„Na, wie fühlen Sie sich so als Raumbaby?“ fragte der grauhaarige Reisende seinen jungen Nachbarn, als sie die Atmosphäre hinter sich gelassen hatten und der Himmel auf den Sichtschirmen schwarz geworden war.
Dem Jüngeren mißfiel die Frage. Wer läßt sich schon gern ein Baby nennen, noch dazu im Kosmos! „Würden Sie es als ausgesuchte Höflichkeit empfinden, wenn ich Sie als Raumgreis bezeichnete?“ fragte er zurück. Aber der Versuch, seine Unsicherheit hinter gewählten Formulierungen zu verstecken, schlug fehl.
Der Ältere überhörte die Bissigkeit. „Und Sie haben keine Angst?“ fragte er weiter.
Der Jüngere drehte den ganzen Oberkörper herum in einer Art, die etwas besagen sollte: Was ist das eigentlich für einer, der hier so kindische Fragen stellt? Er sah ein breitknochiges Gesicht, und er dachte, daß dieses Gesicht in seiner Jugend, bevor geistige Arbeit seine Züge geprägt und verfeinert hatte, grobschlächtig und sicherlich auch ein bißchen dümmlich ausgesehen haben mußte.
„Zufrieden mit dem Ergebnis der Musterung?“ fragte der Ältere. Warum den Beleidigten spielen? dachte der Junge und entschied sich, lieber auf die vorangegangene Frage zu antworten. „Warum soll ich denn Angst haben? Seit hundert Jahren fliegen Raketen zum Mond — was soll es da noch für Überraschungen geben!“ Der Ältere lehnte sich zurück, offensichtlich befriedigt darüber, daß die Unterhaltung in Gang kam. „Angst ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck für das, was ich meine — mich jedenfalls regt jeder Flug auf oder an, wenn Sie wollen. Freilich, seit hundert Jahren fliegen Kursraketen zum Mond — aber was ist schon ein Jahrhundert im Kosmos! Es wird immer wieder Überraschungen geben.“ Ein geschwätziger alter Knochen! dachte der Jüngere ärgerlich. Der Ältere dagegen dachte vergnügt: Jetzt ist sein Urteil über mich fertig! Laut sagte er: „Es gibt zwei Sorten von Raumbabys — die kaltschnäuzigen und die aufgeregten. Sie werden's nicht glauben, aber die Aufgeregten sind mir lieber. Sie leisten dann später mehr. Weil sie den Raum im Gefühl haben.“
„Wenn Sie noch mehr solche Sympathiekundgebungen auf Lager haben — nur zu!“
Der Ältere merkte, daß die Plänkelei den Jungen zu ärgern begann, und lenkte ein. „Nun seien Sie nicht böse. Ich bin ein alter Hase, und Sie sind kein Tourist, sondern wollen auf dem Mond arbeiten. Und da müssen Sie etwas lernen, was an keiner Schule gelehrt wird: Eine gute Aufregung zur rechten Zeit kann manchmal mehr wert sein als ein Dutzend Archive voll Wissen. Oder mindestens ebensoviel. Wollen Sie eine Geschichte hören?“
Der Jüngere versicherte — mit einem leisen Knurren in der Stimme —, er sei für Geschichten immer zu haben, besonders aber auf langweiligen Reisen; vorausgesetzt natürlich, daß die Geschichten nicht auch langweilig seien. Dann setzte er sich zum Zuhören zurecht, mit der Miene eines Mannes, der einem anderen die Gnade erweist, sich von ihm etwas erzählen zu lassen.
Der Ältere runzelte die Stirn. „Langweilig? Kaum. Es handelt sich um ein Rätsel, sogar um ein doppeltes!“
Ich bin Bioniker und arbeitete zu der Zeit, als die hier zur Rede stehenden Ereignisse sich abspielten, über die Anpassung von Spatzen an die geringere Schwerkraft auf dem Mond. Ich sehe, Sie lächeln. Das ist natürlich Ihr gutes Recht, aber damit Sie etwas mehr Achtung vor unseren Spatzen bekommen, will ich Ihnen einen Vergleich vorhalten: Wenn wir denjenigen Teil der Sinnesorgane und des Nervensystems, der im Spatzen die Orientierung und die Flugsteuerung besorgt, mit elektronischen Mitteln nachbilden wollten, so würde dieser Apparat beim heutigen Stande der Entwicklung etwa so groß wie der ganze Spatz werden und zehnmal so schwer. Wollten wir aber nun diesem Apparat zusätzlich die Fähigkeit verleihen, auch unter veränderten Schwerkraftbedingungen zuverlässig seinen Dienst zu tun, würden sich Volumen und Gewicht verhundertfachen. Der Spatz kommt aber ohne zusätzliche Einrichtungen aus, ihm genügt ein bißchen Zeit, um sich umzugewöhnen. Ich sehe, Sie lächeln nicht mehr, das spricht für Ihr Denkvermögen.
Im Grunde hat das mit meiner Geschichte nichts zu tun und sollte nur zeigen, daß ich als Erzähler die Sache von einem unvoreingenommenen Standpunkt aus sehen mußte. Aber wer weiß — vielleicht hat es doch etwas damit zu tun, und Sie erinnern sich am Schluß sogar an diesen kleinen, alltäglichen und doch unnachahmlichen Spatzen? Ihre Sache. Ich werde ihn nicht mehr erwähnen. Wir hatten damals auf der Mondstation so eine Art klassisches Freundespaar, das wie die meisten klassischen Freundespaare irgendwann den Spitznamen Kastor und Pollux erhalten hatte; keine bedeutenden Leute, durchaus nicht, Sie haben bestimmt nie von ihnen gehört. Kastor war Kopilot auf einer Frachtrakete, und Pollux arbeitete als Navigator auf dem Mond-Kosmodrom. Er arbeitete übrigens mittelmäßig. Ich meine damit nichts Schlechtes, Abwertendes. Ich meine nur, er war zuverlässig, aber ideenlos — ein Mann mit durchschnittlicher Begabung, ruhigem Temperament und einer gewissen Schwerfälligkeit im Denken. Ich vermute, er hätte selbst nicht zu sagen gewußt, wie er zu den Astronauten gekommen war; er wäre seinem Freund wohl auch in die Antarktis oder ins Innere der Erde gefolgt, falls dieser sich dafür entschieden hätte. Bei alledem war er aber kein schwächlicher oder sonstwie unangenehmer Typ; im Gegenteil, beide waren sympathisch und beliebt, und ihre Freundschaft war offen für jedermann — das sicherste Zeichen, daß sie nicht auf irgendeine Art seelischer Abhängigkeit gegründet war.
Eines Tages — gerade als Pollux Dienst hatte — blieb die viertelstündliche PaN-Meldung von Kastors Rakete aus. Nun müssen Sie wissen, daß die damals übliche PaN-Meldung — Pilot an Navigator — nur eine ergänzende Funktion hatte. Die für die Navigation wichtige Funkverbindung war auch damals schon auf beiden Seiten automatisch und hielt die ganze Reise über an. PaN war nur eine zusätzliche Bestätigung, daß an Bord alles wohl war. Sie sollte — der Vorschrift nach — alle fünfzehn Minuten gegeben werden, aber wenn sie mal ausfiel, regte das niemand besonders auf. Pollux war zwar eine Minute lang etwas unruhig, aber da er den Dienstplan seines Freundes im Kopf hatte wie seinen eigenen und genau wußte, daß zu dieser Zeit Kastor das Raumschiff führte, behielt er die Sache erst einmal für sich. Er fragte auch nicht zurück, denn das wäre registriert worden — nun ja, Vorschrift ist Vorschrift, aber wer macht schon seinem Freund gern Ärger?
Dann blieb aber auch die nächste PaN-Meldung aus, die nun schon wieder der erste Pilot hätte abgeben müssen. Pollux rief das Raumschiff, die Frachtrakete 17 war es, aber der Pilot meldete sich nicht. Da gab Pollux Alarm.
Wenige Minuten später erschien der Kommandant des Mond-Kosmodroms in der Navigationszentrale. Ilja Fejnberg — ich erinnere mich gut an ihn — war ein untersetzter Mann Ende der Vierziger, ausgerüstet mit dem unvermeidlichen Bäuchlein, dem trotz aller Gymnastik kaum einer entgeht, der längere Zeit auf dem Mond arbeitet. Seine kleinen, listigen Augen paßten gut in das gemütliche, gefaltete Gesicht und unter die kugelrunde Glatze, seine etwas zu kurz geratenen Arme und Beine bewegten sich flink, und seine ganze Erscheinung erweckte den Eindruck, daß es für diesen Mann und unter der Leitung dieses Mannes keine unlösbaren Schwierigkeiten geben könne. Kommandant Fejnberg marschierte schnurstracks auf den Sitz am Navigationspult zu, vorbei an Pollux, der etwas beklommen seine Meldung erstattete.
„Letzte PaN?“ fragte der Kommandant.
Pollux schluckte. „Vor vierunddreißig Minuten.“
„Ach?“ machte der Kommandant. Dann drückte er eine Taste und sprach ins Mikrophon: „Achtung, Havarierakete. Kommandant an Pilot. Havarieverdacht bei FR siebzehn. Sie nähern sich der Frachtrakete bis auf Sicherheitsabstand und gehen auf Parallelkurs. Nach Annäherung Meldung P an K über äußeren Zustand der FR siebzehn. Danach weitere Anweisungen. Ende.“
„Verstanden. Kann ich starten?“
Der Kommandant drückte einige Tasten am Navigationstisch und betrachtete die Armaturen. Dann fragte er: „Alle Funktionssysteme der Havarierakete überprüft?“
„Überprüft!“ kam die Antwort.
„Der Havarieeinsatz ist freiwillig. Ich möchte die Bereitschaftserklärung der Besatzungsmitglieder hören!“
Aus dem Lautsprecher drangen nacheinander die Stimmen der Teilnehmer des freiwilligen Havariekommandos.
„Ich bin bereit!“ sagte die ruhige, dunkle Stimme des Piloten Leif Johanson, der sonst als Testpilot in der Raketenausbesserungswerft arbeitete.
„Ich bin bereit!“ Die Stimme Tom Harrars, des jungen zweiten Arztes, flackerte leicht.
„Ich bin bereit.“ Lässig und mit dem Unterton einer Mißachtung, wie man sie überflüssigen Formalitäten erweist, sprach Henri Bernaud, der Triebwerksingenieur, die Formel.
„Ich bin bereit …“ Als letzter meldete sich mit zerstreuter Stimme der Leiter der Raketenausbesserungswerft, Kurt Osterriem.
Der Kommandant nickte befriedigt. Dann befahl er: „Überprüfen Sie noch einmal alle Funktionssysterne. Start in zwei Minuten. Ende.“
„Verstanden!“ sagte die Stimme des Testpiloten. Dann wurde die Verbindung abgeschaltet.
Pollux sah, wie der Kopf des Kommandanten leicht nach vorn sank. Er wollte etwas sagen, weil ihm die Stille unbehaglich war, unterdrückte aber dann doch diesen Wunsch. Innerlich murrte er: Ob der mich absichtlich hier herumstehen läßt wie ein ausrangiertes Möbelstück? So ein Wirbel! Tut, als sei wer weiß was passiert! Dabei, was wird schon sein? Ist eben irgendein Gerät ausgefallen, kann doch vorkommen, kommt doch oft genug vor! Nein, stimmt ja nicht, kommt sehr selten vor, und niemals fallen zwei Verbindungssysteme gleichzeitig aus! Aber die beiden sind ja alte Hasen, die werden mit jeder Lage fertig … Ein leises Dröhnen drang in die unterirdische — richtiger: untermondische — Navigationszentrale. Die Havarierakete war gestartet. Der Kommandant begann plötzlich zu sprechen, ohne seine Haltung zu verändern, ohne die Stimme besonders zu heben. „Vor etwa vierzig Jahren wurde eine Rakete von einem Meteoriten durchschlagen. Sie setzte ihren Kurs fort, lebenswichtige Teile wurden nicht gefährdet, nur — hm — das Leben der Piloten. Aber das hätte niemand gemerkt, wenn nicht dadurch zufällig ein Funkspruch unterbrochen worden wäre. Die Retter kamen noch rechtzeitig. Damals wurde die PaN-Meldung eingeführt. Ich kenne den Fall natürlich auch nur aus der Chronik, aber die steht ja für jeden greifbar im Archiv. Man sollte sie einmal lesen. Ja, Sie gehen jetzt ins Archiv und lesen die Chronik. Ich kann Sie hier nicht brauchen.“
Pollux starrte den Rücken des Kommandanten an, als sähe er dort den immer noch nicht aufgefundenen Mann im Mond. „Soll — soll das eine Strafe sein?“
„Das ist zunächst mal eine Anordnung!“ antwortete der Kommandant ruhig und sprach ins Mikrophon: „Archiv — Archiv, bitte melden! Zu Ihnen kommt jetzt gleich der diensthabende Navigator. Geben Sie ihm die Chronik Band zwölf oder dreizehn zu lesen, diesen Havariefall, der zur Einrichtung der PaN-Meldung führte. Ende.“ „Aber …“, stotterte Pollux verwirrt, „in der FR siebzehn ist doch mein Freund, ich muß doch …, ich kann doch nicht einfach …“
„Ach, Sie sind noch hier?“ sagte der Kommandant in gleichgültigem Ton, ohne auch nur den Kopf zu bewegen. Da schlich Pollux mit hängenden Schultern hinaus.
Der Kommandant drehte sich um und blickte nachdenklich die Tür an, die Pollux hinter sich geschlossen hatte. Ob er's begreift? Er wird wohl eine Weile brauchen, bis er versteht, warum er da im Papier wühlen soll. Aber das hilft nichts, er muß selbst dahinterkommen, sonst hat es keinen Nutzen. Für uns nicht, für seinen Freund nicht — und für ihn schon gar nicht. Es wird wohl bei dieser Geschichte noch mehr Dinge geben, hinter die wir kommen müssen … Wieso eigentlich? Es kann doch alles ganz harmlos sein? Der Kommandant bemerkte, daß er schon nicht mehr über Pollux nachdachte, sondern über sich selbst. Woher war dieses verdammt sichere Gefühl gekommen, daß hier etwas ganz Ungewöhnliches geschehen sein müsse? Wann hatte er dieses Gefühl zum ersten Mal gespürt? Er erinnerte sich: bei der Meldung des Navigators. Ein Gedanke war in ihm aufgeblitzt, und er hatte ihn schnell beiseite geschoben. Schiff in Ordnung, Besatzung — er scheute sich auch jetzt, jenes traurige und schwerwiegende Wort zu denken. Ja, wenn die Rakete Bocksprünge veranstaltet hätte und die Besatzung würde um Hilfe rufen, das wäre eine verständliche Angelegenheit. Komisch, eine unbekannte Gefahr macht die Sinne rebellisch, man schnüffelt, tastet und horcht, und begreifen hat plötzlich wieder etwas mit seinem ursprünglichen Wortsinn zu tun, mit anfassen … Ja, das ist unbedingt das richtige für Pollux — soll er begreifen, soll er anfassen!
