TEIL I - INSTITUT FÜR BIOLOGIE
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So großspurig ich mich in der Kneipe auch gegeben hatte – ich muß doch zugeben, daß mir vor dem Interview mulmig war. Ich weiß, das klingt lächerlich, denn nur Corcoran und Prok selbst haben mehr als ich zu diesem Projekt beigetragen. Ich habe immerhin ungefähr zweitausend Interviews selbständig geführt, aber wenn ich ehr-lich bin, hatte ich damals Angst. Oder vielleicht sollte ich lieber sagen: Ich war verschüchtert. Sie müssen sich vor Augen halten, daß über Sex und Sexualität einfach nicht gesprochen wurde – nirgendwo, ganz gleich, in welchem Kreis –, und gewiß nicht im Hörsaal irgendeiner Universität. An anderen Colleges und Universitäten im ganzen Land wurden, hauptsächlich als Reaktion auf die in den dreißiger Jahren verbreitete Angst vor Geschlechtskrankheiten, Ehevorbereitungskurse angeboten, doch diese Kurse waren nichtssagend und voller Euphemismen, und ein Durchschnittsamerikaner, der so etwas wie eine Beratung wollte, eine freimütige Erörterung sexueller Vorlieben und Abartigkeiten, mußte feststellen, daß dergleichen, abgesehen von den Banalitäten des örtlichen Pfarrers oder Priesters, nicht zu haben war. Und darum, wiederholte Dr. Kinsey in seiner letzten Vorlesung, sei er im Begriff, ein bahnbrechendes Forschungsprojekt zu beginnen: Er wolle das sexuelle Verhalten unserer Spezies beschreiben und quantifizieren, um zu enthüllen, was jahrhundertelang unter dem Schleier von Tabus, Aberglauben und religiösen Verboten verborgen gewesen sei, und die Daten denen, die ihrer bedürften, zugänglich zu machen. Und er appellierte an uns – die lüsternen, fiebernden, schwitzhändigen Studenten im Auditorium –, ihm dabei zu helfen. Er hatte soeben die Vorlesungsreihe rekapituliert und seine Bemerkungen über individuelle Abweichungen sowie über Empfängnisverhütung zusammengefaßt (wobei er, gleichsam als Nachgedanken, hinzugefügt hatte, bei der Verwendung von Kondomen könnten die natürlichen Sekrete der Cowper-Drüse des Mannes durch Speichel substituiert werden), und nun stand er vor uns, mit wachem Gesichtsausdruck, die Hände auf dem Rednerpult gefaltet.
»Ich appelliere an Sie alle«, sagte er nach einer kleinen Pause, »mich aufzusuchen und mir die Geschichte Ihres Sexuallebens zur Verfügung zu stellen, denn diese Geschichten sind für unser Verständnis der menschlichen Sexualität unentbehrlich.« Das Licht war trüb und gleichförmig, der Saal überheizt, und es hing ein leichter Geruch nach Staub und Bohnerwachs in der Luft. Draußen färbte der erste Schnee des Winters die Erde für kurze Zeit weiß, doch das nahmen wir sowenig wahr, als säßen wir in einem Bunker. Einige rutschten auf den Sitzen hin und her. Die junge Frau in der Reihe vor mir sah verstohlen auf ihre Uhr.
»Wir wissen mehr über das Sexualleben der Drosophila melanogaster –einer Fruchtfliege – als über eine der gewöhnlichsten, alltäglichsten Aktivitäten unserer eigenen Spezies«, fuhr er mit fester Stimme fort und sah uns an. »Wir wissen mehr über die Verhaltensweisen eines Insekts als über das, was in den Schlafzimmern dieses Landes – und übrigens auch auf Wohnzimmersofas und den Rücksitzen von Automobilen – vor sich geht, über die Vorgänge, denen jeder einzelne von uns es verdankt, daß er jetzt hier, m diesem Raum, sein kann. Ist das wissenschaftlich sinnvoll? Ist es auch nur ansatzweise rational oder vertretbar?«
Laura saß neben mir und hielt den Schein unserer Verlobung aufrecht, obgleich sie sich im Verlauf des Semesters ziemlich heftig in ein Mitglied der Basketballmannschaft namens Jim Willard verknallt hatte, in dessen Begleitung sie bereits zweimal von Dean Hoenig ertappt worden war, die ein feines Gespür für die Temperaturentwicklung von Romanzen besaß. Beide Male hatte Laura sich herauswinden können – Jim war ein Freund der Familie, eigentlich sogar ein Cousin, zweiten Grades natürlich, und da Basketball einen so großen Teil seiner Zeit beanspruchte, hatte sie es auf sich genommen, ihm ein bißchen zu helfen –, aber Dean Hoenig war argwöhnisch geworden. Sie war sichtlich empört, als wir gemeinsam durch die Tür traten, und machte eine, wie ich fand, vollkommen unpassende Bemerkung über Hochzeitsglocken, über die ich mich noch ärgerte, als die Vorlesung schon längst begonnen hatte. Jedenfalls saß Laura neben mir, beugte sich über ihren Block und tat weiterhin, als schriebe sie mit, während sie in Wirklichkeit bloß herumkritzelte: Sie malte lange, schlanke Frauengestalten in Kleidern, Pelzmänteln und mit spektakulären Federhüten sowie mindestens ein pochendes, von einem verirrten Pfeil durchbohrtes Herz.
Was Dr. Kinsey von uns wollte, was er sich von seinem Appell an uns erhoffte, war unsere hundertprozentige Bereitschaft zur Mitarbeit. Wir sollten Termine mit ihm vereinbaren und ihm unter vier Augen die Geschichte unseres Sexuallebens anvertrauen. Für die Wissenschaft. Alles werde verschlüsselt aufgezeichnet und streng vertraulich behandelt – er habe einen Code entwickelt, dessen Schlüssel nur er allein kenne, so daß niemand außer ihm imstande sein werde, einer bestimmten Geschichte einen Namen zuzuordnen. »Und ich muß betonen, daß diese hundertprozentige Bereitschaft unerläßlich ist«, fügte er mit einer kantigen Handbewegung hinzu, »denn alles andere würde die Verläßlichkeit der gewonnenen Statistiken in Frage stellen. Wenn wir nur die Geschichten derer sammeln, die uns aufsuchen, erhalten wir ein sehr ungenaues Bild der gesamten Gesellschaft, doch wenn wir verschiedene Gruppen zu hundert Prozent erfassen – alle Studenten in diesem Hörsaal beispielsweise, alle jungen Männer, die einer studentischen Verbindung angehören, sämtliche Mitglieder des Elks’ Club, die weiblichen Angehörigen der Streitkräfte, die Insassen des Staatsgefängnisses in Putnam –, erstellen wir ein akkurates Bild, in dem alle Gesellschaftsschichten berücksichtigt sind.« Er hielt inne und ließ den Blick über die Reihen der Zuhörer wandern, von rechts nach links, von hinten nach vorn. Eine Stille legte sich über uns. Laura hob den Kopf.
»Gut«, sagte er schließlich. »Im Dienste dieser Sache stehe ich
im Anschluß an die Vorlesung zur Terminabsprache zur
Verfügung.«
Infolge unseres Täuschungsmanövers erhielten Laura und ich
aufeinanderfolgende Termine, denn schließlich wären wir ja
demnächst verheiratet – allerdings hatte Laura inzwischen keine
Verwendung mehr für mich und sah bewußt zur Seite, wenn sie in
Begleitung des hünenhaften Jim Willard, der mit einer Körpergröße
von eins neunundachtzig und einem Gewicht von sechsundachtzig Kilo
unter dem Korb unserer Mannschaft für Stabilität sorgte, über den
Campus spazierte. An einem windigen, bitterkalten
Dezembernachmittag gingen wir getrennt zum Institut für Biologie –
dürres Laub wirbelte über gelblich verfärbten Winterrasen, die
Bäume standen kahl und verloren herum, und alle auf dem Campus
hatten Schnupfen. Laura war als erste dran, und da die Interviews
damals im Durchschnitt etwas über eine Stunde dauerten, hatte es
eigentlich keinen Sinn, sie dorthin zu begleiten. Doch als ich sie
und Jim Willard am Abend zuvor auf den Stufen zur Bibliothek
getroffen hatte, bekam ich kalte Füße und plädierte dafür, den
Schein zu wahren und trotzdem gemeinsam zu gehen – mir machte es
nichts aus, ich würde meine Bücher mitnehmen und lernen, während
sie in Kinseys Büro wäre –, doch ich hatte noch gar nicht geendet,
da schüttelte sie bereits den Kopf. »Das ist sehr nett, John«,
sagte sie, »und ich weiß deine Sorge zu schätzen, wirklich. Aber
das Semester ist so gut wie vorbei. Was könnten sie uns schon
tun?«
Jim Willard ragte im Hintergrund auf und bedachte mich mit dem
Blick, den er sonst für den Tip-off reserviert hatte.
»Außerdem«, sagte sie und zeigte mit einem schmalen Lächeln ihre
Zähne, »kann man sich schließlich auch entlieben, oder? Sogar Dean
Hoenig muß den Realitäten ins Auge sehen – sie kann doch nicht
erwarten, daßyWe Verlobung hält.«
In diesem Punkt wollte ich ihr nicht recht geben. Ich spürte etwas,
was ich noch nie zuvor gespürt hatte, und ich hätte es nicht
definieren können, nicht als der Mensch, der ich damals war, nicht
mit den Begriffen, die mir damals zu Gebote standen, aber
vielleicht kann ich sagen, daß ihr Gesicht in dem Licht, das aus
den hohen Bogenfenstern drang, wie ein kleines Wunder war und daß
ich mich an den Kuß in der Kneipe erinnerte und daran, wie sie sich
im Hörsaal auf dem Platz neben mir bewegt hatte. Kann ich das sagen
und es dabei belassen?
»Und was ist mit disziplinarischen Maßnahmen?« sagte ich.
Sie lachte kurz auf. »Disziplinarische Maßnahmen? Soll das ein Witz
sein?« Sie sah zu Jim Willard und dann wieder zu mir.
»Disziplinarische Maßnahmen – ganz gleich, von wem – sind mir
völlig egal.«
Und so ging ich allein zum Institut für Biologie und folgte dem
zarten Duft ihres Parfüms, der noch in der Luft hing. Ich hatte den
Mantelkragen hochgeschlagen, und unter dem Arm trug ich einen
Stapel Bücher. Wie die meisten anderen Universitätsgebäude war auch
dieses aus Kalkstein, der in der Gegend gebrochen worden war.
Gleich einem entweihten Tempel erhob es sich aus dem schwarzen
Griff der Bäume, der Himmel im Hintergrund hatte beinahe alles
Licht verloren, und ich dachte unwillkürlich, wie anders es im
September ausgesehen hatte, eingebettet in buntes Laub. Als ich auf
den Weg zum Eingang abbog und dürre Blätter unter meinen Füßen
raschelten, war mir mit einem Mal beklommen zumute. Ich kannte Prok
noch nicht – oder vielmehr kannte ich ihn nur als eine entfernte,
mit einer Funktion versehene Gestalt auf dem Podium –, und ich
fragte mich besorgt, was er von mir denken würde. Nicht nur die
List, zu der Laura und ich gegriffen hatten, warf einen Schatten
auf mich, sondern auch meine Geschichte. Ich schämte mich ihrer,
ich schämte mich dessen, was ich war und was ich getan hatte.
Niemals hatte ich das Thema Sex angeschnitten, nicht gegenüber
meinen besten Freunden, nicht gegenüber dem Vertrauenslehrer und
auch nicht gegenüber dem Onkel (Robert, dem jüngsten Bruder meines
Vaters), der sein Bestes getan hatte, die Stelle meines toten
Vaters auszufüllen, bis ihn die Wanderlust packte und er ebenfalls
verschwand.
Ich wälzte diese Gedanken im Kopf herum und fragte mich, was Dr.
Kinsey von mir würde wissen wollen und ob ich es wagen konnte,
ausweichende Antworten zu geben – oder zu lügen, knallhart zu lügen
–, als die Tür aufgestoßen wurde und Laura aus dem Gebäude trat.
Sie trug einen dunklen Mantel mit Gürtel, weiße Söckchen und
sportliche Schuhe, ihre Waden waren schutzlos der Kälte ausgesetzt,
und vor dem aufragenden Gebäude und dem großen, gewichtigen
Rechteck der Tür sah sie klein und zerbrechlich aus. Eine Windbö
kam, ihre Hände griffen unwillkürlich nach dem Hut, und hätte sie
nicht in diesem Moment aufgeblickt und mich gesehen, dann hätte ich
vielleicht auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre verschwunden. Doch
sie blickte auf. Und sie sah mich eigenartig an, als könnte sie
sich nicht genau an mich erinnern oder als sähe sie mich zum ersten
Mal außerhalb der gewohnten Umgebung. Ich hatte keine andere Wahl,
als weiter auf den Eingang zuzusteuern, und da bedachte sie mich
mit einem reumütigen Blick. »Jetzt bist du dran, hm?« sagte sie.
Sie stand auf dem Treppenabsatz und hielt mir die Tür auf. »Was
wollte er wissen?« schnaufte ich und sprang, immer zwei Stufen auf
einmal, die Treppe hinauf. Der Korridor hinter ihr lag verlassen
da. Ich sah das matte Glänzen des Linoleumbodens, die in Abständen
montierten Lampen und die dunkle Treppe, die am anderen Ende
gähnte.
»Ach, ich weiß nicht«, sagte sie, und ihr Atem dampfte in der
kalten Luft. »Alles.«
»Hat er auch nach ... nach uns gefragt?«
»Mh-mh. Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß ihn das so
interessiert. Er ... er ist wirklich überzeugt von dem, was er tut,
und er will, daß die Leute ... sich öffnen. Ja, so muß man das wohl
nennen. Es geht nur um Forschung, es geht darum, an die eigentliche
Wahrheit heranzukommen, und wie er das macht... Ich meine, es ist
nicht das, was du denkst. Es ist nicht peinlich, überhaupt nicht.
Du wirst schon sehen. Er hat eine sehr entspannende Art.«
Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte. Sie stand neben mir,
so nah, daß ich das schwache Aroma der Pfefferminzzahnpasta riechen
konnte, das sich mit den Düften von Parfüm und Shampoo vermischte.
Ihr Gesicht war freimütig, die Lippen waren geöffnet, doch ihre
Augen blickten an mir vorbei, als erwartete sie, daß Jim Willard –
oder Prok selbst – unter der Reihe von Bäumen an der Straße
hervortreten würde. Sie starrte einfach in die Ferne, als wäre sie
gerade erst erwacht – oder als wäre sie von einem der Scharlatane
beim Landwirtschaftsfest hypnotisiert worden. Der Wind wehte mir
ins Genick, und ich spürte die warme Luft, die aus dem Gebäude
strömte, wie den Atem eines Tieres auf meinem Gesicht. »Er hat dich
doch nicht hypnotisiert oder so?«
Sie musterte mich lange und ausgiebig. »Nein, John«, sagte sie
ziemlich von oben herab, »nein, er hypnotisiert einen nicht. Aber
hör zu« – sie schob eine lose Strähne unter den Hut –, »ich hab
mich noch gar nicht richtig für das bedankt, was du getan hast.
Viele Männer, die ich kenne, wären niemals in diese Vorlesung
gegangen – das war wirklich toll von dir. Also danke. Das meine ich
ganz ernst.«
»Klar«, murmelte ich, »war mir ein Vergnügen«, und dann ließ sie
den Türflügel los, und ich paßte ihn mit einer Hand ab und trat ins
Gebäude, während Laura die Eingangstreppe hinunterging.
Dr. Kinseys Büro befand sich am Ende des Flurs im ersten Stock.
Mein Termin war der letzte an diesem Tag, und die Korridore, in
denen es noch vor einer Stunde von Studenten gewimmelt hatte, waren
jetzt verlassen. Auch die Angestellten und Mitarbeiter waren nach
Hause gegangen – sämtliche Büros und Unterrichtsräume waren dunkel.
Sogar der Hausmeister hatte offenbar anderswo zu tun. Am
Trinkbrunnen blieb ich stehen – meine Kehle war plötzlich wie
ausgetrocknet –, dann ging ich weiter, und meine Schritte hallten
in dem leeren Gebäude wider wie Gewehrschüsse. Durch ein tristes,
fensterloses kleines Vorzimmer kam man in das gedämpft beleuchtete
Büro. Die Tür stand offen, und ich sah zwei vollgestopfte, bis zur
Decke reichende Metallregale, dann einen Haarschopf, der wohl nur
der Kinseys sein konnte. Er beugte sich im sanften gelben Licht
über einen Tisch. Ich zögerte einen Augenblick und klopfte dann an
den Türrahmen.
