Onkel Mychas baute so gute Öfen und Keller, daß er nach seiner Festnahme noch ein ganzes Jahr nicht in die Verbannung geschickt wurde. Die frisch eingetroffenen Offiziere der Besatzungsarmee und der Geheimpolizei ließen sich in den Städten und größeren Dörfern nieder. Sie erhielten Dienstwohnungen in Häusern und Villen, die im Krieg schwer beschädigt worden waren. Und sie mußten den Alltag ihrer Familien organisieren, für ein Gefühl von Heimat und Beständigkeit sorgen. Der verhaftete Handwerker gehörte ihnen. Für Renovierungsarbeiten wurde Onkel Mychas zuerst nach Jeremtscha, dann nach Nadwirna geholt. Das war ganz normal. Auch wir, Soldaten der sowjetischen Armee, mußten Ende der Achtziger die Wohnungen von Offizieren renovieren. Schließlich fand eine Kommission aus Kiew heraus, daß sich der Verurteilte noch immer in örtlicher Untersuchungshaft befand, obwohl er längst in den östlichen Regionen der Sowjetunion sein sollte. Der Onkel wurde sofort nach Stanislau überstellt, um mit dem ersten Zug nach Sibirien deportiert zu werden. Der Pfarrer aus Dora, ein Bekannter von Onkel Mychas, konnte ihm gerade noch ein Säckchen trockenes Brot zustecken. Pater Holowazki wußte nicht, daß sie in wenigen Jahren miteinander verwandt sein würden, daß Onkel Mychas in Tschita[1] die Schwester der Frau seines Bruders heiraten würde. Und daß sie alle in die Karpaten zurückkehren würden. Der erste Zug nach Sibirien war ein Kriminellentransport. Onkel Mychas wurde in den Waggon gestoßen, und das Brot landete sofort beim Chef. Da mußten klare Verhältnisse geschaffen werden. Die Kriminellen konnten Politische nicht ausstehen. Erst recht nicht, wenn ein Politischer in einem Waggon voller Krimineller gelandet war. Onkel Mychas wiederum mochte kein langes Gelaber. Er redete wenig, und wenn er etwas von sich gab, waren es vorwiegend Witze und Scherzgedichte oder sparsam dosierte Fragmente seiner eigenen Erfahrungen, die wie Assoziationen hochkamen, einer ganz persönlichen Logik folgend. Er holte unter der Zunge eine halbe Rasierklinge hervor und machte – die Hand noch am Mund – mit den Fingern eine Bewegung, die das fast gewichtslose Stückchen Stahl ein paar Meter durch die Luft fliegen ließ, bis es sich genau neben dem Kopf des Chefs in die Wand bohrte. Erst dann begrüßte Onkel Mychas sein vorläufiges Heim wie ein ehemaliger Strafbataillonskämpfer. Er bekam sein Säckchen Brot zurück, und man trat ihm einen Platz an der frischen Luft ab. Der Zug fuhr zum Zentralgefängnis Wladimir. Dort wurde Onkel Mychas unter irgendeinem Vorwand aus dem Zug geholt. Viele Tage verbrachte er auf den nassen Betonböden der legendärsten Gefängnisse auf dem Weg in den Osten. Eines befand sich sogar auf einer Insel, sehr zu Onkel Mychas' Erheiterung. Natürlich hatte Onkel Mychas weder für die Polizei noch für die Miliz etwas übrig. Als richtiger Handwerker sagte er, daß zur Miliz nur geht, wer nicht arbeiten, aber gut essen will. Außerdem müsse man eine spezielle Neigung dazu haben, auf wehrlose menschliche Körper einzuprügeln. Der Onkel wunderte sich überhaupt nicht, als alle hinter vorgehaltener Hand über einen Nachbarn redeten, dem – das ist kein Witz – die Miliz Ende der Siebziger fast die Nieren aus dem Leib geprügelt hatte. Der Onkel kannte sich mit gesellschaftlichen und staatlichen Organisationsformen nicht aus, glaubte aber an die Widerstandsfähigkeit der menschlichen Natur. Als die Frau erschossen wurde, die noch näher am Wald wohnte als wir, beschloß Onkel Mychas, sein Flobert-Gewehr zu vernichten, das seit den Dreißigern in einem geheimen Kellerloch unter dem Haus versteckt war. Die örtliche Miliz trieb sich immer öfter in der Nähe unseres Hauses herum. Zwischen uns und dem Haus der Ermordeten waren nur Felder, Obst- und Gemüsegärten, Gräben und Hagebuttendickicht, keine weiteren Häuser. Die Verstorbene hatte uns oft besucht, abends saß sie mit dem Onkel auf der Bank unter den Pflaumenbäumen. Onkel Mychas liebte sein Flobert-Gewehr, wußte aber, daß es an der Zeit war, die Waffe – die perfekt geputzt war und ein außergewöhnliches Kaliber hatte – zu beseitigen, damit die Miliz sie nicht fand. Der Onkel schenkte uns ein paar Dutzend glänzender Patronen. Am Fuß des Berges, auf dem sich unser Häuschen und der Garten befanden, verliefen Bahngleise. Da wir mit diesen Dingen schon Erfahrung hatten, gingen wir die Gleise entlang, immer weiter weg von unserem Haus. Bis dahin, wo auf beiden Seiten Wald war. Dort legten wir die Patronen auf die Schienen. Der Abendzug nach Rachiw kam heran, aus den Fenstern schauten Passagiere. Bei einer solchen Geschwindigkeit haben sechzig Patronen den gleichen Effekt wie ein volles Schmeissermagazin. Der Lokführer zog die Bremse, sprang aus der Kabine und rollte sich in den Graben. Die Züge und Schienen waren Teil unseres täglichen Lebens. Wenn Güterzüge vorbeifuhren, zitterte das Haus. Besonders nachts war das zu spüren, das Bett vibrierte wie bei einem Erdbeben mittlerer Stärke. Auf dem Dachboden kam noch eine Stufe auf der Richterskala dazu. Als es einundachtzig tatsächlich ein Erdbeben gab, war unsere Familie die einzige in Iwano-Frankiwsk, die in einem mehrstöckigen Wohnhaus keinerlei Reaktion zeigte. Die Nachbarn standen in Pyjamas und mit ihren Pässen und Sparbüchern auf der Straße und schauten mitleidig zu unseren Fenstern hinauf. Im selben Moment klopfte Onkel Mychas mit einem Stock gegen die Decke, weil er glaubte, die Kinder oben führen mitten in der Nacht Fahrrad, und Mutter fragte meinen Bruder, wieso er mit dem Bett wackle. Nur Tante Mira, deren Bett in einer tiefen Schlucht zwischen Bücherstößen stand, war sich sicher, daß nun eintreten würde, wovor sie sich immer gefürchtet, worüber sie oft nachgedacht hatte: daß es ein Erdbeben geben könnte, bei dem sie unter ihren Büchern begraben wurde. Deshalb versuchte sie erst gar nicht, das Zimmer zu verlassen. Tante Mira schätzte ihre Unabhängigkeit von anderen Menschen, selbst den allernächsten. Sie haßte Geburtstagsgeschenke. Niemand durfte ihr Zimmer betreten. Die Tür war immer versperrt. Sie hatte ihr Zimmer als separate Wohnung angemeldet. Sogar Sankt Nikolaus steckte die Mandarinen für Tante Mira in ein extra Säckchen, das an der Türklinke ihres Zimmers hing. Onkel Mychas kannte übrigens viele der einfachsten, heute gebräuchlichen Wörter nicht. Zum Zimmer sagte er Stube oder Kammer, aber nicht Zimmer. Zur Decke sagte er Plafond. Das ärgerte Tante Mira. Tante Mira ärgerte vieles an Onkel Mychas. Aber sie gab zu, daß er trotz fehlender Ausbildung überaus intelligent war. Alle beide waren zu stur und zu stark, um einander mit Nachsicht begegnen zu können. Und zu ironisch, um sich nicht gleichzeitig als Peiniger und Opfer zu sehen. Sie hatten denselben Beichtvater. Pater Dr. Laba war in den zwanziger Jahren Seelsorger im Gymnasium der Schwestern Wasyljanky gewesen, das Tante Mira besucht hatte, und in den vierziger Jahren bei der Division Galizien[2], in der Onkel Mychas gedient hatte. Tante Mira haßte ihren sowjetischen Paß, weil als Geburtsort Scranton, USA, eingetragen war. Tante Mira weckte unsere Liebe zu Grapefruits. Und zwar zu einer Zeit, als man gerade begonnen hatte, sie aus Kuba zu importieren; die Obst- und Gemüseläden waren voll damit, doch verglichen mit Orangen und Mandarinen, der ewigen Mangelware, fanden die meisten Leute Grapefruits eklig. In den Obst- und Gemüseläden wurde auch ungenießbares Sauerkraut verkauft. Den Umstand, daß es verdorben war, versuchte man mit Lorbeerblättern zu kaschieren. Tante Mira war die Schwester meines Großvaters Bohdan, Mutters Vater. Großvater starb ein paar Jahre vor meiner Geburt. Mein anderer Großvater, Vaters Vater, starb ein paar Monate vor Vaters Geburt. Deshalb war Onkel Mychas mein einziger wirklicher Großvater. Großmutter und er hatten sich in Tschita kennengelernt. Vater war damals dreizehn, er war daran gewöhnt, sich allein um seine Mutter zu kümmern, und so versuchte er anfangs, jegliche Annäherung zu verhindern. Vater haben sie einfach in der Schule abgeholt. Die Familie lebte damals in Morschyn[3]. Bewaffnete NKWD-Leute kamen in die Klasse und nahmen den Zehnjährigen mit. In Tschita schloß er sich den Kriminellen an. Innerhalb eines Jahres verschwanden sechs Jungen aus seiner Klasse: Drei starben bei einer Messerstecherei, die anderen drei wurden zum Tod durch Erschießen verurteilt, weil sie in eine Reihe von Raubmorden verwickelt gewesen waren. Manchmal setzten die Kriminellen in Tschita beim Kartenspiel auf Menschenleben. Sagen wir, Reihe vier, Platz neun im Kino »Spartak« während der Vierzehn-Uhr-zwanzig-Vorstellung. Der Verlierer mußte den Kinobesucher, der zufällig zu dieser Zeit auf diesem Platz saß, erstechen. Onkel Mychas half Vater, von der Bande loszukommen, daraufhin akzeptierte Vater ihn. Vater begann sich ernsthaft mit Ringkampf zu befassen, mit Laubsägearbeiten und mit dem Reparieren von Uhren. Aus Gewohnheit trug er noch immer seinen Schlagring. Der Onkel überzeugte ihn davon, daß eine Eichel viel besser sei, weil man damit niemanden zum Krüppel machen kann. Eine Eichel ist eine Metallkugel, die man mit der Faust umschließt. Sie macht den Schlag nicht härter, sondern verleiht der Faust eine optimale Form. Noch in den Achtzigern zog Vater oft durch die nächtliche Stadt, und immer hielt er für alle Fälle ein Lederetui mit Schlüsseln in der Hand. Vor ein paar Jahren habe ich seinen Schlagring aus Tschita gefunden. Ich steckte ihn ein und ging Brot kaufen. Unterwegs konnte ich der Verlockung nicht widerstehen und steckte die Finger in den Schlagring. Die vier Löcher waren für dünnere Finger gemacht. Während ich in der Schlange stand, gelang es mir nicht, den Schlagring wieder von der Hand zu ziehen. Ebensowenig konnte ich die Hand aus der Tasche ziehen, um an das Geld zu kommen. Ich mußte die Schlange im letzten Moment verlassen. Ein anderes Mal begleiteten wir jemanden zum Nachtzug. Wir waren eine ganze Gruppe, und die letzten Flaschen leerten wir am Bahnhof, aus irgendeinem Grund am Abstellgleis zwischen zwei Güterzügen. Die Sache sollte so leise und sauber wie möglich vor sich gehen. Die Flaschen standen auf einem niedrigen Pflock, in dem ein blaues Licht brannte. Wir hatten keine Ahnung, daß in diesem Jahr sehr viel aus den Güterwagen gestohlen wurde. Wie sich herausstellte, war das gesamte Stationsgelände ziemlich gut bewacht. Plötzlich kamen von allen Seiten Milizionäre gelaufen. Beim Laufen preßten sie ihre Kappen seltsam gegen den Kopf. Wir wurden festgenommen und zum Revier gebracht. Der Schlagring war in der Tasche meines Wintermantels. Ich wollte ihn herausholen, aber der Milizionär packte meine Hand und verbot mir, in die Tasche zu greifen. Ich bot ihm eine gute Zigarette an, hatte gerade ein Päckchen Gitanes bekommen, die bei uns niemand kannte. Der Polizeikommissar nahm an, denn bis zum Revier war es noch weit. Während ich das Päckchen hervorholte, mußte ich ein Loch in die Tasche reißen und den Schlagring zwischen Futter und Mantelstoff schieben. Auf dem Revier wurden wir durchsucht. Ich hielt den Mantelsaum vorsichtig zur Seite und bemühte mich, niemanden mit dem schweren Ding zu treffen, das auf Kniehöhe herumschlenkerte. Später warf ich den Schlagring in den Fluß. Ich hatte keinen einzigen Menschen damit geschlagen. Nicht einmal den OMON-Polizisten[4], dem meine Freunde und ich den Gummiknüppel abnahmen. Damals ähnelte Iwano-Frankiwsk einer besetzten Stadt. Es war September, das fünfzigjährige Jubiläum der Eingliederung der Westukraine in die Ukrainische Sowjetrepublik. OMON-Polizisten aus Odessa patrouillierten auf den Straßen des Zentrums. Sie waren in Dreiergruppen unterwegs, mit Hunden, Gummiknüppeln, Pfeffersprays und Handschellen. So etwas hatten wir noch nie erlebt. Die Patrouillen verfolgten alle, die gelb-blaue oder rot-schwarze Abzeichen trugen. Das Ganze endete damit, daß unser Kumpel zusammengeschlagen wurde. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert, die OMON-Polizisten wurden abgezogen und damit aus der Verantwortung entlassen. Am siebzehnten September trugen wir Trauerschleifen und stellten brennende Kerzen in die verdunkelten Fenster. Obwohl sich unsere Fenster schwer verdunkeln ließen. Wir wohnten an der Hauptstraße, und die Girlanden der Festtagsbeleuchtung waren genau vor unseren Fenstern gespannt. Im Winter, wenn die Fensterbretter, Dächer, Bäume und elektrischen Leitungen mit Schnee bedeckt waren, liebten wir es, die Fenster weit aufzumachen und den besonderen rosaroten Schein zu betrachten – das Funkeln der Schneekristalle. In Lemberg übernachtete ich manchmal in der Ruska Straße. Unsere alte Tante, Witwe des ersten Rektors der Geheimen Ukrainischen Universität[5], wohnte im obersten Stock des uralten Hauses, das an die Himmelfahrtskirche grenzt. Wenn sie krank war, blieb ich über Nacht bei ihr. Die vorbeifahrenden Straßenbahnen ließen das Bett leicht erzittern, und von Zeit zu Zeit sah man blaue Blitze in der Straßenschlucht. Von einem der Fenster aus konnte man in einen Ausstellungsraum des Porzellanmuseums sehen. Einmal war ich mit meinen damals noch kleinen Kindern dort. Ich schaute aus dem Fenster zu den Fenstern unserer ehemaligen Wohnung hinüber. Ein Fenster stand offen, jedoch einen Stock höher. Ich erkannte die gleiche Decke, die Lampe aber war völlig anders. Es gab eine Zeit, da bin ich mit meinen besten Schulfreunden jeden Tag nach dem Unterricht durch die Stadt gezogen. Wir waren sechzehn. Aus irgendeinem Grund blühten in Iwano-Frankiwsk fast immer die Pflaumen-, Birnen- und Kirschbäume. Wir gingen durch die Hinterhöfe und liefen über die Dächer ganzer Viertel. Einmal landeten wir durch Zufall auf einem steilen Dach, von dem aus ich sehen konnte, was sich in unserer Wohnung tat. Ich versuchte mir vorzustellen, was in den Toten vorgeht, während sie auf uns warten. Nach unseren Dachausflügen übten wir Fechten im Garten der Musikschule. Meistens drei gegen drei. Manchmal drei gegen zwei. Wir hatten dort ein Versteck für unsere Florette. Neben der Musikschule stand ein großes, einstöckiges Haus, es war uralt, und irgendwann hatte dort mein Urgroßvater Ignati gewohnt. Er war Hauptdiakon von Stanislau gewesen, Organisator der Diakonatsbewegung in Galizien und Redakteur des Periodikums Die Stimme des Diakons. Außerdem war er Herausgeber eines Kirchengesangbuchs. Als Kinder spielten mein Bruder und ich oft mit Urgroßvaters Peitsche. In dem Haus hatte Urgroßvater eine Diakonschule eingerichtet. In den achtziger Jahren war dort ein geheimes Kloster der Schwestern Sluschebnizy untergebracht. Schwester Witalija war eine entfernte Verwandte von Ignati. In einem der Zimmer stand eine große Heimorgel, wahrscheinlich stammte sie aus der Zeit der Diakonschule. Die Nonnen brachten uns heimlich geweihtes Jordanwasser, geweihtes Osterbrot und gefärbte Eier. Zu Weihnachten buken sie für uns einen Schichtkuchen und einen Mohnkuchen. Wir erkannten die offizielle Kirche nicht an und gingen nie zu den Gottesdiensten. Nur bei Kirchenfesten, wenn wir uns anschauen wollten, wie die Lehrerinnen und Komsomolzen aus allen Schulen der Stadt, Stift und Block gezückt, ihre Schüler ausspähten. Wir wußten immer ungefähr, wer von unseren Lehrern mit dem KGB zusammenarbeitete. Einmal zu Ostern fand Angela ein maschinengeschriebenes antisowjetisches Flugblatt in der Stadt. Sie brachte es mit in die Schule, um es unserer Geschichtslehrerin zu zeigen, die sehr liberal war und echte Freundschaft mit den Schülern heuchelte. Angela wollte nur, daß APP (so nannten wir die Geschichtstusse) den Text des Flugblattes erklärte. Als unsere liebe Lehrerin das abscheuliche Machwerk erblickte, veränderte sich ihre Miene schlagartig, und sie brachte Angela zu jener Lehrerin, von der wir uns nichts anderes erwartet hatten. Durch das Klassenfenster konnten wir beobachten, wie diese Lehrerin unsere Mitschülerin am Arm riß, während sie das Beweisstück vorsichtig in der anderen Hand hielt. Angela landete ohne Umwege im Hauptquartier auf der Tschekisten-Straße. Zusammen mit unseren besten Freunden hatten wir damals gerade mit den Vorbereitungen des Umsturzes begonnen, der die Westukraine von der Sowjetunion loslösen sollte. Die Vorbereitungen begannen damit, daß wir uns mit den Methoden der Spezialeinheiten rund um die Welt befaßten – soweit man in der UdSSR an sie herankam. Deshalb wunderten wir uns sehr, wie man die eigene Position wegen einer zufälligen Episode mit einem läppischen Flugblatt so unprofessionell preisgeben konnte. Mit APP sprachen wir kein ernsthaftes Wort mehr. Allenfalls über die stalinistischen Repressionen gegen irgendwelche blöden Helden des Vaterländischen Krieges. Das war Onkel Mychas' letztes Jahr. Er hatte schreckliches Asthma. Schon ein paar Jahre in Folge überwinterten Großmutter und er in Iwano-Frankiwsk. Der Onkel bekam kaum noch Luft. Manchmal flüchteten meine Freunde aus unserer Wohnung, weil sie sein Röcheln nicht ertrugen. Es war ein merkwürdiger Winter. Schneelos und streng. Jeden Abend wuschen wir unserer Katze die Pfoten. Sie riß sich los, und die tiefen Kratzer auf unseren Armen bildeten den ganzen Winter lang feine Muster. Die Katze ging oft in ihr Kistchen, grub dort ständig im Sand, und der Onkel konnte den Geruch ihrer ungewaschenen Pfoten in der Nacht nicht ertragen. Onkel Mychas hatte schreckliche Kreuzschmerzen. Sein Rücken erinnerte sich an die kalten Lachen auf den Betonböden der Einzelzellen. Wir legten ihm irgendwelche Magnetplatten auf den Rücken. Dreimal am Tag rieb ich ihn mit einer Salbe aus Kreuzotterngift ein. Danach roch ich lange an meinen Händen, konnte der Versuchung kaum widerstehen, an meinen Fingern zu lecken. Alle, die zu Hause waren, hielten sich in einem Zimmer auf, dort, wo man am besten heizen konnte, dort, wo der Wind die Wärme am wenigsten hinausblies. Mein Bruder Jurko und ich erfanden einen neuen Zeitvertreib: Liegendboxen. Ich schrieb in Onkel Mychas' Notizbuch, sonntags tranken wir alle Kakao zum Frühstück. Gleich nach Neujahr kam die französische Serie Die Dame von Monsoreau ins Fernsehen. Nur dank dieser Serie wurden die Stunden in der Musikschule für Jurko und mich irgendwie erträglich. Die Lehrerinnen waren ganz aus dem Häuschen wegen der Serie. Wir hatten das vielbändige Werk von Dumas damals schon gelesen und konnten so manches erzählen, was nicht in der Verfilmung gelandet war – Serien waren damals verkürzte Romanversionen. Und so verwandelten wir uns innerhalb einer Woche von miserablen Klavierschülern in kultivierte, gebildete Brüder, in Erzähler von Geschichten von Welt. In der Musikschule wurden uns immer die spätesten Stunden zugeteilt, da wir genau gegenüber wohnten. Früher war unser Haus die Residenz eines Stanislauer Rabbis. Das Dach war so gebaut, daß es sich öffnen ließ. So brauchte man an Feiertagen, an denen unter freiem Himmel gespeist werden mußte, den kleinen Palast nicht zu verlassen. Unser Dach in Deljatyn dagegen war einfach undicht. In Regenzeiten standen Dutzende von Schüsseln, Schalen, leeren Konservendosen und Farbeimern in komplizierter Anordnung auf dem Dachboden – je nach Größe des Lecks. Ein paar Mal am Tag klapperten wir alle Gefäße ab und gossen das Regenwasser in einen Eimer. Im Sommer regnete es meist einen ganzen Monat lang. Manche sagten, eine Wolke sei gerissen. Auf dem steinigen Weg entstand dann ein richtiger Bach, der den aufgeschütteten Schotter wegschwemmte bis zu den alten Steinplatten. Das Wasser im Brunnen konnte sich nicht mehr selbst reinigen und roch nach vermodertem Gras. Unser Berg wurde unzugänglich, das Wasser hatte alle Wege überschwemmt. Sobald sich das Wetter besserte, kletterten wir aufs Dach und teerten die Spalten. Vom Dach des Hauses aus ähnelten die Bäume und Büsche einem echten Dschungel. Aus der Sperrzone in den nahen Bergen stiegen Jagdflugzeuge auf. Über unserem Haus flogen sie noch so tief, daß man jedes Detail erkennen konnte. Die Züge, die in die Sperrzone fuhren, sahen aus wie Personenzüge, nur waren an allen Fenstern die Gardinen vorgezogen. Die Sperrzone war in drei Zonen aufgeteilt. In der ersten arbeiteten Handwerker aus Deljatyn mit speziellen Passierscheinen. In der zweiten befand sich das Soldatenstädtchen, mit einer eigenen Schule, Läden, Straßen und großen Häusern. Mama arbeitete in der städtischen Kinderklinik und wußte, daß alle Kinder aus der Sperrzone unter der Adresse Awiazina-Straße 17, Iwano-Frankiwsk, angemeldet wurden. Die Dorfkinder erzählten phantastische Geschichten: daß es dort eine Straßenbahn gibt, ein Schwimmbad, einen Tiergarten und einen Zirkus. Die dritte Zone war die geheimste. Von dort stiegen die Jagdflugzeuge auf, und dorthin fuhren die unbeschilderten Züge. Es gab Gerüchte, in der Sperrzone werde Uran gewonnen. Erst später stellte sich heraus, daß sich dort eine strategische Raketenbasis befand. Um die Sperrzone war auch noch ein breiter Waldstreifen gezogen. Wir schlüpften durch den Stacheldrahtzaun und suchten Pilze. Manchmal mußten wir uns vor Patrouillen verstecken, die den Zaun bewachten. Einmal gingen wir Pilze suchen, wie immer früh am Morgen. Meistens kehrten wir ein paar Stunden später nach Hause zurück, diesmal aber waren wir tief in den Wald geraten und wollten noch weiter. Gegen Abend begann ein Militärhubschrauber über uns zu kreisen. Wir spielten begeistert, wir seien Partisanen, die von der Luftwaffe gejagt werden. Jedes Mal, wenn der Hubschrauber tiefer flog und seine Kreise enger zog, verbargen wir uns zwischen Wacholderstauden, liefen geduckt weiter und mußten uns wieder verstecken. Spätabends kamen wir nach Hause und erfuhren, daß der Hubschrauber tatsächlich nach uns gesucht hatte: Unsere besorgte Familie hatte das Militär verständigt, daß ihre Kinder noch immer im Wald seien. Gleich hinter unserem Haus begannen die Wälder der Gorgany. Man konnte, ohne auf ein einziges Haus zu stoßen, bis nach Transkarpatien laufen. Viele Jahre später arbeitete ich im Institut für alpine Forstwirtschaft und war oft auf der transkarpatischen Seite. Zusammen mit einem Arbeitskollegen machte ich lange Dienstreisen, wir erstellten eine Formel für die Zusammensetzung verschiedener Waldabschnitte. Unser Auge war derart geschult, daß wir die Wälder am Straßenrand nicht mehr neutral betrachten konnten, selbst bei Fahrten mit dem Autobus: sechs Buchen zwei Tannen eine Fichte eine Erle. Wir übernachteten in verschiedenen Förstereien. Meist im Gästezimmer. In manchen Gegenden waren das richtig noble Unterkünfte für die Nomenklatura. Die mit Fellen vollgehängten Zimmer rochen nach frischem Holz und Bordell. Die Förster verwöhnten uns mit Fleisch, Pilzen, Salzkartoffeln, Quark und Selbstgebranntem. In Dovhe gingen wir am Abend tschechisches Bier trinken. Es stellte sich heraus, daß es dort fast unmöglich ist, ungestört zu trinken. Sofort gesellten sich Zigeunerinnen zu uns und baten um einen Schluck Bier, sie setzten sich neben uns und griffen nach unseren Bierkrügen. In Czernowitz schrieben wir in der Landesanstalt für Wald- und Forstwirtschaft eine ganze Woche lang Daten über die hundertjährigen Baumbestände aus speziellen Büchern ab. In keiner Bar, in keinem Café, in keinem einzigen Restaurant bekam man anderen als löslichen Kaffee. Abends gingen wir in den erstbesten Nachtklub. Wir trugen hohe Arbeitsschuhe, Zelttuchjacken und Pullover, am Gürtel schlenkerte ein Jagdmesser, wir hatten viele Zigaretten dabei, denn wir hätten die Woche in den Bergen verbringen sollen, nicht in Czernowitz, doch in den Bergen tobte ein Sturm, und uns wurde eine andere Aufgabe zugeteilt. Wir hatten nicht einmal Pässe dabei, und im Hotel wollte man uns kein Zimmer geben. Wir klapperten verschiedene Studentenheime ab, gingen zu einem Arzt, schilderten ihm die Situation und erhielten ein Zimmer im obersten Stock eines Gebäudes des Universitätssanatoriums. Im Nachtklub waren wir die einzigen, die sich laut auf ukrainisch unterhielten und trotzdem keine weißen Socken trugen. Wir wurden an den Tisch des Chefganoven gebeten. Er dachte, wir seien unglaublich wichtige Leute aus Lemberg, denn nur dort konnten es sich normale Ganoven erlauben, bedenkenlos Ukrainisch zu sprechen. Beide hießen wir Taras, und der Chefganove hielt diesen Namen für eine Anrede ähnlich wie Bruder. Am Ende des Abends wollten wir uns die nächtliche Stadt anschauen. Allein, ohne