Der Kommandant nagte an seiner Unterlippe. Dann rief er noch einmal das Archiv an: „Suchen Sie die Protokolle aller Fälle heraus, in denen havarierte Raketen ferngesteuert gelandet wurden. Es müssen drei oder vier sein. Geben Sie ihm die auch zu lesen. Und achten Sie darauf, daß er wirklich liest. Aber lassen Sie sich auf keine Diskussion ein!“
Die Besatzung der Havarierakete lag keuchend auf ihren Profilbetten. Der ungeheure Andruck preßte ihre Körper in die Schaumgummiformen. Der Pilot hielt in der Hand den Unterbrecher, einen Gummiball, der beim Zusammendrücken der Hand pneumatisch den Antrieb ausschalten würde, eine einfache, aber unersetzliche Vorrichtung für Havarie- und andere Spezialschiffe, die oft die Beschleunigung bis an die Grenze des Erträglichen steigern mußten. Plötzlich leuchteten über den Liegen rote Lampen auf. ein Gong ertönte, Sicherungsreifen schoben sich halbkreisförmig über die reglos liegenden Gestalten und rasteten hörbar ein. Das Summen des Antriebs erstarb, und die Körper, von den Fesseln ihres achtfachen irdischen Gewichts befreit, hoben sich auf den Liegen. „Halbzeit!“ meinte der Triebwerksingenieur in einem Ton, als gehöre solch ein Flug zu seiner täglichen Ausgleichsgymnastik. Die Havarierakete war am Wendepunkt ihrer Flugbahn angelangt, sie befand sich jetzt weiter vom Mond entfernt als die FR 17. Die Besatzung wußte, daß die Rakete sich jetzt drehen mußte, um den Flug wieder abzubremsen, und wußte auch, daß man nach dem heftigen Andruck diese Drehung nicht bemerken würde.
Schon glimmte ein grünes Licht auf, die Männer korrigierten ihre Lage, die sich bei dem einen oder anderen etwas gegen das vorgeformte Profil verschoben hatte. Und dann saß ihnen wieder dieser fürchterliche lähmende Druck auf der Brust, der nun, nach den Sekunden der Schwerelosigkeit, noch unerträglicher zu sein schien. Noch etwa fünf Minuten vergingen so, dann kündigte ein blaues Licht das Ende des Manövers an. Das Gewicht sank auf die normale irdische Größe — freilich immer noch das Sechsfache dessen, was sie als „Luniks“ — wie sie sich in ihrem Jargon nannten — gewöhnt waren.
„Junge, Junge!“ stöhnte der Arzt, mehr um sich selbst zu hören als um den anderen etwas zu sagen. „Junge, Junge, wenn man bedenkt, daß die früher nur so geflogen sind!“
„Nicht sprechen!“ sagte der Pilot, der hier, in der Rakete, Befehlsgewalt hatte. „Glieder lockern!“ Die vier tappten und sprangen in ihren verschiedenfarbigen Kombinationen wie Tanzbären umher. Dann kam das nächste Kommando: „Reaktionstraining!“ Sie stellten sich zu Paaren auf und führten eine Art Boxkampf aus, bei dem es jedoch darauf ankam, daß keiner den anderen traf.
Schließlich winkte der Pilot ab. „Beenden! Hat jemand Hunger? Durst? Übelkeit? Schmerzen? Gut, dann alles auf die Plätze! Anschnallen! Übrigens Doktor“, sagte der Pilot, während er die üblichen Handgriffe ausführte, die zum Übergang von Programmsteuerung auf Befehlssteuerung nötig sind, „wenn Sie mit irgend etwas nicht klar kommen, dann müssen Sie das sofort sagen. Das kleinste bißchen falsche Scham kann uns alle … Na, Sie verstehen schon. Ich sage das auch nur, weil Sie neu sind in unserm Verein, nicht weil ich Angst habe, daß Sie den ersten Arzt nicht würdig vertreten werden. Klar?“
„Na ja, ich bin ein bißchen aufgeregt, das gebe ich zu, aber das hat nichts zu sagen …“
„Hat sehr viel zu sagen. Können Sie operieren, wenn Sie aufgeregt sind? Wie ist das?“
„Na, wie soll ich das beschreiben … Wenn ich am Tisch stehe, spüre ich nur noch die Körperteile, die unmittelbar an der Arbeit beteiligt sind: Kopf, Hände, Arme …“
Während er das Gespräch mit dem Arzt fortsetzte, um ihm die gefährlichen Hemmungen vor dem Unbekannten zu nehmen, die ein Ernstfall oft auch nach langem Training noch hervorruft, hatte der Pilot eine dunkle Glaskugel zu sich herangezogen, einen Globus ohne Meere und Kontinente, aber mit Längen- und Breitengraden: das Anzeigegerät des Umgebungsradars. Die Kugel drehte sich, und von Pol zu Pol, dem Gesicht des Piloten zugekehrt, zog sich ein Leuchtstreifen, der auf diese Weise nach dreißig Sekunden, der Umdrehungszeit der Kugel, einmal die Umgebung abgetastet hatte. Endlich zeigte sich ein Lichtknoten auf der Linie, der noch ein wenig nachleuchtete, als die Kugel sich weiterdrehte. „Da haben wir sie!“ murmelte der Pilot, stellte das Zielradar auf die ermittelte Länge und Breite ein, faßte die Rakete FR 17 auf und brachte ihr Radarbild unter das Fadenkreuz. Dann schaltete er das Kurskommandogerät dazu und rief: „Achtung!“ Die Männer spürten, wie ihr Gewicht um ein weniges abnahm. Der Pilot drehte weiter an seinen Knöpfen, so daß das Radarbild immer unterm Fadenkreuz blieb, während das Gradgeflecht seitwärts auswanderte. Nach einigen Minuten tönte ein Gongschlag, das Gewicht stieg wieder leicht an, und der Pilot rief: „FR siebzehn fünfhundert Meter querab steuerbord! Schutzbrillen aufsetzen!“
Dann schob sich außenbords langsam die Blende vor einem der Fenster zurück. Das Bild, das sich der Besatzung bot, würde man unter normalen, irdischen Bedingungen als erschreckend bezeichnen müssen. Aber was heißt im Raum schon normal! Unten ist immer das Triebwerk, oben die Spitze der Rakete. — Vor ihnen jedoch erhob sich, wie eine drohend überhängende, endlose Felswand die zerklüftete Mondoberfläche, grell gleißend mit tiefschwarzen Schatten. Und zwischen ihnen und dem Mond, aufrecht auf ihrem Bremsstrahl stehend, scheinbar unbeweglich die FR 17.
Sie riefen die FR über die verschiedenen in Frage kommenden Frequenzen des Hör- und Sichtfunks. Ergebnislos. Sie gaben schließlich das Notsignal, das eine optische Verständigung ermöglicht: Eine Natriumdampfwolke wurde in die Antriebsgase geblasen, so daß der Staustrahl intensiv gelb aufleuchtete — wiederum ergebnislos.
Sie drehten eine Runde um die FR 17 — immer mit dem Sicherheitsabstand von 500 Metern — und beobachteten die Rakete von allen Seiten. Der Leiter der Raketenausbesserungswerft, Osterriem, betrachtete durch ein Fernrohr die Außenhaut der Rakete — sie schien unverletzt. Der Triebwerksingenieur Bernaud maß Länge, Spektrum und Gamma-Intensität des Staustrahls — keine Abweichungen vom Normalen. Aber die Rakete schwieg.
„Im Mittelalter gab es Ortschaften, die von der Pest entvölkert waren“, sagte der Arzt, und er sprach unwillkürlich leise, „aber man konnte sie daran erkennen, daß kein Rauch aus den Schornsteinen stieg!“
„Vielleicht behaupten Sie noch“, brummte Bernaud ziemlich verächtlich, „daß die da drüben eine Tsetse-Fliege an Bord haben, die sie mit der Schlafkrankheit infiziert hat!“
„Ruhe im Schiff!“ befahl der Pilot. Als Testpilot der Ausbesserungswerft hatte Leif Johanson von allen Angehörigen des Havariekommandos die meisten Flugstunden und also auch die meisten Raumerfahrungen, aber trotzdem und trotz seines ruhigen und entschlossenen Wesens mußte auch er an sich halten, daß er nicht mit irgendwelchen dummen Redereien seiner Besorgnis um die beiden Genossen der FR 17 Luft machte. Er spürte an sich selbst, wie es alle drängte, die innere Spannung in sinnvollem Handeln zu entladen. Er wußte auch, daß er es jetzt am leichtesten hatte, denn er tat ja etwas, er lenkte die Havarierakete, während die anderen nur warten konnten. Deshalb rief er sofort nach Beendigung der Verständigungsversuche den Kommandanten an. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht des Gerufenen. Der Pilot schilderte ihm die bisherigen, negativ verlaufenen Untersuchungen.
Der Kommandant wiegte den Kopf. „Tja — da werdet ihr wohl anklopfen müssen, mein Lieber!“
„Dachte auch so!“ bestätigte Johanson. „Wird ein hartes Stück Arbeit werden!“
„Was hilft's!“ antwortete der Kommandant, ebenso wie der Pilot bewußt große Worte vermeidend. „Versucht es mit dem Netz. Bereitet euch auch schon auf den Einstieg vor. Aber erst nur anklopfen. Und gebt mir die FR siebzehn ins Bild!“
Die Männer bereiteten sich vor. Was nun folgen sollte, war eins der schwierigsten Manöver in der damaligen Raumfahrt, wenn nicht das schwierigste und gefährlichste überhaupt. Jeder Antrieb — also auch der Bremsantrieb — übt ja auf die Rakete und ihre Besatzung die gleiche Wirkung aus wie die Schwerkraft auf die Bewohner der Erde. Wer also einfach wie beim antriebslosen Flug aus der Rakete aussteigen wollte, würde nicht neben der Rakete schweben, sondern an ihr vorbei ins Bodenlose fallen und wahrscheinlich vom Gasstrahl der Triebwerke erfaßt werden und verbrennen.
Er müßte sich also an irgend etwas festhalten können. Vergleichsweise könnte man sich die hier vorliegende Situation so vorstellen: Die beiden Raketen sind Türme, die auf benachbarten Berggipfeln stehen und zwischen denen ein endloser Abgrund gähnt. Man soll nun vom ersten Turm über den dazwischenliegenden Abgrund hinweg zum zweiten Turm gelangen und dort irgendwelche Arbeiten ausführen. Luftbeförderungsmittel scheiden aus, da ja keine Luft vorhanden ist. Wahrhaftig eine alpinistische Aufgabe!
Dabei hinkt dieser Vergleich noch auf einem Fuß: Berggipfel stehen unverrückbar fest — aber bei diesen beiden „Türmen“ genügt eine geringe Schwankung im Antrieb des einen, und schon verschieben sich die „Türme“ gegeneinander um Dutzende von Metern! Außerdem haben die „Bergsteiger“ zusätzlich zu Werkzeugen und Geräten noch ihren gewichtigen Raumanzug zu tragen — alles in allem keine beneidenswerte Aufgabe. Aber für die Besatzung der Havarierakete gab es solche Erwägungen natürlich nicht. Es ging um das Leben von Genossen.
Der Pilot wandte sich an die anderen. „Wir schießen ein Seil hinüber! Kurt untersucht die FR, Tom sichert, Henri bleibt hier und bereitet alles vor für den Fall, daß wir eindringen müssen. Noch Fragen? Gut. Ich schieße!“
Er schwenkte seinen Sitz, bis er eine bisher unbeleuchtete Mattscheibe vor sich hatte, drehte an Knöpfen, schaltete, stellte Skalen ein, und dann, als er auf dem Bildschirm die FR im Fadenkreuz hatte, löste er aus.
Die anderen, die aus dem Fenster sahen, erblickten einen Feuerschweif, der allmählich kleiner wurde. Eine kleine Rakete flog zur FR hinüber und zog ein Seil hinter sich her, das von einer Seiltrommel im Innern der Havarierakete abrollte. Als die Seilzugrakete über dem Kopf der FR stand, wurde die Trommel blockiert, und das Seil riß aus dem Körper der kleinen Rakete ein Netz heraus, das sich entfaltete, auf die Spitze der FR fiel und dort hängenblieb.
„Es sitzt!“ rief der Arzt. „Sogar ziemlich zentral!“ bestätigte Osterriem. Der Pilot stand auf, nahm ein Fernglas und betrachtete sorgfältig das hellgelbe Seil, das, leicht durchhängend, die beiden Raketen verband. „Wir könnten noch zwei Längen Vorsprung gebrauchen, sonst müßt ihr zu viel hangeln!“ sagte er endlich. Aber Osterriem, der schon in den Raumanzug gestiegen war, winkte ab und gestikulierte. Der Pilot legte das Sprechgerät an und fragte, was los sei. „Du hast den Mond dahinter, das täuscht!“ behauptete Osterriem. „Also gut!“ entschied der Pilot. „Macht euch auf die Reise!“
Osterriem und Tom Harrar, der junge Arzt, überprüften noch einmal gegenseitig ihre Ausrüstungen und begaben sich in die Schleuse. Als die Pumpen die Luft abgesaugt hatten, drehten sie das Außenschott auf. Unmittelbar über ihren Köpfen lief das Führungsseil aus einem der Ausstoßrohre hinaus in den Raum und verschwand in der Ferne. Weit vor ihnen stand die FR 17 auf ihrem Staustrahl. Osterriem zeigte auf eine der Seiltrommeln, die an der Wand der Schleuse hingen. Tom Harrar nahm sie herunter, befestigte sie am Rücken des Gefährten und klinkte den Karabinerhaken des Transportseils in einen Ring auf dem Boden der Schleuse. Nun band Osterriem die 5-m-Sicherungsleine vom Gürtel, befestigte sie am Ausstieg und turnte hinaus. Sorgfältig klinkte er die beiden Rollen vor Bauch und Brust und das Seil ein und prüfte ihren Sitz. Dann meldete er: „Fertig zur Seilfahrt!“
„Abfahren!“ tönte die Stimme des Piloten aus den Kopfhörern. „Leine los!“ befahl nun Osterriem, und der Arzt löste die Sicherungsleine vom Rand des Ausstiegs. Mit den Armen stieß sich Osterriem kräftig von der Außenhaut der Havarierakete ab und schwebte, die Beine voraus, in den Raum hinein. Je weiter er sich von der Rakete entfernte, desto schneller wurde dank der Neigung des Seils die Fahrt.