Er reckte den Kopf zur Seite, um die Tür besser zu sehen, und
sprang dann auf. »Milk?« rief er, eilte mit ausgestreckter Hand auf
mich zu und machte dabei ein so entzücktes Gesicht, als wäre ich
von allen Menschen auf der Welt der einzige, dessen Erscheinen ihn
überglücklich machte. »John Milk?«
Ich schüttelte ihm die Hand, nickte und stammelte die üblichen
Begrüßungsfloskeln. Ich sagte vielleicht: »Freut mich«, allerdings
so leise, daß er es wahrscheinlich gar nicht hörte.
»Gut, daß Sie gekommen sind«, sagte er und hielt noch immer meine
Hand. Wir standen einen Augenblick in der Tür, und mir wurde
bewußt, wie groß er war – mindest eins sechsundachtzig – und daß er
eine enorme körperliche Präsenz besaß. Ich dachte, daß er es, wenn
er gewollt hätte, ohne weiteres mit Jim Willard hätte aufnehmen
können. »Aber kommen Sie doch herein«, sagte er, ließ meine Hand
los und führte mich in sein Büro, wo er auf einen Stuhl vor dem
Schreibtisch zeigte. »Milk«, sagte er, während ich mich setzte und
er ebenfalls wieder am Schreibtisch Platz nahm, »ist das ein
deutscher Name – ursprünglich, meine ich?«
»Ja. Früher hießen wir Milch, aber mein Großvater hat das ändern
lassen.«
»Zu eindeutig teutonisch, hm? Es gibt natürlich kaum etwas
Robusteres als einen Amerikaner mit englisch-deutschen Vorfahren –
außer einen mit schottischen Vorfahren vielleicht. Ich bin
schottischer Herkunft, aber das haben Sie sicher schon aus meinem
Namen geschlossen. Möchten Sie eine Zigarette?«
Zigarettenschachteln lagen, ausgebreitet wie eine Opfergabe, vor
mir auf dem Tisch, vier verschiedene Marken; daneben Feuerzeug und
Aschenbecher. Damals wußte ich noch nicht, wie sehr Prok das
Rauchen verabscheute – er fand, es solle an allen öffentlichen und
den meisten privaten Orten verboten werden – und daß er Zigaretten
ebenso wie Limonade, Kaffee, Tee und, unter den entsprechenden
Umständen, auch alkoholische Getränke nur anbot, um die
InterviewSituation angenehmer zu gestalten. Er wollte vor allem
eine intime Atmosphäre schaffen, die Vertraulichkeit ermöglichte,
und hier war er wirklich ein Genie – er nahm den Leuten die
Befangenheit und brachte sie dazu, aus sich herauszugehen. Wäre es
nicht so gewesen, dann wäre dieses ganze Projekt nie in Gang
gekommen.
Jedenfalls entschied ich mich für die Marke, die mir am besten
schmeckte, die ich mir aber nicht leisten konnte, zündete eine an,
nahm einen tiefen, beruhigenden Zug und überließ mich dem sanften
Schwindel des Nikotins. Prok strahlte mich an. Er war der gütigste,
freundlichste Mensch der Welt, und nach seinem Gesichtsausdruck
hätte man meinen können, die Zigarette sei seine eigene Erfindung
und er besitze die Mehrheit der Pall Mall Company. »Ich hoffe, daß
die Vorlesungsreihe ›Ehe und Familie‹ Ihnen gefallen hat«, sagte
er, »und daß alle Mißverständnisse, die bei Ihnen und Ihrer
Verlobten möglicherweise bestanden haben – eine sehr charmante
junge Frau übrigens, und schön, sehr schön –, ausgeräumt sind
...«
Ich wandte den Blick ab – ein Fehler, war es doch eine seiner
Grundregeln, immer Augenkontakt zu halten. Für ihn war das der
erste Indikator des Wahrheitsgehalts einer Aussage. Ich sagte
irgendwas Unverbindliches. Oder vielmehr: Ich murmelte etwas sowohl
Unverbindliches als auch Unverständliches.
»Keine Angst, Milk, niemand wird Sie beißen oder ein Urteil über
Sie fällen, und es ist mir sehr wohl bewußt, daß zahlreiche
Studentinnen und Studenten sich zu, sagen wir, geeigneten
Beziehungen zusamengefunden haben, um Dean Hoenig und andere
selbsternannte Hüter der Moral an der Universität und in der Stadt
zufriedenzustellen.«
Ich klopfte mit der Zigarette an den Aschenbecher, betrachtete den
perfekten Zylinder aus bleicher Asche, der hineinfiel, und sah Prok
an. Ich spürte, daß ich rot wurde – die alte Entblößung. »Tut mir
leid, Sir«, sagte ich.
Er winkte ungeduldig ab. »Es gibt nichts, was Ihnen leid tun müßte,
Milk, überhaupt nichts. Ich will nur Informationen an Menschen
weitergeben, die sie benötigen, und wenn es nach mir gegangen wäre,
hätte es keinerlei Zulassungsbeschränkungen für die Vorlesungsreihe
gegeben. Aber erzählen Sie mir von sich – wie alt sind Sie?«
»Einundzwanzig.«
»Geburtsdatum?«
»2. Oktober 1918.«
»Stammen Sie aus Indiana, das heißt, sind Sie hier geboren?«
»Nein, in Michigan City.«
»Und Ihre Eltern?«
»Meine Mutter ist Grundschullehrerin in Michigan City. Mein Vater
ist tot. Er starb bei einem Unfall auf dem See – das heißt,
eigentlich weiß niemand genau, was damals passiert ist. Er wurde
... Der Leichnam wurde nie gefunden.«
Prok sah mich die ganze Zeit an, machte sich aber gleichzeitig
Notizen auf einem Blatt Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch
lag. Ich hatte es gar nicht bemerkt, aber das Interview lief
bereits. Prok hielt inne, um mir sein Beileid auszusprechen. Er
fragte mich, wie alt ich beim Tod meines Vaters gewesen sei – ich
war damals neun, es war kurz vor den Sommerferien, und mein Vater
war ein begeisterter Segler und hatte das Boot den ganzen Winter
und Frühling hindurch abgeschliffen und lackiert, und nun war es zu
Wasser gelassen worden, und ich konnte an nichts anderes denken als
an die langen, sonnigen Tage, die vor uns lagen und an denen wir
frei und ungehindert über die kleinen Wellen gleiten würden wie der
Gott, der das Wasser geschaffen hat, und der Sohn, der gekommen
war, um darauf zu wandeln –, und dann sagte er, auch er habe ohne
väterliche Führung auskommen müssen, jedenfalls von dem Augenblick
an, als er aufs College gegangen sei und sich von dem erdrückenden
Einfluß seines Vaters befreit habe. Nach dem Willen seines Vaters
habe er Ingenieur werden sollen – ob ich mir das vorstellen könne?
–, doch ihn selbst habe es zur Biologie gezogen. Biologie sei seine
Leidenschaft. Mit einer beiläufigen Geste wies er auf das beengte
Büro und die aufrecht stehenden großen Kästen mit den Tabletts, auf
denen Insekten mit Stecknadeln befestigt waren. »Wußten Sie«, fügte
er hinzu, »daß ich sechzehn neue Spezies der Gallwespe
identifiziert habe?« Er schmunzelte. »Wäre es nach meinem Vater
gegangen, dann wären sie noch heute unentdeckt.« Seine Augen
leuchteten. »Die armen Dinger.«
Unsere Unterhaltung – denn genau das war es – hatte ihre eigene
Logik, ihren eigenen Rhythmus gefunden. Je länger wir redeten (und
es war beinahe, als spräche man mit seinem inneren Selbst oder
vertraute sich unter vier Augen seinem Hausarzt an), desto genauer
schien er zu wissen, was ich dachte und fühlte. Und das lag nicht
bloß daran, daß er das, was er tat, meisterlich beherrschte – nein,
man hatte das Gefühl, daß er aufrichtig Anteil nahm, und wenn mir
das Herz brach, so brach es ihm ebenfalls.
Und damit zum eigentlichen Gegenstand dieses Interviews: der
Geschichte meines Sexuallebens. Wir hatten uns etwa fünfzehn
Minuten lang unterhalten, als die erste diesbezügliche Frage
auftauchte, so beiläufig, als ginge es lediglich um eine
Einschätzung meiner Eltern oder ihrer Erziehung. Wir hatten über
die Spielkameraden gesprochen, die ich als Junge hatte, und ich
verlor mich in nostalgischen Erinnerungen – Gesichter, Namen, Orte
trieben wie Dunst durch meine Gedanken –, als Dr. Kinsey mit seiner
sanftesten, leidenschaftslosesten Stimme fragte: »Wie alt waren
Sie, als Ihnen zum ersten Mal bewußt wurde, daß es zwischen Jungen
und Mädchen anatomische Unterschiede gibt?«
»Ich weiß nicht. Ziemlich jung, glaube ich. Fünf? Sechs?«
»Zeigte man sich in Ihrem Elternhaus gelegentlich nackt? Ihre
Eltern? Sie selbst?«
Ich dachte einen Augenblick nach und versuchte mich zu erinnern.
»Nein«, sagte ich, »nein, ich glaube nicht.«
»Haben Ihre Eltern Ihnen befohlen, sich etwas anzuziehen, wenn Sie
sich nackt gezeigt haben?«
»Ja. Aber das müßte dann, wie gesagt, in einem sehr frühen Alter
gewesen sein, wahrscheinlich mit zwei oder drei. Oder nein, später.
Es gab da eine Situation – da muß ich mindestens fünf gewesen sein,
denn wir waren noch nicht in die Cherry Street gezogen. Es war ein
heißer Tag, ich war mit meiner Mutter zum Baden an den See
gegangen, und als ich aus dem Wasser kam, zog ich mir die nasse
Badehose aus. Sie war wütend, und ich weiß noch, daß ich nicht
verstand, warum.«
»Hat sie Sie bestraft?«
»Ja.«
»Körperlich?«
»Wahrscheinlich. Es war allerdings nicht das erste Mal.«
»Was war bei den anderen Malen?«
Jede Frage ergab sich logisch aus der vorangehenden, und alle
Fragen kamen im Schnellfeuertempo: Sobald Prok eine Antwort
erhalten und notiert hatte, stellte er die nächste Frage, und doch
hatte ich nicht den Eindruck, verhört zu werden, sondern fühlte
mich als Teilnehmer an einer sich immer weiter entwickelnden
Unterhaltung über das faszinierendste Thema der Welt: mich selbst.
Und die Fragen waren stets so formuliert, daß die Antwort möglichst
präzise und unzweideutig ausfiel. Also nicht: »Haben Sie jemals
masturbiert?«, sondern: »Wann haben Sie zum ersten Mal
masturbiert?«, und: »Wie alt waren Sie, als Sie zum ersten Mal die
unbekleideten Geschlechtsorgane Ihres eigenen Geschlechts sahen?
Und die des anderen Geschlechts?« Und während sich der Befragte in
Gedanken von der Kindheit ins Erwachsenenalter bewegte, richtete
sich das Augenmerk mehr und mehr auf die sexuellen Praktiken – von
relativ harmlosen statistischen Fragen (»Wie alt waren Sie, als
Ihnen Schamhaare wuchsen?«) und Angaben zu Körpergröße, Gewicht und
Rechts- oder Linkshändigkeit hin zu: »Wann haben Sie Ihren ersten
Geschlechtsverkehr erlebt?«
Mir lief die Nase – auch ich war erkältet, wie alle in der Uni –,
und ich war bei meiner vierten Zigarette angelangt und hatte ganz
vergessen, wo und wer ich war, als die letzte Frage kam. Dr. Kinsey
beobachtete meine Reaktion, mein Gesicht, seine Augen fixierten
mich, die Bleistiftspitze verharrte über dem Papier. Alles in
Ordnung,
schien er zu sagen, was immer esist – es ist alles in Ordnung. Du kannst mir vertrauen. Und dann: Du mußt mir vertrauen.
Ich zögerte, und in diesem Zögern war bereits meine Antwort.
»Nie«, sagte ich. »Oder vielmehr ... Ich meine, noch nicht.«
Damals wußte ich es nicht, aber es gab eine Reihe Fragen – zwölf,
um genau zu sein –, deren Antworten Rückschlüsse auf das sexuelle
Verhalten gegenüber dem eigenen Geschlecht erlaubten, auf die
H-Geschichte, wie Prok sie nannte, um niemanden zu erschrecken. An
diesem Punkt setzte er sich auf dem Stuhl zurecht und räusperte
sich. »Kommen wir noch einmal darauf zurück«, sagte er. »Wie alt
waren Sie, als Sie zum ersten Mal die unbekleideten
Geschlechtsorgane Ihres eigenen Geschlechts sahen?«
Ich sagte es ihm, und er verglich es rasch mit meiner vorherigen
Antwort.
»Und wann haben Sie zum ersten Mal den erigierten Penis eines
anderen Mannes gesehen?«
Ich sagte es ihm.
Und dann kamen die Fragen auf die Art, die wir später als die
»Dampfwalzenmethode« bezeichneten, das heißt Schlag auf Schlag.
»Wann haben Sie zum ersten Mal die Genitalien einer Person Ihres
eigenen Geschlechts berührt? Wann haben Sie zum ersten Mal eine
Person Ihres eigenen Geschlechts zum Orgasmus gebracht? Wann haben
Sie zum ersten Mal eine Person Ihres eigenen Geschlechts durch
orale Techniken zum Orgasmus gebracht?«
Ich wandte den Blick ab, und er unterbrach die Befragung für einen
Augenblick. Die Turmuhr am anderen Ende des Campus schlug sechs.
»Milk«, sagte er, »John – ich möchte Sie noch einmal daran
erinnern, daß es nichts, aber auch gar nichts gibt, dessen Sie sich
schämen müssen. Sofern beide Partner einverstanden sind, gibt es
keine sexuellen Aktivitäten, die sich qualitativ in irgendeiner
Weise von anderen unterscheiden, ganz gleich, was die
vorherrschende Moral der jeweiligen Gesellschaft dazu sagt. Wenn es
Sie interessiert: In Ihrem Alter – und auch später noch – war mein
eigenes Sexualleben dem Ihren sehr ähnlich.«
Aber vielleicht wäre dies ein guter Zeitpunkt, um die von 0 bis 6
reichende Zuordnungsskala vorzustellen, die Prok entwickelt hatte,
um die sexuelle Ausrichtung einer Person zu evaluieren, eine Skala,
die das gesamte Spektrum der geschlechtlichen Orientierung abdecken
sollte, von »ausschließlich heterosexuell« (0) bis »ausschließlich
homosexuell« (6). Sie müssen wissen, Prok glaubte – ebenso wie ich
selbst inzwischen –, daß der Mensch von Natur aus pansexuell ist,
daß lediglich die Beschränkungen der Gesellschaft, insbesondere der
jüdisch-christlich oder muslimisch geprägten Gesellschaft, die
Menschen daran hindern, ihre Wünsche und Bedürfnisse offen zu
äußern, und daß dies der Grund ist, warum so viele Menschen an
verschiedenen sexuellen Verhaltensstörungen leiden. Doch ich greife
vor.
Als ich an jenem Tag in jenem Raum saß, ein Taschentuch an die Nase
drückte und mich von Proks Präsenz leiten ließ, begann ich mich von
einer Seite kennenzulernen, von der ich mir nie hätte träumen
lassen. Was für mich ein Grund zur Scham gewesen war, wurde zu
etwas ganz Normalem – Prok hatte als Jugendlicher ähnliche
Erfahrungen gemacht und ebenfalls andauernd masturbiert –, und wenn
ich sagen konnte, daß ich auf der Skala von o bis 6 bei i
oder vielleicht bei 2 rangierte, so war das doch immerhin etwas,
etwas Bedeutsames. Und wie alle anderen hatte ich Erfahrungen
machen wollen, das war alles. Bei Mädchen war ich verlegen und
gehemmt gewesen: Ich hatte sie auf ein Podest gestellt und nie als
sexuelle Wesen, wie ich es war, betrachtet, als Menschen, die
dieselben Wünsche und Bedürfnisse hatten wie ich. Und so war es
ganz natürlich gewesen, daß ich mit den einzigen Partnern
experimentiert hatte, die mir zur Verfügung standen, nämlich mit
anderen Jungen, denn, wie Prok sagte: Jeder braucht eine
Triebbefriedigung. Vielleicht erfaßte ich das an jenem Nachmittag
in Proks Büro noch nicht in allen seinen Weiterungen, doch ich
dachte an Laura Feeney, die vor mir auf ebendiesem Stuhl gesessen
hatte, und daran, daß Prok sie gefragt hatte, in welchem Alter sie
begonnen habe zu masturbieren, wann sie zum ersten Mal die
unbekleideten Genitalien des anderen Geschlechts gesehen habe, wann
sie zum ersten Mal einen erigierten Penis gesehen und zum ersten
Mal eine Person des anderen Geschlechts zum Orgasmus gebracht habe,
und ich fühlte mich wie Kolumbus, als Land in Sicht kam.