seine Leute, machte der Chefganove eine kleine Führung für uns. In einem besonders schönen Jugendstilhof bat er uns um Erlaubnis, ins Ukrainische überzuwechseln. Zum Kochen benutzten wir die Gemeinschaftsküche in einem der unteren Stockwerke des Wohnheims. Auf der Suche nach einer Pfanne, einer leeren Pfanne, klapperten wir die Zimmer ab. Die verschreckten Studenten wollten uns dazu überreden, alles zu nehmen, was sie eben in ihren Pfannen gebraten oder gedünstet hatten. Als wir ablehnten, luden sie uns zu einem gemeinsamen Abendessen ein. Unser Labor beschäftigte sich mit natürlicher Walderneuerung. Am besten stand es um die natürliche Walderneuerung in Berehomet. Wir arbeiteten ein Jahr lang im Institut, kamen in Karpatenstädtchen und Wälder, in die es uns nie wieder verschlagen würde, lernten die Parallelwelt einer ganzen Reihe von Förstereien kennen und eigneten uns die Grundlagen der Forstwirtschaft an. Aber wie es das Schicksal so wollte, trafen wir uns später in völlig unterschiedlichen Sphären wieder: in der Produktion und im Vertrieb von Schaumweinen, als Handelsvertreter einer der beliebtesten Wochenzeitungen, bei der Gründung einer coolen Zeitschrift, beim Forellenfang. Es war Taras, der mir vorschlug, Journalist zu werden. Taras mochte keine Hunde und Tauben, keine kleinen Kinder und keine Zigeuner. Auf unseren Dienstreisen gewöhnten wir uns an Kaffeedragees. In Iwano-Frankiwsk stand es damals sehr schlecht um Kaffee. In den großen Kaffeehäusern gab es nur grün geernteten. Der Tagesvorrat reichte gerade einmal für die erste halbe Stunde. Noch bevor die Kaffeehäuser öffneten, bildeten sich lange Schlangen. Mit Milch war es genauso. Die Leute kamen schon vor sechs zu den Läden. Der Winter war schneereich und kalt. Um Strom zu sparen, wurden die Straßen der Städte nicht beleuchtet. Die dunklen Schlangen zwischen den Schneeverwehungen wirkten sehr malerisch. Ich kam jeden Tag zur Milchschlange, denn die Kinder waren noch sehr klein. Danach ging ich zur Kaffeeschlange. Der grüne Kaffee hinterließ charakteristische Flecken auf den Untertassen. Wir gingen mit unseren Tassen hinaus auf die Straße, denn drinnen war Rauchen noch nicht erlaubt. Seit jener Zeit gibt es billige amerikanische Zigaretten in ausreichender Menge zu kaufen. Auch in der Kantine des Zahnmedizinischen Instituts der Medizinischen Universität gab es Kaffee, für Studenten und Professoren. Als Antoni Miró aus Spanien zu Besuch kam, gingen wir zusammen dorthin, denn zum Stadtcafé schaffte er es nicht. Der Künstler sagte später, dies sei der beste Kaffee seines Lebens gewesen: Wir gingen in die städtische Zahnklinik, vorbei an Dutzenden schmerzverzerrter Gesichter, hinter den Türen der Behandlungsräume brummten langsame Bohrer, wir gingen vorbei an Spucknäpfen mit blutiger Watte, durch Werkstätten mit Gipsabdrücken und Schleifbohrern, durch Hörsäle, über Treppen, durch Keller und durch Korridore mit schrecklichen Wandzeitungen. Im Buffet gab es tatsächlich Kaffee. Grünen Kaffee aus dem Bürgerkriegsanbau in Nicaragua. In Iwano-Frankiwsk schwankte sein Preis täglich, so um die zwei Kopeken. Abhängig vom Frontverlauf. Damals tauchte zum ersten Mal John in unserer Stadt auf. John Siddhartha, der reisende Häftling aus Nottingham, so nennt ihn Juri Andruchowytsch in seinem Roman Perversion, der ihm gewidmet ist. John war fast sechzig und hatte einen Großteil seines Lebens in Gefängnissen und auf Wanderschaft verbracht. Er ist sogar beim Dalai Lama gewesen. Und hat ihn zum Teufel geschickt. Nach endloser Warterei wurde John endlich vom Dalai Lama empfangen. Der vom langen Tag müde Dalai Lama fragte ihn: »Nun, was brauchst?« John wurde hysterisch: you fucking Lama, ich hab meinen Arsch hierherbewegt, stundenlang vor deiner Tür gewartet, ich bin zu dir gekommen, um zu erfahren, was ich brauche, und jetzt fragst du mich, was ich brauche, fuck you. John hatte einen Bekannten, der mit dem Auto in die Ukraine fuhr. Er bot dem Alten an, ihn mitzunehmen. Sie drehten sich ein paar Dutzend Joints und fuhren los. Als wir John zum ersten Mal sahen, trug er ein sowjetisches Barett, anstelle des Sterns prangte ein Porträt von Bob Marley. Bob Marley war für uns damals der größte Musiker, wir durchlebten unsere Reggaezeit. Einer von uns hatte sogar ein Foto von Bob Marley in seinen Paß geklebt. Wir lernten John auf der Straße kennen. Wie sich herausstellte, sollte es eine lange Freundschaft werden. John blieb in Iwano-Frankiwsk hängen. Unsere Väter und wir waren seine Brüder, unsere Schwestern und Mütter seine Schwestern. Meine neunzigjährige Großmutter nannte er liebevoll Mama Sofia. Von Zeit zu Zeit trampte John nach Nottingham, um seine Pension abzuholen. Danach kehrte er in sein Paradies zurück, wo zum ersten Mal jemand auf ihn wartete. Er wohnte abwechselnd bei unseren Freunden und bei uns. Er schlief, aß und trank mit uns, er zog mit uns durch die Stadt, lebte einfach mit uns. Wir fuhren mit ihm in die Berge, nach Kiew und Lemberg. Er brachte immer für jeden ein Geschenk mit. Seine Mitbringsel waren: aus einer Kirche gestohlene Silberbecher, auf der Straße gefundene Schirmgriffe, die irgendwelche Figuren darstellten, Bücher alter unbekannter Dichter mit Bibliotheksstempeln, schöne Kinderjacken mit eingenähtem Namen, der Wohnadresse und der Adresse des Kindergartens, Fläschchen mit falschem Amphetamin. Bei Stadtfesten und in der Diskothek, wo einer von uns auflegte und ein anderer Türsteher war, tanzte John wie ein Wilder. Er veranstaltete Festessen und schreckliche Eifersuchtsszenen. In seiner Kappe klebte ein Zettel mit dem Wort dorogaja – meine Liebe – in lateinischen Buchstaben; wenn er ein Mädchen anbaggerte, zog er die Kappe und las das Wort ab, das er sich einfach nicht merken konnte. In seiner Brieftasche steckte ein Strafzettel für Schwarzfahren im Regionalzug Stryj-Iwano-Frankiwsk, ausgestellt auf den Bürger Sidchardche. Damals fuhren in Regionalzügen fast alle schwarz. Die Epoche der nicht ausbezahlten Löhne hatte gerade begonnen. Wenn ich allein mit zwei kleinen Kindern nach Deljatyn fuhr, fragte mich der Schaffner erst gar nicht nach meiner Fahrkarte. Meine Jungen liebten es, an hartem Brot zu nagen. Wenn ich ihnen im Zug ein Stück Schwarzbrot gab, sahen uns alle an, als wären wir die heilige Familie. Wir hatten damals aber wirklich kein Geld. Den Sommer verbrachten wir in Deljatyn, denn dort gab es billigen Quark, Beeren, Pilze, Apfel und sauberes Brunnenwasser. Abends, wenn die Kinder schliefen, holte ich etwas vom Dachboden herunter, eine Säge, eine Emailschüssel oder ein paar Keramikaschenbecher, und ging damit in eine Bar, von denen es damals in Deljatyn mehr gab als in Iwano-Frankiwsk und Lemberg, um die Sachen zu verkaufen. Aschenbecher – popilnytschka – war Johns Lieblingswort auf Ukrainisch. Sollte er jemals eine Tochter bekommen, sagte er, würde er sie zärtlich Popilnytschka nennen. Im Zentrum von Lemberg gab es damals nur zwei Lokale. Eines davon war die Bar des Grand Hotel. Einmal wollten Fazyk und ich in der Nacht Kaffee trinken. Wir hatten sogar ein bißchen Geld und gingen in die Bar. Es stellte sich heraus, daß der Kaffee einen Dollar kostete. Zahlbar in Dollar, nicht in Kupons, und zum aktuellen Wechselkurs. Dollar hatten wir nicht. Wir verließen das Hotel, und zwanzig Schritte weiter fanden wir auf dem Bürgersteig irgendwelche Scheine. Es waren zwei Dollar. Wir hätten umkehren und Kaffee trinken können. Aber wir gingen in das andere Lokal, unter dem Hotel Lwiw. Dort war es so richtig gemütlich, mit wahnsinnig langen Tischen und ebenso langen Bänken zu beiden Seiten. Fremde Menschen mußten nebeneinander sitzen wie auf einer Dorfhochzeit. Für die zwei Dollar aßen wir zu Abend, leerten ein Fläschchen Wodka und tranken gegen Morgen sogar Kaffee. Abgesehen von dieser Geschichte verband Fazyk und mich ein Sturm, den wir auf einem See erlebt hatten. Der See war groß und entsetzlich tief. Fazyk wollte mit Blinkern Hechte fangen. Das geht am besten in Bewegung. Wir fanden einen echten Einbaum, aus einer einzigen Weide geschlagen. Ich sollte mit einem Ruder rudern und Fazyk die Angel auswerfen, sie halten und den Hecht aus dem Wasser ziehen. Ziemlich weit vom Ufer entfernt wurde uns klar, daß die Piroge leckt. Wir mußten das Wasser mit den Händen aus dem Boot schöpfen. Alles ging gut, bis plötzlich Wind aufkam und es zu schütten begann. Die großen, schnellen Wellen schaukelten den Einbaum so heftig, daß wir uns kaum darin halten konnten; von allen Seiten schwappte Wasser herein, am Himmel zuckten Blitze. Für alle Fälle verabschiedeten wir uns schon mal voneinander. Aber wir schafften es zurück ans Ufer, verloren nur meine Stiefel, die ich so lange getragen hatte, daß ich sie Peter und Paul nannte. Fazyk war einer jener drei Menschen, die ich für perfekt hielt, in allen Dingen. Onkel Mychas war der zweite. Über den dritten denke ich inzwischen anders. Onkel Mychas brachte Großmutter Zonja und Vater sechsundfünfzig nach Deljatyn. Etwa ein Jahr nach dem Ungarnaufstand kam ein Verwandter zu Besuch, er war Offizier und auf Urlaub. Ein Festessen wurde bereitet. Irgendwann hob der Offizier das Glas, um einen Toast auf die Erfolge der ungarischen Kompanien auszubringen. Darauf wollte der Onkel nicht trinken und versuchte, den Tisch zu verlassen. Er saß an der Wand, eingekeilt zwischen anderen Gästen, die ihn nicht vorbeiließen. Da sprang er mit einem Satz auf den überquellenden Tisch, lief darauf entlang, ohne auch nur einen einzigen Teller, ein Glas oder eine Flasche zu berühren, sprang dann noch über jemanden hinweg und ging nach Hause. Im November sechsundfünfzig starb auch Marjanas Großvater. Ein sowjetischer Offizier hat ihn in Uschgorod erschossen. Er war noch ganz jung und hatte zwei kleine Töchter. Er mußte viel arbeiten. Spätabends transportierte er mit seinem Kumpel Kartoffeln zu einem Laden. Unterwegs wurden sie von einem Offizier aufgehalten, der darum bat, in der Kabine des Pritschenwagens mitfahren zu dürfen. Er saß schweigend da, und die beiden anderen fingen an, sich wie gewöhnlich auf ungarisch zu unterhalten. Sie sprachen darüber, wo man ein wenig Brennholz für zu Hause auftreiben könnte. Immer noch schweigend zog der Offizier seine Pistole und erschoß Marjanas Großvater. Sein Kumpel konnte gerade noch aus dem Auto springen und ins Gestrüpp flüchten. Der Offizier wurde nicht einmal belangt. Nebenan, in Ungarn, war Krieg, die militärischen Reserven waren in Transkarpatien stationiert. Der Offizier erklärte, als er die beiden habe Ungarisch sprechen hören, sei ihm klargeworden, daß sie ihn umbringen wollten, also habe er sich verteidigen müssen. Onkel Mychas konnte von solchen Vorfällen nichts wissen, er konnte aber auch nicht so tun, als wolle er auf den Sieg der Roten Armee in Ungarn anstoßen. Und das, obwohl er natürlich vom Pogrom bei Krasne Pole wußte und daß ungarische Soldaten im Ersten Weltkrieg Huzulen gehängt haben. Er sang gern Lieder aus der Zeit der Karpaten-Ukraine[6]. Ich war drei, als Onkel Mychas meinem Cousin aus Deljatyn und mir ein paar Kosakenlieder beibrachte. Er schnitt aus einem Brett das Profil eines Pferdekopfes aus und befestigte es an einem Stock; das waren unsere Pferde. Außerdem hatten wir hölzerne Säbel und an unseren Mützen rote Zipfel. Wir ritten durch den Garten und sangen von Marusenka, von der Donau, von einem Kopftuch und dem Grab eines Schützen. Wir zerdrückten Kalynabeeren auf unseren Armen, am Kopf und am Hals und stellten uns vor, es sei Blut aus unseren Wunden. Etwas später baute er uns die ersten Bögen. Danach bauten wir jedes Jahr selbst welche, sowohl die Bögen und Bogensehnen als auch die Pfeile wurden immer perfekter. Unsere letzten Teenagerpfeile hatten Spitzen aus Maschinengewehrpatronen. Aus hundert Schritt Entfernung flogen sie über einen zwanzig Meter hohen Baum, aus dreißig Schritt Entfernung durchbohrten sie ein Brett. Die meiste Zeit aber verbrachten wir mit Messerwerfen. In unserer Kollektion gab es Bajonette, Messerbajonette und Breitschwerter aus verschiedenen Armeen. Wir hatten auch selbstgemachte Schwerter, aus Feilen gefertigt und zum Werfen bestimmt. Meine Söhne