Bisher hatte Kurt Osterriem wenig Zeit gehabt, an das Schicksal der beiden Astronauten zu denken, auf deren Rakete er jetzt zuflog. Die Vorbereitungen der Seilfahrt hatten alle Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Nun, da er scheinbar bewegungslos zwischen den beiden silbernen Türmen hing und nur darauf zu achten hatte, daß er dem gelben Seil nicht zu nahe kam, das dicht vor ihm mit rasender Geschwindigkeit durch die Rollen schoß, nun fragte er sich: Du kennst doch die Raketen wie deine Westentasche — gibt es irgendein Teil, irgendein System der Rakete, durch dessen Ausfall dieser absurde Widerspruch zu erklären wäre, daß auf der einen Seite die automatische Verbindung vollständig funktioniert, die Besatzung jedoch auf keinerlei Signale antwortet? Er ging in Gedanken noch einmal die ganze Konstruktion der Rakete durch — es gab keine Erklärung. Zum Spekulieren aber war er nicht der Mann. Also, schloß er seine Überlegungen, müssen wir eben weitersehen.
Er spürte, daß der tiefste Punkt des Seils überschritten war, daß er sich schon auf dem ansteigenden Teil befand, der die vorher gewonnene Bewegungsenergie wieder aufbrauchte. Er richtete seinen Blick fest auf die Außenhaut der FR 17, in der stillen Hoffnung oder Befürchtung, schon jetzt etwas zu entdecken, irgendeine Veränderung, die er den wartenden Kameraden würde mitteilen können. Aber die riesige Spindel schimmerte makellos. Er hatte sich ihr jetzt bis auf etwa 100 m genähert, und seine Fahrt war nun auch schon merklich langsamer geworden. Noch 80 Meter schätzungsweise, noch 50, 30, 20 — 10 Meter vor der FR 17 war er auf dem toten Punkt. Mit den Händen schob er sich die letzten Meter bis zum Netz, zog die immer noch nach unten baumelnde Sicherungsleine herauf und hakte den Karabinerhaken in den Netzring ein. Dann setzte er sich in eine der quadratmetergroßen Maschen des Netzes, mit dem Rücken an die Außenhaut der Rakete gelehnt, und befestigte die Trommel des Transportseils, die er vom Rücken genommen hatte, an einem Knotenpunkt des Netzes. Auf diese Weise waren jetzt die beiden Raketen durch zwei Seile miteinander verbunden: durch das herübergeschossene Leitseil und durch das Transportseil, das er auf dem Rücken mitgebracht hatte.
„Alles klar?“ fragte die Stimme des Piloten, der von der Havarierakete aus die kleine rote Gestalt gespannt beobachtete. „Drei Maschen unter dir und dann zwei Maschen links ist ein Fenster. Klopfe an!“
Es war eine kurze, aber anstrengende Klettertour, die Kurt Osterriem bewältigen mußte. Denn während bei Außenbordarbeiten im antriebslosen Flug alles gewichtslos ist, hatte ja hier jeder Körper sein normales irdisches Gewicht. Man kann das nicht oft genug betonen, denn immer noch ist die Ansicht weit verbreitet, daß im Raum alles leicht ist oder ganz und gar vom Automaten erledigt wird und daß die körperlichen Kräfte und das handwerkliche Geschick des Menschen überhaupt keine Rolle mehr spielen oder nur noch eine untergeordnete. Natürlich ist der Anteil der geistigen Arbeit bei normalem Ablauf höher als in so einer Ausnahmesituation, die immerhin selten eintritt, aber dieser Fall zeigte ja, daß jeder zu jeder Zeit Kraft und Geschick parat haben mußte und auch hatte.
Osterriem kletterte also, die Netzmaschen ausnutzend, an der senkrechten, silbergrauen Wand herunter und seitwärts, bis er das Fenster vor sich hatte. „Achtung, ich schalte die Funkverbindung ab!“ erklärte er. Ein Griff an den Helm — und das Summen erlosch. Plötzlich kam ihm diese Rakete, auf der er herumkletterte, kalt, tot und feindlich vor. Wie kommt es, daß das Gehör stärker als andere Sinne auf das Gefühl einwirkt? Liegt es vielleicht daran, daß wir Dunkelheit, also Gesichtslosigkeit, täglich erleben, Geräuschlosigkeit dagegen fast nie?
Kurt preßte den Helm an die Wand. Sofort übertrug sich das dumpfe Brausen der Antriebsaggregate, und in diesem Augenblick kam ihm fast schmerzhaft und zum ersten Mal mit aller Deutlichkeit zu Bewußtsein, daß hinter dieser Wand Menschen sein mußten, Genossen, die auf ihn warteten — hoffentlich noch auf ihn warteten …
Er zog ein Metallwerkzeug aus dem Gürtel und schlug gegen die Wand, einmal — Pause — zweimal — Pause — dreimal. Dann horchte er. Aber er hörte nur seinen eigenen Herzschlag. Noch einmal wiederholte er das Signal, diesmal mit größerer Anstrengung. Ihr müßt euch doch melden! Und wenn die ganze Technik zum Teufel ist, und wenn ihr nicht aufstehen könnt — an irgendeine Wand klopfen kann man doch immer! Aber es kam keine Antwort. Kurt nahm den Helm von der Wand, das Rauschen hörte wie abgeschnitten auf, er schaltete die Funkverbindung wieder ein und sagte mit tiefer Enttäuschung in der Stimme: „Nichts!“ Aber die erregte Stimme des Piloten riß ihn aus seiner Stimmung.
„Achtung! Meteorit innerhalb der Sicherheitszone! Mit automatischen Kursänderungen ist zu rechnen. Halte dich fest! — Achtung!“ Im gleichen Moment spürte Osterriem, wie er gewichtslos, wurde. Die Kraft seiner bis dahin angespannten Muskeln stieß ihn von der Bordwand weg, er zog einen Teil des Netzes mit sich, griff noch nach dem Längsfaden, löste sich aber doch aus dem Netz und schwebte neben dem Raumschiff. „Zieh dich an der Sicherungsleine hoch!“ rief der Pilot, aber das wäre nicht nötig gewesen. Kurt wußte, was zu tun war, zog sich an den Netzring heran, befestigte die Füße am Netz, die linke Hand — und in diesem Augenblick setzte der Bremsantrieb wieder ein. sein eigenes Gewicht schleuderte ihn herum, er schlug mit dem Helm hart gegen die Bordwand, spurte noch einen heftigen Schmerz am Kopf und verlor das Bewußtsein.
„Kurt, melde dich! Osterriem! Wenn du mich verstehst, bewege einen Arm oder ein Bein! Kurt!“
„Er scheint bewußtlos zu sein, holen Sie ihn zurück!“ sagte der Kommandant besorgt; er hatte den Vorgang im Bildfunk beobachtet. „Sie haben schnell und gut reagiert, ich danke Ihnen!“
Der Pilot gab die nötigen Anweisungen an den Arzt, dann antwertete er: „Wir haben die gleiche Steuerautomatik wie die FR siebzehn, ich habe sie sofort eingeschaltet, als der Meteorit gemeldet wurde, dadurch wurde wenigstens das Seil nicht zerrissen. Was nun weiter?“
„Melden Sie mir, was mit Osterriem ist. Sie erhalten dann weitere Anweisungen.“
„Nicht nötig!“ sprach Osterriem dazwischen. „Ich bin schon wieder — ah! —, was ist denn überhaupt los? Ich war wohl gerade — verflucht noch mal — weggetreten?“
„Bist du verletzt? Soll Tom hinüberkommen?“
„Bist du heiser, oder brummt mir der Kopf so? Nein, ich schaffe es allein!“
Der Kommandant schaltete sich ein. „Es wird nicht gerade Musik in Ihren Ohren sein, aber tatsächlich hat die Sache auch ihr Gutes!“
„Davon merke ich hier nichts, aber es wäre ganz interessant zu hören, wieso?“
„Weil es beweist, daß die Steuerautomatik der FR siebzehn völlig intakt ist, so daß wir uns wahrscheinlich weitere Untersuchungen sparen können! Haben Sie noch einen Wunsch?“
„Ja, verdammt! Ich möchte gern wissen, was mit den Leuten hier drin los ist!“
„Na, wenn Sie Ihren Humor schon wiederhaben, wird's ja nicht so schlimm sein. Also, gehen Sie zurück an Bord und kühlen Sie Ihre Beule. In fünf Minuten weitere Anweisungen. Ende.“
Ilja Fejnberg, der Flughafenkommandant, immer noch in der Navigationszentrale, drückte die Sprechfunktaste, die ihn mit dem Archiv verband. „Haben Sie gelesen?“ fragte er.
Pollux, mißmutig über den Aktenstaub und die trübe Ungewißheit, antwortete: „Kommandant, ich bitte, von der Rettungsaktion nicht ausgeschlossen zu werden!“
„Ich habe Sie gefragt, ob Sie gelesen haben!“
„Ja.“
„Auch das Material, das der Archivar inzwischen zusammengestellt hat?“
„Ich will meinen Freund retten!“ schrie Pollux. „Wenigstens helfen! Das können Sie mir nicht verweigern!“
„Sie sind eben dabei, falls Sie das noch nicht gemerkt haben sollten! Retten muß man mit dem Kopf, nicht mit den Stimmbändern! Also was ist, haben Sie alles gelesen?“
„Ja.“
„Dann kommen Sie jetzt hierher und berichten mir über die einzelnen Havarieursachen. Aber kurz, wenn ich bitten darf. Ende!“ So was! dachte der Kommandant. Und mit so was soll man nun … Aber er war ein erfahrener Kommandant und hatte sich seit langem abgewöhnt, solcherlei Gedanken zu Ende zu denken. Der Bericht, den Pollux geben konnte, brachte nicht allzuviel Neues. Einmal war der Kopilot vom Raumkoller befallen worden und hatte die Sicht- und Hörfunkgeräte zerschlagen. Es war eine Kurzschlußhandlung, vergleichbar etwa einem Fall, in dem jemand aus Angst vor dem Feuer in ein brennendes Haus läuft. Dem Piloten war es gelungen, seinen Kollegen zu überwältigen. Für den jetzigen Fall schied diese Ursache aus, denn Raumkoller gab es auf solchen Kurzstrecken schon lange nicht mehr — die psychologischen Trainingsmethoden verhinderten das. Auch die anderen Archivfälle ergaben keine Anhaltspunkte, denn die jeweiligen Ursachen waren sofort bei der weiteren Verbesserung der Konstruktion, des Dienstbetriebes und der Kontrolle behoben worden. Als Pollux geendet hatte, schwieg der Kommandant eine Weile. Dann wandte er sich lebhaft dem Navigator zu: „Wenn die beiden sich auf Klopfzeichen hin nicht melden, gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit … Aber das werden wir erst dann glauben, wenn wir es sehen. Sie können ja zum Beispiel auch bewußtlos sein. Aber Krankheit und Vergiftung kommen nicht in Frage, die Prüfung der Bioströme vor dem Start schließt das aus. Eine technische Katastrophe jedoch, bei der Schiff und Steuerautomatik nicht beschädigt und nur die Menschen betroffen werden? Fast undenkbar. Und doch — sie antworten nicht. Was denken Sie?“
Pollux wunderte sich, daß der Kommandant gerade ihn fragte, aber er wollte deswegen nichts sagen, und eine Antwort auf diese Frage wußte er auch nicht.
„Damit wir uns recht verstehen — ich weiß natürlich, daß Sie diese Frage jetzt genausowenig beantworten können wie ich. Aber Sie sollen mich auf Denkfehler aufmerksam machen! Verstanden?“ Er sah, daß Pollux ihn nicht verstand, winkte ab, wandte sich wieder dem Pult zu und ließ sich mit dem Transit-Satelliten verbinden, von dem aus die Frachtraketen zum Mond starten. Aber der dortige Kommandant versicherte ihm nach einem Blick in das Abfertigungsprotokoll, daß alles normal verlaufen sei. Auch von der Brigade, die FR 17 beladen und kontrolliert hatte, erfuhr er nichts Neues. In den viertelstündlichen Raumzustandsberichten, die das Auftreten nichtkatalogisierter Meteoritenschwärme und andere Unregelmäßigkeiten meldeten, hatte er schon vorher erfolglos gesucht. Und außerdem war ja das Raumschiff äußerlich nicht beschädigt.
„Da stimmt was nicht!“ sagte Pollux, der sich in den zweiten Sessel gesetzt hatte und den Kurs der FR 17 beobachtete. „Sie sind jetzt in die Landezone eins eingetreten, da müßte sich die Bremsung ändern!“ Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da schrillte auch schon die Klingel des Kurs-Registrier-Automaten und meldete, daß die FR 17 vom programmierten Kurs abgewichen war. Pollux' Finger flogen über die Eingabe-Tastatur des Kursrechners. Sekunden später hielt er das Ergebnis in den Händen: Bremsantrieb und -richtung hatten sich beim Eintritt in die Landezone I nicht geändert, im Gegensatz zum Programm, im Gegensatz zum Landemanöver, das jetzt eine stärkere Bremsung erforderte, wenn die Rakete nicht zerschellen sollte.
Die Gedanken des Kommandanten überstürzten sich. Der Autopilot blockiert? Die Steuerung defekt? Oder — sind sie wieder zu sich gekommen? Er griff zum Mikrophon, schaltete und rief: „Hier Hafenkommandant! FR siebzehn — melden Sie sich! FR siebzehn — melden Sie sich!“ Er schaltete um, aber der Lautsprecher brummte nur leise. Noch zweimal wiederholte er den Ruf, dann stand er resignierend auf, legte die Hände auf den Rücken und ging im Raum auf und ab. Nur jetzt klar bleiben! Jetzt nachdenken, scharf nachdenken — umfassend wie eine Bibliothek und präzise wie eine Rechenmaschine! Also — was ist geschehen?