Als wir fertig waren, schlug die Turmuhr Viertel vor sieben, und
Dr. Kinsey beugte sich über den Tisch und reichte mir eine
frankierte und adressierte Postkarte: Dr. Alfred C. Kinsey,
Professor für Zoologie, Institut für Biologie, University of
Indiana. »Und dann«, sagte er, »brauche ich noch vier Maße,
bitte.«
»Ja«, sagte ich und nahm wie in Trance die Karte – nein, er hatte
mich nicht hypnotisiert, jedenfalls nicht im landläufigen Sinne,
doch die Wirkung war ähnlich.
»Gut. Wenn Sie zu Hause sind, messen Sie bitte den Umfang des
schlaffen Penis sowie seine Länge von der Bauchdecke bis zur
Spitze. Wenn Sie dann ausreichend stimuliert sind, messen Sie
Umfang und Länge des erigierten Penis. Ach ja, wenn Sie bitte auch
den Grad der Krümmung angeben würden ...«
Der Wind hockte in jener Nacht in den Bäumen und sammelte Kraft für einen kleinen Ausflug nach Kentucky, und gegen neun schleuderte er kompakte Eiskörner an die Fenster des Dachzimmers, das ich mir mit Paul Sehorn, einem anderen Studenten im vierten Studienjahr, in Mrs. Elsa Lorbers Studentenpension in der Kirkwood Avenue teilte. Es war ein altes Haus, das in den Fugen ächzte und keinerlei Hemmungen hatte, sich zu beklagen, besonders nachts. Es war in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erbaut worden und noch immer recht solide, selbst nachdem eine ganze Generation von Studenten es auf eine Weise strapaziert hatte, die für eine Reihe anderer Häuser dieses Alters das Ende bedeutet hatte. Leider war es ungefähr so gut isoliert wie eine Apfelsinenkiste, und der unwillige, altmodische Kohleofen schien nicht imstande, die Temperatur spürbar über die Zone unverhohlener Ungemütlichkeit hinaus zu heben. Im vorigen Winter war ich eines Morgens erwacht und hatte festgestellt, daß sich zwischen meinen Lippen und dem Wasser in dem Glas, das ich am Vorabend auf den Nachttisch gestellt hatte, eine Eisschicht befand. Noch einen Monat später nannte Paul mich nur Nanuk.
Auf dem Tisch in einer Ecke des Zimmers thronte die gebrauchte Olympia-Schreibmaschine, die meine Mutter mir zu Beginn des Studiums geschenkt hatte, und daneben prangte ein altes Philco-Radio, das meine Großmutter hatte wegwerfen wollen. An der gegenüberliegenden Wand, neben der Tür, stand ein würdevoll nach Naphthalin riechender Schrank. Wir teilten uns den begrenzten Platz, den er bot; auf einem Dutzend abgewetzter Kleiderbügel hingen unsere Hemden, Hosen und Anzüge (jeder von uns besaß einen: meiner hatte ein zur Krawatte passendes Glencheckmuster, Pauls Anzug war ein abgelegtes Stück aus blauem Serge, dessen Ärmel gut sieben Zentimeter zu kurz waren). Die Schuhe hatten ihren Platz unter dem Bett, die Mäntel hingen im Vestibül an den dafür vorgesehenen Haken, persönliche Gegenstände legten wir auf unseren identischen Schreibtischen ab, und die Bücher standen ordentlich aufgereiht in einem billigen Regal aus Kiefernholz, das ich auf einem Flohmarkt gefunden hatte (vier Bretter, gerecht geteilt, vierzig Zentimeter für mich, vierzig Zentimeter für Paul). Das Badezimmer war auf der anderen Seite des Korridors.
An den meisten Abenden stellten Paul und ich das Radio an (wir beschränkten uns auf zwei Serien und hörten anschließend noch Swingmusik aus Cincinnati, die infolge der Entfernung so leise und verschwommen war wie ein Flüstern), legten uns, auf Kissen gestützt, ins Bett und lernten, bis unsere Finger vor Kälte steif waren. An diesem Abend jedoch hatte Paul eine Verabredung, so daß ich das Zimmer für mich allein hatte. Es ging allerdings nicht sehr still und friedlich zu: Ich hörte den Lärm und das Trampeln der anderen Studenten, die dort wohnten, und die langen Diskussionen über alles mögliche – von der Existenz Gottes bis hin zur Lebensraum-Ideologie der Nazis –, die grundsätzlich vor der Badezimmertür stattzufinden schienen. Gegen zehn war aus dem Eisregen Schnee geworden.
Ich lag unter der Bettdecke und versuchte zu lesen – wenn ich mich recht erinnere, hatte ich am nächsten Tag eine Prüfung –, doch ich kam nicht sehr weit. Die Zweige der Ulme hinter dem Haus kratzten an der Fassade, als wollte irgend etwas an der Hauswand hochklettern, um dem Schneesturm zu entkommen, und der Radioempfang war so schlecht, daß ich aufstand und den Apparat ausschaltete. Ich rieb einen Kreis in den Reif auf der Fensterscheibe und spähte hinaus. Die Welt war undurchdringlich und verschwommen, das Licht der Straßenlaternen war zu einem Nichts geschrumpft, und ich hörte nur den Wind und das unregelmäßige Scharren des Schnees an der Scheibe. Ich fühlte mich klein und eingesperrt. Rastlos. Gelangweilt.
Ich dachte an Dr. Kinsey – um ehrlich zu sein: Ich hatte den ganzen Abend, selbst beim Essen, an kaum etwas anderes gedacht – und ging wohl zum zwanzigsten Mal durch das Zimmer zu meinem Schreibtisch, um mir die Postkarte anzusehen, die er mir gegeben hatte. Ich ließ eine Hand in den Schoß sinken, wo ich einen leichten Druck verspürte, und begann gedankenverloren, mich durch eine Lage Gabardine zu massieren. Und wie sollte ich messen? Ich besaß kein Lineal. Natürlich konnte ich mir eins von Bob Hickenlooper leihen, dem Architektur-Überflieger, der ein paar Zimmer weiter wohnte – wenn es in diesem Haus ein Lineal gab, dann bei ihm –, aber ich hatte mich mit dem Gedanken noch nicht angefreundet. Es war irgendwie obszön, ja geradezu lächerlich. Den eigenen Penis messen? Aber natürlich steckte dahinter noch mehr – Sie haben es sicher bereits erraten: Was, wenn meine Maße unter dem Durchschnitt lagen? Wenn mein Penis, nun ja, kleiner war als der anderer Männer? Was dann? Würde ich ein paar Zentimeter aufschlagen, um den hervorragenden Wissenschaftler nicht zu enttäuschen, der die Ergebnisse begierig erwartete, um sie statistisch zu erfassen? Natürlich hatte ich keine Ahnung von den Durchschnittsmaßen des männlichen Glieds, aber ging es bei diesem Unternehmen nicht genau darum? Kinseys Vorlesung über individuelle Abweichungen von der Norm war doch nichts anderes als der Versuch, uns die Unsicherheit im Hinblick auf Busengröße und Penislänge und dergleichen zu nehmen.
Ja, sagte ich mir, ich werde nachmessen, und ich werde so ehrlich und gewissenhaft wie möglich sein. Und natürlich stellte ich bei dem Gedanken daran, wie ich das kalte, steife Lineal eines Architekturstudenten an meinen Schwanz drückte, fest, daß ich eine Erektion hatte. Erst da (und bitte verstehen Sie mich nicht falsch) fiel mir Mrs. Lorber ein. Sie saß jeden Abend unten im Salon, strickte und hörte dabei Radio, und ich wußte, daß sie in ihrem Nähkästchen ein weiches, geschmeidiges Maßband aus abgegriffenem gewachstem Stoff hatte, genau das, was man für die wissenschaftliche Untersuchung, die mir vorschwebte, brauchte.
Na gut. Schön. Im nächsten Augenblick sprang ich die drei Treppen mit den wackligen Stufen hinunter und ignorierte sowohl Tom Tomalins Einladung zu einer Runde Pinokel als auch den anzüg- lichen Gruß von Ben Webber, der seine hundertzehn Kilo schnaufend in sein Zimmer im ersten Stock schleppte. Außer Atem und mit mühsam beherrschter Erregung blieb ich vor der geöffneten Salontür stehen und klopfte an den Rahmen. Mrs. Lorber saß, eine Katze auf dem Schoß, in ihrem Lieblingssessel und strickte etwas Karamelfarbenes. Sie sah nicht auf, doch sie wußte, daß ich da war – sie wußte alles, was in ihrem Haus vor sich ging, keine Bewegung, kein Atemzug ihrer Schützlinge blieb unbemerkt, und sie hatte den Sessel so plaziert, daß sie einen strategischen Überblick über die Eingangshalle und die Treppe hatte und sogleich intervenieren konnte, sollte jemand so dumm sein zu versuchen, Konterbande auf sein Zimmer zu schmuggeln. (Mrs. Lorber war in den Sechzigern, eine breitschultrige, beleibte Frau mit mehreren Kinnen und dem bohrenden Blick eines Adlers: Alkoholische Getränke, Nahrungsmittel, die erhitzt werden mußten, und ganz besonders Frauen waren strengstens verboten.)
»Ah, entschuldigen Sie, Mrs. Lorber«, murmelte ich.
Sie musterte mich, und ich erwartete ein Lächeln oder wenigstens
ein Nicken, doch ihr Gesicht blieb unbewegt.
»Ich dachte nur, äh ... Ich könnte mir vielleicht Ihr ... Ihr
Maßband ausleihen. Nur ganz kurz. Ich bring’s gleich wieder zurück,
versprochen.«
Sie stieß einen Seufzer aus, in dem alle kleinen Widrigkeiten, alle
Krisen und Katastrophen enthalten waren, in die ihre Studenten sie
im Lauf der Jahre gestürzt hatten, beugte sich wortlos nach rechts
und kramte in ihrem Nähkästchen. »Hier«, sagte sie schließlich, und
ich ging zu ihr und nahm das Maßband in Empfang, »aber bestimmt
zurückbringen.«
Ich beugte mich zu ihr und roch die Salbe, mit der sie jeden Abend
ihre Beine einrieb, und die warme, hef ige Luft unter ihrem Rock.
Die Katze sah mich ausdruckslos an. »Ja«, sagte ich, und ihre
kühlen, trockenen Finger berührten meine, als ich das Maßband nahm,
»bestimmt. Ich brauche es nur kurz und bringe es gleich
wieder.«
Ich war schon beinahe wieder draußen, als sie mich zurückrief. »Was
wollen Sie eigentlich damit messen, John? Die Vorhänge? Ich hoffe
doch sehr, daß Sie die Vorhänge nicht –«
»Nein, nein, es ist für eine Hausaufgabe. Für mein
Literaturseminar.«
»Literatur? Messen Sie Gedichtzeilen? Die durchschnittliche Länge
der Zeilen in ›Don Juan‹? Hm?« Sie lachte auf. »Das war ein
Gedicht! Wird das eigentlich noch behandelt? Aber nein, natürlich
wird es noch behandelt. Von Lord Byron, ja. Das war ein
Dichter!«
»Ja«, pflichtete ich ihr bei, »aber ich muß jetzt, äh ... Ich
meine, ich muß ...«
»Jaja, gehen Sie nur«, sagte sie und winkte mit beiden Händen.
»Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht mit einer alten Frau, wenn Sie
etwas zu messen haben.«
Ich stapfte die Treppe hinauf. Das Band brannte in meiner Tasche
wie ein Stück glühende Kohle. Ich fühlte mich schuldig, schmutzig,
vor allem wegen meiner Lüge und wegen des Zwecks, dem ich das
makellose Zentimetermaß meiner Vermieterin zuführen wollte, und ich
stellte mir vor, wie sie es in die Hand nahm und an den Schal
hielt, den sie für ihre Lieblingsnichte oder –enkelin strickte. Ich
konnte morgen ein eigenes Maßband kaufen – so was war praktisch,
denn man wußte schließlich nie, wann man etwas zu messen hatte, die
Höhe und Breite eines Bücherregals zum Beispiel. Meine Schritte
waren wie Hammerschläge auf den Stufen. Der Sturm strich flüsternd
über die Fensterscheiben.
In meinem Zimmer stellte ich fest, daß meine Begeisterung für Dr.
Kinseys kleine statistische Übung abgeklungen war, doch ich öffnete
pflichtbewußt den Gürtel, ließ die Hose hinunter, entrollte Mrs.
Lorbers Maßband und wollte die Maße meines inzwischen erschlafften
Penis nehmen. Doch kaum hatte ich das Band angelegt, da begann er
wieder hart zu werden, und ich bekam keinen klaren Wert; bevor ich
wußte, wie mir geschah, streichelte ich meinen Schwanz und dachte
an Laura Feeney neben mir im Halbdunkel des Hörsaals – der
Projektor klickte und klickte, und wir alle atmeten flach. Und dann
sah ich ein Mädchen aus der ersten Reihe meines Literaturseminars,
ein Mädchen mit vollen Lippen und blauen Augen, und ihre Waden
liebkosten einander unter dem Tisch, bis ich glaubte, den Verstand
zu verlieren, und schließlich war da nur noch eine namen- und
gesichtslose Frau mit gereckten Brüsten und harten Brustwarzen, und
ihre Möse – ja, so wollte ich es nennen, ihre Möse – sah genauso
aus wie die auf der Leinwand.
Am nächsten Morgen erwachte ich früh. Das Licht, das durch das
Fenster fiel, lag bebend auf der schrägen Zimmerdecke über dem Bett
– es war ein bleicheres Licht als sonst, blauer, wie das wäßrige
Leuchten am Grund eines Schwimmbeckens, und die Aussicht auf den
ersten richtigen Schnee des Jahres erfüllte mich mit Vorfreude. Der
Sturm war vorüber, doch der Himmel sah aus wie poliertes Silber,
wie eine auf den Kopf gestellte gewaltige Suppenschüssel, aus der
vereinzelt noch Flocken fielen. Ich ließ Paul schlafen. Er war spät
heimgekommen, als ich schon längst im Bett lag, und ich wollte ihn
nicht wecken – nicht so sehr aus Sorge um seinen Schönheitsschlaf,
sondern weil ich nicht in Stimmung für Gesellschaft war. Ich wollte
durch die Straßen stapfen, die Welt verwandelt sehen und diesen
Anblick ganz für mich allein genießen, bevor ich in die Mensa ging,
um zu frühstücken und vor der Prüfung noch einen letzten Blick in
meine Aufzeichnungen zu werfen.
Es lag ein halber Meter Schnee, vielleicht sogar mehr – es war
schwer zu sagen, denn der Wind hatte ihn an Zäunen und Gebäuden
aufgetürmt. Die Bürgersteige waren noch nicht geräumt, die Autos
standen zugeschneit und unter Verwehungen begraben am Straßenrand,
und die Vögel flogen verwirrt aus dem Dunkel der immergrünen Büsche
rechts und links der Straße über die weiß verhüllte, versiegelte
Erde. Aus den Tiefen der Häuser schimmerte gedämpftes Licht. Es
roch nach gebratenem Speck und Holzrauch, nach dem reinen,
durchdringenden Duft der klaren Luft aus dem Norden.
Es war noch nicht sieben, und auf dem Campus war kaum ein Mensch zu
sehen. Wer bereits unterwegs war, bewegte sich stumm über die
verschneite Fläche, geduckte Gestalten, aus einem Traum vertrieben
und hierher versetzt, wohin sie nicht gehörten, und in der Mensa
saßen nur zehn Studenten – sonst waren es mindestens hundert. Sogar
die Belegschaft war auf eine einzige Frau reduziert. Sie gab mit
mechanischen Bewegungen das Essen aus, ging dann zur Kasse und nahm
das Geld in Empfang. Ich setzte mich an einen Fenstertisch, rührte
gedankenverloren Zucker in meinen Kaffee und starrte über meine
Bücher hinweg auf die Bäume am Fluß. Es war einer dieser starken
Augenblicke, in denen die Welt zum Stillstand kommt und ihre
schlummernden Möglichkeiten offenbar werden. Magisch. Der magische
Moment – hieß es nicht so in den Liebesliedern?