erfanden noch eine Methode. Sie legten große Nägel oder groben Stahldraht auf die Schienen, und der Zug formte daraus perfekte Stilette. Onkel Mychas sagte, ein Mensch ohne Messer sei das hilfloseste Geschöpf auf Erden. Nicht nur hatte er immer ein Klappmesser bei sich, sondern auch einen kleinen Schleifstein. Zwei Tage vor Schulbeginn schenkte er mir ein einfaches Klappmesser, bohrte ein Loch in den Griff und fädelte eine Schnur durch. Viele Jahre trug ich es um den Hals. Ähnliches gibt es von meinem Gürtel zu berichten. Onkel Mychas war der Ansicht, ein Mann müsse einen Gürtel tragen und zwar immer im selben Loch, damit er es sich nicht erlauben könne, einen Bauch zu kriegen. Der Gürtel, den er mir damals schenkte, ging erst an der Uni kaputt. Meine ganze Kindheit hindurch schrieb ich alle Orte, an denen ich gewesen war, auf die Innenseite meines Gürtels. Der Gürtel riß im Kaukasus, in den abchasischen Bergen, am Rand des Naturschutzgebietes am Psluch. Dort fand eine Geheimkonferenz der illegalen, extremistischen und unionsweiten Studentenvereinigung für Umweltschutz statt, ich war der Abgesandte aus Lemberg und der Westukraine. Onkel Wlodko hatte mir eine kleine Tasche in die Unterhose eingenäht, da ich zwei Tage dritter Klasse fahren mußte. Onkel Wlodko saß seine Haft in Chabarowsk ab, das ist noch hinter Tschita und Tschita-Drei. Vom Waggon des Zuges Lemberg-Adler aus schaute ich mir die Ostukraine an. Entlang der Gleise blühte endloser Flieder. Zwischen den Fliedersträuchern sah man oft schaukelnde PKWs. Darin machte jemand Liebe. Genauso schaukelten bei Manövern die Fernmeldewagen GAZ-66. Nach Krasnaja Poljana fuhren wir in einem überfüllten Bus eine Straße mit echten Serpentinen hinauf. Obwohl es kurz zuvor noch unmöglich schien, sich überhaupt zu bewegen, fielen an einer Stelle alle Passagiere auf die Knie und begannen zu beten, dabei verbargen sie das Gesicht in ihren Händen. Wir sind gerade in die Teufelsschlucht eingefahren, sagte der Fahrer zu mir und wandte den Blick von der schmalen Straße ab, die an einem steilen Abgrund entlangführte. Von Krasnaja Poljana bis zum Jagdhaus am Rand des Naturschutzgebietes waren es noch zwanzig Kilometer zu Fuß. Den ganzen Weg betrachtete ich das Gras und die jungen Blätter, um mich davon zu überzeugen, daß im Kaukasus alles anders ist. Das Gras schien hier um etwa soviel grüner als bei uns, wie es mir im Baltikum blasser vorgekommen war. Der Weg führte auch durch Nußwälder, in denen die Nüsse vieler Jahre schichtweise übereinanderlagen. Im Umkreis des Jagdhauses gab es vierzig echte Mineralwasserquellen. Jeden Morgen trank ich aus einer Quelle, wusch mir in einer anderen das Gesicht und putzte mir bei der dritten die Zähne. Aus der vierten wollte ich wieder trinken. Im Jagdhaus residierte das Ehepaar Saltykow. Flüchtlinge vor der städtischen Zivilisation. Neophyten. Sie hatte in Leningrad die Schauspielschule absolviert, er war zweifacher Doktor, in Physik und in Mathematik. Ihre schwarze Banja[7] stand direkt am Ufer des Psluch. Sie hatten keinen Strom und rezitierten jeden Abend beim Licht einer Öllampe Zwetajewa. Die Kinder ritten nach Krasnaja Poljana zur Schule, und die Pferde grasten fünf Stunden lang vor dem Schulgebäude. Alle in der Familie hatten stets Karabiner bei sich. Jeden Tag weinten sie, denn es gab jeden Tag schrecklichen Streit. Sie sagte, daß in einem Naturschutzgebiet alles auf Naturschutz ausgerichtet sein sollte; sie verbot ihrem Mann sogar, für die Pferde Heu zu machen, als Futter für den Winter. Von seinen Freunden am Institut für Raumfahrtforschung brachte er von Zeit zu Zeit irgendwelche Dinge aus der Satellitentechnik mit und baute daraus eine Art Drachensegler mit Motor, der ferngesteuert abheben, fliegen und landen konnte. Am Drachensegler war eine Videokamera angebracht, die die Bilder auf einen Bildschirm am Boden übertrug, der sechzig Farben anzeigte. Der Tank faßte so viel Benzin, daß der Drachensegler sechs Stunden durchgehend in der Luft bleiben konnte. Herr Saltykow steuerte ihn an schwer zugängliche Orte und beobachtete das Treiben verschiedener Tiere. Natalja weinte, denn für sie war das ein Eindringen in das Ökosystem. Ich schlief in ihrem mit Fuchspelz gefütterten Schlafsack. Onkel Mychas hatte Fäustlinge aus Fuchspelz. Manchmal kam Lacis zu Besuch, ein Lette, der versuchsweise im Naturschutzgebiet eine schnelle Eingreiftruppe zum Kampf gegen Wilderer aufgebaut hatte. Wir begleiteten Lacis, um zu sehen, wie er arbeitete. Jäger von der abchasischen Seite hatten ein Bison erlegt und schleppten es nach Hause. Lacis verfolgte sie über die Berge, manchmal schossen sie in unsere Richtung. Am Ende setzten die Maischneefälle ein, und die Abchasen wurden zusammen mit dem Bison von einer Lawine erfaßt. Die Abgesandten wohnten in Baracken mit eisernen Stockbetten. Die meisten der siebzehnjährigen Jungen und Mädchen hatten bereits echte Kämpfe mit skrupellosen bewaffneten Schwarzhändlern von Kaviar, Lachs, Bärenfett, tausendjährigen Lärchen, Eiderentendaunen, Tigerfellen und Ginsengwurzeln hinter sich. Die Theoriestunden hielt der berühmte Schpilmark ab, Enkel des legendären Schpilmark. Sehr bald gingen unsere Vorräte zu Ende, und wir aßen eine Woche lang ausschließlich weichgekochte Trockenbirnen aus den umliegenden Birnenwäldern. Bis zum Ararat war es nicht weit. Auf dem Ararat stand der wahrscheinlich stärkste Sender von Radio Swoboda. In der Nacht nach den Schneefällen, als die Vögel nicht schliefen und verzweifelt über ihren mit Schnee bedeckten Nestern kreisten, in denen Eier lagen, berichtete Radio Swoboda vollkommen störungsfrei von einer verheerenden Atomkatastrophe in der Westukraine. Es hieß, daß es zu einer Massenevakuierung gekommen und die dortige Gegend nicht mehr bewohnbar sei. Um meine Familie nicht zu verlieren, mußte ich sofort nach Hause zurück. Die Strände von Sotschi waren mit Schnee bedeckt. Die Maschine nach Lemberg flog so tief, daß irgendwo über der Krim die zwei Meere zu sehen waren. In Lemberg selbst konnte ich von oben sehen, wie meine Kommilitonen auf dem Zaun um das alte Universitätsgebäude saßen und rauchten. Im Mai sechsundachtzig konnten wir nicht verstehen, warum wir keine Frühlingszwiebel essen durften, obwohl sie nicht einmal Flecken hatte. Wir wußten nicht, was zu tun war. Einen Monat später mußte ich zum Militär, auf den Türen der Kaserne stand, daß zum Schutz vor radioaktiver Strahlung der Lappen an der Türschwelle jede halbe Stunde angefeuchtet werden müsse und die Räume nur nachts fünf Minuten lang gelüftet werden dürften. Wir waren eine Ausbildungseinheit und wurden zu Fernmeldern ausgebildet. Grundlage der ganzen Ausbildung war das Morsealphabet. Feldwebel Karakedschba hatte einen Monat zuvor auf einer Rotaprint-Maschine vervielfältigte Unterlagen über die Ausbildungsmethoden der amerikanischen Ranger studiert. Deshalb war der Drill in unserem Zug einzigartig in der Geschichte der sowjetischen Armee. Ständig mußten wir laufen und Liegestütze machen. Die Unterrichtseinheiten, die unsere Spezialisierung betrafen, fanden meist nachts statt. Der Abenddrill – ausziehen, Kleidung zusammenlegen und auf die obere Etage des Stockbettes springen – dauerte so lange, wie ein Streichholz brennt. Viele von uns hatten zu enge Stiefel, darum mußten wir den Abenddrill unzählige Male wiederholen. Karakedschba dachte sich ständig Spezialübungen für uns aus: mit dem Kopf nach unten am Reck hängen oder mit verbundenen Augen einen Hindernisparcours durchlaufen. Ringsum waren Apfelplantagen, und der Leiter des Krankentraktes, Unteroffizier Bek, flößte jedem, der von einem Apfel abbiß, zehn Liter mit Kaliumpermanganat versetztes Wasser ein. Politoffizier Markidonow befreite mich in Politischer Bildung vom Mitschreiben, denn ich konnte auf einer politischen Weltkarte fehlerlos die Hauptstädte aller Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes zeigen. Karakedschba war das zu wenig, er akzeptierte mich erst nach einem Spezialtest: Ich mußte innerhalb von fünfzehn Sekunden die Insel von Robinson Crusoe finden. Die bei Chile. Hauptmann Karelski war ein gerechter Offizier. Er absolvierte die Zwanzig-Kilometer-Gepäckmärsche gemeinsam mit uns. Dabei rauchte er pausenlos. Feldwebel Kasatonow hatte eine chronische Augenentzündung. Wenn wir exerzierten, gab er gern den Befehl, fünfzehn Minuten ein Bein waagrecht zu halten. Jeder von uns hatte mindestens einmal eitrige Wunden an den Füßen. Als Ursache wurde das feuchte Klima genannt. Später erfuhr ich, daß diese Begründung in allen Kasernen der sowjetischen Armee üblich war, unabhängig von der geographischen Lage. In jenem Sommer fiel fast kein Regen. Wir schlenderten zur städtischen Badeanstalt, auf dem Rückweg rannten wir die staubigen Sandstraßen entlang. Die Krähen sammelten irgendwo am Stadtrand Nüsse, kamen zur Kaserne und ließen die Nüsse auf den Exerzierplatz fallen, wo sie am Beton aufplatzten. Eine Zehntkläßlerin, die schon mehr als ein Jahr ohne Karakedschba hatte auskommen müssen, reiste aus Batumi an. Sie wurde heimlich im Krankentrakt untergebracht. Das Mädchen lernte, mit der Schere die Ränder eitriger Wunden abzuschneiden, während sie drei Tage auf Karakedschba wartete, der im Bunker saß, weil er ein paar faule Soldaten in einem Keller mit offenen Fässern voller Desinfektionsmittel eingesperrt hatte. Die Dämpfe drangen bis in den ersten Stock, und in der Kaserne krepierten alle Mücken. Zehn Jahre später arbeitete ich in einer Bar ohne fließendes Wasser. Das Geschirr spülten wir in einem Eimer, Wasser holten wir von einem Brunnen auf der Straße. Eines Nachts verpaßte ein betrunkener Gast aus Rostow einem Verbrecher aus Iwano-Frankiwsk einen Schnitt an der Hand. Ich reinigte die Wunde und steckte mich dabei mit jenem Hepatitistyp an, der wie AIDS nur über das Blut oder durch Geschlechtsverkehr übertragen wird. Schon ganz gelb, trank ich mein letztes Glas dunkles Staropramen und einen unechten Porto-Maria-Cognac und ließ mich in die Isolierbaracke einweisen. Damals gab es kaum Medikamente, und der Doktor riet uns, viel Melone zu essen. Eine moldawische Familie mit Verdacht auf Cholera wurde zwangsweise in dasselbe Krankenhaus eingeliefert; vor der Tür ihres Zimmers saß den ganzen Tag ein bewaffneter Milizionär. Jeder Patient, bei dem Hepatitis B diagnostiziert wurde, mußte am Tag nach der Einlieferung mit einem Offizier der Abteilung für Drogenbekämpfung sprechen. Ich erwähnte den Typen aus Rostow nicht; der Offizier warf einen Blick auf meine Venen und schloß daraus, daß ich mich bei einer Zahnbehandlung angesteckt hatte. Jeden Morgen wurden die Böden in den Zimmern mit einer Chlorlösung gereinigt, eine halbe Stunde später war der Boden mit Insekten übersät, die krepiert und von der Decke gefallen waren. Einmal kam mein Freund, ein Entomologe, nach Deljatyn. Meine Kinder beeindruckte er damit, daß er wahnsinnig geschickt Fliegen fing und sie lebendig aufaß. Der Entomologe und ich stahlen aus der Villa eines berühmten Lemberger Professors das vielleicht beste Foto von Montenegro, es wurde später sogar für eine Ansichtskarte verwendet. Der Professor starb, und die Erben wollten den ganzen Ramsch an einen Trödler verkaufen. Außer dem Foto stahl ich auch Brötchen. Damals mußte man in der Bäckerei das Brot selbst aus den Regalen nehmen und damit zur Kasse gehen. Nach dem Schwimmtraining waren wir immer sehr hungrig, das Geld reichte aber nie, um Brötchen für alle zu kaufen. Einer ging voran, ein Brötchen und Kopeken in der Hand. Dahinter ging ein zweiter, der auch ein Brötchen nahm und noch ein paar in die Kapuze seines Vordermannes steckte. Wenn wir sehr hungrig waren, gingen drei oder vier von uns hintereinander. Viele Jahre später arbeitete im Schwimmbad eine junge Frau als Trainerin, die sich in einen meiner Bekannten verliebte. Spät am Abend, als alle mit dem Training fertig waren, gingen wir ins Schwimmbad. Mein Freund und die Schwimmtrainerin lagen auf einer Pritsche beim Eingang zu den Duschen, ich schwamm in der Zwischenzeit ganz für mich allein im unbeleuchteten Becken. Ein anderer Bekannter aus Iwano-Frankiwsk traf sich in Lemberg mit der