„Hören Sie mir zu, und unterbrechen Sie mich rücksichtslos, wenn ich Unsinn rede!“ befahl er Pollux. „Also: Die automatische Steuerung, die eben noch funktionierte, versagt jetzt. Halt, das ist unscharf, genauer gesagt: Das Raumschiff weicht in dem Augenblick vom programmierten Kurs ab, in dem die Steuerung verändert werden muß. Aber das Ausweichmanöver kurz vorher wurde noch exakt ausgeführt! Moment mal — ja, so ist es ganz genau formuliert: Nach Ende des Ausweichmanövers blieb die Steuerung unverändert. Etwa zehn Minuten lang entsprach das dem Programm, wurde also nicht bemerkt …“
Der Kommandant verstummte; er hatte das deutliche Gefühl, dem wirklichen Sachverhalt auf der Spur zu sein. Wer Gedankenarbeit gewöhnt ist, kennt dieses Gefühl. Es entsteht, wenn, verwirrende Einzelheiten plötzlich beginnen, sich in einen Zusammenhang einzuordnen, so wie beim Schulversuch die Strohhalmstückchen in das elektrische Feld zwischen, den Kondensatorplatten.
Also vom Schluß des Ausweichmanövers an reagierte die Steuerung nicht mehr. Aber wenn die Besatzung fähig gewesen wäre einzugreifen, warum hätte sie den Autopiloten abschalten sollen? Und wenn die Besatzung aktionisunfähig war — was hätte den Autopiloten blockieren können?
„Wir müssen jetzt etwas tun!“ Pollux brach in den Gedankengang des Kommandanten ein, doch er hatte recht, und außerdem war er ja aufgefordert gewesen, seine Meinung zu sagen, wenn auch nicht ganz in diesem Sinne.
Der Kommandant unterdrückte seinen Ärger und setzte sich wieder. „Richtig!“ sagte er. „Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit. Ja, jetzt gibt es überhaupt nur noch eine Möglichkeit …“ Und er stellte noch einmal Sichtverbindung mit der Havarierakete her.
Henri Bernaud im grünen und Tom Harrar im orangefarbenen Raumanzug hingen im Netz vor dem Einstiegluk der FR 17. Ringsumher, in Reichweite ihrer Arme, baumelten Werkzeuge und Geräte. Der Ingenieur nahm einen Stift aus einem Futteral — unter normalen Verhältnissen hätte man ihn für einen Lippenstift halten können — und zeichnete den Umriß eines großen Quadrats mit abgerundeten Ecken auf den Lukendeckel: die radioaktive Spur, der das automatische Laser-Schneidgerät folgen würde. Es sah aus wie ein kleiner Schreitbagger oder wie eine große Spinne, und nachdem Henri Bernaud es auf die Spur gesetzt hatte, erschien unter dem „Kopf“ ein glühender Punkt auf dem Metall, dann ein kleines Dampfwölkchen — das geschmolzene Metall, das durch den Luftdruck von innen herausgeschleudert wurde —, und dann setzte sich das Gerät langsam in Bewegung, seine „Beine“, zuerst ein Paar, dann noch ein Paar, setzten ihre Saugnäpfe nach vorn, während die übrigen zwei Paare den Körper hielten.
„Sprechen wir noch einmal das Programm durch!“ sagte Bernaud. „Wir haben knapp zwanzig Minuten Zeit, dann müssen wir am Steuerpult sitzen. Schaffen wir das nicht, sackt die Rakete durch und zerschellt. Zehn Minuten braucht die ,Spinne' zum Schweißen, zwei Minuten für uns, um in die Schleuse zu kommen, zwei Minuten in der Schleuse, drei für den Weg bis zur Zentrale. Bleiben immer noch drei Minuten Reserve. Es kann also eigentlich nichts schiefgehen. — Du weißt, was du in der Schleuse zu tun hast. Wo das Pflaster hängt? Gut. Dann wollen wir warten.“
Sie flogen inzwischen auf der Nachtseite des Mondes. Groß und leuchtend hing die Erde am Himmel, ihr wohltuendes Licht ließ das Raumschiff silbrig schimmern, dazu das orangene und grüne Leuchten ihrer Raumanzüge, in einigem Abstand der lange, rötliche Feuerschweif der Havarierakete — es war eins der Farbenspiele, die man nur im Kosmos erlebt, aber auch dort nicht alle Tage.
Tom Harrar entzog sich unwillig dem Zauber dieses Lichts. Das fehlte noch — jetzt in ästhetischen Genüssen schwelgen! „Was mag da drinnen los sein?“ sagte er, halb zu sich selbst, halb zu seinem Gefährten.
„Keine Ahnung!“ antwortete der. „Am Reaktor liegt es jedenfalls nicht, wenn du das meinst. Es ist überhaupt komisch — noch nie hat ein Reaktor eine Havarie verursacht, trotzdem denkt jeder zuerst an den Reaktor, wenn irgend etwas nicht in Ordnung ist. Eine völlig sinnlose und unwürdige Scheu vor allem Radioaktiven, ein Überrest aus dem zwanzigsten Jahrhundert, fast eine Art Aberglauben.“
Der Arzt war anfangs ein wenig verwundert über die heftige Vorlesung, die er als Antwort auf eine ganz anders gemeinte Frage erhielt, aber dann begriff er: Jeder Mensch hat einen Lieblings-Gedankengang, den er abspult wie ein Tonband, sobald ihm einer Gelegenheit dazu bietet. Trotzdem konnte er es sich nicht versagen, dem sehr selbstsicheren Ingenieur einen kleinen Hieb zu versetzen, eine — wie ihm schien — berechtigte Zurechtweisung. „Ich dachte dabei an die Menschen“, sagte er sanft.
Bernaud drehte ohne ein Wort den Kopf weg und betrachtete aufmerksam die Tätigkeit des Schneidautomaten. „Der Schnitt glüht zu lange nach!“ sagte er nach einer Weile. „Die Oxide werden den Spalt verkitten. Am besten, wir bringen gleich die Sprengladung an.“ Sie klebten in die vier Ecken des Quadrats je eine Haftladung und zogen sich dann etwa einen Meter vom Einstiegluk zurück. Inzwischen hatte auch die „Spinne“ ihre Arbeit beendet, schaltete sich aus, fiel von der Fläche ab und baumelte am Netz.
„Neun Minuten — ich zünde!“ rief Henri.
An den vier Ecken des Schnittquadrats flammten die Explosionen auf und vereinigten sich zu einer Rauchwolke, die aber von den Resten der herausdringenden Schleusenluft sofort weggeblasen wurde. Im Einstiegluk gähnte ein großes Loch.
Die Platte, die jetzt auf dem Boden der Schleuse lag, war in Form eines Pyramidenstumpfes ausgeschnitten worden, mit der kleineren Grundfläche nach außen, so daß sie nur wieder eingesetzt und von innen mit Metallfolie verklebt zu werden brauchte; mit einer Folie, die in jedem Raum jedes Schiffs vorhanden und greifbar war, weil sie zum provisorischen Abdichten von kleineren Löchern diente, die beim Einschlag von Kleinstmeteoriten manchmal entstehen.
Tom Harrar hatte diese Arbeit schnell erledigt und klebte zur Sicherheit sogar noch ein Kreuz quer über die ganze Fläche. Bernaud hatte inzwischen den Schleusenmechanismus bedient, die Schleuse füllte sich mit Atemluft, von der Decke und von allen Seiten sprühte die Entgiftungsflüssigkeit auf sie ein. Als die ganze Prozedur überstanden war. öffneten sie die Helme. Henri blickte auf die Uhr und sagte: „Zwölfeinhalb Minuten — los.“
Er drückte den Hebel der inneren Schleusentür, die ins Raumschiff führte — aber die Tür öffnete sich nicht. Noch einmal — ebenfalls ohne Erfolg. „Geh ein Stück zurück!“ sagte er, nahm die Laser-Pistole vom Gürtel und richtete sie auf die Stelle, hinter der der Schließmechanismus lag. Ein roter Punkt glühte auf — zehn, zwanzig Sekunden —, die Tür schwenkte auf.
Sie stürzten in den Gang, aber nach zehn Schritten stießen sie wieder auf eine verschlossene Tür. „So geht es nicht!“ keuchte der Ingenieur. „Noch sechzehn Türen bis zur Zentrale — das sind acht Minuten — hör mal, du arbeitest dich zur Zentrale vor, ich gehe hier lang!“ Er drehte sich um und lief in entgegengesetzter Richtung.
„Was willst du tun?“ rief der Arzt ihm nach.
„Wundere dich nicht, wenn das Licht ausgeht!“ rief der Ingenieur, während er schon die nächste Tür mit der Laser-Pistole bearbeitete. Die Tür flog auf. Ein Blick auf die Uhr: noch sieben, nein, sechseinhalb Minuten. Hier mußte irgendwo der zentrale Kabelschacht sein … Da, das Mannloch, fünf Flügelschrauben. Hastig begann er sie loszudrehen, die erste, die zweite, die. dritte, verdammt, geht die schwer, die vierte, die fünfte — der Deckel polterte herunter. Da lag sie, die Seele des Raumschiffs: der Hauptkabelstrang. Noch zwei Minuten. Jetzt Präzision! Er verschloß den Helm, kniete nieder und hob die Pistole. Die Hand zitterte. Er legte sie auf den Rand des Mannlochs auf, visierte und drückte ab. Qualm drang aus dem Loch, dann ein greller Blitz — es wurde dunkel, die Notbeleuchtung schaltete sich ein, und dann fühlte er, wie sein Gewicht verschwand. Der Reaktor hörte auf zu arbeiten. Geschafft!
Tief atmend entledigte er sich seines Raumanzugs. Die halbe Stunde Zeit, die sie jetzt dadurch gewonnen hatten, daß die Flugbahn in bezug auf die Mondoberfläche nun gestreckter verlief — diese halbe Stunde würde dreimal reichen, das Schiff manövrierfähig zu machen. Sie brauchten nur das Reservekabel anzuschließen und … Während er sich in Gedanken schon die weiteren Maßnahmen zurechtlegte, stieß er sich mit sanften Stößen vorwärts, durch die von Tom geöffneten Türen hindurch, der Zentrale zu. Auch die andern wissen jetzt schon, daß alles geklappt hat, dachte er. Da sah er Tom. Der Arzt schwebte in der Tür der Zentrale. Sein Helm war geöffnet, das Gesicht aschgrau.
Der Hafenkommandant, Pollux, die Besatzung der Havarierakete, die dienstfreien Mitarbeiter des Mond-Kosmodroms und der wissenschaftlichen Institutionen des Mondes — alle hörten und sahen am Bildschirm den Bericht, den der Arzt Tom Harrar mit steinernem Gesicht gab.
„Der Pilot der FR siebzehn ist in Ausübung seines Dienstes einer noch nicht erklärbaren Katastrophe zum Opfer gefallen. Wir fanden ihn in unnatürlicher Haltung über den Pilotensessel gebeugt. Die Verletzungen, denen er erlegen ist, sind sämtlich innerer Natur, darunter ein Bruch des Rückgrats. In seiner verkrampften rechten Hand fanden wir die abgerissene Plombe der Beschleunigungssicherung. Der Kopilot liegt auf dem Profilbett. Er lebt, hat einer flüchtigen ersten Untersuchung zufolge keine ernsteren inneren Verletzungen, befindet sich jedoch in tiefer Bewußtlosigkeit. Weder in der Zentrale noch in denjenigen anderen Punkten des Raumschiffs, die wir bisher prüfen konnten, sind irgendwelche Beschädigungen oder andere Spuren gewaltsamer Einwirkung zu erkennen. Die einzige Abweichung vom Normalen ist die Stellung des Umschalters von der Programm- zur Direktsteuerung. Der Schalter stand in der Mitte, so daß die FR siebzehn überhaupt nicht mehr gesteuert wurde und der Antrieb den zur Zeit der Schaltung vorhandenen Zustand beibehielt. Offenbar ist der tote Körper des Piloten nach dem Meteoritenmanöver so unglücklich auf das Steuerpult gefallen, daß er den Umschalter auf diese Weise verschob. Wir wollen und können noch keine Schlußfolgerungen aus unseren Beobachtungen ziehen. Wir werden in fünfzehn Minuten landen und bitten, daß alle Vorbereitungen für die Rettung des Kopiloten und für eine gründliche Untersuchung des Raumschiffs und der Katastrophe getroffen werden. Ehre den Astronauten der FR siebzehn!'' Auch über den Mondflughafen am Rande des Mare Trinquillarum war inzwischen die Mondnacht hereingebrochen. Aber die Radaraugen des Navigationszentrums verfolgten aufmerksam die Landemanöver der FR 17. Auch mit bloßem Auge war der Feuerschein des Antriebs bereits zu erkennen, wurde größer und heller und überstrahlte bald die hellsten Sterne.
Mit bloßem Auge — das ist natürlich nur eine Umschreibung. Der Kommandant, Pollux und die Restbesatzung der inzwischen gelandeten Havarierakete saßen im Innern eines großen Kraterberges, der die Einrichtungen des Hafens barg, und der Lichtstrahl, der ihr Auge treffen wollte, mußte vorher ein Spiegelsystem und einige Panzerglasplatten durchlaufen. Dennoch handelte es sich um eine direkte Beobachtung, im Unterschied zum Funkbild, das auch bei größter Präzision und Originaltreue das direkte optische Bild nie wird ersetzen können — zumindest nicht in seinem emotionalen Wert.
Und der spielte hier aus verständlichen Gründen eine große Rolle. Alle waren tief erregt über das Schicksal der Besatzung der FR 17. Drei Dinge waren es, die — mit unterschiedlicher Kraft — die Nerven der Wartenden anspannten: der Tod des Piloten, die Rettung des Kopiloten und die Ergründung der Ursachen für die Katastrophe, von der ja bisher nicht einmal klar war, wie sie sich eigentlich ereignet und worin sie bestanden hatte.
Der Feuerschein war nun schon so hell geworden, daß er die Augen blendete. Der Kommandant richtete deshalb das Objektiv auf die Landefläche. Vor den Augen der Beobachter erschien, aus der Höhe des Kraterberges gesehen, eine im Ungewissen Licht der Vollerde schimmernde ebene Landschaft mit einem Ausschnitt des Sternhimmels darüber. Der eingeschaltete Rotfilter nahm wenig von der Lichtintensität der Landschaft weg, aber er dämpfte einigermaßen den Feuerschweif der Rakete, der sich nun ins Bild schob. Langsam, langsam senkte sich auch der silberne Leib der FR 17 ins Blickfeld, und nun sah man, wie sich der Strahl der Antriebsgase am Boden brach. Glühender Staub wirbelte auf, hüllte den unteren Teil der Rakete ein — und dann erlosch das Feuer. Die Rakete war gelandet.