Sie sprach mich an, doch ich bemerkte es zunächst nicht – »Hallo,
John. Hallo, hab ich gesagt« –, und als ich aufsah, erkannte
ich sie nicht. Sie trug Wintermantel und Mütze, das seidige
schwarze Haar hing wie ein geraffter Vorhang zu beiden Seiten ihres
Gesichts herab, und ihre Augen leuchteten, als wären innen zwei
winzige, von einer verborgenen Batterie gespeiste Glühbirnen. Es
war sieben Uhr morgens – nein, noch nicht mal sieben Uhr morgens –,
und sie hatte bereits Lidstrich aufgetragen, um die Farbe dieser
Augen zu betonen, die es schafften, blau und grün zugleich zu sein
– wie das Meer vor Havanna, wo das flache Küstenwasser in
ozeanische Tiefen übergeht und dein weißes Boot dahingleitet und
dich gemächlich von dieser Welt in eine andere trägt und alles sich
in einem Traum auflöst. »Kennst du mich nicht mehr?«
Sie öffnete die Schnalle an ihrem Kragen, nahm die Mütze ab und
schüttelte das Haar aus. Den Schal hatte sie zweimal um den Hals
gewickelt. Plötzlich war alles wieder in Bewegung, als wäre der
Film wieder in den Projektor gefädelt worden: Sie schob ihre Bücher
neben meine auf den Tisch, knöpfte den Mantel auf, damit ich sah,
wie gut ihr das Kleid stand, und dann zog sie – wer war sie?
– den Stuhl zurück und setzte sich auf die Kante. Und da fiel es
mir ein. »Du bist Iris«, sagte ich.
Sie schenkte mir ihr volles Lächeln, und das Lächeln war an
derselben verborgenen Stromleitung angeschlossen wie die Augen.
»Iris McAuliffe, Tommys kleine Schwester. Aber das weißt du
ja.«
»Klar. Natürlich. Meine Mutter ... Ich meine, sie ... Und dann hab
ich dich irgendwo hier auf dem Campus gesehen ...«
»Du bist verlobt, hab ich gehört.«
Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte – ich wollte auf
keinen Fall, daß diese Nachricht auf irgendeine Weise, in
irgendeiner Form zu meiner Mutter gelangte –, und so neigte ich den
Kopf und trank einen Schluck Kaffee.
Iris’ Lächeln erstarb. »Sie ist sehr hübsch«, murmelte sie. »Laura
Feeney, meine ich.«
»Ja«, sagte ich und ließ die Tasse nicht aus den Augen. »Aber ich
bin nicht wirklich ... Wir sind nicht ...« Ich sah sie an. Am Rand
meines Gesichtsfelds kassierte die Frau hinter dem Tresen einen
Kaffee und einen Doughnut, mit Bewegungen, als wäre sie unter
Wasser, und außerdem bemerkte ich das schüttere Haar und die
schmalen Schultern meines Literaturprofessors, dessen Mantel mit
Schnee bestäubt war. »Das heißt, wir haben nur so getan als ob. Für
den Ehekurs.«
Es dauerte einen winzigen Augenblick, bis sie diese Information
verarbeitet hatte, und dann war das Lächeln wieder da. »Du meinst,
ihr habt... ? Nur um ... ? Du liebe Zeit«, sagte sie und ließ sich
zurücksinken, mit unruhigen Armen und Beinen und nervösen Händen.
»Ich hab gehört, das war richtig schmutzig...«
2
Ich schrieb Klausuren, ich schrieb Hausarbeiten (»Dualität in John Donnes Liebesgedichten«, »Malinowskis Melanesien«), ich fuhr in den Weihnachtsferien mit dem Bus nach Michigan City und schenkte meiner Mutter ein Sortiment Badeöle sowie Seifen in Form von Muscheln und Meerjungfrauen. Ein paar von meinen alten Highschool-Freunden kamen vorbei, ich erinnere mich besonders an Tommy McAuliffe, der jetzt stellvertretender Geschäftsführer im Lebensmittelladen war – und was für eine Überraschung, daß er seine kleine Schwester Iris mitgebracht hatte! Wußte ich eigentlich, daß sie jetzt auch an der University of Indiana studierte? Da stand sie neben ihm auf der Türschwelle, und obgleich ich sie kaum kannte, dämmerte mir, daß sie eine Frau war, die wußte, was sie wollte, und es immer, wirklich immer bekam. Ich sagte Tommy, ich hätte sie schon auf dem Campus gesehen – an dem Tag nach dem Schneesturm, stimmt’s? –, und sie stand mit ihren immer größer werdenden Meeraugen dabei, als hätte sie das ganz vergessen. Wir saßen am offenen Kamin, aßen Pfeffernüsse und tranken jedesmal, wenn meine Mutter in die Küche ging, um nach ihren Pasteten zu sehen, einen kleinen Brandy. Kurz vor Silvester spielte ich mit dem Gedanken, Iris ins Kino oder zum Schlittschuhlaufen einzuladen, mich also mit ihr zu verabreden, tat es aber schließlich doch nicht. Und dann war ich wieder in der Uni, und die Tage schleppten sich durch die dunkle Trostlosigkeit des Januars.
Eines Abends, als ich im ersten Stock der Bibliothek Bücher einordnete, sah ich Prok – Professor Kinsey –, der im angrenzenden Gang kniete und die Buchrücken auf dem untersten Bord musterte. Er war in ständiger Bewegung, zog hier und dort ein Buch heraus, schob es gleich wieder zurück und wiegte sich unablässig hin und her, wobei das Knie den Drehpunkt bildete. Es war eigenartig, ihn dort zu sehen – oder nicht so sehr eigenartig als vielmehr unerwartet –, und ich erstarrte für einen Augenblick. Ich wußte nicht, was ich tun sollte: ihn begrüßen, ihn ignorieren, eine Ladung Bücher packen und um die Ecke verschwinden? Und wenn ich ihn grüßte, würde er sich überhaupt an mich erinnern? Er hatte Hunderte von Studenten, und mit praktisch allen hatte er private Befragungen durchgeführt – wie konnte ich erwarten, daß er sich an irgendeinen von uns erinnerte? Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Er schien etwas vor sich hin zu murmeln – eine Katalognummer? –, und dann entdeckte er das gesuchte Buch, zog es aus dem Regal und sprang auf, alles in einer Bewegung. Er hob den Blick und sah mich.
Es dauerte einen Moment. In sein ausdrucksloses Gesicht trat freudiges Erkennen. Er ging auf mich zu. »Milk«, sagte er, »hallo. Schön, Sie zu sehen.«
»Hallo, Sir. Ich ... ich dachte, Sie würden sich nicht an mich
erinnern, bei den vielen Studenten, die Sie ...«
»Seien Sie nicht albern. Natürlich erinnere ich mich an Sie. John
Milk aus Michigan City, geboren am 2. Oktober 1918.« Er sah mich
mit seinem Patentlächeln an: Die obere Zahnreihe lag frei, zwei
senkrechte Lachfalten strafften die Haut an seinem Kinn, und sein
ganzes Gesicht erstrahlte vor unbändiger Freude. »Eins
siebenundsiebzig, einundachtzig Kilo. Sie haben doch nicht etwa
abgenommen?«
»Kaum«, sagte ich. Mein Lächeln war ein blasser Abklatsch des
seinen, und ich dachte an die anderen Maße, die ich auf die
Postkarte geschrieben und an ihn geschickt hatte, und auch an meine
Geheimnisse, meine Scham und alles, was damit zusammenhing. »Sie
wissen schon: Mutters Küche. In den Ferien.«
»Ja«, sagte er, »jaja, natürlich. Es geht nichts über Mutters
Küche, stimmt’s?« Er lächelte noch breiter als zuvor, wenn das
überhaupt möglich war. »Oder über Mutters Liebe.«
Ich mußte ihm zustimmen. Ich nickte, und dann löste sich dieser
Augenblick von allem anderen und hing da, sanft übergossen vom
Leuchten der Deckenlampen. Ich wurde mir der gedämpften Geräusche
der anderen Bibliotheksbesucher bewußt, ich hörte ein Buch zu Boden
fallen, ein Flüstern.
»Sie arbeiten hier, nehme ich an.«
Das bejahte ich. Allerdings hatte die Leitung meine Stundenzahl
reduziert, und ich verdiente kaum noch genug, um über die Runden zu
kommen. »Meistens ordne ich Bücher ein. Und wenn dann geschlossen
ist, fege ich, leere die Papierkörbe und räume auf.«
Er stand da, musterte mich und wiegte sich auf den Fußballen vor
und zurück. Unwillkürlich warf ich einen Blick auf das Buch: Das
Liebesleben der Griechen von Hans Licht. »Sie kommen spät ins
Bett, was? Verträgt sich das mit Ihrem Studium?«
Ich zuckte die Schultern. »Muß es ja wohl.«
Er schwieg für einen Augenblick, als faßte er einen Entschluß, und
sah mir dabei in die Augen. »Wissen Sie, Milk ... John ...« sagte
er leise, beinahe träumerisch, »wir haben einen Garten, Mrs. Kinsey
und ich. Clara. Im Sommer ist er der Stolz von Bloomington, ein
regelrechter botanischer Garten auf zweieinhalb Morgen fruchtbaren
Landes – ich züchte Taglilien, Iris, und wir wollen einen
Lilienteich anlegen. Sie sollten sich das mal ansehen,
wirklich.«
Ich konnte ihm nicht ganz folgen. In letzter Zeit war ich etwas
übermüdet, weil ich immer erst spät ins Bett kam, und mir fiel
nichts Besseres ein, als ihn mit meinem kriecherischen
Studentenblick anzusehen.
»Ich meine, ich denke schon seit einiger Zeit darüber nach, ob ich
nicht mal einen Studenten anheuern sollte, der mir hilft. Im
Augenblick sind da natürlich nur gefrorene Erde und dürre Stengel,
aber im Frühjahr werden wir alles zum Leben erwecken. Und bis dahin
– und auch später, zusätzlich zu dem Gartenjob – brauchen wir
jemanden für unsere Institutsbibliothek. Was sagen Sie dazu?«
Eine Woche später arbeitete ich im Institut für Biologie, mit
erhöhter Stundenzahl und ohne Abendschichten. Die
Institutsbibliothek umfaßte viel weniger Bände als die
Unibibliothek, und entsprechend klein war die Benutzerzahl, so daß
ich mehr Zeit für mich selbst hatte, Zeit, die ich mit Lernen
verbringen konnte (und, um ehrlich zu sein, mit Tagträumen: Ich
verbrachte in jenem Semester unverhältnismäßig viel Zeit damit, vor
mich hin zu starren, als wären alle Antworten auf die Fragen des
Lebens in einer krakeligen, verblaßten Schrift in die Luft
geschrieben). Prok bekam ich nicht oft zu sehen, er blieb meist in
seinem Büro im ersten Stock, und da das Forschungsprojekt gerade
erst anlief, brauchte er noch keine Hilfe bei den Befragungen oder
der Tabellierung der Antworten. Er war, wie Sie zweifellos wissen,
eine der Koryphäen auf dem Gebiet der Cynipoideen – der Gallwespen
– und damals noch damit beschäftigt, Eichengallen aus allen Teilen
der USA zu sammeln. Drei Assistentinnen (Studentinnen im zweiten
und dritten Studienjahr) waren ausschließlich damit beschäftigt,
die Maße verschiedener Wespenexemplare zu verzeichnen und die
Präparate in den dafür vorgesehenen Schmitt-Kästen zu befestigen.
Taxonomie war seine Stärke, nicht nur als Entomologe, sondern auch
als Erforscher menschlicher Sexualpraktiken.
Jedenfalls war der Job für mich ein Segen, und in den ersten ein,
zwei Wochen tauchte ich aus dem Tief auf, in dem ich versackt war.
Die freien Abende und das zusätzliche Geld bauten mich auf. Ich
ging mit Paul und seiner Freundin Betsy zum Bowling und bestand
darauf, sie zu Cheeseburgern und ich weiß nicht wie vielen Krügen
Bier einzuladen, nachdem Paul mich beiseite genommen und mir gesagt
hatte, er und Betsy seien übereingekommen, ich solle als erster
erfahren, daß sie verlobt seien. Die Jukebox spielte immer wieder
»Oh, Johnny«, und Betsy sagte immer wieder: »Du bist der nächste,
John-Johnny-John, du bist der nächste.« Ich zuckte nicht mal, als
Laura Feeney und Jim Willard hereinkamen und sich in eine Nische
weiter hinten setzten. An diesem Abend blieben Paul und ich lange
auf und tranken den Bourbon, den Paul an der wachsamen Mrs. Lorber
vorbeigeschmuggelt hatte, aus Wassergläsern, und obwohl ich am
nächsten Morgen verschlief, freute ich mich für Paul und schöpfte
neue Hoffnung für mich selbst.
Leider hielt diese Stimmung nicht lange an. Mein Zimmergenosse, ein
Mann, mit dem ich Alter und Interessen teilte, würde demnächst
heiraten, und auf ihn wartete bereits eine Stelle in der
Futtermittelfirma seines Vaters, während ich mir jeden Morgen vor
dem Spiegel eingestehen mußte, daß ich keine Ahnung hatte, was aus
mir werden sollte. Wie wohl die meisten höheren Semester war ich
orientierungslos, ich sorgte mich um meine Noten und steuerte auf
die Abschlußprüfung im Juni zu, ohne die leiseste Ahnung zu haben,
was ich mit meinem Leben anfangen, geschweige denn, wie ich meinen
Lebensunterhalt verdienen sollte. Ich wußte nur, daß ich lieber als
Handlanger des Küchenhelfers in der Suppenküche auf der Teufels-
insel arbeiten wollte, als noch einen Sommer bei meiner Mutter in
Michigan City zu verbringen. Und als wäre das noch nicht belastend
genug, drohte ein Krieg in Europa, und es gab Gerüchte über die
Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht.
Ich war also niedergeschlagen, das Wetter wurde schlechter und
schlechter, Paul war so oft mit Betsy unterwegs, daß ich
schließlich kaum noch wußte, wie er aussah, und die Bücher auf dem
Bibliothekswagen wurden immer schwerer. (Ich kam mir vor wie ein
bibliothekarischer Sisyphos: Die Arbeit nahm kein Ende, und die
einzuordnenden Bücher wurden und wurden nicht weniger.) Und dann
ereigneten sich zwei Dinge. Das erste hatte, wie Sie vielleicht
schon erraten haben, mit Iris zu tun. Obgleich sie, wie ich,
Englisch als Hauptfach hatte, tauchte sie eines Nachmittags in der
Institutsbibliothek auf und suchte verzweifelt Informationen über
den Lebenszyklus des PlasmodiumParasiten, denn sie hatte
einen von Dr. Kinsey persönlich veranstalteten Einführungskurs in
die Biologie belegt. »Wir müssen aus mindestens drei
wissenschaftlichen Zeitschriften zitieren«, sagte sie, noch immer
außer Atem, denn sie war bei starkem Gegenwind quer über den Campus
gelaufen, »und morgen soll ich die Arbeit abgeben.«
Ich war dabei, Katalogkarten für die Neuerwerbungen auszufül- len,
als sie an den Tisch trat und mich überraschte. Bevor ich auch nur
daran denken konnte zu lächeln, fuhr ich mir mit der Hand durch die
Haare und schob die widerspenstige Locke zurück, die mir wie immer
in die Stirn fiel. »Ich würde ... Klar«, sagte ich. »Aber da bin
ich ... Eigentlich ist für so was Mr. Elster zuständig, der
Bibliothekar, aber ich könnte ... Ich werde mein Bestes tun.«
Endlich fand ich mein Lächeln. »Für dich mache ich das.«
Sie senkte die Stimme. »Ich will keine Umstände machen – du hast
bestimmt Wichtigeres zu tun. Aber wenn du mir sagen könntest, wo
ich ...«
Ich stand auf und spähte durch den Saal zu dem Tisch, an dem, teils
hinter einer lackierten Trennwand verborgen, Elster saß. Er war ein
kleiner, dünner, verbitterter Mann von Ende Zwanzig und hatte mich
mehrfach darauf hingewiesen, daß es nicht zu meinen Pflichten
gehörte, den Benutzern behilflich zu sein – das war seine Aufgabe,
und er wachte eifersüchtig darüber. Im Augenblick jedoch war er
ganz von irgendwelchem Papierkram in Anspruch genommen, vielleicht
auch von einem der Kreuzworträtsel, die er sich ständig vornahm.