Tochter einer schwedischen Schönheit und eines arabischen Millionärs. Ich studierte damals in Lemberg und war für die Organisation der Treffen zuständig. Für eines hatte ich ein Hotelzimmer ausgesucht, dessen Fenster auf das Dach der Oper hinausging. Sofi fragte das Zimmermädchen, wo es Wasser gäbe, diese zeigte auf das Badezimmer am Ende des Flurs. Die Badewanne war voll mit kühlem Wasser, Sofi zog sich schnell aus und hüpfte in die Wanne. Kurz darauf betrat das Zimmermädchen, einen Wasserkessel in der Hand, das Badezimmer. Es stellte sich heraus, daß das Wasser für Tee, Händewaschen und Blumengießen vorgesehen gewesen war und die Etage den ganzen Tag damit hätte auskommen sollen. Sofi war auf einer Pferdefarm aufgewachsen. Vor der Abreise schenkte sie meinem Bekannten eine Unze reines Silber. Pani Irzja brachte uns ihre Silbergeschirrsammlung, bevor sie sich erhängte, und bat, sie der Regierung einer unabhängigen Ukraine zu übergeben. Das war dreiundachtzig, die Repressionen unter Andropow hatten gerade begonnen. Einmal ging während einer Vorstellung im Kinderkino, wo wir Schule schwänzten, das Licht an, und die Funktionäre des städtischen Komsomol-Komitees brachten die Schulschwänzer zur Milizstelle für Minderjährige. Smirnowa, die Vorsteherin, ließ keine Gelegenheit aus, jemanden von den Festgehaltenen mit einem sandgefüllten Gummischlauch zu schlagen. Die Mädchen durften sich sogar aussuchen, was für einer ihnen lieber war: ein langer dünner oder ein kurzer dicker. Mein Bruder landete aus einem anderen Grund auf der Milizstelle für Minderjährige. Er wurde vom KGB festgenommen, denn seine Angelegenheit war politisch. Jurko wollte ein paar alte Häuser fotografieren, die abgerissen werden sollten. Man warf ihm ideologische Zersetzung vor – die Fotos der baufälligen Häuser sollten angeblich Berichte in ausländischen Zeitungen über die Lebensbedingungen der sowjetischen Arbeiterschaft illustrieren. Nach einem langen Gespräch mußte die Version fallengelassen werden, trotzdem wurde mein Bruder der Miliz übergeben, damit man ihn dort registrieren konnte. Punja, der die Mathematikstunden im Park schwänzte, wurde von Aktivisten der freiwilligen Jugendorganisation »Junge Dserschinzen«[8] bis zum See verfolgt. Es war Vorfrühling. Der kleine, leichte Punja lief aufs Eis hinaus. Die Dserschinzen blockierten das Ufer zwei Stunden lang, trauten sich aber nicht, die dünne Eisschicht zu betreten; sie wollten Punja überreden aufzugeben, versprachen ihm sogar vollständige Amnestie. Punja wußte, was Sache war, und versenkte in der Zwischenzeit sein Tagebuch und ein Heft in einem Spalt, um anonym zu bleiben. Punja hat sich beim Militär in die Luft gejagt. Er verbrühte sich den Arm, als er mit einem Kessel mit kochend heißem Wasser auf dem schmierigen Küchenboden ausrutschte. Punja wurde im Krankentrakt des Regiments behandelt. Er war sehr klug, und so behielt man ihn zum Dienst dort. Oft wurde Punja in der Nacht von den Armeeärzten geweckt und in eine Schlinge gehängt, dann stoppten sie eine bestimmte Anzahl von Sekunden, befreiten ihn aus der Schlinge und leisteten die allernötigste erste Hilfe. Mit der Zeit gelang es mir, sowohl die Namen als auch die Adressen von Punjas Peinigern herauszufinden. Punja spielte als einziger in unserer Klasse akzeptabel Schach, deshalb schickte man ihn zum Schachturnier der Stadt. Punja traf auf einen echten Könner. Der holte beim ersten Zug einen Block hervor und notierte Punjas Zug mit dem Bauern. Dann zog er selbst und notierte wieder etwas. Punja schlug ihm vor aufzugeben. Der Gegner betrachtete das Schachbrett lange, studierte seine Aufzeichnungen und lehnte ab. Punja machte noch einen Zug und meinte, daß mit einem freundschaftlichen Unentschieden allen gedient sei. Es war klar, daß er bluffte. Nach dem dritten Zug erklärte Punja sich zum Verlierer und gratulierte dem Meister. Als APP sah, daß Punja unter der Schulbank von seinem Pausenbrot abbiß, erlaubte sie ihm, in Zukunft während ihres Unterrichts zu essen. Am nächsten Tag breitete Punja ein weißes Tischtuch auf seiner Schulbank aus und aß die ganze Stunde herrliche Schnitzel, legte aus einer Schüssel verschiedene Salate auf seinen Teller, hantierte mit Gabeln, Messern und Löffelchen und trank heißen Kaffee; neben seinem Teller stand eine Vase mit einer Hyazinthe. Wir nahmen nie Pausenbrote mit zur Schule. In der großen Pause gingen wir in die Mensa und sammelten von den Tischen das Brot ein, das die Erstkläßler in großen Mengen zum Frühstück bekamen und nicht aufessen konnten. Als wir in die erste Klasse gingen, gab es noch kein warmes Frühstück. Um die Viertelliterflasche pasteurisierte Milch nach der zweiten Stunde aber kam man nicht herum. Im Winter lagen die Flaschen eine Stunde lang zum Anwärmen auf den Heizkörpern. Ich liebte Milch. Jene Mitschüler, die Milch haßten, überließen mir heimlich ihre Portion. Wir lernten, den Verschluß aus Alufolie abzumachen, ohne ihn zu zerknittern, wir hielten die Folie mit zwei Fingern und ließen sie dann durch die ganze Klasse segeln. Eine Zeitlang bekam ich im Sportklub Kupons für zusätzliches Essen. Für einen solchen Kupon konnte man in jeder beliebigen Mensa der Ukrainischen Sowjetrepublik jede beliebige Speise für einen Rubel bekommen. Wenn ich ein paar Kupons zusammenhatte, lud ich meine Freunde in die sogenannte Diätmensa ein, und wir gönnten uns ein Festmahl, bestehend aus Pudding mit Konfitüre. Damals tranken wir noch nicht einmal Bier. Na ja, Turkmen trank auf dem Weg zum Training im Delikatessenladen immer Kaffee mit Cognac, nachdem er gehört hatte, daß sein Idol Wolodymyr Kuz nicht nur beim Training, sondern auch bei den Olympischen Spielen in Melbourne vor und nach dem Zehntausendmeterlauf ein Gläschen Wodka gekippt hatte. Beim Militär war ich bei Crossläufen immer der schnellste. Aber nur im Winter. Der Kommandant der Einheit stellte im Ziel einen Militärwagen mit heißem Tee in Thermoskannen ab. Ich lief so schnell ich konnte und atmete dabei durch den Mund, damit Luftröhre und Bronchien maximal auskühlten. Der süße, heiße Tee wirkte dann wie eine Droge. Mit der Fernmeldeanlage im BTR führten der Fahrer Miki und ich regelmäßig lange, autonome Einsätze durch. Wochenlang lebten wir im Metall, allein mitten im Wald. Miki kochte dann richtig starken Tee. Einmal schliefen wir drei Tage nicht. Im Winter wurde es im Panzerwagen so kalt, daß sich innen an den Wänden eine zentimeterdicke Eisschicht bildete. Mitten in der Nacht flüchteten wir aus kalter Verzweiflung hinaus in den Schnee, und unter freiem Himmel empfanden wir die Kälte als eine echte Erleichterung. Um die Erdungsstangen gut in den Boden schlagen zu können, mußte man sie anpinkeln. Mikis voller Name war Ramil. Bei uns gab es eine ganze Brigade von Fahrern, die Baschkiren waren. Schöner geformte Muskeln als die von Miki habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen. Sein Cousin Rajil hatte noch nie eine Frau gehabt, und er fuhr auch nicht Motorrad. Immer wollte er alles über Motorräder wissen und darüber, wie sich der Körper einer Frau anfühlt. Ich dachte mir etwas für ihn aus. Ein paar Monate nach dem Ende seines Wehrdienstes starb Rajil bei einem Motorradunfall, er war unterwegs zu einem Mädchen, mit dem ich alles arrangiert hatte. Rafael bekam regelmäßig ein paar Milliliter Alkohol von mir, der zum Reinigen des Kodierapparats bestimmt war, und verabreichte ihn sich intravenös. Hauptmann Jelisarow händigte uns nur ein Zehntel der Alkoholmenge aus, den Rest füllte er in Gläser, die er in einem Safe aufbewahrte. Wir nahmen uns vor, den Alkohol zu trinken. Wir schaukelten den Safe so lange, bis er umfiel. Die Gläser zerbrachen, und der Alkohol rann in die bereitgestellte Metallschüssel. Oberleutnant Okatow konnte seine Knie in beide Richtungen durchbiegen. Fähnrich Derenko war Leiter der größten Fernmeldeanlage. Sie war nicht in einem Panzerwagen untergebracht, sondern in einem warmen, geräumigen Militär-LKW. Wir gehörten demselben Kommando an und trafen uns oft im Wald. Vor Ausflügen in die Dörfer bügelte der Fähnrich immer Unterhose, Unterhemd und Socken und beträufelte alles mit Eau de Cologne. Bei Wettbewerben der Laienkunst holte Miki unheimlich viele Punkte für uns, indem er auf der Bühne ein und denselben Trick zeigte. Er durchstach sich mit einer Nadel das rechte Ohrläppchen, die rechte Wange, die Zunge, dann die linke Wange und das linke Ohrläppchen, zog eine Schnur durch und verknotete die Enden; danach zog er die Schnur ein paarmal hin und her und riß sie anschließend heraus; die Kommission konnte keinerlei Verletzungen an seinem Körper entdecken. In einer der Bars, in denen ich arbeitete, ließen sich die Studentinnen oft so richtig volllaufen. Wurde einer schlecht, schleppten wir sie in die Besenkammer. Ein paarmal mußte ich einem ohnmächtigen Mädchen die Zunge aus dem Mund ziehen und mit einer Sicherheitsnadel an ihren Blusenkragen heften, damit sie nicht daran erstickte. Bei einem Mädchen machte ich danach auch noch Mund-zu-Mund-Beatmung. Am nächsten Tag kam sie wieder in die Bar, hatte keine Ahnung mehr, was hier mit ihr geschehen war, und schlug mir ein geniales Thema für eine Erzählung vor. Der Mensch benutzt nur vier Prozent seines Gehirns. Das ist eine wissenschaftliche Tatsache, sagte sie. Was aber machen die restlichen sechsundneunzig Prozent? In diesem Lokal saßen immer Gäste an der langen Bar. Ich mußte von einem zum anderen gehen, mir alle Lebensgeschichten anhören und weise Ratschläge geben. Das Schwierigste war, sich an den Inhalt der Geschichte zu erinnern, wenn jemand seine Erzählung dort fortsetzte, wo er sie ein paar Tage oder Wochen zuvor unterbrochen hatte. Ein paar Minuten bevor die Kinder aufwachten, kam ich von der Nachtschicht nach Hause. Wir machten stundenlange Spaziergänge, und manchmal nickte ich für einen Augenblick ein, während ich auf dem See ruderte. In den ersten Monaten beim Militär schlief ich so schnell ein, daß ich es nicht genießen konnte. Damals begann ich, vor dem Schlafengehen viel Wasser zu trinken, damit ich in der Nacht aufwachte, durch die Sommernacht zur Toilette gehen und mich wieder ins Bett legen konnte. Tante Mira sang uns oder sich selbst gern ein Liedchen vor: Ich bin so froh, wenn ich schlafen geh, morgen stehe ich wieder auf, wie dumm bin ich auch, wie dumm bin ich auch. In Pidljute, wo die Schülerinnen des Gymnasiums einen Teil ihrer Sommerferien verbrachten und wo sich auch der Schirmherr des Gymnasiums, Metropolit Scheptyzkyj, aufhielt, hat Tante Mira sich nie an den morgendlichen Mädchenkämpfen beteiligt, wer dem Metropoliten das Bett machen durfte. Sie brachte es nicht einmal fertig, seinen Ring zu küssen. Später verliebte sich Jaroslaw Halan in sie, damals noch ein unbekannter ukrainischer Dramaturg. Er machte ihr einen Heiratsantrag, aber Tante Mira wollte davon nichts wissen, denn Halan stolperte ständig und fiel auf Bergpfaden immer hin. Wasyl Schtschurat war ihr Ukrainischlehrer, Biologie unterrichtete Melnyk und Geographie Olena Stepaniw. Tante Mira kaufte oft einen ganzen Laib Käse, mein Bruder und ich schnitzten daraus Schlösser oder bohrten Höhlen hinein, was dabei abfiel, aßen wir einfach auf. Ihr Stammlokal war der Laden »Freundschaft«, ein Buchladen für ausländische Literatur. Dort konnte man auch einen alten Geiger antreffen, der prophezeite, der Fernsehturm werde umstürzen, und deshalb nie den Umkreis des Turmes betrat, dessen Radius der Höhe des Turmes entsprach. Tante Mira kaufte unglaublich viele Bücher in dem Laden. Hauptsächlich polnische Übersetzungen von Autoren aus der ganzen Welt, die man in der UdSSR auf Ukrainisch oder Russisch nicht bekam. Nachdem sie die Bücher gelesen hatte, brachte sie die meisten davon sofort in einen anderen Buchladen zum Weiterverkaufen. Trotzdem sammelten sich mehrere tausend Bücher bei ihr an. Bei Regen saß Tante Mira gerne auf dem Balkon und zählte die Regenschirme einer bestimmten Farbe. Tante Mira hatte eine schwere Schluckstörung und ernährte sich deshalb vorwiegend von pürierten Speisen. Diese Neurose war entstanden, als die Ärzte ihrer Schwester verboten hatten, viel Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Tante