Der Kommandant nahm den Rotfilter aus dem Spiegelsystem heraus. Man sah jetzt, daß der Boden unter der Rakete glühte, man sah aber auch durch die sich lichtende Staubwolke hindurch die langen Teleskopbeine, auf denen die Rakete stand. Von beiden Seiten rollten nun zwei mächtige Kettenfahrzeuge an, die mit ihrem schalenförmigen Brustschild wie übergroße Planierraupen aussahen. Sie stellten ihre Schilde senkrecht, fuhren an die Rakete heran und legten die Schilde an deren unteren Teil. Dann begannen sich die beiden Schilde mit der Rakete langsam in die Waagerechte zu drehen, die Fahrzeuge setzten sich in Bewegung und fuhren — für die Beobachter nun schon unsichtbar — in einen Tunnel hinein, der in die Wand des Kraterberges gebrochen worden war. Der Tunnel mündete in eine große Halle, an deren Stirnwand sich nebeneinander zehn riesige, kreisrunde Öffnungen befanden. In eins der Löcher steckten die beiden Raupenfahrzeuge die Rakete bis zu der kleinen Wulst, die den Nutzteii der FR 17 vom Antriebsteil trennte, so daß sich der radioaktive Teil des Raumschiffs in der Halle, der andere jenseits der Wand in der Arbeitszelle befand. Die beiden Fahrzeuge lösten ihre Schilde vom Körper der Rakete und fuhren in den Hintergrund der Halle zurück.
Inzwischen hatte in der Arbeitszelle die Entgiftung begonnen. Eine Dusche sprühte eine Spezialflüssigkeit über die Rakete, mit der sowohl radioaktive Partikelchen abgekühlt als auch etwaige schädliche biologische Keime abgetötet wurden. Erst dann wurde Luft in die Zelle gelassen, das Raumschiff konnte geöffnet werden und die Entladung beginnen.
Aber die Fracht — wen interessierte die jetzt! Schweigend legten die Männer das Profilbett mit dem bewußtlosen Kopiloten in den Luftkissenwagen, der Arzt stieg ein und fuhr davon. Dann stiegen sie wieder in die Rakete, gingen in die Zentrale und hielten am Pilotensitz eine Schweigeminute ab.
„Ich eröffne die erste Sitzung der Untersuchungskommission.“ Der sonst formelhafte Satz kam diesmal ernst und gewichtig aus dem Munde des Kommandanten. Er sah der Reihe nach die Mitglieder der Kommission an, in die er wie üblich alle, an der Rettungsaktion Beteiligten berufen hatte: den Piloten Leif Johanson, den Triebwerksingenieur Henri Bernaud, der zuletzt die FR 17 geführt hatte, den Leiter der Raketenausbesserungswerft Kurt Osterriem, dessen Stirn ein großes Pflaster zierte, den Arzt Tom Harrar und schließlich Pollux, den Navigator. „Ich bitte zunächst unseren Arzt um seinen Bericht!“
Tom Harrar, der jüngste in diesem Kreise, räusperte sich. „Es — es fällt mir schwer, etwas dazu zu sagen“, begann er stockend, „weil — weil ich eigentlich nichts sagen kann. Der Patient ist immer noch bewußtlos. Die körperlichen Funktionen laufen normal ab, allerdings stark verlangsamt. Das Enzephalogramm zeigt merkwürdige Veränderungen der Gehirntätigkeit, die ich nicht zu deuten weiß. Ich habe über den medizinischen Dienst der Weltraumbehörde bei dem berühmten Gehirnspezialisten Professor Mirano in Rom um eine Tele-Diagnose bitten lassen. Das ist alles.“ Er schwieg und blickte vor sich auf den Tisch. Es kam ihm jämmerlich vor, was er zu bieten hatte, und er deutete das Schweigen der anderen falsch. Als er aufsah, begegnete er dem nachdenklichen Blick des Kommandanten.
„Es ist also alles getan, was sich gegenwärtig für unseren Kameraden tun läßt?'' fragte Ilja Fejnberg noch einmal.
„Alles, was ich tun konnte!“ antwortete der Arzt bedrückt.
„Wenig genug!“ knurrte der Ingenieur.
Der Kommandant nahm den Kopf mit einem Ruck herum. „Wir stehen alle vor Rätseln. Jeder!“ sagte er scharf. Etwas gemäßigter wiederholte er: „Wir stehen alle vor Rätseln. Ich habe schon viele Untersuchungen geleitet, aber an einen so seltsamen Fall kann ich mich nicht entsinnen. Keine feststellbaren Schäden, keine Kursabweichung, die Piloten jedoch tot oder bewußtlos … Wir müssen uns darüber klar sein, daß dieser Fall schwerwiegende Folgen für die Raumfahrt haben kann. Wir müssen ihn klären, und zwar schnell. Dazu brauchen wir die Mitarbeit aller Anwesenden.“ „Wenn der Navigator nicht geschlafen hätte, wüßten wir mehr!“ behauptete Bernaud. Alle sahen Pollux an. Der sah starr über die Köpfe hinweg.
„Wüßten wir auch nicht mehr!“ antwortete der Kommandant leise, aber mit gefährlichem Unterton. „Für seine Nachlässigkeit wird er bestraft werden. Sie hatte aber keinen Einfluß auf die Ereignisse oder auf unser Wissen davon, weil die automatische Verbindung funktionierte. Hier jedoch —“ er wandte sich an den Ingenieur — „ist er Mitglied der Kommission, mit den gleichen Rechten wie Sie, Henri Bernaud, moralisch gesehen sogar mit größerem Recht, weil der Kopilot sein Freund war. Verzeihung — ist. Ich hoffe, das genügt Ihnen!“
Die scharfe Antwort hatte die Bedrücktheit, die anfangs auf allen gelastet hatte, ausgeräumt. Der Pilot nahm unaufgefordert das Wort, im Grunde aber mit dem Einverständnis aller, denn nach einem Streit zwischen zweien muß ein Dritter sprechen, wenn der Verhandlungston wieder sachlich werden soll.
„Wissen wir denn wirklich so wenig?“ fragte er. „Die Verletzungen unserer Genossen können nicht von anderen Menschen und nicht von Gegenständen außerhalb des Raumschiffes — etwa Meteoriten — herrühren. Also müssen sie von Gegenständen innerhalb des Raumschiffes stammen. Zerstörungen oder auch nur Beschädigungen wurden aber nicht entdeckt, wenigstens nicht in der Zentrale, wo sich beide aufhielten. Bleibt also nur ein Gegenstand: die Rakete selbst.“
Die anderen sahen sich überrascht an — nicht nur wegen der Länge der Rede, die für den wortkargen Johanson ungewöhnlich war. Aber im Grunde war es natürlich, daß gerade er auf die Lösung kam, denn er als Testpilot spürte ja schließlich fast jeden Tag die Wirkung hoher Beschleunigung am eigenen Körper. Es mußte einen plötzlichen, harten Anstieg der Beschleunigung gegeben haben, so daß die Piloten von ihrer eigenen Rakete gleichsam wie von einem Geschoß getroffen wurden. Das erklärte auch, warum der sitzende Pilot diesem Schlag erlegen war, während der liegende Kopilot ihn überstand — wenn auch nicht ohne ernsthafte Folgen. Aber Leif Johanson war noch nicht am Ende. „Wir wissen noch mehr!“ fuhr er fort. „Wir wissen den ungefähren Zeitpunkt des Ereignisses. Es muß in den fünfzehn Minuten stattgefunden haben, die der letzten PaN-Meldung folgten!“ Der Testpilot lehnte sich zurück, wie um die anderen zu Wort kommen zu lassen.
„Also zwischen zehn Uhr zwölf und zehn Uhr siebenundzwanzig“, murmelte Pollux. „Nein, das stimmt nicht“, sagte er dann lauter, „Kastor lag noch, und um zehn Uhr achtzehn war Ablösung … hätte er ablösen müssen …“
„Demnach hätten wir den Zeitraum schon auf sechs Minuten eingeengt!“ schaltete sich Osterriem ein. „Aber ich verstehe eins nicht: Warum in aller Welt läuft die automatische Verbindung in dieser Zeit normal?“
„Das sind doch alles Spekulationen!“ wandte der Ingenieur ein. „Wenn so etwas passiert wäre, müßte der Navigraph es auf Grund der automatischen Standortmeldungen verzeichnet haben!“
„Sie haben eine andere Erklärung?“ fragte der Kommandant. Der Ingenieur schüttelte verdrossen den Kopf.
Pollux wartete, ob noch jemand etwas sagen wollte. Dann gab er zu bedenken: „Die automatische Verbindung besteht nicht ununterbrochen. Sie wird im Dreißig-Sekunden-Takt aufgenommen und dauert jeweils eine halbe Sekunde. Theoretisch wäre es möglich.“ „Ein riesenhaftes Anwachsen der Beschleunigung, anschließend Abbremsen und Bahnkorrektur — und das alles in dreißig Sekunden?“ zweifelte Osterriem.
„Was ist denn in der automatischen Meldung enthalten?'' wollte der Arzt wissen.
„Normalerweise nur der Standort!“ antwortete der Kommandant für Pollux, der sichtlich angestrengt nachdachte. „Nur wenn wichtige Funktionssysteme ausfallen, wird das mitgemeldet.“
„Also die Rakete kann auf keinen Fall in dreißig Sekunden beschleunigen, wenden, bremsen, wieder wenden und korrigieren. Das ist Unsinn.“ Der Testpilot schüttelte den Kopf, wie um seine Worte zu bekräftigen.
„Theoretisch ist es möglich!“ beharrte Pollux. „Ich entsinne mich an einen Fall, an ein Meteoritenmanöver, das wir nur durch die PaN-Meldung erfuhren. Der Navigraph hatte es gar nicht verzeichnet. Es hatte aber anderthalb Minuten gedauert.“
Alle sahen überrascht auf. „Wie ist so etwas möglich?“ fragte der Arzt schließlich.
Pollux zuckte bedrückt mit den Schultern.
„Ich kenne den Fall“, erklärte der Kommandant, „die Ursache bestand einfach darin, daß die Ortung zu grob, zu ungenau war. Sie wurde damals verfeinert. Aber trotzdem — das hat mich auf einen Gedanken gebracht. Es gibt so etwas wie einen technischen Aberglauben, dem mit der Zeit mehr oder weniger jeder unterliegt. Ich meine folgendes: Wenn wir einmal eine Aufgabe den Automaten übertragen haben, dann hört sie im Grunde genommen auf, uns zu interessieren, weil wir wissen, daß die Automaten sie schneller, präziser und zuverlässiger erledigen, als wir das tun könnten. Das ist natürlich im allgemeinen richtig, aber es liegt auch eine Tendenz zur geistigen Bequemlichkeit darin, die uns in Ausnahmesituationen — wie jetzt — lahmen kann. Ich schlage vor, daß uns der Navigator noch einmal ausführlich das Zustandekommen, die Übermittlung, die Verarbeitung und die Aufzeichnung der Standortmeldung erläutert, obwohl wir — oder gerade weil wir diesen Prozeß in seinen Grundzügen kennen.“
„Das einzige, was uns weiterbringen kann, ist, daß wir die FR siebzehn noch einmal gründlich untersuchen!“ protestierte Bernaud.
„Das ist vollkommen richtig. Aber wenn man weiß, was man sucht, wird das Finden leichter. Sonst noch Gegenstimmen? Nicht? Dann los!“ Pollux strich sich über die Stirn. „Zunächst mißt das Orientierungssystem die Winkel zwischen verschiedenen Fixsternen und Sonne, Mond und Erde. Ein Rechenwerk errechnet dann aus den Winkeln und aus dem tatsächlichen Stand von Sonne, Mond und Erde zu diesem Zeitpunkt den Standort der Rakete und kodiert ihn …“
„Halt!“ rief der Kommandant. „Einen Augenblick bitte …“ Er dachte nach. „Wie groß ist die Genauigkeit der Standortmessung? Welche Fehlergrenzen hat das Orientierungssystem? Haben Sie die Zahlen im Kopf, Johanson?“
Der Pilot nannte einige Zahlen. Der Kommandant zog den Tischrechner heran und bearbeitete ihn mit flinken Fingern. Dann schob er ihn zurück und atmete tief. „Wenn wir annehmen, daß der Beschleunigungsanstieg höchstens drei Sekunden gedauert hat und daß die Korrektur ausschließlich durch Herabsetzung des Antriebs erfolgt ist, liegt die Standortdifferenz bereits nach vierundzwanzig Sekunden innerhalb der Fehlergrenzen. Doktor, wie hoch würden Sie eine Beschleunigung schätzen, die solche — Wirkungen wie die hier vorliegenden hervorbringt?“
Der Arzt zögerte. „Das hängt auch von der Zeit ab, in der sie erreicht wird … Drei Sekunden … Vielleicht zwölf bis fünfzehn g?“ „Das habe ich auch zugrunde gelegt!“ bestätigte der Kommandant. „Die Plombe sperrt bei zehn g!“ erinnerte der Testpilot.
„Richtig, die Plombe!“ fuhr der Kommandant fort. „Ich fasse zusammen. Wir können also mit einigem Anspruch auf Wahrscheinlichkeit folgenden Vorgang rekonstruieren: Der Pilot bemerkte, daß die Beschleunigung zu wachsen begann und mit den üblichen Mitteln nicht mehr einzuschränken war. Das bedeutete, daß die Kettenreaktion im Reaktor aus der Kontrolle geriet. Als letztes Mittel, einer Explosion vorzubeugen, riß er die Plombe ab. Der wachsende Antrieb konnte die im Übermaß produzierte Hitze des Reaktors aufnehmen. Dadurch wurde das Raumschiff gerettet, aber die Beschleunigung wuchs für kurze Zeit auf ein tödliches Maß.“ „Phantasie!“ entgegnete der Ingenieur scharf. „Ein Reaktor ist eine exakt arbeitende Maschine und spielt nicht plötzlich verrückt. Es gibt keine Ursachen für ein solches sprunghaftes Verhalten.“ Er überlegte einen Augenblick, fuhr dann fort: „Selbst wenn aus äußeren Ursachen, die wir vielleicht bisher übersehen haben, der Reaktor aus der Kontrolle geraten sein sollte — wer hat ihn dann wieder unter Kontrolle gebracht? Immerhin hat er bis zur Landung einwandfrei gearbeitet. Nein, ich kann dem nicht zustimmen.“ „Eine andere Variante haben Sie nicht?“ fragte der Kommandant noch einmal, mehr um sicherzugehen. Der Ingenieur schüttelte den Kopf. „Wer schließt sich der Meinung des Genossen Bernaud an?“ fragte der Kommandant nun. Niemand meldete sich. „Wer schließt sich meiner Variante an?“ Der Testpilot, der Arzt und Pollux hoben den Arm. „Gut. Dann werden wir unsere weiteren Untersuchungen darauf ausrichten, meine Variante zu bestätigen oder zu widerlegen. Vorher aber bleibt uns noch eins zu überlegen.“ Er sah die anderen fest an. „Wir müssen einen Entschluß fassen, zu dem wir als Untersuchungskommission berechtigt und verpflichtet sind, der aber trotzdem schwer zu fassen ist. Ich stimme mit Genossen Bernaud in dem Punkte überein, daß ein Reaktor eine exakt arbeitende Maschine ist. Eine solche Maschine ändert ihren Zustand nicht ohne Einwirkung von außen. Die uns unbekannten Ursachen liegen also außerhalb des Reaktors, höchstwahrscheinlich außerhalb des Raumschiffs. Dann aber können sie bei jedem Reaktor die gleiche Wirkung hervorbringen. Das heißt also, wir müssen uns entschließen, bei der Weltraumbehörde ein vorläufiges Startverbot für alle reaktorgetriebenen Raumschiffe zu beantragen.“ Er schwieg. Dann fragte er hart: „Gegenstimmen? Stimmenthaltungen? Keine.“ Er drückte eine Taste und sprach ins Mikrophon: „Stellen Sie eine Verbindung her mit dem Chef der Weltraumbehörde. Katastrophen-Dringlichkeit.“
Sie teilten die Arbeit auf. Alle Teile der FR 17 wurden unter dem Gesichtspunkt besprochen, wie sich an ihnen die Hypothese des Kommandanten beweisen oder widerlegen ließ. Als sie mit ihrer Arbeitsplanung fast fertig waren, glimmte auf dem Tisch vor dem Kommandanten ein rotes Lämpchen auf. Der Kommandant drückte eine Taste. „Doktor, Doktor, kommen Sie schnell!“ Es war die Stimme der Schwester. „Der Patient …“
„Was ist? Bewegt er sich?“
„Sein Gesicht verkrampft sich …, er röchelt …“
Tom Harrar stürzte hinaus. Pollux saß noch einen Moment wie erstarrt da, dann sprang er auf und lief dem Arzt nach.