Auch ich sprach jetzt leiser: Immerhin war dies ja eine Bibliothek,
und es war besser, keine Aufmerksamkeit zu erregen. »Die aktuellen
Ausgaben der Zeitschriften stehen in alphabetischer Reihenfolge
dahinten an der Wand, aber du brauchst ja die Indizes, und die sind
... Ach was, ich hole sie dir schnell.«
Sie lächelte mich an, als hätte ich bereits passende Zitate
gefunden, sie aufgeschrieben und die Arbeit abgegeben, und ihr
Blick huschte auf eine Weise über mein Gesicht, die wir später als
eines der unterschwelligen Signale der Bereitschaft identifizierten
(das heißt der Bereitschaft zu sexuellen Aktivitäten, zu Küssen,
Petting, genitaler Manipulation und Koitus), doch damals dachte ich
nur, ich hätte einen Speiserest zwischen den Zähnen oder meine
Haare brauchten noch eine Portion Öl. »Hast du von deiner Mutter
gehört?« fragte sie und wechselte abrupt das Thema.
»Ja«, sagte ich. »Oder vielmehr nein. Ich meine, warum fragst du?
Ist irgendwas –«
»Oh, nein, nein«, sagte sie, »nein. Ich wollte nur wissen, wie es
ihr geht. Ich hab mich nie für den schönen Nachmittag und ihre
Gastfreundschaft bedankt. Und für deine. Das war wirklich ein
toller Nachmittag für Tommy und mich.«
»Die Pfeffernüsse waren lecker«, sagte ich wie ein Idiot. »Ein
Rezept meiner Großmutter. Familientradition.«
Für einen Augenblick dachte ich, sie würde nichts darauf antworten.
Ich stand verlegen am Tisch und suchte in Gedanken nach dem
Schlüssel zur nächsten Gesprächsebene – ihre Mutter, sollte ich sie
nicht nach ihrer Mutter fragen, auch wenn ich sie kaum kannte? –,
doch dann sagte sie etwas, allerdings so leise, daß ich sie nicht
verstand.
»Was?«
»Ich sagte: Ja, das waren sie.« Ich muß verwirrt ausgesehen haben,
denn sie fügte hinzu: »Die Pfeffernüsse. Ich hab dir
zugestimmt.«
Das brachte mich wieder ins Stolpern – wie gesagt, lockeres
Plaudern war nicht meine Stärke, es sei denn, ich hatte ein paar
Drinks intus –, und dann kicherte sie, und ich kicherte mit und sah
von ihr zu Elsters Tisch und wieder zurück. »Tja«, sagte ich, »setz
dich doch einfach, und ich, also ... die Indizes ...«
Sie setzte sich an einen der großen gelben Eichentische und legte
Handtasche, Büchertasche, Handschuhe, Mantel und Hut darauf ab, als
wäre die Bibliothek ein Flohmarkt, und ich brachte ihr die
vielversprechendsten Indizes und kehrte zu meinen Katalogkarten
zurück. Es war warm in der Bibliothek – eigentlich war sie
überheizt –, und wie in den meisten Bibliotheken roch es nach
Staub, Bohnerwachs und den verstohlenen Ausdünstungen der Benutzer.
Ein Strahl der Wintersonne färbte die "Wand hinter Iris gelb. Es
war sehr still. Ich versuchte, mich auf das, was ich tat, zu
konzentrieren und die Einträge in meiner saubersten Blockschrift zu
schreiben, doch ich blickte immer wieder zu ihr und war verwundert
über die Vitalität, die sie in diese sterile Atmosphäre brachte.
Sie trug einen langen Rock, dunkle Strümpfe, einen engen Pullover,
der ihre Formen zur Geltung brachte und zu ihren Augen paßte, und
während sie den Kopf hob und senkte – erst über die Zeitschrift,
dann über ihren Block, dann wieder über die Zeitschrift –, sah ich
ihr zu, als wäre sie ein exotisches, wildes Wesen in einem
ländlichen Idyll, das seinen Durst an einem Strom stillt.
Dabei war sie nicht wild, ganz und gar nicht. Sie war so zahm, wie
es zahmer kaum geht. Und sie war, wie sie mir später gestand, an
jenem Tag nur in die Bibliothek gekommen, um mich daran zu
erinnern, daß sie noch lebte und im geschlechtsreifen Alter war,
daß sie Lippen hatte, die man küssen konnte, und Hände, die
gehalten werden wollten. In Wirklichkeit hatte sie die Hausarbeit
über die widerwärtigen, Malaria übertragenden kleinen Parasiten
bereits geschrieben, sie hatte alles, was sie brauchte, und daß sie
hier am Tisch saß und den Kopf mit dem schimmernden Haar hob und
senkte, geschah einzig und allein, damit ich etwas zu sehen bekam.
Sie hatte, wie meine Mutter lange vor mir gemerkt hatte, ein Auge
auf mich geworfen und war entschlossen, mich diese Tatsache auf
meine unbeholfene Art entdecken zu lassen. Bevor sie heimging,
unterhielten wir uns noch ein bißchen, und irgendwie gelang es mir,
sie für Samstag abend zu einer Studentenproduktion eines beliebten
Broadway-Stücks einzuladen.
Bei der anderen Sache, die passierte, ging es um Prok, und sie war
wohl symbolisch für das, was sich später zwischen uns entwickelte,
zwischen Prok und mir einerseits und Iris und mir andererseits. Es
geschah in derselben Woche, in der Iris in die Bibliothek gekommen
war, vielleicht sogar am selben Tag, ich weiß es wirklich nicht
mehr. Ich wollte gerade nach Hause gehen, als jemand meinen Namen
rief, und als ich mich umdrehte, kam Prok die Eingangstreppe
herunter auf mich zu. »Milk, warten Sie einen Augenblick«, rief er,
und dann stand er vor mir und zog sich einen Handschuh aus, um mir
die Hand zu schütteln. »Wie geht’s? Gefällt Ihnen Ihr neuer
Job?«
»Ja«, sagte ich. »Ich bin sehr ... Es ist interessant.« Meine Worte
hingen in der Luft, als hätte niemand sie je ausgesprochen. Ich
tastete in meiner Jackentasche nach den Zigaretten und merkte, daß
ich sie offenbar auf meinem Tisch in der Bibliothek hatte
liegenlassen.
»Gehen wir ein paar Schritte«, sagte er. »Müssen Sie in meine
Richtung?«
»Ich wohne drüben in Kirkwood.«
»Aha. Gut. Die falsche Richtung also. Aber tun Sie mir den Gefallen
– einem jungen Burschen wie Ihnen macht ein Umweg von zwei Blocks
doch wohl nichts aus, oder?«
Also gingen wir in Richtung seines Hauses in der First Street. Die
Bäume auf dem Campus standen da wie Statuen, unter dem sich
verdunkelnden Himmel leuchtete das Licht in den Fenstern der hohen
bleichen Universitätsgebäude. Die Luft war hart vor Kälte und
straff über den Abend gespannt, doch nach der Beengtheit der
Bibliothek war es ein gutes Gefühl, draußen zu sein. Auf der Straße
gab es vereiste Stellen. Am Bordstein standen Mülleimer. Prok war
mir einen halben Schritt voraus, marschierte wie immer mit riesigen
Schritten dahin (bei Prok war alles ein Wettkampf, selbst das
Gehen) und sprach über die Schulter zu mir, so daß mich seine Worte
in einer Hülle aus gefrorenem Kohlendioxyd erreichten.
»Ich habe zu Clara gesagt, was für ein interessanter Mensch Sie
sind und wie sehr Sie mich beeindrucken, und sie sagte: ›Warum
lädst du ihn dann nicht mal zum Abendessen ein?‹ Ich fand das eine
gute Idee, denn sehr oft kommen Sie wohl nicht in den Genuß guter
Küche, oder? Sie wissen schon – worüber wir neulich gesprochen
haben: das gewisse mütterliche Etwas.«
»Nein«, sagte ich, »da haben Sie recht. Entweder Mensa oder
Schnellimbiß.« Das Kompliment ließ mich innerlich erglühen – ich
hatte ihn beeindruckt –, und die Worte kamen wie von
selbst.
»Jede Menge Fett und Knorpel als Futter für die sich vermehrenden
Gehirnzellen, hm?« Er wandte seinen großen Kopf und lächelte mir
zu.
»Und natürlich dürfen wir nicht selbst kochen ...«
»Studentenpension?«
Ich nickte. Wir waren jetzt in einer Seitenstraße und ließen die
Universität hinter uns. Es waren nur sehr wenige Autos
unterwegs.
»Tja«, sagte er, blieb stehen und drehte sich zu mir um, »also, wie
wär’s? Am Samstag um sechs?«
Ich muß gezögert haben, denn in einem ganz anderen Ton, beinahe als
machte er sich bereit, Gegenargumente vorzutragen, fügte er hinzu:
»Wenn Sie nichts anderes vorhaben, natürlich. Haben Sie
irgendwelche Pläne? Für Samstag?«
Ich blickte die ausgestorbene Straße entlang und sah dann ihn an.
»Nein«, sagte ich. »Eigentlich nicht.«
Proks Haus war nicht weit vom Campus entfernt, und doch galt die Gegend damals als irgendwie abgelegen, denn das Viertel rings um die First Street war noch nicht so entwickelt wie heute. Nach meiner Erinnerung gab es nur wenige große Häuser, eingerahmt von hohem, schwarz gezacktem Wald, und irgendwo in der Nähe murmelte ein Bach. Hier draußen waren die Straßen nicht beleuchtet, doch die Sterne und ein dreiviertel voller Mond ließen die Umrisse der hier und dort am Bordstein geparkten Automobile erkennen, und in jedem Haus, an dem ich vorbeikam, brannte Licht. Ich war ein bißchen spät dran, denn ich hatte beinahe eine Stunde lang darüber nachgedacht, was ich der Dame des Hauses mitbringen könnte: ein Gesteck aus Trockenblumen und Kiefernzapfen, das aussah, als wäre es mit weißem Zement besprüht, in den ein paar bunte Federn gesteckt waren, eine Flasche Kentucky Bourbon oder einen Käse, der im Schaufenster eines Lebensmittelgeschäfts meinen Blick auf sich gezogen hatte. Schließlich entschied ich mich für den Käse. Die Trockenblumen erschienen mir zu riskant – ich hatte keine Ahnung von Botanik und würde heute abend unter Experten sein –, und den Whiskey ließ ich stehen, denn ich wußte nicht, welche Haltung Prok gegenüber alkoholischen Getränken einnahm, vermutete aber, daß er sie ablehnte, weil sie gesundheitsschädlich waren und er das Trinken für eine Zeitverschwendung hielt.
Als ich um Viertel nach sechs außer Atem vor dem Haus stand, mußte ich mich vergewissern, daß dies die richtige Adresse war. Einladungen machten mich immer befangen – ich fürchtete, ich könnte das Datum oder die Adresse verwechselt haben, ich hatte Angst, die Gastgeber würden mich nicht erkennen oder hätten vergessen, daß sie mich eingeladen hatten. Ich weiß, das war dumm, aber schon als Kind in Michigan City war es mir so gegangen: Ich hatte mit einem Baseballhandschuh oder einem Basketball vor der Tür eines Freundes gestanden wie schon tausendmal zuvor, und mit einem Mal war ich überzeugt davon, daß er mich fortschicken würde, daß er etwas Scharfes, Verletzendes sagen und mich wie einen streunenden Hund verjagen würde. Und es half mir kein bißchen, daß ich mich unsicher fühlte in Gegenwart dieses Professors in mittleren Jahren und seiner Frau. (Wer immer sie sein mochte, ich hatte Angst vor ihr und dem, was sie über mich denken würde, und befand mich in einem Zustand zunehmender Panik bei dem Gedanken an die anderen Gäste – vielleicht war auch der Bürgermeister eingeladen oder mein Literaturprofessor oder der Rektor der Universität.) Was sollte ich zu ihnen sagen? Was sollte ich tun?
Warum hatte ich diese Einladung überhaupt angenommen? Es war wie der Augenblick mit Laura Feeney im Korridor vor dem Saal, wo die Einschreibung stattfand, ein Augenblick, der einem eine Wahl zu lassen schien, in Wirklichkeit aber das Ergebnis von Umständen war, die einen mit derselben Entschiedenheit an eine bestimmte Entwicklung banden, mit der Prok seine Cynipoideen in den Schmitt-Kästen feststeckte. Sie mögen es Schicksal nennen, aber ich will nicht den Eindruck erwecken, als wollte ich hier irgendeine Art von metaphysischer oder mystischer Verbindung herstellen; ich habe die letzten sechzehn Jahre mit Prok verbracht und keinerlei Sinn für Mystik. Ich hatte mich entschieden. Ich hatte ja gesagt, wie ich später, ob ich wollte oder nicht, zu vielen anderen von Proks Einladungen ja sagen würde. Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich, daß Prok eine Vaterfigur für den jungen Mann war, dessen eigener Vater schon lange tot war, und daß er ein starker, überzeugender Mann war – ihm schlug niemand etwas ab –, aber es ging noch darüber hinaus. Ich fühlte mich geschmeichelt. Er hatte mich erwählt – ich hatte ihn beeindruckt – , und darum hatte ich meine erste Verabredung mit Iris platzen lassen, um an diesem Samstagabend im Februar bei den Kinseys zu sein.
Doch ich mußte mich vergewissern, daß ich an der richtigen Adresse war, denn das Haus sah so – wie soll ich sagen – ungewöhnlich aus. Von der Straße aus, umschlossen von Dunkelheit, wirkte es wie ein Lebkuchenhaus, wie irgend etwas aus einem Märchen, die Behausung eines Zauberers, eines Kobolds. Der mit Ziegelsteinen gepflasterte Weg führte in Windungen zwischen Stauden und Büschen hindurch (Proks gärtnerisches Credo lautete: »Die gerade Linie erfreut den Stadtplaner, die gewundene den Gärtner«), und obgleich man merkte, daß eine Absicht dahintersteckte und der Weg tatsächlich zur Eingangstür führte, war die Wirkung überraschend natürlich. Was das Haus betraf, so waren alle Fenster erleuchtet. Das Dach hatte einen Stufengiebel und war mit Schindeln gedeckt, und die Mauern bestanden aus seltsam geformten Ziegelsteinen (Ausschußware, die Prok billig bekommen hatte), zwischen denen große Mörtelwülste hervorquollen wie Verzierungen auf einer zusammensackenden Torte. Das sollte das Haus eines Wissenschaftlers sein? Ich konnte es nicht glauben. Ich war sicher, daß ich vor dem falschen Haus stand – ich hatte mich verhört oder die Zahlen der Hausnummer vertauscht –, doch inzwischen war ich an der Tür angelangt, es war spät, und mir blieb nichts anderes übrig, als den Käse (einen Stilton, der annähernd zehn Pfund wog) unter den Arm zu klemmen, tief durchzuatmen und den Türklopfer zu heben.
Eine Frau öffnete – oder vielmehr ein weiblicher Mensch, wie Prok gesagt hätte. Sie war winzig, wirkte wie ein Kind, und ihr Haar, noch schwärzer als das von Iris, war zu einem Bubikopf geschnitten, der die Ohren frei ließ. Sie sah mich mit einem wunderschönen ungezwungenen Lächeln an, während sie mit ihrer kleinen Hand die Tür aufhielt.
»Ich bin ... Ich wollte ... Bin ich hier richtig bei Professor Kinsey?
Oder ...«
»Ich bin Clara«, sagte sie und nahm mir den Käse ab. »Und Sie
müssen John sein. Aber kommen Sie doch herein. Prok hat noch
irgendwas zu erledigen, aber er wird sicher gleich dasein.«
Sie führte mich ins Wohnzimmer, das so unkonventionell wie das
Äußere des Hauses war. Die Wände waren schwarz gestrichen (oder
vielmehr, wie ich später erfuhr, mit schwarzem Tee, der sich nach
Proks Meinung dafür besser eignete als Wandfarbe), und die
rustikalen selbstgebauten Möbel aus gebogenem Hickoryholz waren
ebenfalls schwarz lackiert. Es gab ein Klavier (schwarz), ein paar
Regale voller Schallplatten sowie ein Grammophon. Einige im Raum
verteilte Lampen ließen die Ecken weicher erscheinen, und im
offenen Kamin brannte ein Feuer. Von anderen Gästen war nichts zu
sehen.
»Mrs. Kinsey, es tut mir sehr leid, daß ich zu spät komme.