Mira hatte ihr ganzes Leben lang Unmengen an Wasser getrunken, und das Verbot sowie das Leiden ihrer Schwester bewirkten eine vollständige Unfähigkeit zu schlucken. Tante Mira kam damals gerade noch mit dem Leben davon. Ihre Schwester war eine der fünf ersten Schüler von Oleksa Novakivsky gewesen. Wir haben noch ein paar richtig gute Arbeiten von ihr, aus irgendeinem Grund aber gab sie das Malen bald auf. Einmal schlugen Bekannte aus Amerika vor, in New York eine Ausstellung von Novakivsky zu organisieren. Novakivsky aber hatte große Angst um seine Bilder. Schließlich mußten sie mit dem Schiff über den Ozean fahren, und dieses Risiko wollte er nicht eingehen. Und was, wenn es sinkt, meinte er. Wir hatten sehr viele Landschaften zu Hause, in verschiedenen Formaten und von unterschiedlicher Qualität, manche waren einfach nur schrecklich. Meine Verwandten hatten sie gekauft, um Emigranten zu unterstützen – Offiziere der Ukrainischen Volksrepublik, die malten und deren Bilder bei Wohltätigkeitsausstellungen in galizischen Städten verkauft wurden. Onkel Osyp, der den Sanitätszug der UHA[9] geleitet hatte und deshalb sein Medizinstudium nur in Prag abschließen konnte, kannte die Situation der emigrierten Militärs sehr gut und kaufte Bilder, ohne auf deren Qualität zu achten. Ich verbrachte meine ganze Kindheit unter den Landschaften der großen Ukraine. Berge jedoch sah ich nie auf Bildern. Die Berge umgaben uns. Anfangs konnte man sie sogar von unseren Fenstern im zweiten Stock im Zentrum von Iwano-Frankiwsk sehen, aber dann wurden am Stadtrand Hochhäuser gebaut und versperrten den Ausblick. Auf der Suche nach Fischern mit frischem Fisch ging ich in Zoppot das morgendlich kalte Ufer entlang. Ich bat einen Fischer, mir einen Fisch auszusuchen, denn ich sei nicht vom Meer. Als der Fischer erfuhr, daß ich in den Bergen zu Hause war, gab er neidvoll zu, daß dies auch sehr, sehr gut sei. Vater fuhr einige Male mit uns an ein warmes Meer. Am meisten faszinierte uns das warme Wasser. Wir waren an kalte Gebirgsbäche gewöhnt, die sogar bei der größten Hitze nicht wärmer wurden. Wir wohnten in einem Häuschen neben einem Leuchtturm. Auf der dem Meer abgewandten Seite blühten Lavendelfelder. Am Feldweg wuchsen Aprikosenbäume. Sonntags kamen Gäste in den Leuchtturm. Vater trank mit ihnen Rotwein. Mitten in der Nacht gingen die Erwachsenen schwimmen, wir versteckten uns hinter Wermutsträuchern und ließen Vater nicht aus den Augen, denn vielleicht würden wir ihn retten müssen. Meinen Bruder nahm Vater zum ersten Mal mit ans Meer, als er drei war. Vater filmte damals mit einer 8-mm-Kamera. Jurko wurde von einer Welle erfaßt und aufs Meer hinausgetragen, und Vater filmte ihn dabei, solange es möglich war. Nach seiner Rückkehr aus Tschita hat Vater in der Schule ein paar Monate so getan, als verstehe er kein Ukrainisch. Er machte sich Skier und erkundete die Wälder. Im Wald hielten sich wohl noch vereinzelte Gruppen von Partisanen auf, denn die Holzfäller – Vater wurde einer von ihnen – sangen laut und monoton, damit es die Menschen im Wald hörten: Wir wollen nicht, wir müssen. Vater besaß als einziger in der Klasse eine Krawatte. Deshalb gibt es von jedem Jungen ein Schulabschlußfoto mit derselben Krawatte. Schwere Stiefel, eine Armbanduhr und ein Fahrrad waren in Tschita damals unglaublich in. Deshalb ließen sich alle Jungs – die Dinge hatten sie sich extra ausgeliehen – in ein und derselben Pose fotografieren: ein Fuß mit Stiefel am Fahrrad, der Ärmel aufgekrempelt, damit die Uhr zu sehen war. In Tschita gab es oft Sandstürme. Die Burjaten trugen sowohl bei Hitze als auch bei eisiger Kälte ihren Pelz, abhängig von der Jahreszeit wendeten sie ihn bloß. Im Winter wurde die Milch nach Gewicht verkauft, die meisten Straßen verliefen zwischen hohen Bretterzäunen. Da Vater so oft die Schule gewechselt hatte, konnte er bis an sein Lebensende das russische und das ukrainische E nicht auseinanderhalten. In der Verbannung träumte er davon, Opernsänger zu werden. Dann aber begann er zu rauchen. Er besaß sogar ein Mundstück aus Ebenholz mit der Aufschrift: Borja 1940. Vater war Jahrgang vierzig. Und Borja nannten ihn die Kriminellen, denn ein Bodja, ein Bohdan, war ihnen noch nie untergekommen. Vater nannte mich vor allem deswegen Taras, weil es davon keine russische Koseform mit weiblicher Endung gibt. Die Koseform Jura ist uns vertraut, deshalb paßte dieser Name gut auf meinen Bruder. Vaters Vater hieß Robert. Er kam in den ersten Kriegstagen ums Leben, im September neununddreißig. Vater wurde ein paar Monate später geboren, genau zu Neujahr. Neujahr war für uns Vaters Geburtstag, und Vaters Geburtstag war für uns Neujahr. Vater arbeitete in der Forstwirtschaft, deshalb bekamen wir jedes Jahr zu Neujahr eine schöne Tanne als Weihnachtsbaum. Nach dem Jordansfest räumten wir sie ab, hackten sie in kleine Stücke und heizten damit den Ofen. Neben dem Ofen stand ein Lehnstuhl. Zu Hause saß Vater beim Rauchen immer in diesem Lehnstuhl und aschte in den Ofen. Als Teenager wollten mein Bruder und ich keinen Weihnachtsbaum. Als meine Kinder klein waren, gruben wir auf der Forststraße viele kleine Tannenbäumchen aus und bepflanzten damit ein ganzes Beet neben dem Haus. Die meisten Bäumchen, die auf der Forststraße keine Chance gehabt hätten, wuchsen an. Ein paar Jahre später begannen wir, sie in andere Teile von Hof und Garten umzupflanzen. Die größte Tanne ließen wir vor unserem Fenster stehen. Onkel Mychas machte herrlichen Fichtenlikör, dafür setzte er die jungen, hellgrünen Triebe mit Zucker an. Im Winter brachte er Großmutter und mir vor dem Frühstück ein Gläschen. In jenen Jahren gab es so viel Schnee, daß wir die Schaufel über Nacht mit ins Haus nahmen. Am Morgen waren die Türen zugeschneit, um sie zu öffnen, kletterten wir mit der Schaufel aus dem Fenster und beseitigten die Schneewehen. In den Schulen der Stadt galt die Fünfundzwanzig-Grad-Regel: Wenn es so kalt war, durfte man zu Hause bleiben. Manchmal waren nur die Zentrumskinder in der Schule, am Stadtrand, in der Nähe des Flusses, war es immer ein wenig kälter. Damals waren die Wälle ein Ort des vorübergehenden Friedens. Jungs aus allen Vierteln – aus dem Zentrum, der Bahnhofsgegend, von der Ziegelfabrik, aus Kant, Majzly, Hirka, Sofijiwka, Belvedere, der Deutschen Kolonie, aus dem alten und dem neuen Städtchen und aus Bam – kamen abends zum Eislaufen dorthin. Sie trugen Segeltuchjacken und kamen in größeren Gruppen, denn der Friede war nur vorübergehend. Außer unserer Schule gab es noch fünf weitere Schulen in der Stadt, das gängigste Merkmal für die Feindschaft war: ukrainisch oder russisch. Bei den größten Konflikten traten die Obermacker der Schulen alleine gegeneinander an. Bida lebte sein eigenes Leben. Sein Vater war Boxtrainer, seine Mutter Schauspielerin. Bida interessierte sich nicht für die anderen Schulen. Er begann in der eigenen Klasse, indem er alle zwang, ihm wöchentlich zwanzig Kopeken zu geben. Eine Zeitlang wohnte er in einem Möbelhaus, er versteckte sich vor Ladenschluß in einem Schrank und schlief auf den teuersten Sofas. Einmal knöpfte er mir auf der Straße mein Eis ab. Ein andermal wollte er mir neunzehn Kopeken wegnehmen, mit denen ich eine Fischkonserve »Wolna« für unsere Katze kaufen sollte. Unsere Straße wurde damals gerade ausgebessert. Ich schnappte mir ein paar Steine aus dem groben Schotter und zielte dreimal aus geringer Entfernung und mit voller Wucht auf Bidas Kopf. Von da an grüßten wir uns. Kurz vor seinem Tod trafen wir uns ein paarmal zu Maiskolben und Apfelwein. Anfang der Achtziger eröffnete in Iwano-Frankiwsk ein ungewöhnliches Café: »Der Goldene Anfang«. Dort bekam man das ganze Jahr über Maiskolben. In meiner Deljatyner Kindheit waren Steine die beliebtesten Waffen. In kritischen Momenten reichte es, sich zu bücken, einen Stein aufzuheben und Mut zu zeigen. Die Kinder verwendeten Steine auch für verschiedene Spiele: wenn sie über Stromleitungen warfen, auf Pfosten zielten. Wir stellten uns nebeneinander auf, jeder eine Handvoll Schotter in der Hand, und warfen die Steinchen gleichzeitig in die Luft. Dann warteten wir. Das Spiel hieß »Wie Gott lenkt«. Auf unserem Berg gab es viele wilde Kirschbäume. Wir zogen von einem Kirschbaum zum nächsten, die Bäume waren für uns das, was für die Boheme bestimmte Kaffeehäuser und Bars waren. Wir saßen auf den Ästen, kletterten von Ast zu Ast, schaukelten in den Baumkronen, probierten die Kirschen, bewarfen einander mit Kernen. Den Mädchen, die nicht auf Bäume klettern konnten, reichten wir Zweige mit den besten Kirschen hinunter. Solche Zweige dienten auch als Sträuße und Geschenke. Genauso wie Walderdbeeren, auf einen Grashalm gefädelt. Die meisten Walderdbeeren wuchsen am Bahndamm. Auf den Schienen zu gehen war für uns wie promenieren. Ohne auch nur einmal von den Schienen zu steigen, spazierten wir bis zur Sperrzone vor der Brücke. Die Brücke wurde bewacht. Auf der anderen Seite der Brücke befand sich die Haltestelle des Regionalzuges. Die bewaffneten Wachposten ließen mich über die Brücke gehen, wenn ich mit dem Abendzug aus Iwano-Frankiwsk kam und zwei kleine Kinder auf dem Arm hatte, die schon schliefen. An einem nebeligen Morgen liefen Marjana und ich über die Brücke, um den Zug nicht zu verpassen. Wir sahen keinen Wachposten und konnten niemanden um Erlaubnis bitten. Als wir schon halb über die Brücke waren, tauchte hinter uns ein Wachposten auf, den wir nicht kannten. Er richtete das Maschinengewehr auf uns und befahl, die Brücke schleunigst zu verlassen. Wir beschlossen, daß es besser sei, erschossen zu werden, als aus dieser Höhe zu springen, und gingen, ohne uns umzusehen, auf die andere Seite. Einer der Posten unserer Division wurde mit einer kleinkalibrigen Waffe erschossen, nur weil man auf sein Maschinengewehr scharf gewesen war. In der Stadt wurde der Ausnahmezustand verhängt. An allen Stadtausfahrten standen unsere BTRs, ein Militärlaster versorgte die Soldaten mit Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Am Ende wurden die Mörder in irgendwelchen Gärten am Stadtrand ausfindig gemacht, und die Infanterie veranstaltete, nachdem sie die Mörder in die Enge getrieben hatte, eine regelrechte Treibjagd. Als ich auf einem Parkplatz mit eingemotteten gepanzerten Zugmaschinen Wache schieben mußte, kam ein verletzter Storch zu unserem Posten geflogen. Wir nahmen ihn mit ins Wachhäuschen, wärmten und fütterten ihn, bis er ein paar Tage später weiterfliegen konnte. Aus der Nähe sah er kleiner aus als am Himmel. Die Abschiedsfeder des Storches steckte in meinem Truppenausweis, bis sie von Parasiten zerfressen wurde. Unsere Truppenausweise verbrannten wir während der Studentenrevolte. Die Protestbewegung der Studenten begann damit, daß wir uns – als wir achtundachtzig, nach zwei Jahren Wehrdienst, an die Universität zurückkehrten – weigerten, Lehrveranstaltungen am Militärlehrstuhl der Universität zu besuchen. Und so sind wir keine Offiziere geworden. Onkel Wlodko rief Vater in Iwano-Frankiwsk an, damit er mich davon abbrachte, die militärische Ausbildung zu verweigern. Falls es irgendwelche Unruhen gibt, sagte er, und Taras umkommt, kriegt die Familie eine viel höhere Pension, wenn er als Offizier stirbt. Einmal sprachen mein Vater und ich nachts darüber, und Vater räumte ein, daß nun die Zeit meiner Generation und meiner Entscheidung gekommen sei. Wenn du es für notwendig hältst, kannst du auch ins Gefängnis gehen, brachte Vater es unsentimental auf den Punkt. An diesen nächtlichen Gesprächen, bei denen wir unsere Meinungen zu den wichtigsten Themen austauschten, störte mich am meisten, daß Vater eine Zigarette nach der anderen rauchte, was ich mir in seiner Gegenwart nicht erlauben konnte. Damals gab er mir eine Stange echter Marlboro, die er aus Amerika bekommen hatte. Während einer nächtlichen Autofahrt gemeinsam mit Vater zu rauchen, das wird für immer einer meiner wenigen unerfüllten Träume bleiben. Und das, obwohl ich Zigaretten in meiner frühen Kindheit gerade deswegen haßte, weil Vater im Auto rauchte. Zum letzten Mal rauchte Vater bei seinem