Der Arzt warf einen Blick in das Gesicht des Bewußtlosen und rief: „Fesseln! Schnell!“ Aber in diesem Moment bäumte der Kopilot sich auf, sein Körper wölbte sich wie ein straff gespannter Bogen nach oben, und ein zischendes, glucksendes Geräusch drang aus seinem Mund. Der Arzt sprang ans Kopfende, schrie Pollux zu: „Die Beine!“ und warf sich über den Oberkörper des Patienten. Pollux war mit zwei großen Schritten am Fußende. Dort traf ihn der Fuß des Tobenden ins Gesicht. Pollux spürte einen betäubenden Schmerz in der Nase, warf sich jedoch über die Beine seines Freundes.
Man weiß ja, daß Tobende eine fast übermenschliche Kraft entwickeln, so daß es auch unter irdischen Umständen zwei Männern schwergefallen wäre, den kräftigen Piloten zu bändigen. Auf dem Mond jedoch, wo alles nur ein Sechstel seines irdischen Gewichts hat, wog auch jeder der beiden Männer nur etwa fünfzehn Kilopond — für die entfesselten Kräfte des Kranken Spielbälle! Dem Arzt war es gelungen, sich mit den Beinen an den Füßen des Krankenbettes festzuklammern, und indem er geschickt die Ruhepunkte in den Schwingungen des von Krämpfen geschüttelten Körpers abpaßte, gelang es ihm bald, die Schulterpartie des Kranken sicher in den Griff zu bekommen. Pollux jedoch wurde auf und nieder geworfen, schlug mit dem Kopf gegen die Wand, mit den Füßen gegen die Bettkante — für einen Beobachter, der diesem Kampf zugesehen hätte, ein Bild von einer grauenhaften Komik. Aber die Schwester sah nicht zu. Sie schnallte einen breiten Gurt über die Brust des Tobenden, fesselte die Handgelenke und befreite dadurch den Arzt aus seiner Lage, der nun wiederum Pollux zu Hilfe kam. Schließlich waren alle Glieder des Patienten, der sich immer noch von Zeit zu Zeit aufbäumte, gesichert.
Tom Harrar und die Schwester hantierten mit Apparaten und Instrumenten, zielbewußt, sicher, mit wenigen Worten sich verständigend. Die Bewegungen, die sie vollführten, wirkten durch ihre Sparsamkeit fast elegant. Pollux stand dabei und sah zu und sah doch nichts. Er spürte auch nicht die Schmerzen am Kopf und am Schienbein, und flüchtig wunderte er sich sogar darüber, weil man das immer so liest und als Floskel auffaßt, und in Wirklichkeit ist es doch so. Aber dieser Gedanke füllte nur eine winzige Pause zwischen den Wellen von seelischem Schmerz, die durch ihn hindurch gingen — Wellen dieses unbeschreiblichen Gemischs von lähmender Angst, dumpfer Wut und grenzenloser Verzweiflung, die einen Menschen überkommen, wenn er einem ihm teuren Wesen, das ganz auf seine Hilfe angewiesen ist, nicht helfen kann. Etwas tun! Irgend etwas tun können, wie dieser Arzt da …
Wieder wurde der Körper des Freundes von Krämpfen geschüttelt. Pollux stürzte ans Kopfende des Betts und rief dem Freund Worte ins Ohr, Namen, Spitznamen, Schimpfworte …
Der Arzt riß ihn zurück. „Sprechen Sie beruhigend, im normalen Ton. Nennen Sie ihn bei dem Namen, den Sie am häufigsten gebraucht haben. Sagen Sie immer wieder dasselbe. Los!“
Der Anfall ließ nach. Ob die Stimme des Freundes dabei geholfen hatte — der Arzt wußte es nicht, und Pollux glaubte nicht daran. Aber merkwürdigerweise hatte die Beherrschung, die er dazu hatte aufbringen müssen, den ganzen dumpfen Wust drückender Gefühle von ihm abfallen lassen, verwandelt, umgeformt zu einem ruhigen, hartnäckigen Bestreben, etwas zu tun für den Freund. Eine fast instinktive Sicherheit überkam ihn, daß er im gegebenen Moment schon wissen würde, was da zu tun sei, und daß er es in Angriff nehmen und bewältigen würde, auch wenn das ganz unmöglich erscheinen sollte.
Die Anfälle schienen zu Ende zu sein. Pollux bemerkte erst jetzt, daß an des Freundes Kopf Elektroden befestigt worden waren, von denen aus dünne Drähte zu einem Schrank liefen, aus dem der Arzt nun eine Rolle herausnahm — das Enzephalogramm des Anfalls. Pollux wollte ihn bitten, daß er ihm das erklären möchte, aber er ließ es dann doch, denn Tom Harrars Gesicht sah nicht gerade so aus, als könne er in der seltsam zittrigen Kurve wie in einem aufgeschlagenen Buch lesen.
Ein Summton unterbrach Pollux in seinem Zögern. Auf dem Bildschirm über der Tür erschienen in rascher Folge Zahlen und Schaltsymbole, und dann wurde eine junge Frau in Schwesterntracht sichtbar, die am Tisch saß und schrieb, dann aufblickte und sich meldete: „Institut Professor Mirano. Sie hatten um eine Tele-Diagnose gebeten. Ist alles bereit?“ Tom Harrar schaltete eine schwenkbare Tele-Kamera ein und zog sie über den Kopf des Patienten. „Alles bereit!“ bestätigte er. „Gut! Ich verbinde mit Professor Mirano!“
Ein kleines, kluges, zerfälteltes Greisengesicht erschien auf dem Bildschirm. Mirano stellte sich vor und bat um die Vorgeschichte. Tom Harrar berichtete, was sich ereignet hatte, und auch, was sich vermutlich ereignet hatte, und von da ab verlief die Unterhaltung so, daß Pollux nur die bedeutungslosen Wörter verstand, aber nicht den Sinn dessen, was da gesagt wurde. Professor Mirano ließ sich das EEG zeigen, veranlaßte den Arzt zu einigen Handlungen am Körper des Patienten und schwieg dann. „Wer ist der junge Mann da neben Ihnen?“ fragte er schließlich. Pollux stockte der Atem bei dieser Frage. „Sein bester Freund!“ antwortete der Arzt. Professor Mirano sah Pollux nachdenklich an. Dann sprach er: „Ich will und kann weder Hoffnung noch Verzweiflung säen. Meine Vorstellung vom Zustand des Patienten ist nicht präzis; es gibt keine vergleichbaren Fälle. Der Anfall wird ihn erleichtert haben, aber …“ Er kniff die Lippen zusammen und schwieg. Dann zog er einen Notizblock heran, blätterte darin und sagte: „Für vier Tage kann ich mich frei machen. Ich werde zu Ihnen kommen. Ein Transport des Patienten auf die Erde ist nicht ratsam, die dabei auftretenden Beschleunigungen könnten seinen Tod bedeuten. Länger als drei, vier Tage darf er aber nicht in diesem Zustand bleiben, dann … Also regeln Sie den Transport von zehn Personen und etwa fünf Dezitonnen Fracht. Ich bereite hier alles vor. Wenn die Überfahrt geklärt ist, rufen Sie mich wieder an.“
In dem Augenblick, als der Professor abschaltete, fiel Pollux das Startverbot ein, das sie beschlossen hatten.
Kurt Osterriem und Leif Johanson durchsuchten gemeinsam den Nutzteil der FR 17 und entdeckten bald einige Anzeichen, die für die Annahme des Kommandanten sprachen. Sie hatten sich gesagt: Wenn alles wirklich so abgelaufen ist, muß es Gegenstände geben, an denen die plötzliche Vervielfachung des Gewichts bleibende Spuren hinterlassen hat, und eben nach solchen Gegenständen muß man suchen. Sie fanden in der Lebensmittelreserve des Raumschiffs einige geplatzte Eier. In einem Werkzeugschrank hatte sich ein Hammer aus seinen Klemmen gerissen. Auch bei der Fracht — Bergbaumaschinen für die Erweiterung der Mondstation — hatte sich hier und da ein besonders belasteter Teil verbogen, war hier und da eine Mutter geplatzt. Jedes dieser Anzeichen konnte natürlich — für sich genommen — andere Ursachen haben, aber die Summe all dieser Kleinigkeiten sprach doch sehr für die Hypothese, die sie zu prüfen hatten — wenn auch ein unwiderlegbarer Beweis noch nicht erbracht war. Für Ungeübte wäre es sicherlich sehr schwierig gewesen, sich in dem hier waagerecht liegenden Raumschiff zu bewegen, dessen Gänge und Einrichtungen schließlieh so angelegt waren, daß die Spitze der Rakete oben bedeutete. Aber die beiden waren dergleichen gewöhnt, es handelte sich ja im Grunde um Werftarbeit. Dennoch brummte nun Osterriem gehörig der Kopf, und er spürte eine leichte Übelkeit aufsteigen. Offenbar war der harte Anprall beim „Anklopfen“ doch nicht so ganz ohne Folgen geblieben. Die beiden Männer begaben sich darum in die Zentrale der FR, und der Werftleiter legte sich auf eins der Profilbetten, die ja auch bei Frachtraketen kardanisch aufgehängt sind, also immer nach unten hängen.
Der Werftleiter sah aus seiner Lage an einer Seitenwand, die über ihm hing, die Initialen der Rakete „FR 17“. Sie erinnerten ihn an etwas, und er hatte das Gefühl, daß es etwas Wichtiges sein müßte, und er zergrübelte seinen schmerzenden Kopf und verfluchte im stillen seine Zerstreutheit. Plötzlich durchfuhr es ihn, und er sprang auf. „Mann — das ist doch die FR siebzehn!“
Der Testpilot sah ihn verständnislos an. Osterriem erklärte: „Die gehört doch zu den Raketen, in die sie vorige Woche versuchsweise das neue automatische Protokoll eingebaut haben!“
Nun war auch Johanson im Bilde. Zu Beginn des Linienverkehrs zwischen Erde und Mond, vor fast einem halben Jahrhundert, war es üblich gewesen, daß die Tätigkeit jedes einzelnen Funktionssystems der Rakete während des Fluges automatisch registriert wurde. Später war man aus Platzgründen und wohl auch deshalb, weil das präzise Funktionieren der Apparaturen das überflüssig gemacht hatte, von diesen Einrichtungen abgekommen.
Nun hatte kürzlich eine Arbeitsgemeinschaft auf dem Transit-Satelliten ein neues, kleineres Gerät entwickelt, das alle Funktionen des Raumschiffs registrieren sollte, und zwar jeweils von einer Generalreparatur bis zur anderen, wovon sie sich eine höhere Effektivität der Reparaturarbeiten versprachen. Der Testpilot entsann sich nun auch, davon gehört zu haben, daß dieses Gerät in einer Reihe von Raketen erprobt werden sollte …
Während er sich das alles ins Gedächtnis zurückrief, war Osterriem schon dabei, von der Verkleidung des Pilotenpultes einige Platten zu entfernen. Nun wühlte er in den Eingeweiden der Steuerung, rief „hier ist es!“ und zog einen länglichen Kasten hervor. Er zögerte einen Augenblick, dann öffnete er den Deckel und drückte einen Knopf. Nichts bewegte sich. „Jetzt müßte doch der Draht zurückspulen!“ sagte er unruhig, hob den Kasten näher an das Gesicht — und begann plötzlich zu schnüffeln. Dann hielt er Johanson das Gerät unter die Nase und fragte: „Wie riecht das?“
Staunen malte sich auf dem Gesicht des Piloten. „Durchgebrannt!“ „Genau!“ triumphierte der Werftleiter. „Bei der großen Beschleunigung hat sich die Reibung verhundertfacht, und der Elektromotor hat's nicht mehr geschafft und ist durchgebrannt! — Es ist eben ein Versuchsgerät!“ fügte er wie entschuldigend hinzu. „Aber dann müßte doch bis zu dem Moment alles drauf sein!“
„Das werden wir bald haben!“ verkündete der Werftleiter, nahm den Kasten unter den Arm und kletterte zum Ausstieg.
Inzwischen war auf der anderen Seite der Trennwand, die sich durch die große Felsenhalle zog, der Triebwerksingenieur Henri Bernaud dabei, den Antriebsteil der Rakete zu untersuchen. So groß auch sonst die ironische Distanz war, mit der er allen Menschen und Dingen seiner Umwelt begegnete, so groß waren seine Zuverlässigkeit und seine Umsicht in allen Dingen, die Triebwerke und besonders Reaktoren betrafen. Auch jetzt ging er, obwohl er die Untersuchung für überflüssig und die Vorstellungen des Kommandanten für ausgemachten Unsinn hielt, sorgfältig und systematisch zu Werke. Gemeinsam mit zwei Monteuren löste er die Verkleidung des Antriebsteils. Kleine Kräne hoben die vier Schalen ab und fuhren sie ein Stück in den Hintergrund der Halle hinein. Nun lag das Triebwerk offen vor ihnen — für den Laien genauso verwirrend wie jeder andere Motor, nur in größeren Maßstäben; denn genau, wie die anderen Motoren nahm das eigentliche Antriebsaggregat — aktive Zone des Reaktors, Brennkammern und Düsen — den geringsten Platz ein und wurde fast vollständig verdeckt vom Zubehör: Treibstofftanks, Brutring, Regler, Vorwärmerstufen, Pumpen und so weiter. Die drei Fachleute jedoch bewegten sich zwischen alldem so sicher wie Fledermäuse in einem Gewirr von ausgespannten Fäden.