Normalerweise passiert mir das nicht, aber, äh ... Ich habe Ihr
Haus nicht gleich gefunden, und ...«
»Unsinn«, sagte sie. »Wir geben hier nichts auf Förmlichkeiten,
John, wir werden essen, wenn wir hungrig sind, also machen Sie sich
keine Gedanken. Und bitte nennen Sie mich Clara. Oder noch besser
Mac.« Ihre Stimme war belegt, und sie sprach langsam: Jede Silbe
löste sich sanft von der vorangehenden, als wären die Worte
Karamelbonbons, die aneinanderhafteten, Zuckerwatte, die noch ein
wenig auf den Lippen verweilen wollte. Sie war einundvierzig,
Mutter von drei Kindern und keine Schönheit, aber überaus
faszinierend, und von diesem ersten Augenblick an hielt sie mich in
ihrem Bann. Wir standen mitten im Wohnzimmer auf einem anscheinend
selbstgewebten Teppich. Wahrscheinlich betrachtete ich ihn, ohne es
zu merken, denn Mac (das war ihr Spitzname, eine Abkürzung ihres
Mädchennamens McMillen, so wie Prok die Kurzform von Professor K.
war) bemerkte: »Schön, nicht? Hat mein Mann gemacht.« Ich
antwortete irgendwas Idiotisches – er sei ein Mann mit vielen
Talenten oder so.
Mac lachte auf. Ich fragte mich, wo die Kinder waren, die anderen
Gäste, und betete insgeheim, daß keine kommen würden. »Aber was
stehe ich da und rede! Ich habe Sie noch gar nicht gefragt, ob Sie
etwas trinken möchten.«
Und ob. Ich wollte einen gut bemessenen Bourbon, damit das Gefühl
in Finger- und Zehenspitzen zurückkehrte und meine Zunge ein
bißchen lockerer wurde. »Oh«, sagte ich, »ich weiß nicht.
Irgendwas.
Vielleicht ein Glas Wasser?«
In diesem Augenblick, wie auf ein Stichwort (doch das ist ein
Klischee: Er hatte bestimmt die ganze Zeit im Flur gewartet und uns
beobachtet), erschien Prok mit einem Emailletablett, auf dem einige
Flaschen und drei langstielige kleine Gläser standen.
»Milk«, rief er, »wie schön, daß Sie da sind! Willkommen,
willkommen!« Er stellte das Tablett auf den niedrigen schwarzen
Tisch vor dem Kamin und forderte mich auf, mich zu setzen. »Mac
haben Sie ja schon kennengelernt. Was ist das hier? Oh, Käse!
Wunderbar.
Vielleicht könnte Mac uns noch ein paar Cracker ...? Bitte, Schatz,
würdest du uns Cracker bringen? Und jetzt« – er wandte sich wieder
an mich – »möchten Sie vielleicht ein Gläschen?«
Er reichte mir eines der Gläser – etwa so groß wie ein Fingerhut –
und begann über die verschiedenen Brände und Liköre auf dem Tablett
zu dozieren: Diesen hier habe ihm ein Kollege aus Italien
mitgebracht, und den da habe Professor Simmonds vom Fachbereich
Geschichte in den höchsten Tönen gelobt. Ich brauchte eigentlich
nicht viel zu sagen. Nachdem ich an meinem Glas genippt hatte – das
Zeug roch stark nach irgendwelchen mir vage bekannten Kräutern und
war so pappsüß und dickflüssig wie Melasse –, wurde mir klar, daß
meine Annahme richtig gewesen war: Von alkoholischen Getränken
hatte Professor Kinsey keinen blassen Dunst. Wir unterhielten uns
über den Ehekurs, das heißt über meine Eindrücke davon, als Mac mit
einem zweiten Tablett hereinkam, in dessen Mitte mein Stilton lag,
umgeben von Salzcrackers.
»Kleine Manöverkritik des Ehekurses«, sagte er und sah sie mit
einem Blick an, den ich nicht zu deuten vermochte. In diesem Moment
fiel mir ein, daß er sicher auch ihre Geschichte aufgezeichnet
hatte – sie war bestimmt unter den ersten gewesen –, und bei dem
Gedanken daran, daß ein Mann seine Frau über ihr Sexualleben
ausfragte, durchströmte mich ein eigenartiges Gefühl. Er war, das
wusste ich aus eigener Erfahrung, und ich sah es in den folgenden
Jahren immer wieder bestätigt, ein Meister in der Kunst der
Befragung und akzeptierte nichts Ungefähres. Er war beinahe wie ein
menschlicher Lügendetektor und merkte sofort, wenn der oder die
Befragte auswich. Mac mußte ihm alles erzählt haben, und das
bedeutete, daß er ihre Geheimnisse ebenso kannte wie meine.
Plötzlich durchzuckte mich die Erkenntnis, welche Macht dieses
Wissen barg. Wer seine Geschichte preisgab, gab seine Seele preis,
und der Besitz dieser Seele bedeutete die größtmögliche Erhöhung
der eigenen Person – wie bei den Kannibalen, wo man durch den Geist
eines jeden Opfers, das man sich einverleibt, an Größe gewinnt.
Beim Essen drehte sich das Gespräch ausschließlich um Sex. Prok
erzählte von seinem Projekt: Analog zu der Methode, die es ihm
erlaubte, Wespen anhand der Variationen innerhalb einer Spezies zu
klassifizieren, wollte er eine Taxonomie des menschlichen
Sexualverhaltens entwickeln. Wir aßen eine Art Eintopf – Prok
bezeichnete ihn als »Gulasch«, er hatte ihn selbst zubereitet. Zum
Essen gab es weder Bier noch Wein, sondern Milch, die Prok aus
einem großen Glaskrug ausschenkte, wobei er einen seiner seltenen
Versuche unternahm, witzig zu sein (»Noch etwas Milch, Milk?«). Wir
saßen zu dritt am Tisch. Die Kinder hatten offenbar bereits
gegessen, so daß wir, wie Prok sich ausdrückte, »einander
kennenlernen« konnten, »ohne unsere Aufmerksamkeit aufteilen zu
müssen«. Jedesmal, wenn Prok Luft holte, was nicht oft der Fall
war, sagte Mac, was sie zu sagen hatte, und ich war überrascht,
denn sie war kein bißchen weniger fachkundig und gleichermaßen
imstande, Worte wie Cunnilingus oder Fellatio in das Tischgespräch
einzustreuen.
Was mich betraf, so genoß ich die Aufmerksamkeit, die beide mir
zuteil werden ließen. Ich hatte mich immer als
Durchschnittsmenschen betrachtet, selbst als ich eine Bestnote nach
der anderen bekommen hatte, selbst als es mir gelungen war, ein
schon verloren geglaubtes Footballspiel herumzureißen, doch hier
saßen zwei lebhafte, intelligente, welterfahrene Menschen –
erwachsene Menschen –, die meine Meinung hören wollten und mich als
ihresgleichen behandelten. Es stieg mir ein wenig zu Kopf, und ich
wollte nie mehr von diesem Tisch aufstehen oder von dem Sofa vor
dem Kamin, auf das wir uns nach dem Essen setzten. Dort löffelten
wir Vanille-Eiscreme, während Prok mit hoher Stimme unermüdlich
dozierte und Mac perfekte Maschen strickte. Es wurde neun, es wurde
zehn. Irgendwann verschwand Mac, um sich davon zu überzeugen, daß
die Kinder (zwei Mädchen von vierzehn und fünfzehn und ein
zwölfjähriger Junge) auch wirklich im Bett waren, und für einen
Augenblick fühlte ich mich unbehaglich. Ich sagte, es sei schon
spät, doch Prok tat das mit einer Handbewegung ab. Er war
keineswegs müde, im Gegenteil:
Er schaltete noch einen Gang höher.
Er schürte das Feuer, setzte sich mit dem Stoffstrang, aus dem er
einen Teppich knüpfte, auf den Boden (»Sehr wirtschaftlich, Milk –
sollten Sie auch machen. Sie können alle abgelegten Kleider, Laken,
Stoffe und so weiter verarbeiten, dazu Streifen aus Musselin, die
Sie färben können, wie Sie wollen, und Sie werden staunen, wie
haltbar so ein Teppich ist. Zum Beispiel der hier, auf dem ich
sitze: den hab ich 1921 gemacht, da war ich Assistenzprofessor, und
wir haben in einer hübschen kleinen Mietwohnung gewohnt, unserer
ersten gemeinsamen Wohnung nach der Hochzeit«) und offenbarte mir
in der nur vom Knistern und Knacken des Feuers unterbrochenen
Stille all seine Hoffnungen und Ambitionen hinsichtlich des
Projekts. Zehntausend Befragungen mindestens, das war es, was er
wollte, und um Genauigkeit zu gewährleisten, mußten diese
Befragungen persönlich durchgeführt werden – er wollte sich nicht,
wie andere Forscher vor ihm, auf Fragebögen oder subjektive
Berichte verlassen. Nur so könnten wir (darin war der junge
Neophyt, der vor ihm saß, bereits eingeschlossen) die Daten
zusammentragen, die wir brauchten, um die bornierten Vorurteile,
die schon das Leben so vieler Menschen ruiniert hatten, zum Teufel
zu jagen. Beispiel Masturbation: Wußte ich, daß hochangesehene
Leute – Ärzte, Priester und dergleichen – die ungeheuerliche
Theorie vertraten, Masturbation führe zu Geisteskrankheit?
Er wandte sich zu mir, und das Feuer, das gerade ein Eichenscheit
verzehrte, spiegelte sich zweimal in den Brillengläsern und legte
sich über seine Augen. »Dabei ist die Masturbation ein natürliches
und überaus harmloses Ventil für sexuelle Spannung, das unsere
Spezies entwickelt hat. Es ist etwas durch und durch Positives, ein
Segen für unsere Art und die Gesellschaft insgesamt, und glauben
Sie mir: Jeder Pfarrer, der sein Geld wert ist, sollte in seinen
Predigten darauf hinweisen. Bedenken Sie, Milk, bedenken Sie den
Schaden durch die sexuelle Unterdrückung und die Schuldgefühle,
unter denen normale, gesunde Heranwachsende vollkommen sinnlos zu
leiden haben ...« Hier dachte ich an unser Interview und muß wohl
errötet sein, denn plötzlich änderte er die Taktik und fragte mich
geradeheraus, ob ich bereit sei, zu seinem Projekt beizutragen.
»Tja, na ja, ich meine ... Natürlich würde ich ...« stammelte ich
und versuchte mich zu fassen. »Aber wie könnte ich tatsächlich
etwas dazu beitragen?«
»Ganz einfach«, sagte er und setzte sich bequemer hin. »Sprechen
Sie mit den anderen Studenten in Ihrer Pension – vierzehn sind es,
nicht wahr?«
»Stimmt«, sagte ich. »Ja. Vierzehn.«
»Sprechen Sie mit ihnen und überzeugen Sie sie, in mein Büro zu
kommen und mir ihre persönliche Sexualgeschichte zu erzählen. Sie
haben da eine potentielle Hundert-Prozent-Gruppe, John, ist Ihnen
das eigentlich klar?«
Ich war kein besonders geselliger Typ und bei dem Gedanken daran
wurde mir mulmig, doch ich stellte fest, daß ich zustimmend nickte,
denn, wie gesagt, ihm schlug niemand etwas ab.
Aber noch während ich dort saß und mit ihm Pläne schmiedete wie ein
Lieblingssohn, spürte ich in den hinteren Winkeln meines Geistes,
im Augenblick nur undeutlich zu erkennen, ein dumpfes, aber
hartnäckiges Schuldgefühl gegenüber Iris. Ich war nicht nur wegen
meiner Zweifel im Hinblick auf den Käse zu spät zu dieser Einladung
gekommen, sondern auch, weil ich Iris – oder besser: die
Iris-Situation – bis zum letzten Augenblick aufgeschoben hatte.
Warum, weiß ich auch nicht – ich bin, normalerweise jedenfalls,
kein Zauderer, sonst hätte ich wohl kaum die Leistungen bringen
können, die ich auf der Schule und später bei Prok gebracht habe –,
aber jedesmal, wenn ich daran dachte, daß ich Iris anrufen mußte,
klopfte mein Herz so heftig, als stünde ich kurz vor einem Infarkt,
bis mir schließlich bewußt wurde, daß ich sie sehen mußte, und sei
es nur, um alles zu erklären und wieder ins Lot zu bringen. Ich
wollte ja mit ihr ausgehen, unbedingt sogar, ich dachte in den
seltsamsten Augenblicken an sie, ich sah sie vor mir, wie sie in
der Bibliothek ausgesehen hatte oder an jenem Nachmittag bei meiner
Mutter, als sie die Beine hatte baumeln lassen wie ein kleines
Mädchen, als sie gestikuliert hatte, um irgendeinen Punkt zu
unterstreichen, und ihre Augen bei irgendwelchen Themen –
Parasiten, Poesie, die Not der Litauer – geschimmert hatten wie die
Gischt eines Wasserfalls, doch je länger ich damit wartete, unsere
Verabredung zu verschieben, desto schlimmer würde es werden.
Schließlich kam der Samstag, und noch immer hatte ich nicht den Mut
aufgebracht, zu ihr zu gehen. Ich erwachte bei Pauls brutalem,
knarrendem Geschnarche, sah die graue Eisschicht auf der
Fensterscheibe und dachte: Iris. Ich würde auf der Stelle zu ihrem
Wohnheim gehen und sie zum Frühstück einladen, so daß ich ihr bei
Spiegelei, Muffins und Kaffee in die Augen sehen und ihr sagen
könnte, ich würde am kommenden Samstag mit ihr ausgehen,
hundertprozentig, und ich freute mich darauf, es gebe nichts auf
der Welt, was ich lieber täte (und vielleicht wollte sie heute
abend mit einer Freundin ins Theater gehen, immerhin hätte ich die
Karten ja schon besorgt), aber sie müsse verstehen, und es tue mir
leid, mehr als leid, ich sei geradezu verzweifelt, und ob sie mir
vergeben könne. Aber ich ging nicht zum Wohnheim. Es war noch zu
früh. Sieben. Es war erst sieben oder kurz nach sieben, und es
würde noch Stunden dauern, bis sie aufstand, oder jedenfalls redete
ich mir das ein. Also nahm ich meine Bücher, frühstückte allein in
der Mensa, las die ersten sechs Stanzen von Miltons Der
Nachdenkliche, bis ich es nicht mehr aushielt (»Daher die
trügerischen, eitlen Freuden / Die Brut der Torheit, vaterlos
geboren«, und so weiter, und so weiter), aufsprang und
hinausrannte, be vor ich noch wußte, was ich tat.
Vom Uhrenturm schlug es acht, die Kälte drang durch meine
Schuhsohlen. Als ich mitten durch eine Baumgruppe und quer über den
verdorrten braunen Rasenstreifen auf Iris’ Wohnheim zuging, stapfte
einer von Laura Feeneys abgelegten Sportlern, ein Muskelberg mit
Füßen wie Schneeschuhe, an mir vorbei zur Sporthalle. In der
Eingangshalle des Wohnheims hing ein künstlicher Duft, als wäre ich
irgendwie zum Coty-Stand bei Marshall Field’s versetzt worden, und
die Rezeptionistin – sie war zwanzig und hatte unreine Haut,
blondes Haar und einen welken Pagenschnitt – sah mich an, als wäre
ich gekommen, um jede einzelne Studentin in diesem Haus zu
schänden. »Hallo«, sagte ich und ging entschlossen auf sie zu,
bemüht, den Schwung nicht zu verlieren, denn jetzt kam es darauf
an. »Ich wollte nur wissen, ob Iris McAuliffe ... äh ... zufällig
da ist. Wenn sie schon auf ist, meine ich.«
Sie sah mich entsetzt an, ihre Gesichtszüge waren auf das
Wesentliche reduziert.
»Ich heiße John«, sagte ich. »John Milk. Würden Sie ihr sagen, daß
ich da bin? Bitte?«
»Sie ist nicht da.«
»Was heißt, sie ist nicht da? An einem Samstagmorgen? Um acht
Uhr?«
Doch sie war nicht auskunftsfreudig. Nach einem tiefen Seufzer, als
würde ich jeden Morgen meines Lebens in der Eingangshalle des
Wohnheims stehen und ihr auf die Nerven gehen, wiederholte sie:
»Sie ist nicht da.«
Ich sah zu der Tür am Ende der Halle, dem Eingang zum geheiligten
Bezirk, und in diesem Augenblick schwang sie auf, und zwei
Studentinnen traten heraus, knöpften ihre Mäntel zu und setzten die
Hüte auf, bevor sie sich in die eiserne Umarmung des Morgens
begaben. Sie musterten mich amüsiert – welcher halbwegs normale
Mann würde sich um diese Uhrzeit verabreden? – und gingen unter
heftigem Gekicher hinaus. »Na gut«, sagte ich und entschied mich
für den Weg des Feiglings, »kann ich ihr eine Nachricht
hinterlassen?«
Doch jetzt saß ich bei Prok vor dem Kamin und erklärte mich bereit,
den ersten entschlossenen Schritt in eine Karriere als Sexforscher
zu tun. Wer hätte das gedacht? Wer hätte geahnt, daß es so etwas
überhaupt gab? Fragen Sie einen Jungen, was er mal werden will, und
er wird sagen: Cowboy, Feuerwehrmann, Polizist. Fragen Sie einen
Studenten, und er wird sagen: Arzt, Rechtsanwalt, Lehrer,
Betriebswirtschaftler oder Ingenieur. Keiner sagt Sexforscher.