vorletzten Krankenhausaufenthalt, einfach im Zimmer; dabei blies er den Rauch so die Wand hinauf, daß er sich an der Decke sammelte und nicht zu riechen war. Diesen Trick aus Tschita hatte Vater auch schon während des Schulunterrichts in Deljatyn angewandt. Es war ein seltsamer Tag. Ich übernachtete bei Vater im Krankenhaus. In der Nacht bat Vater um eine Zigarette, versuchte zu rauchen und begriff, daß er es nicht mehr konnte. Gegen Morgen starb im Nebenzimmer ein Mann. Er war sehr schwer, und ich half den Schwestern, den Toten auf eine Bahre zu legen, ihn in die Leichenhalle des Krankenhauses zu schieben und den Körper auf einen speziellen Tisch zu heben. Tagsüber versuchte ich, Vaters Fieber mit Essigumschlägen auf der Stirn und um die Handgelenke zu senken. Am Abend ging ich nach Hause, um ein wenig zu schlafen. Unser jüngerer Sohn fiel aus dem Bett und holte sich eine Platzwunde auf der Stirn. Wir fuhren mit der Rettung in die Kinderklinik. Der diensthabende Chirurg war betrunken. Die OP-Schwester hatte Besuch von ihrem Verlobten, und sie liebten sich in einem freien Zimmer irgendwo im Krankenhaus. Es gab kein Novocain. Der Chirurg war einverstanden, sich von mir assistieren zu lassen, und wir nähten die Wunde erfolgreich mit ein paar Stichen, dabei mußten wir sowohl meinen Sohn als auch die Nadel gut festhalten. Nach der Operation lud mich der Doktor auf ein Gläschen ein, gratulierte mir zur Initiation und gab mir Fünfzigtausend fürs Taxi, denn der Rettungswagen war längst beim nächsten Einsatz. Ein Jahr lang fuhr Vater einen alten fünftürigen Wolga, den die Rettung ausgesondert hatte, als Dienstwagen; solche Rettungsautos gab es, bis die Wagen der Rigaer Automobilfabrik aufkamen. Die Scheiben der vorderen Seitenfenster klemmten ständig. Wir hatten damals eine Luftdruckpistole. Auf der Rückfahrt von Deljatyn lehnte ich mich halb aus dem Fenster und zielte bei voller Geschwindigkeit auf Dinge, die Vater mir vorgab, meist auf Verkehrsschilder. Die Pistole begleitete meinen Bruder und mich mehrere Jahre lang. Wir stellten in unserem Zimmer leere Zündholzschachteln auf den Ofen und feuerten vor dem Einschlafen jeder ein paar Schüsse ab, einfach vom Bett aus. Nach dem Aufwachen nahmen wir uns die restlichen Schachteln vor. Jurko schoß absichtlich in die Wand, so daß dort mit der Zeit das Monogramm von Queen Victoria entstand, denn so hatte es Sherlock Holmes gemacht. Jurko kannte die Geschichten von Sherlock Holmes bis ins kleinste Detail, er konnte fehlerlos die Nachnamen sämtlicher Protagonisten nennen, sogar jene der Nebenfiguren, ebenso alle Toponyme, und er wußte, wie alle Anwesen, Gehöfte und Schlösser hießen, die in irgendeiner der Geschichten vorkamen. Sherlock Holmes weckte seinen Wissensdurst. Jurko begann sich mit Kunstgeschichte zu beschäftigen, mit Architektur, Landeskunde, Kriminalistik, Logik, Heraldik, mit den historischen Hilfswissenschaften, mit diplomatischer Etikette und diplomatischem Protokoll und mit der Terminologie verschiedenster Wissensbereiche. Er kennt Hunderte von Weinsorten. Auf einem speziellen Bogen Papier notierte Jurko die Namen von Schriftstellern und ihre Werke, die er aus allen ihm zugänglichen Quellen zusammentrug. Er interessierte sich nur für Autoren, die vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben hatten und keine Ukrainer oder Russen waren. Als er fünfzehn Jahre alt war, umfaßte die Liste zweitausend Autoren. Der einzige gute Ukrainischlehrer ging jeden Tag mit Jurko ins Theater, zu allen klassischen Konzerten und in alle Kunstausstellungen. Bei Gastspielen fremder Theaterensembles schauten wir uns ein und dieselbe Vorstellung zwei oder drei Mal an, wenn in den Hauptrollen verschiedene Schauspieler auftraten. Nach der Vorstellung mußten Jurko und ich den Schauspielern Sträuße langstieliger Margeriten überreichen, die der Lehrer zuvor in einem Eimer mit Wasser aus seinem Gemüsegarten geholt hatte. In seinem Gemüsegärtchen standen eine Weide aus Kaniw[10] und eine Apollon-Büste. Im Klassenzimmer des Lehrers lag auf jedem Tisch eine Auswahl der wichtigsten Wörterbücher, er verlangte von uns, daß wir schnell in Druckschrift schreiben konnten und ein Notizbüchlein mit lateinischen Zitaten führten. Nur in seinem Unterricht erschien uns die ukrainische Literatur sympathisch. Eine andere Lehrerin nannte uns verkommene Intelligenzija, bourgeoise Nationalisten, und wir mußten endlose Diktate aus Breschnews Büchern Das kleine Land, Wiedergeburt, Neuland und Erinnerungen schreiben. Sie sammelte sogar Geld ein, um für jeden Schüler eine Gesamtausgabe dieses Schwachsinns zu kaufen. In unserer Klasse standen ein Plattenspieler und eine Auswahl an Platten mit Breschnews Reden. Wir hörten uns Breschnews Geschmatze gern mit doppelter Geschwindigkeit an. Plötzlich drehte sich alles nur noch um das Ernährungsprogramm der KPdSU, und wir nahmen seine Aspekte in Geographie, Biologie, Geschichte, Chemie und Physik durch. Und natürlich mußten wir in Ukrainisch Diktate danach schreiben. In der fünften Klasse, als ich begann, ernsthaft Leichtathletik zu trainieren, hörte ich auf, meine Hausaufgaben zu machen. Damals hörte ich auch auf, Mathematik zu verstehen, und verbrachte den Rest meiner Schulzeit in vollkommener mathematischer Dunkelheit. Unsere Mathematiklehrerin – sie war jung und ließ manche Schüler aus den höheren Klassen zu nahe an sich heran – kontrollierte jede Stunde die Hausaufgaben. Deshalb begann mein Schultag viele Jahre hindurch auf einer Fensterbank im Gang, wo ich mich beeilen mußte, die gelösten Rechenbeispiele aus dem Heft einer Mitschülerin abzuschreiben. Nur die vier Grundrechenarten beherrschte ich bestens. Später, in den Bars, benutzte ich nie einen Taschenrechner und verrechnete mich trotzdem kein einziges Mal. Ohne etwas aufzuschreiben, konnte ich sofort eine Summe in der Größenordnung von einigen Hunderttausenden oder Millionen nennen; manche Gäste vermuteten dahinter einen Barkeeper-Trick, mit dem ich sie um ein paar Tausend brachte. Dabei nahmen wir für eine Tasse Kaffee sogar mehr Pulver, als im Preis vorgesehen war. Wir arbeiteten in verschiedenen Bars, aber die Kaffeeliebhaber wechselten mit uns von einer zur anderen. Außerdem legten wir immer richtig gute Musik auf und brachten so den Leuten in Iwano-Frankiwsk Rock'n'Roll, Reggae, Blues, Jazz und Ethno näher. Meine Kollegin und ich verließen sogar unseren Platz hinter der Bar und tanzten, um die Stimmung anzuheizen. Wollten die Leute aber ein langes, stilles Besäufnis, spielten wir Tom Waits oder Element of Crime. Nach der Sperrstunde versammelten sich mitten in der Nacht Barkeeper aus der ganzen Stadt bei uns, um ein wenig Zeit auf der anderen Seite der Barrikade zu verbringen. Unser erster Arbeitsplatz – ein richtig gemütliches Holzhäuschen am Ende des städtischen Parks – wurde eines Nachts aufgrund eines Mißverständnisses mit dem Eigentümer in Brand gesteckt. All der Kleinkram, mit dem wir die Bar dekoriert hatten, verbrannte: große Fotos von der Stadt Salischtschykyj aus der Zeit vor dem Krieg, Avantgardeplakate aus Prag, mein privater Plattenspieler inklusive Plattensammlung, Sträußchen aus Mohnkapseln, Knoblauchzöpfe und ein Bund Marihuana von der Krim. Sogar das alte huzulische Messingkreuz über dem Eingang zerschmolz. Das Feuer zerstörte auch das zerlöcherte, von Salischtschykyj verdeckte Brett, auf das die Gäste mit Messern werfen durften, um sich abzureagieren. Die Bar war der erste Ort in Iwano-Frankiwsk, wo man Glühwein bekam. Wir trieben große Mengen billigen spanischen Meßwein auf. Er kam in Kartons. Damals war es sehr leicht, die Kanäle der internationalen humanitären Hilfe anzuzapfen. Jurko hatte einen Berg verwaschener weißer Hemden, leicht und exquisit, mit Spitze, Perlmuttknöpfen und eingestickten Monogrammen zu Hause; diejenigen, denen die Hilfe hätte zukommen sollen, wollten die Hemden nicht haben. Wir sahen darin aus wie Europäer, die in den Opiumhöhlen Indochinas gestrandet waren. Jurko bekam irgendwo einen ganzen Sack Werbepäckchen der herrlichen Benson&Hedges, in jedem Päckchen waren drei Zigaretten. Im Café gegenüber unserem Haus verkaufte jemand in großen Mengen die Soldatenzigaretten Gauloise Caporal, deren Päckchen sich seit 1927 nicht verändert hatten. Diese Sorte kannte damals niemand; die Inflation ließ ihren Wert auf den von Streichhölzern sinken, und so rauchte ich, als ich arbeitslos war, ein paar Monate lang die besten französischen Zigaretten. Vater und ich machten köstlichen Kalyna-Wein[11]; in einem der unbenützten Zimmer gab es nur 10-Liter-Ballons mit rosarotem Wein, eine restaurierte Kommode und die ausgewaschenen und ausgekochten Windeln des kleinen Mark auf Wäscheleinen. Auf der Kommode standen zwei unterschiedliche, meist ungewaschene Gläser, aus denen wir tagsüber Wein tranken. Onkel Mychas machte Wein aus weißen Johannisbeeren, dabei wandte er die Technologie der wiederholten Gärung an. Er füllte den Wein in exotische Flaschen ab – ein paar hatten eine Prägung mit dem kaiserlich-königlichen Wappen, Symbol des Hoflieferanten – und lagerte sie in einem Regal im größten Keller. In verschiedenen Winkeln des Hauses gab es zwei winzige Kellerlöcher, die perfekt getarnt waren. In einem davon waren Mühlsteine versteckt. Der Onkel hatte auch ein System entwickelt, mit dem man die Leiter zum Dachboden an einem versteckten Seil hinaufziehen und wieder hinunterlassen konnte. Siebenundzwanzig Jahre lang – vom ersten Tag seiner Rückkehr bis zu seinem Tod – machte Onkel Mychas täglich Notizen. Jeden Tag machte er Aufzeichnungen über das Wetter, Hausarbeiten, Ankunft und Abreise von Freunden und Verwandten, das zunehmende Ausmaß seiner Leiden; jedes Jahr hielt er fest, wieviel Heu, Brennholz, Grummet, Äpfel, Tomaten, Kartoffeln, Johannisbeerwein, Nüsse und Pflaumen insgesamt verbraucht worden waren. Dazwischen fanden sich Rezepte für Heilsalben und für Mischungen zum Inhalieren. Tante Mira sammelte in extra Heften ukrainische Nachnamen und systematisierte sie nach bestimmten Kriterien. Großvater Bohdan errechnete die maximale Länge von Stromleitungen zwischen zwei Masten. Später interessierte er sich für Semmelweis, den ungarischen Arzt, der als erster Antiseptika einsetzte, woraufhin die Sterblichkeit von Neugeborenen und Wöchnerinnen sofort um ein Vielfaches zurückging. Großvater nahm Kontakt mit Budapester Archiven auf, die ihm alle verfügbaren Fotos von Semmelweis schickten. Er begann Material für ein Buch zu sammeln. Zum elften Geburtstag schenkte mir Vater eine Uhr. Auf die Innenseite des Armbandes schrieb ich meine Glücksformeln. Die seltsamste war: Lesen – Obst – fremde Länder. Die einfachste: ruhiges Gewissen – geliebte Menschen – ein eigenes Reich. Und die letzte: Bewegung-Liebe-Natur. Ich wollte Journalist werden und Essays über das Leben der Natur schreiben. Aber sowjetischer Journalist zu werden kam nicht in Frage, und ich wurde Botaniker. Erst zehn Jahre später begann ich für die Presse zu arbeiten. Ich hatte nie ein Problem, die unterschiedlichsten Jobs anzunehmen, denn ich wußte, daß ich jederzeit in meinen ursprünglichen Beruf zurückkehren konnte. Ein guter Freund lieh sich sehr viel Geld von mir und brannte nach Amerika durch. Um den Verlust irgendwie gutzumachen, verschaffte mir seine Mutter einen Job als Nachtwächter und Hausmeister in einem Kindergarten. Der Lohn war so niedrig, daß ich dreißig Jahre hätte arbeiten müssen, um die ausgeliehene Summe zu verdienen. Der Kindergarten befand sich in einem alten Palast. Nachts waren in den leeren Gängen und Schlafsälen undeutliche Kinderstimmen und Schritte zu hören. Ich schlief, umgeben von Spielsachen, im Musik- und Tanzraum auf dem Boden. Auch das Pianino gab Geräusche von sich. Im Morgengrauen fegte ich Laub. Es klebte an den nassen Pflastersteinen. Das Laub verschiedener Bäume und Sträucher muß man auf unterschiedliche Weise fegen. In jenem Jahr fiel mehr Schnee als jemals sonst in der jüngeren Geschichte. Wenn ich mit der Schaufel das eine Ende des Weges erreicht hatte, war das andere Ende schon wieder zugeschneit. Die Kinder und ihre Eltern konnten sich kaum einen Weg durch die Schneewehen