gesicht getreten hatten, schwankten sie lachend weiter. Wilt spürte nichts. Er hatte zwar ein älteres England gefunden als erwartet, doch das wusste er noch nicht.

Der Morgen dämmerte bereits, als ein Polizeiwagen Wilt entdeckte. Zwei Polizisten stiegen aus und sahen ihn sich an.

»Wir rufen am besten einen Krankenwagen. Der ist ja übel zugerichtet. Sag ihnen, es ist dringend.«

Während die Polizeibeamtin das Funkgerät im Wagen benutzte, sah sich ihr Kollege um. Über seinem Kopf öffnete sich das Sperrholzbrett.

»Ist vor ungefähr drei Stunden passiert«, sagte eine alte Frau.

»Eine Frau in einem weißen Auto fuhr vor und zerrte ihn ins Freie. Dann haben ihn ein paar junge Schläger ein wenig getreten, einfach so aus Spaß.«

Der Polizist spähte zu ihr hoch. »Sie hätten uns anrufen sollen, Mütterchen«, sagte er.

»Womit denn, frage ich mich? Glauben Sie, ich hab ein Telefon?«

»Vermutlich nicht. Was tun Sie hier eigentlich? Das letzte Mal waren Sie am anderen Straßenende.«

Die alte Frau steckte den Kopf weiter ins Freie. »Glauben Sie vielleicht, ich bleibe hier an einer Stelle? Wohl kaum. Ich seh vielleicht wie ’ne alte Schachtel aus, aber debil bin ich deswegen noch lange nich. Muss ständig auf Achse sein, damit mich diese jungen Schweine nicht kriegen.«

Der Polizist holte sein Notizbuch heraus. »Haben Sie einen Blick auf das Nummernschild des Wagens werfen können?«

»Was, im Dunkeln? Natürlich nicht. Hab aber eine Frau gesehen. Ein reiches Luder, dem Aussehen nach. Nicht aus dieser Gegend.«

»Wir können Sie mit auf die Wache nehmen. Da wären Sie sicher.«

»Das meinte ich nicht. Ich will wieder dahin, wo ich herkomme. Das hab ich gemeint, Polyp.«

Doch ehe der Beamte fragen konnte, wo das denn sei, kam die Polizistin mit der Nachricht wieder, es seien keine Krankenwagen verfügbar. In dreißig Kilometern Entfernung habe es auf der Autobahn einen schweren Unfall gegeben, an dem zwei Busse voller Schüler auf einem Klassenausflug, ein Tankwagen sowie ein mit Schweinen beladener Lkw beteiligt seien, und man habe jeden verfügbaren Krankenwagen und jeden Feuerwehrwagen zum Unfallort beordert.

»Schweine?«, hakte der Wachtmeister nach.

»Wenigstens glaube ich, dass es Schweine waren. Dem Dienst habenden Sergeant wurde erzählt, es rieche penetrant nach gebratenem Schweinefleisch.«

»Egal. Was ist mit den Schulkindern?«

»Die sind in den Krankenwagen. Die beiden Busse sind auf dem Schweinefett ins Schleudern geraten und umgekippt«, berichtete ihm die Polizistin.

»Tja, dann packen wir diese arme Sau hier hinten in unseren Wagen und bringen ihn selbst rüber ins Krankenhaus.«

Über ihren Köpfen hatte die alte Frau das Sperrholzbrett wieder zugeklappt und war verschwunden. Mit Wilt in Bauchlage auf dem Rücksitz trafen sie im Ipford General Hospital ein, wo sie abweisend empfangen wurden.

»Also gut«, sagte ein verzweifelter Arzt, den die Schwester bei der Aufnahme gerufen hatte. »Mit diesem verdammten Unfall wird es schwierig. Wir haben keine freien Betten, nicht mal einen freien Transporttisch. Ich bin mir nicht mal sicher, ob wir freie Flure haben, und um bei der Arbeit in diesem menschlichen Schlachthof, denn darauf läuft es hinaus, so richtig Erfüllung zu finden, müssen wir mit einer größeren Katastrophe fertig werden. Vier Ärzte sind krankgemeldet, und wie üblich fehlen Schwestern und Pfleger. Warum bringen Sie ihn nicht nach Hause? Da ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass er stirbt.«

Dennoch wurde Wilt schließlich auf eine Bahre gehoben und in einen langen Flur abgeschoben. Glücklicherweise war er immer noch nicht bei Bewusstsein.