Ich sah Prok zu, wie er an seinem Flickenteppich arbeitete und
einen fünfzehn Zentimeter langen Stoffstreifen festzog und mit
ande- ren verwob. Das Ding lag jetzt wie ein Rock auf seinen
ausgestreckten Beinen. Er sprach über seine H-Geschichten und
erzählte, wie er allein zum Gefängnis in Putnamville gefahren war
und die Geschichten der Insassen aufgezeichnet hatte – »Und es
waren sehr umfangreiche Geschichten, John, das kann ich Ihnen
versichern« – und wie einer der Häftlinge ihm angeboten hatte, ihn
in die homosexuelle Unterwelt von Chicago einzuführen. Und diese
H-Geschichten waren wichtig: Für die Einschätzung des Gesamtbilds
waren sie, wie mir zweifellos klar war, ebenso unerläßlich wie die
heterosexuellen Geschichten. Dann hielt er einen Moment inne, um es
mir zu erklären, und seine Augen suchten die meinen und hielten sie
mit dem unverwandten Blick fest, den er vermutlich durch
stundenlanges Anstarren des eigenen Spiegelbilds geübt hatte. Er
sprach leiser, gedämpfter. »Damit will ich sagen, daß Sie, John,
bestimmt ein besonderes Inter esse an diesem Thema haben ...«
Vielleicht errötete ich. Ich weiß es nicht. Aber ich erinnere mich
an seine Umarmung. Wir standen an der Tür, er dankte mir für mein
Kommen, den Käse sowie meine Diskussionsbeiträge und gab mir noch
allerlei proktypische Ratschläge und Ermahnungen im Hinblick auf
die Kälte, vereiste Straßen, schlechte Autofahrer und dergleichen
mit auf den Weg. »Gute Nacht, Milk«, sagte er, nahm mich in die
Arme und drückte mich an sich, und ich spürte das Spiel seiner
Muskeln und die Wärme seines Körpers, ich roch sein Haaröl, seinen
Duft, die heiße, verführerische Einladung seines Atems.
Er ließ mich los. Die Tür schloß sich. Ich ging hinaus in die
Dunkelheit.
3
»Also, Paul, du mußt mir das noch mal erklären, denn irgendwas hab ich hier nicht verstanden. Du hast was gegen wissenschaftliche Forschung, stimmt’s? Gegen das Sammeln von Daten? Ehrlich, ich versteh’s nicht.«
Wir waren in unserem Zimmer, der Tag verabschiedete sich mit den letzten fahlen Strahlen einer trüben Sonne, und wir wollten gleich zum Abendessen in die Mensa gehen. Es war kalt. Und zwar nicht nur draußen: Mrs. Lorber schien die Heizung auf Sparflamme gestellt zu haben. Paul – mir wird gerade bewußt, daß ich ihn noch gar nicht beschrieben habe, und ich hoffe, Sie verzeihen mir das, denn auf diesem Gebiet bin ich ein Neuling –, Paul also lag diagonal auf seinem ungemachten Bett, den Kopf an die Wand gelehnt, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Er war beinahe ein Jahr älter als ich und trug einen sehr schmalen, penibel gepflegten Schnurrbart á la Ronald Colman, doch ebenso wie seine Haare war dieses Bärtchen so bleich und verwaschen, daß man es selbst aus der Nähe kaum sah. Er hatte blaue Augen, und auch sie waren blaß, fast durchscheinend. Außerdem hatte er zwei Ohren, eine Nase, einen Mund, ein Kinn und zwei dünne, farblose Lippen, die er stets zusammenzupressen schien, wahrscheinlich weil er einen Überbiß hatte. Was gibt es sonst noch über ihn zu sagen? Seine Eltern waren Engländer aus Yorkshire, und er liebte Schach, Lucky Strikes, den »Lone Ranger« und natürlich Betsy. Mit der er aufs Ganze gegangen war, obgleich sie noch gar nicht verheiratet waren – oder vielmehr: mit der er andauernd aufs Ganze ging. Woher ich das wußte? Er hatte es – den Koitus mit Betsy – so detailliert beschrieben, daß Prok hochzufrieden gewesen wäre, wenn ich Paul nur dazu hätte bringen können, sich befragen zu lassen.
Abends blieb ich lange wach und wartete auf ihn, damit wir im Dunkeln rauchend auf unseren Betten liegen und er mir mit leiser, belegter Stimme schildern konnte, wie er sie im Heizkraftwerk der Uni an die Wand gedrückt oder sich bei voll aufgedrehter Heizung auf dem Rücksitz eines geliehenen Wagens auf sie gelegt hatte und wie willig sie war, wie scharf, und daß Betsy, damit es schneller ging, nur noch Röcke trug, keine Unterwäsche, und daß sie beide es kaum erwarten konnten zu heiraten, damit sie es im Bett tun konnten, auf Laken und unter Decken, und keine Angst vor der Polizei oder dem Nachtwächter oder sonst irgend jemandem haben mußten ...
»Aber warum sollte ich?« sagte er. »Warum sollte ich eineinhalb oder gar zwei Stunden damit verplempern, mit einem Mann zu reden, den ich noch nie gesehen habe und vielleicht nicht mal mag? Was soll mir das bringen?«
»Dir vielleicht nichts, aber der Wissenschaft«, antwortete ich, »dem Fortschritt der Wissenschaft. Hast du mal darüber nachgedacht, daß du dich, wenn es mehr Menschen wie Dr. Kinsey gäbe, nicht heimlich mit deiner Verlobten ins Heizkraftwerk schleichen müßtest, weil man dann nämlich voreheliche sexuelle Beziehungen dulden, ja sogar befürworten würde?«
Er schwieg einen Augenblick. Vor dem Fenster war es grau geworden, und ich stand auf und schaltete das Licht an, wickelte mich dann in meine Decke und legte mich wieder aufs Bett. Schatten nisteten in den Ecken. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Es ist einfach zu persönlich.«
»Zu persönlich?« Ich traute meinen Ohren nicht. »Wie kannst du das ausgerechnet zu mir sagen? Immerhin erzählst du mir in allen Einzelheiten, was du und Betsy an sieben Abenden die Woche treibt, ob ich es nun hören will oder nicht.«
»Ach«, sagte er, und seine Hand hob und senkte sich unter der Bettdecke wie eine pulsierende Ader, »du bist ein trauriger Fall. Du weißt nicht mal, wie das ist, stimmt’s ? Du warst zwar in diesem Ehekurs, aber trotzdem hast du keine Ahnung, wie schön es ist, wie wild und schön, und ich schätze, ich werde dir ein bißchen helfen müssen, damit du bei – wie heißt sie noch? Iris? – zu deinem ersten Schuß kommst.«
»Ach, leck mich doch! Ich finde das unmöglich, wirklich. Nur weil du mit Betsy so ein Schwein hast, ich meine, nur weil du eine gefunden hast, die nicht –«
»Ist ja gut«, sagte er. »Jetzt komm mal nicht ins Schwitzen. Ich
mach’s. Okay? Bist du jetzt zufrieden?«
Es dauerte einen Augenblick, bis ich diese Auskunft verarbeitet
hatte. Der Atem verdichtete sich vor meinem Gesicht, die Decke
schmiegte sich an meinen Hals. »Ja«, sagte ich schließlich und
versuchte, trotz allem versöhnt zu klingen, aber er hatte mich
wirklich gekränkt: Ich war unerfahren, das wußte ich ja, aber war
das ein Verbrechen? Mußte er mir das unter die Nase reiben? Glaubte
er etwa, daß ich mir Liebe – Liebe und Sex – nicht
ebensosehr wünschte wie jeder andere?
Er dachte nach und kickte mit den Füßen das untere Ende der
Bettdecke zurecht, damit es sich enger um seine bestrumpften Füße
legte. Zwei Finger strichen über den Schatten seines Bärtchens.
»Also, was muß ich jetzt tun? Legst du eine Liste an oder was?«
Ich stand auf, zog die Decke hinter mir her, trat an den
Schreibtisch und schlug mein Notizbuch auf. »Ich habe hier seine
freien Termine«, sagte ich.
Der Monat war noch nicht zu Ende, da war ich von der bibliothekarischen Hilfskraft zum persönlichen Assistenten von Dr. Alfred C. Kinsey, Professor für Zoologie, aufgestiegen, und wenn ich Elster auf dem Korridor oder der Treppe des Instituts für Biologie begegnete, sah er durch mich hindurch, als wäre ich gar nicht vorhanden. Auch unter denen, die Biologie im Hauptfach studierten, gab es vermutlich einigen Unmut – immerhin verfügte ich über keinerlei Fachkenntnisse, abgesehen von denen, die ich mir im zweiten Studienjahr in einem von Professor Eigenmann veranstalteten Grundkurs angeeignet hatte, und war dennoch mit einer Stellung belohnt worden, die wohl zu den angenehmsten im ganzen Institut zählte. Prok wollte aber vor allem jemanden, zu dem er ein gutes Verhältnis hatte und der seine Begeisterung für dieses nagelneue Projekt teilte, das schließlich zur Publikation der beiden grundlegenden Werke in der Geschichte der Sexualwissenschaft führen sollte. Und bei der Auswahl dieser Person spielte die Hierarchie keine Rolle – es hätte jeder sein können. Daß ich der erste war, der in diesen engsten Kreis von Vertrauten aufgenommen wurde, ist etwas, was mich für immer mit Dankbarkeit erfüllen wird. Und mit Stolz. Dafür stehe ich bis heute in Laura Feeneys Schuld.
Jedenfalls setzte Prok mich an einen Tisch im hinteren Teil des Büros, wo ich zwischen hohen dunkelgrauen Bücherregalen eingezwängt war und aus dem Fenster sehen konnte, auf dessen Fensterbank sich Gallen türmten, die in Stoffsäckchen steckten, damit die möglicherweise ausschlüpfenden Insekten nicht davonfliegen konnten. Diese Gallen stammten aus der Sierra Madre Oriental oder aus Prescott, Arizona, ja sogar aus dem Apennin oder den zerklüfteten Hügeln von Hokkaidō (interessierte Kollegen oder Laien in aller Welt sandten Prok ausgewählte Exemplare zu). Ein undefinierbarer, nicht unangenehmer, aber eindeutig seltsamer Geruch hing in der Luft – er ging von diesen vollgestellten und beengten Räumlichkeiten im ersten Stock des Institutsgebäudes aus und war untrennbar mit ihnen verbunden. Das hatte natürlich etwas mit den Gallwespen zu tun, denn die Gallen – diese holzigen Wucherungen an Eichen und Rosen, deren Wachstum durch die Wespenlarven, die darin leben, ausgelöst wird – verströmen tatsächlich einen recht angenehmen Geruch, vermutlich nach Borke und Tannin. (Wenn Sie einen Waldspaziergang machen, brechen Sie mal eine Galle ab und riechen Sie daran, dann wissen Sie, was ich meine.) Die Wespen selbst hatten, soweit ich feststellen konnte, keinen Geruch. Außerdem nahm man Spuren des Zigarettenrauchs wahr, den die von Prok Befragten in dicken blauen Wolken ausstießen, wenn sie ihm die Geschichte ihres Sexuallebens offenbarten, sowie den Duft, der Prok selbst umgab, den Duft rosiger geschrubbter Sauberkeit; er war ein entschiedener Verfechter der morgendlichen kalten Dusche und beinahe zwanghaft, was den Gebrauch von Seife betraf. Unterlegt war das alles mit den Parfüms der drei Assistentinnen, die sich den Schreibtisch mit mir teilten und sich mit mir abwechselten, und den üblichen Bürogerüchen von Tinte, Bleistiftspänen, Schreibmaschinenöl und (in diesem Fall) einem chemischen Mittel gegen jene winzige Käferart, die schon ganze entomologische Sammlungen vernichtet hat.
An meinem ersten Tag wies Prok mich ein und gab mir Anweisungen, wie ich seinen Geheimcode zu dechiffrieren und die Resultate zu übertragen hatte. Er war sehr genau, ein Muster an Effizienz, und wenn seine Schrift auch irgendwie künstlerisch war, voller Schnörkel und großer, geschwungener Linien, so bestand seine Druckschrift – wie meine – aus einer beinahe mechanischen Aneinanderreihung von Buchstaben, so gleichmäßig geformt, daß sie auf den ersten Blick wie maschinengeschrieben wirkten. Er sah mir, berstend vor Energie und auf den Fußballen wippend, über die Schulter, schnalzte angesichts meiner Schrift mißbilligend mit der Zunge, griff ungeduldig nach meiner Hand oder nahm das Blatt Papier, knüllte es zusammen und warf es weg, weil ich einen Fehler gemacht hatte. So ging es stundenlang. Er lief ständig zwischen seinem und meinem Tisch auf und ab, doch als er schließlich glaubte, ich hätte begriffen, worum es ging, setzte er sich auf die Kante meines Tischs und sagte: »Sie machen das sehr gut, Milk. Ich muß zugeben, daß ich zufrieden bin.«
Ich sah zu ihm auf und murmelte eine Antwort, die meine Freude über das Lob ausdrücken sollte, ohne allzu kriecherisch zu klingen. Prok gab den Kurs vor, und zwar immer, er war ein geborener Führer, aber er hielt nichts von Unterwürfigkeit, ganz gleich, was andere Ihnen erzählen mögen.
Eine Sekunde verging. Dann sagte er: »Sie haben natürlich die
Gallen gesehen.«
Er rutschte von der Tischkante, trat zum Regal, nahm ein großes,
knolliges, vielflächiges Objekt, das wie der konservierte Kopf
eines ausgestorbenen Wesens aussah, und legte es vor mich auf die
hölzerne Tischplatte. »Die größte je entdeckte Galle«, sagte er.
»Zwölf Kammern, vierhundertfünfzig Gramm. Hab ich selbst gefunden,
in den Appalachen.«
Wir bewunderten sie, und dann ermunterte er mich, über die rauhe,
pockennarbige Oberfläche zu streichen: »Keine Angst, das ist bloß
das Werk einer besonders tatkräftigen Kolonie von Cynipoideen. Aber
wahrscheinlich wissen Sie so gut wie nichts über Cynipoideen,
stimmt’s? Es sei denn, Professor Eigenmann hat sie in seinem
Einführungskurs behandelt.« Er lächelte. Nein, er grinste. Seine
letzte Bemerkung war ein kleiner Witz, mit dem er sowohl mich – wie
hätte ich mir das merken sollen? – als auch seinen Kollegen durch
den Kakao zog, denn Professor Eigenmann mußte in diesem
Einführungskurs das gesamte Leben auf der Erde behandeln, vom
Pantoffeltierchen über den Schachtelhalm und den Riesen-Mammutbaum
bis hin zum Homo sapiens, und konnte im Verlauf eines Semesters
wenn überhaupt, dann kaum mehr als einen Satz über die Gallwespe
gesagt haben.