bahnen. Der Gespenster wegen lud ich immer Gäste in den Kindergarten ein. Wir lagen in zu kurzen Betten und tranken Wein. An einem Abend hatten mehrere meiner Gäste gleichzeitig ihre Tage; am nächsten Morgen wurde ich wegen ein paar Tampons, die in den Kinderklos schwammen, hinausgeworfen. Ein Freund schickte mir aus Amerika ein teures T-Shirt. Seinetwegen wurde einen ganzen Monat lang niemandem aus Iwano-Frankiwsk ein amerikanisches Visum ausgestellt. Der Freund hatte durch die Protektion einer Autorität eine große Summe für sein Visum vereinbart. Er bekam, was er wollte, und legte die Geldübergabe für eine Stunde nach Abflug seiner Maschine fest. Jahre davor hatte er irgendwo aufgeschnappt, daß aus Stierpenissen teure Medikamente hergestellt werden. Er bat mich um Hilfe, und wir tauschten bei den verwunderten Angestellten des Fleischkombinats einen Karton Wodka gegen ein paar Säcke Penisse. Diese verteilte er auf die Kühlschränke seiner Freunde und machte sich auf die Suche nach einem Käufer. Bald stellte sich heraus, daß die Sache veraltet war und sich niemand mehr dafür interessierte. Wir brachten unsere Ware zum Müll. Die Straßenköter müssen etwas gerochen haben, und wenige Minuten später preschte eine ganze Hundemeute mit Penissen im Maul die Straße hinunter. In Zeiten, als es keinen Kaffee gab, gingen wir nachts zum größten Hotel der Stadt, fuhren in den letzten Stock, bestellten beim Zimmermädchen zwei Tassen Kaffee und betrachteten von oben die dunklen Straßen. Einer meiner Freunde hielt die Zigaretten nicht zwischen den Fingern, sondern klemmte sie zwischen die Zähne eines Kammes mit Griff, denn seine Mutter sollte nicht erfahren, daß er raucht. Solche Kämme ragten in den Siebzigern aus den hinteren Taschen der Jeans. In der Hand trug man Transistorradios, um die Hüften band man sich aufgeknöpfte, bunte Hemden. Ungarische Arbeiter verlegten eine Gasleitung, die Kinder bettelten den Magyaren Pedro- und Donald-Duck-Kaugummis ab, Teenager kauften Kondome und Marlboros bei ihnen, für irgendwelche Anlässe versuchte man, Orangeade und Pepsi in Einliterflaschen aufzutreiben, und die städtische Elite bekam Wohnungen in einem von den Ungarn gebauten Haus mit Garage und Gegensprechanlage. Der Verfall ging so weit, daß viele galizische Familien den ersten Mai und den siebten November zu Hause feierten. Ich weigerte mich, in den Novemberferien an der Ehrenwache beim Tschekisten-Denkmal teilzunehmen, denn ich mußte unbedingt für ein paar Tage ins herbstliche Deljatyn fahren. Die Wache war freiwillig, aber die Mitglieder des Elternkomitees, die Mütter meiner Freunde, verkündeten lauthals, daß persönliches Besitzstreben das Gefühl der Dankbarkeit den ermordeten Tschekisten gegenüber nicht übersteigen dürfte. Bei der Novemberparade standen wir ein paar Stunden auf dem uns zugewiesenen Abschnitt einer bestimmten Straße und warteten darauf, endlich an der Tribüne vorbeiziehen zu können. Wir hielten Stecken mit Luftballons in der Hand. Während wir warteten, vertrieben wir uns die Zeit damit, einander die Luftballons kaputtzumachen. Als wir an der Tribüne vorbeizogen, hatte unsere Klasse nur noch ein paar wenige blaue und gelbe Luftballons, die nicht zerplatzt waren. Mit der Untersuchung befaßte sich das städtische Parteikomitee. Man verbot uns, an der geplanten Exkursion nach Moskau teilzunehmen; dabei hatten die Jungen extra ein Aphrodisiakum aufgetrieben, und zwar bei einem Tierarzt, das auf der Fahrt an den Mitschülerinnen ausprobiert werden sollte. Nachts rief mich der Osobist[12] mehrmals zu einem Gespräch zu sich und bot mir an, an der Fakultät für Fernmeldewesen der KGB-Hochschule zu studieren. Er garantierte, daß es mir an Geld und Bräuten nicht fehlen werde und ich oft ins Ausland kommen würde. Ich hatte die Erlaubnis, mit verschlüsseltem Funk zu arbeiten. Wir hatten Köfferchen mit seltsamen Metallplatten, die in einer bestimmten Reihenfolge in das Kodiergerät der Funkanlage eingelegt wurden. Jeden Montag erhielten wir in der geheimen Einheit wie Lotteriescheine verpackte Papiere, die die Abfolge der Platten für die folgende Woche vorgaben. Wenn wir Einsätze fuhren, bekamen wir immer ein Maschinengewehr und Munition, um unser Köfferchen verteidigen zu können. Vergehen gegen die Geheimhaltungsregeln wurden mit bis zu zehn Jahren Freiheitsentzug bestraft. Während einer großangelegten Übung hatte ein BTR inmitten von Wäldern und Sümpfen eine Panne. Die Truppe eilte weiter, ohne den Verlust zu bemerken. Die Besatzung lebte eine ganze Woche lang im gefrorenen Eisen. Dann schlossen sie den Wagen ab und gingen in ein Dorf, um sich aufzuwärmen und etwas zu essen. Das Köfferchen nahmen sie mit. Trotzdem wollte der KGB den Feldwebel nach dem Manöver einlochen, weil er die geheime Apparatur unbewacht zurückgelassen hatte. Die offizielle Bezeichnung unseres Bataillons war MU und Pr. Die Bezeichnung des Maschinengewehrs war AKSU. Es gab drei Arten von Reklameaufschriften: Margarine ist billig, gut und gesund; machen Sie Gebrauch vom Angebot der staatlichen Versicherungsanstalt; fliegen Sie mit Aeroflot. 1990 war die schlimmste Zigarettenkrise. Damals gab es am Markt 3-Liter-Einmachgläser voller Zigarettenstummel zu kaufen. Als Renata, Jolanta, Dorota, Agnieszka, Dorota, Malgosza, Joanna und Beata aus Lublin zum Botanikpraktikum kamen, reichte ein halbes Päckchen KARO, um einen Bus von Worochta bis zum Dorf Vierzehnter Kilometer zu mieten. Adrian und ich gingen jeden Tag mit ihnen in die Berge, aber die Mädchen weigerten sich, im Naturschutzgebiet Pflanzen für ihr Herbarium zu sammeln. Adrian war mein Lehrer, er war jung und der beste Florist in der Westukraine. Die Mädchen gaben ihr ganzes Taschengeld für Sekt aus, den wir mit dem Bus zu einer Forschungsstation der Universität oben in den Bergen brachten. Adrian war der Betreuer meiner wissenschaftlichen Arbeit, wir fuhren mit seinem Auto durch Lemberg, teilten die Stadt in historisch-zivilisatorische Zonen ein und machten Aufzeichnungen über die Flora der alten Parks, der Dächer und Regenrinnen, Gleise und Müllhalden, privaten Gärten und von Fabrikgeländen. Das Botanikinstitut befand sich im ältesten Teil der Universität. Im Institut standen österreichische Schränke, voll mit alten Büchern, Herbarbögen und Feuchtpräparaten; es war kühl, die Fenster gingen auf den botanischen Garten hinaus, in dem ein Gingko und ein Tulpenbaum wuchsen. Im Garten liefen Hunde mit künstlich angelegten Fisteln am Bauch herum. Ein anderes Fenster ging auf den Innenhof der stillgelegten Nikolauskirche hinaus. In einem der Hörsäle stand ein altes Weinbach-Pianino, dem die Hälfte der Saiten fehlte; Fazyk, Mazyk und ich spielten sechshändig nach Samisdat-Noten Beatles-Songs. Mazyk hatte eine Vorliebe für Fußball, Eis und Filme mit Sophie Marceau. Ich spielte für die Fakultät Basketball. Ich war weiß. Außer mir spielten ein schwarzblauer Guineer, ein schokoladebrauner Madagasse, ein kakaobrauner Kolumbianer und ein gelbroter Bolivianer. Meine Brüder. Es gibt ein schönes Foto, aufgenommen vom Balkon der Sporthalle. Unsere Mannschaft sitzt unten auf einer Bank, auf dem Bild sieht man nur unsere verschiedenfarbigen Knie, united colours. Der Kolumbianer wohnte Zaun an Zaun mit Garcia Márquez, der Bolivianer bekam es mit der Angst zu tun, als wir uns auf dem Gipfel des Mentschyl über dem Zylinder einer Petroleumlampe Zigaretten anzündeten. In den letzten Schuljahren waren wir so begeistert von Basketball, daß wir jeden Tag zwei Stunden vor Unterrichtsbeginn zum Morgentraining kamen, und sonntags spielten wir immer vier Stunden. Sogar zu Hause, wenn mein Bruder und ich etwas Wichtiges besprachen, paßten wir einander im Korridor den Ball zu. Am Flußufer oder am Strand nahmen wir anstelle eines Balls einen großen, schweren Stein, den zu werfen und zu fangen gar nicht so einfach war. Auf ähnliche Weise brachten wir unserer Krähe Halja das Fliegen bei. Mutter hatte sie am Hauptplatz gefunden. Auch alle anderen Tiere hatte uns der Zufall geschenkt. Die Hündin Muschka bekam ihren Namen zu Ehren des Schäferhundes Muschka, der uns nach dem Tod von Onkel Taras, Großvater Bohdans und Tante Miras Bruder, von dessen Burschen gebracht wurde, zusammen mit einer Geige. Der Onkel war 1915 als Freiwilliger zu den Ukrainischen Sitsch-Schützen[13] gegangen, diente in der UHA und starb im Todesviereck an Typhus. Großvater Bohdan war damals in italienischer Gefangenschaft. Zwei Jahre lang aß er nichts als Orangen und gelegentlich Fisch. Die Hündin Schutschka lief Vater in Nadwirna zu, wenig später brachte sie Wolfsjunge zur Welt. Unsere Katze wurde von Tante Mira auf dem Friedhof aufgelesen. Ihr blindes Auge hatte bis an ihr Lebensende einen ganz eigenen Schimmer. Die Katze konnte zur Klinke hochspringen und die Tür öffnen. Sie schlief auf dem hohen Ofen, drehte jedes Mal durch, wenn sie hörte, daß ein Ei aufgeschlagen wurde, und liebte es, über die Tasten des Klaviers zu spazieren. Mein Freund verliebte sich in sie wie in eine Frau, die es nicht gibt. Der Hund Rudko hatte von selbst beschlossen, neben unserem Haus zu leben. Er bewachte es so gut, daß uns der Briefträger die Post nicht mehr brachte; Onkel Mychas ging immer mit einer Tasse Wasser in der Hand über den Hof, da Rudko irrtümlich auch die Seinigen biß, sich aber vor Wasser fürchtete. Als der Onkel ein Kind war, hatten sie einen Habicht im Haus. Später brannte das Haus ab, weil aus dem Schornstein einer Dampflok ein Funke darauf übergesprungen war. Onkel Mychas erste Frau war Karolina, eine Polin aus Deljatyn. Sie hatten eine Tochter. Dreiundvierzig meldete er sich zur Division Galizien. So konnte er seine nicht-ukrainische Familie schützen, als in unserer Gegend die zwischennationalen Konflikte ausbrachen. Er war einundvierzig Jahre alt. Hinter Brody machte er sich auf den Heimweg, fiel aber einer Rekrutierungskommission in die Hände, die den Soldaten gefolgt war und galizische Männer einzog. Onkel Mychas hatte auf der Schulter einen Pfeil eintätowiert, der in der deutschen Wehrmacht eine bestimmte Blutgruppe bezeichnete. Anstatt zu kämpfen, kam der Onkel in ein Strafbataillon und wurde zur Zwangsarbeit nach Kasachstan deportiert. Bis zum Ende seines Arbeitseinsatzes baute Onkel Mychas in Korkinugol im Tagebau Kohle ab. In der Zwischenzeit nutzten Karolina und ihre Tochter die Gelegenheit, nach Polen auszureisen. Wieder zu Hause, mußte sich der Onkel verstecken. Als er einmal nach Deljatyn fuhr, wurde er gesehen und sofort ausgeliefert. Man hielt den Onkel für einen, der in Deutschland gearbeitet hatte, und schickte ihn nach Tschita. Er versuchte, mit Karolina Kontakt aufzunehmen, aber der geheime Zensor des Innenministeriums, Leopold Abseger, der den Briefverkehr überwachte, drehte die Sache so, daß Onkel Mychas Ehefrau nur dessen ersten Brief bekam, in dem er schrieb, daß es ihm gutgehe. Alle weiteren Briefe verblieben beim Zensor, der Onkel erhielt Karolinas verzweifelte Bitten zu antworten und ihre Beteuerungen, er werde erwartet, dann kamen Vorwürfe, Anschuldigungen und schließlich der Abschied. Großmutter Zonja wurde verhaftet, als Robert, der berüchtigte Anführer der UPA[14], in einer Spezialoperation liquidiert werden sollte. Irgendwer kam auf die Idee, Robert Prachaska[15] sei dieser Robert, und man könne ihn über seine Frau ausfindig machen. Großmutter wurde sogar von falschen UPA-Kämpfern befreit, in einem falschen Bunker versteckt und gefragt, wie man sie zu ihrem Mann bringen könne. Großmutter lernte Onkel Mychas in Tschita kennen, danach lebten sie noch dreißig Jahre miteinander in Deljatyn. Großmutter Zonja hat Onkel Mychas um dreizehn Jahre überlebt und meinen Vater, ihren Sohn, um drei Wochen. Sie ist am Kummer gestorben. Seitdem sind neun Jahre vergangen. Jeden Sommer sind wir mit den Kindern in Deljatyn in unserem Häuschen, das auf einer Anhöhe steht. Die unterschiedlichsten Leute kommen zu Besuch. Einmal haben eine Woche lang achtzehn Personen gleichzeitig bei uns gewohnt. Letztes Jahr ist der schönste Renettenbaum umgefallen, er war sechsundfünfzig gepflanzt worden. Romko Ros kam in Stiefeln, die einer Last von drei Tonnen standhalten können …