Sie gingen nach einem genauen Plan vor, maßen, prüften, kontrollierten alles, obgleich es eigentlich nur zwei Punkte gab, in denen Wirkungen möglich waren, die eventuell die These des Kommandanten hätten stützen können: der Reaktorausbrand und der Treibstoffverbrauch. Träfe zu, was der Kommandant vermutete, so müßte der Ausbrand höher und der Treibstoffverbrauch niedriger liegen als normal, aber es war zweifelhaft, ob diese Differenzen überhaupt meßbare Größe haben würden. An den Treibstofftanks stellte der Ingenieur jedenfalls keine Abweichung vom Normalen fest. Er blickte sich nach den beiden Monteuren um, wie weit sie mit ihren Arbeiten wären. Dann stieg er aus dem Antriebsteil der Rakete heraus und ging in den Hintergrund der Halle zu einem großen Gerät, das ungefähr einer Lafette mit Schutzschild glich, wie sie bei den Kanonen früherer Jahrhunderte üblich waren. Er setzte sich hinter das Schutzschild und fuhr das Gerät bis dicht an die Rakete heran. Dann ließ er einen an der Frontseite angebrachten Scheinwerfer dreimal aufleuchten. Einer der beiden Monteure kam daraufhin aus dem Gewirr von Leitungen und Behältern heraus, der andere hob zum Zeichen, daß er verstanden habe, mit einer raschen Bewegung und ohne den Arbeitsrhythmus zu unterbrechen, den linken Arm. Wenig später kam auch er herunter.
Henri Bernaud fuhr nun ganz dicht an die Rakete heran, steckte dann die Hände in dafür vorgesehene Stulpen und setzte die Füße auf Pedalen. Aus dem Schutzschild fuhren zwei lange metallene Arme mit mehreren Gelenken hervor und wuchsen in das Triebwerk hinein. Ihre Spitzen trugen klauenförmige Werkzeuge, die sich nun dem Reaktorblock näherten. Die rechte Klaue schraubte, durch die Bioströme in der Hand des Ingenieurs gelenkt, eine der vielen Kappen ab, die die Oberfläche des Reaktorblocks wie Warzen bedeckten, und zog einen Brennstoffstab einige Zentimeter aus dem Block heraus. Die linke Klaue übernahm dann den Stab, während die rechte mit ihrer scharfen Kante daran schabte. Darauf drückte die linke den Stab wieder hinein, bildete eine Mulde, in die die rechte Klaue die abgeschabten Späne klopfte, und zog sich zurück, während die rechte wiederum die Kappe aufschraubte. Dann fuhr das Gerät in den Hintergrund der Halle zurück, und die Monteure machten sich daran, das Triebwerk wieder zu verkleiden.
Der Ingenieur verstaute die Probe in einem kleinen Bleibehälter, verließ damit die Halle, entledigte sich nach der Entaktivierung des Schutzanzugs und ging ins Labor.
Aber auch bei der Analyse der Probe stellte sich nichts Sensationelles heraus. Der prozentuale Ausbrand wich nicht vom erwarteten Wert ab.
Bernaud hätte nun eigentlich zufrieden sein können, aber er war es nicht. Er spürte, daß ihm die Bestätigung der Fejnbergschen These immer noch lieber gewesen wäre als dieses nichtssagende Ergebnis.
Der Kommandant, der Arzt und Pollux betraten als letzte den Sitzungsraum der Untersuchungskommission — der Kommandant ernst, der Arzt erregt und Pollux finster und in sich gekehrt.
Der Kommandant nahm sofort das Wort. „Bevor wir unsere Arbeit fortsetzen, muß ich Sie von einem Umstand informieren, durch den unsere Aufgabe außerordentlich schwer und ernst wird. Unser kranker Genosse, der Kopilot der FR siebzehn, braucht innerhalb von drei bis vier Tagen eine Spezialbehandlung. Professor Mirano in Rom, wahrscheinlich der einzige, der dazu in der Lage ist, hat sich bereit erklärt, hierher zu kommen. Inzwischen hat aber der Chef der Raumbehörde auf unseren Vorschlag hin für alle reaktorgetriebenen Raumschiffe Startverbot verhängt. Mit den alten, chemisch getriebenen Raketen würde der Professor erst in sechs bis sieben Tagen hier sein, da zur Zeit keine solche Rakete mehr startbereit ist. Die Hilfe käme also zu spät. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir erreichen eine Sonderregelung — zu diesem Zweck habe ich ein Konferenzgespräch mit Professor Beke, dem Chef der Raumbehörde, und mit Professor Mirano angemeldet, oder wir klären innerhalb von vierundzwanzig Stunden die Ursachen der Katastrophe, so daß das Startverbot generell aufgehoben werden kann — eine schwache, nicht sehr aussichtsreiche Möglichkeit. Sie bleibt uns immer noch — als letzter Ausweg.“
Alle saßen stumm und warteten. Auf dem Bildschirm erschienen Ziffern und Buchstaben, dann die Sekretariate der Raumbehörde und des Gehirnspezialisten, dann endlich die beiden Professoren selbst.
Der Kommandant begrüßte die beiden weltbekannten Wissenschaftler, referierte dann über die entstandene Situation und bat danach den Chef der Raumbehörde, eine Sondergenehmigung für den Start einer Rakete zu erteilen, die Professor Mirano und seinen Stab auf den Mond bringen würde, und er bat Professor Mirano, das damit verbundene Risiko auf sich zu nehmen, um dem kranken Genossen helfen zu können.
Sandor Beke, ein älterer Mann mit einem imponierenden schwarzen Haarschopf, dessen Ansatz bis tief in die Stirn hineinreichte, wandte sich an Professor Mirano. „Ich bin bereit, in diesem besonderen Falle eine solche Genehmigung zu erteilen. Aber ich muß das von Ihrer Zustimmung abhängig machen, Kollege Mirano!“
Der Gehirnspezialist wandte sich an den Kommandanten. „Können Sie mir ungefähr sagen, wie groß das Risiko ist? Können Sie mir Näheres über die Katastrophe sagen?“
„Da der Vorgang selbst noch unaufgeklärt ist, läßt sich auch über die Größe des Risikos nichts sagen!“ erklärte der Kommandant mit gepreßter Stimme, aber Osterriem fiel ihm ins Wort: „Die Katastrophe bestand darin, daß die Aktivität des Antriebsreaktors plötzlich aus bisher unbekannten Gründen explosionsartig anwuchs.“ „Das ist eine Annahme!“ protestierte Bernaud.
„Das ist bewiesen!“ entgegnete Osterriem und klopfte auf eine Kassette, die vor ihm auf dem Tisch stand.
Professor Mirano hob den Arm, und alle schwiegen. Er hatte den Streit mit wachem Interesse verfolgt und sagte nun: „Unter diesen Bedingungen kann ich nicht zustimmen.“
Dieser Erklärung folgte ein Schweigen, das zunehmend feindseliger wurde. Endlich erhob sich Bernaud. „Ich verstehe eine solche antihumane Entscheidung nicht und mißbillige sie aufs schärfste!“ erklärte er. In den Augen der anderen .Mitglieder der Untersuchungskommission war zu lesen, daß sie ihm zustimmten; nur Pollux hielt den Blick gesenkt und saß scheinbar teilnahmslos am Tisch. Sandor Beke wandte sich an den Ingenieur. „Genosse Bernaud, Sie kennen genau das Raumfahrtstatut. Sie haben kein Recht, irgend jemand einen Vorwurf zu machen.“ Er sagte es ohne Zorn, mit einer Stimme, als bedaure er, daß gerade er das Notwendige und Richtige sagen müsse.
Professor Mirano mußte den halben Vorwurf gespürt haben, der in diesem Ton lag, denn auch er wandte sich nun an den Ingenieur: „Junger Mann, ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Aber damit Sie in Zukunft nicht noch öfter so leichtfertige Urteile fällen, will ich Ihnen erläutern, vor welcher Situation ich stehe. Ich habe zur Zeit sechsundvierzig Patienten. Zwölf davon muß ich innerhalb der nächsten zehn Tage operieren; acht haben eine Operation unmittelbar hinter sich, und es ist möglich, daß einige davon noch weitere operative Eingriffe brauchen. Unser Institut ist zur Zeit das einzige, das solche Operationen ausführen kann. Wie würden Sie an meiner Stelle entscheiden?“ Er machte eine abschließende Handbewegung und wandte sich an Sandor Beke. „Ich stehe Ihnen in den nächsten vier Tagen zur Verfügung. In vierundzwanzig Stunden bin ich mit meinem Stab und meinem Gepäck auf dem Transit-Satelliten. Schaffen Sie die Möglichkeit, daß ein Flug unter normalen Bedingungen garantiert werden kann. Guten Tag.“ Sein Bild verlosch.
Sandor Beke wandte sich an die Kommission. „Kommandant Fejnberg, wir müssen die Entscheidung von Professor Mirano respektieren. Ermitteln Sie die Ursachen der Katastrophe. Der gesamte Apparat der Behörde steht Ihnen zur Verfügung. Ich ordne Alarmbereitschaft an und unterstelle Ihnen den Diensthabenden der Behörde. Erstatten Sie mir Bericht, sobald Sie etwas ermittelt haben. Und — ich drücke Ihnen den Daumen!“ Damit verlosch auch sein Bild.
Die Männer, die um den Tisch saßen, sahen einander plötzlich erschreckend ähnlich. Auf allen Gesichtern malte sich enttäuschte Müdigkeit, aller Schultern hingen nach vorn. Mit matter Handbewegung forderte der Kommandant endlich Osterriem auf zu sprechen. „Sie haben vorhin so nachdrücklich behauptet, daß unsere Annahme bewiesen sei. Berichten Sie.“
Kurt Osterriem berichtete von seinem Fund und davon, was es damit für eine Bewandtnis habe, und teilte dann mit: „Wir haben dem automatischen Protokoll folgendes entnommen: Von zehn Uhr dreizehn Minuten zweiundzwanzig Sekunden bis zehn Uhr dreizehn Minuten zweiundfünfzig Sekunden stieg die Aktivität im Reaktor stetig an, wurde jedoch durch die Regelstangen ausgeglichen. Um zehn Uhr dreizehn Minuten zweiundfünfzig Sekunden war der Punkt erreicht, wo die Regelstangen ganz in den Reaktor eingelassen waren, das heißt, normalerweise hätte der Antrieb gleich Null sein müssen. Der Antrieb sank sprunghaft ab, begann aber sofort wieder zu wachsen. Um zehn Uhr vierzehn Minuten eine Sekunde hatte er wieder die alte Stärke erreicht. Dann stieg er innerhalb von zwei Komma drei Sekunden auf fünfzehn g. Wahrscheinlich wurde dadurch die Reibung der mechanisch bewegten Teile des Protokollgeräts zu groß; jedenfalls brannte der Elektromotor, der die Spule antrieb, in diesem Moment durch. Über die weiteren Operationen sagt das Protokoll also nichts.“
Alle schwiegen. Der Triebwerksingenieur schüttelte den Kopf und sah verbissen auf die Kassette. Die Tatsache war nun freilich nicht mehr anfechtbar, aber darum noch kein bißchen verständlicher. Hier war überhaupt alles unverständlich. Alle Fakten widersprachen nicht nur einander, sondern auch der jahrelangen Erfahrung. Hier wurden Kapazitäten gebraucht, Forscher von Weltruf, aber die hatte man nicht zur Hand und konnte sie auch nicht herholen in der Kürze der Zeit, in der das Problem nun gelöst werden mußte. Was hatte jetzt überhaupt Sinn?
So ungefähr dachten alle. Auch Pollux war bis an diesen Punkt gekommen, aber nun wußte er plötzlich, daß jetzt alles von ihm abhing, und merkwürdigerweise wußte er auch sofort, wo er, er ganz persönlich, anfangen mußte. „Wie funktioniert denn eigentlich so ein Reaktor?“ fragte er in die Stille hinein.
Alle starrten ihn verständnislos an. Einige brummten Bemerkungen vor sich hin wie „…wahrhaftig andere Sorgen!“ und „…kein Kindergarten hier!“ und „… soll sich ein Schulbuch schicken lassen!“.
Aber Pollux schien das nicht zu hören. Er wandte sich direkt an Bernaud, so, als wären die anderen gar nicht im Raum. „Bitte, Genosse Bernaud, erklären Sie mir das!“
Der Ingenieur schwankte zwischen Wut und Lachen. Obwohl er hier aufgefordert wurde zu schulmeistern, hatte er das unbestimmte Gefühl, daß er selbst geschulmeistert werden sollte. „Ich möchte wirklich wissen, was das für einen Sinn haben soll. Das lernt doch jeder in der Schule! Wir vertun unsere Zeit!“
Auch die anderen äußerten je nach Temperament ihren Unmut in Gesten und in Worten, als hätten sie nur auf eine Gelegenheit gewartet, sich zu ärgern. Aber der Kommandant, der den Kopf vorgestreckt hatte wie ein Jagdhund, der etwas wittert; hielt seine Augen sehr wach und aufmerksam auf Pollux' Gesicht gerichtet. Der ließ nicht locker. „Was für einen Sinn? Ich weiß nicht … Ich bitte Sie einfach darum … Vielleicht fällt mir dabei etwas ein …“ Die Art, mit der sich Pollux durch diese Begründung in den Vordergrund schob, wirkte nicht so arrogant, wie sie in diesem Bericht vielleicht klingen mag. Jeder andere wäre sicherlich zurechtgewiesen worden, aber bei diesem schüchternen, schwerfälligen Mann rief es nur Verblüffung hervor, zumal nun alle spürten, daß es ihm offenbar wirklich um nichts anderes zu tun war als darum, einer Lösung des Problems näherzukommen.
Henri Bernaud sah ihn mit einer schwer zu deutenden kindlichen Freundlichkeit an und sagte: „Tun Sie's doch!“ Und so begann er, unlustig zunächst, doch je weiter er fortschritt, desto konzentrierter wurde sein Vortrag. „Das hat man ja alles in der Schule gelernt. Ein Neutron, selbst ein Kernteilchen, dringt in einen Kern von Uran zweihundertfünfunddreißig oder Plutonium ein. Der Kern nimmt das Teilchen auf, wird aber dadurch in seinem inneren Gleichgewicht gestört und zerplatzt nach einer bestimmten Zeit in verschiedene, mittelgroße Atome. Dabei werden erstens sehr viel Wärme und zweitens wiederum einige Neutronen frei. Das ist die grundlegende Reaktion, auf der alles beruht. Die Wärme nutzen wir aus, und die frei gewordenen Neutronen dienen uns dabei. Es kommt nun darauf an, wie viele Atome des Kernbrennstoffes — Uran zweihundertfünfunddreißig oder Plutonium — sich in der Umgebung des zerfallenen Atoms befinden. Trifft jedes frei werdende Neutron wiederum einen Kern, der es aufnimmt, so erhalten wir eine Kettenreaktion, die explosiv anwächst. Gelingt es aber zu erreichen, daß von jeder einzelnen Reaktion genau ein Neutron eine neue Spaltung hervorruft, pflanzt sich die Kettenreaktion gleichmäßig fort, und wir haben die Möglichkeit, die Wärme für uns auszunutzen. Genau diese Verhältnisse herrschen im Reaktor.“
„Also nur Neutronen können eine solche Reaktion hervorrufen …“, warf Pollux ein. Es war mehr eine Feststellung, der Ingenieur aber nahm sie als Frage und sagte ärgerlich: „Ja doch. Wenigstens bei dem Kernbrennstoff, den wir verwenden, und soweit überhaupt Kernreaktionen bekannt sind!“
Es schien, als ob Pollux noch etwas einwerfen wollte, aber der Ingenieur fuhr schon fort: „Wenn wir also den Neutronenfluß im Reaktor regeln können, können wir auch die Kettenreaktion regeln. Das ist aber nur möglich, weil es Stoffe gibt, die Neutronen aufsaugen, absorbieren. Wird der Neutronenfluß zu groß, wächst die Kettenreaktion an, und die Wärmeabgabe übersteigt das gewünschte Maß. Dann tritt die Regelung in Kraft, Absorberstäbe werden in die aktive Zone gesenkt, saugen einen Teil der Neutronen auf und lassen die Reaktion auf das gewünschte Maß absinken.“
„Und wenn nun von außen Neutronen dazukommen?“ fragte Pollux unerwartet.
Der Ingenieur lächelte überlegen. „Darauf wollen Sie also hinaus! Aber damit ist es nichts. Eine Neutronenstrahlung von solcher Stärke, daß sie die Reaktion im Reaktor wesentlich beeinflussen könnte, würde die gesamte Umgebung des Reaktors radioaktiv verseuchen. Die Entaktivierungsautomatik hätte die FR siebzehn überhaupt nicht zur Entladung der Fracht freigegeben!“
„Lassen Sie sich durch meine Einwürfe bitte nicht stören!“ bat Pollux. „Fahren Sie ruhig fort!“
Der Ingenieur erläuterte nun die beiden Grundtypen von Reaktoren, den „thermischen“ und den „schnellen“ Reaktor, und ihre Unterschiede in Funktion, Struktur, Verwendungsmöglichkeiten und Wartung, worüber man in jedem technischen Nachschlagewerk nachlesen kann. Er begründete auch, warum für den Einsatz in Raumschiffen die „schnellen“ Reaktoren bedeutend günstiger sind, und wies auf die Schwierigkeiten der Kühlung hin, da sich die Verwendung leichterer Elemente dafür verbot, weil diese die Neutronen bremsen, langsame Neutronen aber wiederum eine Gefahr für den schnellen Reaktor darstellen könnten.
„Wieso? Was für eine Gefahr?“ fragte Pollux und beugte sich vor. „Was ist leichter zu fangen, eine Fliege oder ein Geschoß?“ fragte der Ingenieur zurück, sprach aber gleich weiter: „Langsame Neutronen, wie sie einen thermischen Reaktor betreiben, werden von den Brennstoffatomen viel leichter eingefangen als schnelle. Folglich ist im schnellen Reaktor eine viel größere Brennstoffdichte notwendig; treten nun hier langsame Neutronen auf …“
Er wollte sagen: dann kann die Reaktion sehr schnell anwachsen und in extremen Fällen sogar aus der Kontrolle geraten — aber er sprach den Satz nicht aus, sondern zog den Tischrechner heran. Eine unsinnige Idee kam ihm, unsinnig deshalb, weil langsame Neutronen in der Natur noch nie beobachtet worden waren, aber trotzdem: Wie intensiv hätte eine Strahlung langsamer Neutronen sein müssen, um einen solchen Effekt wie im Reaktor der FR 17 hervorzurufen? Hätte sie meßbare Spuren am übrigen Teil der Rakete hinterlassen müssen? Nach einigen Minuten hatte er das Ergebnis vor sich. Er blickte auf. Alle sahen ihn an. „Ich räume ein“, sagte der Ingenieur langsam und sorgfältig formulierend, „ich räume ein, daß hier rein rechnerisch eine Möglichkeit besteht. Aber …“ Er schwieg wieder einen Augenblick, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, zu viele Unmöglichkeiten stehen dem im Wege. Erstens: Die Rakete hätte sich nur ganz kurze Zeit unter Einwirkung dieser Neutronen befunden, die Strahlung hätte also scharf gebündelt sein müssen. Eine solche Strahlung gab es bisher nicht. Zweitens: Langsame Neutronen kommen nur in der Technik vor, nicht in der Natur. Sie entstehen nur, wenn schnelle, also sozusagen normale Neutronen mit irgendwelchen Mitteln stark abgebremst werden.“
„Halten wir doch erstmal fest, daß wenigstens theoretisch diese Möglichkeit besteht!“ sagte Pollux unnachgiebig.
Der Ingenieur, seiner Sache nun wieder ganz sicher, spottete: „Na, dann entdecken Sie mal, woher diese Neutronen kommen — und vor allem, warum sie bisher noch nie bemerkt wurden!“
„Ich weiß nicht“, sagte Pollux offen und freundlich, „aber erstens ist ja eine solche Katastrophe auch zum ersten Mal aufgetreten, und zweitens“, er zögerte einen Moment, sagte aber dann doch, was ihm auf der Zunge lag, „zweitens gibt es sicherlich im Weltraum noch mancherlei, was Sie und ich nicht wissen!“
Die Mitglieder der Untersuchungskommission hatten das Duell mit wachsender Spannung verfolgt. Jetzt hielt es der Kommandant für geraten, sich in den Dialog einzuschalten. „Wenn eine solche Bestrahlung stattgefunden hätte — angenommen nur —, dann müßte sich das doch nachweisen lassen. Oder?“
„Gut“, sagte der Ingenieur, „gut.“ Und er fragte Osterriem, an welchen Stellen im Nutzteil der Rakete gewisse Elemente aufträten, die nach einer solchen Bestrahlung unbedingt schwache Radioaktivität zeigen müßten. Nachdem darüber Klarheit geschaffen war, unterbrach der Kommandant die Sitzung und beauftragte den Ingenieur und den Werftleiter, die entsprechenden Stellen der FR 17 daraufhin zu untersuchen. Das Ergebnis überzeugte nun auch den Ingenieur.
Als sich die Kommission nach der Unterbrechung wieder zusammensetzte, hatte sich die Stimmung völlig gewandelt. Zwar lag der schwierigere Teil der Aufgabe noch vor ihnen; aber es war doch nun ein Weg sichtbar geworden, es hatte einen ersten, wenn auch kleinen Erfolg gegeben, der auf eine Lösung wenigstens hoffen ließ. Der Kommandant faßte noch einmal zusammen, was bisher ermittelt worden war. Dann fuhr er fort: „Natürlich werden wir hier keine völlige Klarheit über diese Erscheinung erreichen können. Dazu sind bei so neuartigen Erscheinungen in der Regel umfangreiche Forschungen spezieller wissenschaftlicher Arbeitsgruppen notwendig. Machen wir uns deshalb klar, was wir hier eigentlich erreichen können und müssen. Das Wichtigste scheint mir, die Herkunft dieser Strahlung zu finden, weil wir erst dann navigatorische Voraussetzungen haben, die Reisesicherheit zu garantieren und folglich das Startverbot aufzuheben. Aber wie wir dahinterkommen sollen …“ Er zuckte mit den Schultern.
Der Pilot Johanson meldete sich. „Was mir nicht gefällt, ist, daß so etwas noch nie aufgetreten sein soll. Warum gerade jetzt? Und wenn es solche Strahlung doch schon gegeben hat, warum hat man sie nie beobachtet? Sie hätte doch schon früher Wirkungen hervorrufen müssen?“
„Hat sie doch aber nicht!“ entgegnete der Ingenieur, jetzt aber nicht mehr triumphierend, sondern eher verzweifelt.
Wieder war es Pollux, der einen Weg fand, diesem Argument zu Leibe zu rücken. In seinem sonst schwerfälligen Kopf verbanden sich scheinbar mühelos bestimmte, gerade in den letzten Stunden gesammelte Erfahrungen. „Wer sagt das eigentlich?“ setzte er dagegen.
„Aber …, aber es hat doch nichts dergleichen gegeben …“ Der Ingenieur wunderte sich über den Einwurf.
„Nein, Katastrophen nicht“, antwortete Pollux, „aber vielleicht Fälle, in denen es nicht bis zur Katastrophe gekommen ist? Es wäre doch denkbar?“
Der Ingenieur entzündete sich an diesem Gedanken. „Denkbar wäre es; wenn eine Rakete nur den Rand eines solchen Strahlenbündels geschnitten hätte … und die Absorberstäbe hätten die Reaktion ausgeregelt … Ein solcher Vorgang wäre jedesmal ganz und gar unbemerkt geblieben …“ Er sprang auf. „Natürlich! Praktisch hätte das auf jeder Reise geschehen können … Und nun stellen wir uns vor, wie groß der Raum und wie schmal solch ein Bündel ist, und es muß ja auch nicht immer auftreten …“
Osterriem sprang auf. „Halt! Wartet! Als die Reaktortriebwerke eingeführt wurden, etwa fünfundzwanzig Jahre lang, da wurde die Arbeit aller Reaktoren automatisch protokolliert. Das Material muß doch noch vorhanden sein! Im Archiv der Raumbehörde, bestimmt!“ „Ja“, fiel der Ingenieur ein, „und wir müßten Regelungsvorgänge, die eine bestimmte Höhe übersteigen, statistisch erfassen!“
„Also dann an die Arbeit!“ sprach der Kommandant und ließ sich mit dem Diensthabenden der Raumbehörde verbinden. Kurze Zeit darauf begannen die Lochkartenmaschinen des Archivs zu arbeiten, und nach einer halben Stunde lag eine Statistik aller größeren Regulierungsbewegungen in allen Reaktortriebwerken der Berichtszeit vor. Die Kurve, die Anzahl der Bewegungen in Abhängigkeit von der Zeit, sah aus wie eine Hängebrücke: Alle elf Jahre war eine Spitze, und dazwischen sank die Zahl fast bis auf Null ab.
„Seltsam“, sagte der Testpilot, „die Kurve kommt mir bekannt vor!“ „Ja“, bestätigte Osterriem, „es muß eine Analogie geben!“
„Können Sie mir jetzt genauer die Geschwindigkeit der thermischen Neutronen angeben?“ fragte Pollux den Ingenieur. Alle sahen erstaunt auf, aber wenn es ihnen auch vorkam, als lenkte diese Frage vom Wichtigsten ab, so hatten sie doch die Fragen des Navigators inzwischen respektieren gelernt.
Henri Bernaud gab ohne Zögern die gewünschte Auskunft. Pollux zog den Tischrechner zu sich heran und rechnete. Alle blickten auf ihn. Als er sich zurücklehnte, fragte der Kommandant: „Wenn ich die Sachlage richtig einschätze, kann ich jetzt den Chef der Weltraumbehörde anrufen?“
Pollux sah ihn etwas erstaunt an, nickte dann aber lächelnd. „Die Quelle der Strahlung ist die Sonne!“ erklärte er. „Die Kurve brachte mich darauf.“
Plötzlich war allen bewußt, woher sie diese Kurve kannten: Sie entsprach genau der Kurve der Sonnenfleckentätigkeit. Immer, wenn die Sonnenflecken ein Maximum hatten, zeigte auch die Regulierungstätigkeit ein Maximum.
„Weiter!“ forderte der Kommandant Pollux auf.
„Ja. Wenn man vom Ort der Katastrophe den Weg der Neutronen unter Berücksichtigung ihrer Geschwindigkeit zurückverfolgt, trifft man auf eine große Sonnenfleckengruppe im äquatorialen Bereich der Sonne. Demnach würden gewisse Vorsichtsmaßnahmen bei der Festlegung des Kurses der Rakete genügen, um eine Garantie abgeben zu können …“
Der Ältere beendete seine Erzählung. „Professor Mirano kam. Der Kopilot wurde geheilt. Heute ist diese Strahlungserscheinung weitgehend erforscht. Einige neue theoretische Erkenntnisse leiten ihren Ursprung davon her. Aber das zu erklären überstiege nicht nur den Rahmen unserer Geschichte, sondern auch meine physikalischen Kenntnisse.“
Der Jüngere, das „Raumbaby“, schwieg beeindruckt. „Aber“, begann er nach einer Weile, „Sie sprachen anfangs von einem doppelten Rätsel?“
„Mit vollem Recht!“ erwiderte der Ältere. „Das eine Rätsel, die Ursache der Katastrophe betreffend, wurde gelöst. Das andere … Wissen Sie, ich habe mal versucht, zu meinem eigenen Vergnügen gewissermaßen, die geistige Arbeit zu berechnen, die dieser mittelmäßige Mann Pollux in diesen Stunden geleistet hat. Der ganze Vergleich ist natürlich Unfug, das weiß ich, weil es sich ja hier um unvergleichbare Dinge handelt, aber trotzdem — ich bin von der Frage ausgegangen, wie viele Elektronik nötig gewesen wäre, um das ganz sicher herauszufinden, was er herausfand. Ich habe mit dem Zusammenzählen aufgehört, als ich bei dreitausend Maschinen der heute gebräuchlichen Typen angelangt war. Und sehen Sie, dieses Rätsel, wieso nämlich ein tiefes und echtes Gefühl, eine starke Emotion die Leistungsfähigkeit eines menschlichen Gehirns plötzlich vertausendfachen kann — dieses Rätsel haben wir noch nicht gelöst. Bei diesem Rätsel sind wir kaum so weit, daß wir es exakt formulieren können!“