Ich grinste zurück und wußte nicht, was er von mir erwartete. »Ich
weiß, daß es Wespen sind«, sagte ich, »und daß sie relativ klein
sind im Vergleich zu denen, die hier herumfliegen würden, wenn
jetzt Sommer wäre.«
»Es sind hervorragend angepaßte parasitische Insekten«, sagte er
und betrachtete die Galle beinahe liebevoll. »Eine äußerst seßhafte
Spezies, flugunfähig. Sie verbringen ihr gesamtes Leben in ein und
derselben Galle auf ein und demselben Baum. Alle Jubeljahre
vielleicht verlassen die ausgewachsenen Exemplare ihre Galle und
kriechen zu einem fünfzehn, zwanzig Meter entfernten Baum – das ist
ihr Aktionsradius, das Maß ihrer Unabhängigkeit, und das macht sie
zu einem interessanten Studienobjekt: Ich konnte den Ursprung einer
bestimmten Population bestimmen, indem ich einfach ihren
geographischen Weg zurückverfolgte und die Variationen der
vererbten Charakteristika notierte.«
Er begann wieder auf und ab zu gehen, blieb für einen Augenblick
stehen, nahm die Brille ab und sah aus dem Fenster, bevor er erneut
an den Tisch trat, die Galle vorsichtig in die Hand nahm und sie
sorgsam in das Regal legte. »Aber ich fürchte, ich habe schlechte
Neuigkeiten für Sie« – er grinste, offenbar bahnte sich der nächste
Witz an –, »denn sie haben im allgemeinen ein sehr begrenztes
Sexleben. Unglücklicherweise − für die Gallwespen − sind Männchen
sehr selten, und daher pflanzen sich die meisten Gallwespenarten
durch Parthenogenese fort. Ich bin sicher, Professor Eigenmann hat
den Begriff der Parthenogenese erläutert.«
Wieder ein Grinsen. Sein Gesicht tauchte vor meinem auf und
verschwand wieder. »Glauben Sie nicht, daß ich meine Cynipoideen
nur erwähne, um mich selbst reden zu hören. Jaja, ich sehe den
fragen- den Ausdruck in Ihren Augen, versuchen Sie nicht, ihn zu
verbergen. Sie denken: Worauf will Kinsey jetzt eigentlich
hinaus? Aber mein Wahnsinn hat Methode. Was ich sagen will, ist
dies: Ihre Anwesenheit, Milk, leitet eine neue Ära ein. Ab Montag
werde ich die Arbeitszeiten meiner drei Assistentinnen zu Ihren
Gunsten reduzieren. Ich habe die Erforschung der Gallwespen so weit
vorangetrieben, wie ich konnte, aber jetzt, da Sie mitmachen und
wir mit angemessener finanzieller Unterstützung durch die
Rockefeller Foundation und den National Research Council rechnen
können, werden wir uns ausschließlich auf eine einzige Sache
konzentrieren, und ich bin sicher, Sie wissen, wovon ich spreche
...«
In jenem Jahr kam und ging der März wie ein Lämmchen, und ich stellte fest, daß ich zwei Jobs hatte: einen in Proks Büro und einen in seinem Garten. Das milde Wetter schien ihn zu beleben (als brauchte ein Mann mit seiner geradezu übermenschlichen Energie Belebung), und an den Wochenenden und besonders sonntags verbrachte er soviel Zeit wie möglich draußen. Er hatte eine streng methodistische Erziehung genossen, die in seiner Jugendzeit in quälendem Widerspruch zu seinen natürlichen Bedürfnissen gestanden hatte, und sobald er die Wissenschaft entdeckt und begonnen hatte, das menschliche Verhalten unter phylogenetischen Aspekten zu betrachten, war er zu einem radikal unreligiösen Menschen geworden, der demonstrativ in seinem Garten arbeitete, während der Rest von Bloomington in der Kirche saß. Gegen Ende des Monats war es so warm, daß er das in Shorts und mit nacktem Oberkörper erledigen konnte, und er ermunterte mich, es ihm gleichzutun. Im Frühsommer und Sommer schließlich waren wir bei der Gartenarbeit so leicht bekleidet, wie es gerade noch vertretbar war – aber ich greife vor.
Ich weiß noch genau, daß dieser Monat eine Zeit war, in der ich mich mit mir selbst so sehr im reinen fühlte wie schon lange nicht mehr – sofern ich dieses Gefühl überhaupt kannte. Das lag an Proks ständiger Aufmerksamkeit, an seinen sanften Ermunterungen, sei- nen Instruktionen, an dem Gefühl der Verbundenheit, wenn wir uns, jeder an seinem Tisch, schweigend über die Arbeit beugten, in dem Wissen, daß wir im Begriff waren, etwas Erregendes, Revolutionäres zu tun. Wir unternahmen Wanderungen – er und Mac gingen mit den Kindern und mir zum Lake Monroe, zu den Bluesprings-Höhlen, zum Clear Creek, wir machten Spaziergänge durch die Felder und Waldstücke hinter ihrem Haus, wobei Prok die ganze Zeit über die Geologie der Landschaft dozierte, über die Gräser und Wildblumen, die auf den Lichtungen sprossen, und über die Zugvögel, die nach und nach zurückkehrten –, und ich erinnere mich an den Frieden und die Geborgenheit, wenn wir gemeinsam zu Abend aßen und vor dem Kamin saßen. Es war einfach gut dort, in ihrer Gesellschaft. Mac kochte eine Portion mehr, wenn ich im Garten arbeitete oder wir von einem unserer Ausflüge zurückkehrten, und je heftiger ich protestierte, ich wolle ihnen nicht zur Last fallen und ihre Gastfreundschaft strapazieren, desto herzlicher bemühten sich beide, mich in diesem Punkt zu beruhigen. Schließlich verbrachte ich mehr Zeit bei den Kinseys als im Haus von Mrs. Lorber, und Paul, der in den vergangenen drei Jahren mein Fels in der Brandung, mein bester Freund gewesen war, sagte im Scherz, er bekomme mich nur noch zu sehen, wenn ich schlief. Er hatte Betsy, und ich hatte Prok und Mac. Daß wir uns voneinander entfernten, war unvermeidlich.
Irgendwann in dieser Zeit tat ich etwas, worauf ich nicht besonders stolz bin, wovon ich aber hier berichten will, um Mißverständnisse aus dem Weg zu räumen beziehungsweise erst gar keine aufkommen zu lassen. Welchen Sinn hätte sonst diese Übung, diese Beschwörung vergangener Zeiten, wenn ich nicht vollkommen aufrichtig wäre? Ich habe nichts zu verbergen. Heute bin ich ein anderer Mensch als der Student, der damals an diesem Ehekurs teilnahm, und um nichts in der Welt würde ich irgend etwas von dem, was geschehen ist, ändern wollen.
Jedenfalls war ich ein gelehriger Schüler. Puzzles und Geheimschriften hatten mir schon immer Spaß gemacht, und Proks Code lernte ich in Rekordzeit. Es dauerte zwei oder drei Wochen, und ich konnte ihn auswendig. Eines Nachmittags – es war mitten in der Woche, und Prok war nach Indianapolis gefahren, um vor dem Kollegium einer Privatschule über die Möglichkeiten der Triebbefriedigung für unter Dampf stehende Jugendliche zu sprechen und, wie nicht anders zu erwarten, möglichst viele Interviews mit Lehrern und Schülern zu führen –, eines Nachmittags also war ich allein im Büro und transkribierte verschlüsselte Lebensgeschichten von Proks Notizzetteln auf größere Formate, die für die Unterlagen bestimmt waren, damit wir die Häufigkeit bestimmter Verhaltensweisen für die statistische Analyse berechnen konnten. (Ein nach Proks System verschlüsselter Bogen Papier enthielt so viele Informationen wie zwanzig Seiten Notat; diese mußten natürlich irgendwann ausgewertet werden. Anfangs geschah das per Hand, später, als wir unsere Hollerith-Maschine hatten, mit Hilfe von Lochkarten.) Zunächst erschien mir diese Arbeit faszinierend – immerhin ging es um Sex –, doch an diesem Tag hatte ich es mit Geschichten von männlichen Studienanfängern zu tun, und diese unterschieden sich nicht sonderlich von denen der Hundert-Prozent-Gruppe, die ich in meiner Studentenpension hatte mobilisieren können. Ich war einigermaßen gelangweilt. Da war die Rede von (nicht sehr weit gehenden) Experimenten mit anderen Jungen oder Farmtieren und von heimlicher Masturbation. Es gab recht wenige koitale Erfahrungen, aber eine gute Portion Petting, Zungenküsse und (ebenfalls zaghafte) Versuche oral-genitaler Befriedigung. Meine Hand, die den Stift umklammerte, schmerzte. Die Fingerspitzen waren tintenverschmiert. Ich unterdrückte ein Gähnen.
Ich weiß nicht, was über mich kam oder wie ich überhaupt auf den Gedanken verfiel, doch mit einem Mal durchstöberte ich Proks Schreibtisch nach dem Sekundärcode, der den Schlüssel zu den Identitäten von allen Befragten enthielt und den er aus Sicherheitsgründen weder mir noch irgendeinem anderen enthüllt hatte. Hätten die Befragten nicht absolut sicher sein können, daß ihre Anonymität gewahrt wurde, die überwältigende Mehrheit von ihnen hätte ihm niemals ihre Geschichte anvertraut. Diese Sicherheit war damals ebenso unabdingbar wie heute. Doch als ich den Code dann in der Hand hielt, fielen mir einige Übereinstimmungen mit dem Interviewcode auf (stellen Sie sich eine Art modifizierter Stenoschrift vor, bei der Abkürzungen, wissenschaftliche Symbole und Stenozeichen zu einer eigenen Geheimschrift verschmolzen), und sobald ich diese Übereinstimmungen entdeckt hatte, begann mein Kopf ganz von allein zu arbeiten. Kurz: Es dauerte nicht mal eine Stunde, bis ich den Sekundärcode geknackt hatte, und als ich somit den Schlüssel zu allen archivierten Unterlagen in den Händen hielt, konnte ich gar nicht anders, als ihn zu gebrauchen. Ich konnte nicht. Ich konnte nicht widerstehen.
Später, als Proks Bekanntheitsgrad in Amerika nur von dem des Präsidenten übertroffen wurde, als sein Bild auf dem Titel von Time war und die Presse gar nicht genug von ihm bekommen konnte, betraf die am häufigsten gestellte Frage sein eigenes Sexleben, und seine Antwort lautete stets, er habe, wie Tausende Menschen, seine Geschichte zu diesem Projekt beigesteuert, und sie werde ebenso anonym bleiben wie alle anderen. Das stimmte natürlich, und nur wir, die zum engsten Kreis gehörten, erfuhren aus erster Hand von den Details – wir waren zur Geheimhaltung verpflichtet, denn wenn irgend etwas davon an die Öffentlichkeit gedrungen wäre, dann hätte sich das Leben eines jeden von uns in seine Bestandteile aufgelöst –, doch an jenem schläfrigen Nachmittag, als sich die Strahlen einer hyperaktiven Sonne durch die Jalousien bohrten und große, brummende Fliegen nichtsahnend über den Kästen mit den konservierten Wespen ihre Kreise zogen, war Dr. Kinseys Geschichte die erste, die ich mir ansah, und die zweite war Claras.
Ich stand flach atmend am geöffneten Schubfach des Schranks, der Ordner lag aufgeschlagen vor mir. Alle paar Sekunden warf ich einen verstohlenen Blick über die Schulter, bereit, den Ordner beim kleinsten Geräusch aus dem vorderen Büro wieder verschwinden zu lassen. Ich war aufgeregt, ja, aber auch gespannt. Hier, in meiner Hand, war Proks Geschichte, hier zeigte sich auf elementarste Weise der Kern seines Wesens. Er kannte meine Geschichte, und nun würde ich seine kennenlernen. Sie war anders als alles, was ich erwartet hatte.
Als Junge war Prok noch schüchterner und unbeholfener gewesen als ich. Er hatte sich kein bißchen für Sport oder irgendwelche geselligen Aktivitäten interessiert, und weil er als Kind Rachitis, Typhus und rheumatisches Fieber gehabt hatte und sein Körper dementsprechend geschwächt war, wandte er sich der Natur zu und ging häufig auf ausgedehnte Wanderungen und Entdeckungstouren, bis er schließlich der durchtrainierte, kräftige Mann war, den ich kannte. (Allerdings war seine Haltung aufgrund einer doppelten Rückgratverkrümmung stets deutlich gebeugt.) Er war Pfadfinderführer. Er masturbierte zwanghaft. Sein Vater war ein religiöser Moralist. Er war schon weit über zwanzig – älter als ich –, als er seine ersten reifen und befriedigenden sexuellen Erfahrungen machte, und das auch erst, als er Clara heiratete.
Und hier wurde die Geschichte interessant. Obgleich die Hochzeitsreise aus einer langen, anspruchsvollen Wanderung durch die White Mountains bestand, bei der er und seine junge Braut mehrere Frühsommernächte aneinandergeschmiegt im Zelt schliefen, wurde die Ehe erst Monate später vollzogen. Dieser Verzug erklärte sich, wie ich später erfuhr, aus ihrer beider Unerfahrenheit sowie aus einer kleinen physiologischen Besonderheit von Claras Hymen, das nämlich ungewöhnlich dick war, und die daraus resultierenden Schwierigkeiten wurden verschärft durch die Tatsache, daß Proks Penis ein gutes Stück größer als normal war. Ich stellte mir die Verlegenheit der beiden vor, ihre Schamhaftigkeit, ihren Mangel an Wissen oder Erkenntnis, ich sah vor meinem geistigen Auge, wie sie einander küßten und streichelten, wie sie hin und her rollten, im Zelt oder auf den Feldbetten in dem Sommerlager, wo sie im Juli und August jenes Jahres als Betreuer angestellt waren. Und dann waren sie wieder in ihrer ersten gemieteten Wohnung in Bloomington und hatten nichts als Frustrationen erlebt. Drei Monate nach der Hochzeit war Sex für sie noch immer ein Mysterium. Erst als ein kleiner chirurgischer Ein- griff bei Mac diese mißliche Lage beendete, konnten sie endlich den Koitus vollziehen. Prok war achtundzwanzig.
Dieses Wissen – das ich mir aneignete wie ein Ägyptologe, der mühsam Hieroglyphen entzifferte und nach und nach allerlei über das Leben und die Gewohnheiten eines Pharaos aus längst vergange- ner Zeit erfuhr –, dieses Wissen also erfüllte mich mit widersprüchlichen Gefühlen. Einerseits erschien mir mein Mentor irgendwie kleiner als zuvor: Er predigte, jedenfalls im privaten Rahmen, die sexuelle Befreiung, und dabei war er wie ich ein Gefangener überkommener Moralvorstellungen gewesen und hatte wie ich unter Schüchternheit, Unwissenheit und der Unfähigkeit zu handeln gelitten. Und doch gab seine Geschichte mir auch die Hoffnung, auf eine gespenstische Weise sogar die Gewißheit, daß meine eigene sexuelle Verwirrung irgendwann ein Ende haben würde.
Aber da war noch mehr. Seine H-Geschichte, die wie meine mit jugendlichen Experimenten begonnen hatte, wurde zunehmend kom- plex. Der Zoologie-Professor, der hervorragende Wissenschaftler, neben dessen Namen im American Men of Science ein Stern prangte, der glücklich verheiratete Entomologe in mittleren Jahren, der Vater dreier Kinder mit dem nüchternen, sachlichen Habitus stieg auf der Skala von 0 bis 6 immer weiter auf, hatte im Verlauf langer Exkursionen Affären mit diversen Studenten und schließlich eine intensive und sehr enge Beziehung zu einem Studenten gehabt, der nicht viel älter war als ich. Was glauben Sie, wie ich mich fühlte? Und Mac, was war mit Mac?
In meinen Adern brauste das Blut, und hätte an jenem Nachmittag jemand den Kopf durch die Tür gesteckt, so hätte er mein hochrotes Gesicht bemerkt. Mit gierigem Blick und zitternden Fingern blätterte ich die Seiten durch, dann schob ich Proks Ordner zurück in die Schublade und nahm mir Macs vor. Ihre Geschichte war umfangreicher, als ich gedacht hatte, und als die Symbole mir ihren Sinn enthüllten, stellte ich mir Mac unwillkürlich nackt vor, ihre Hände, ihre Lippen, ihren Gang, dieses gaumige Etwas in ihrer Stimme. Ich gebe zu, ich war erregt, und im nächsten Augenblick wollte ich schon nach Laura Feeneys Geschichte und nach der von Paul und Kinseys Kindern suchen – doch da besann ich mich. Was tat ich da? Es war voyeuristisch, es war falsch, es war ein Bruch des Vertrauens, das Prok mir entgegenbrachte. Ich war dabei, es der schäbigsten Art von Neugier zu opfern. Es war dunkel geworden, die Lampen gaben ein weiches Licht, die Gallen waren beschattet und surreal, und plötzlich schämte ich mich, ich schämte mich wie noch nie in meinem Leben. Ich konnte erst wieder frei atmen, als ich die Ordner in den Aktenschrank zurückgelegt und den Code eingeschlossen hatte. Die ganze Zeit lauschte ich auf Schritte im Korridor. Ich schaltete das Licht aus. Schloß das Büro ab. Und als ich auf den Korridor trat, schlug ich den Kragen hoch und wandte das Gesicht zur Wand, als wäre ich ein Krimineller.
Am nächsten Tag war Prok zurück, berstend vor Energie. Er pfiff leise ein Hugo-Wolf-Lied und eilte mit raschen, abrupten Bewegungen, die sich wie eine Pantomime ausnahmen, im Büro hin und her: Er sprang vom Schreibtisch auf, setzte sich wieder, warf einen Blick in einen der Schmitt-Kästen, dann in die Aufzeichnungen, untersuchte flüchtig eine seit zwei Jahren inaktive Galle, in der plötzlich Larven geschlüpft waren, blickte durch das Mikroskop und rief: »Eine neue Art, Milk, ich glaube, ich habe hier eine ganz neue Art!« Als ich eingetreten war, hatte er mir, kaum daß ich mich gesetzt hatte, einen prallen Ordner auf den Tisch gelegt. »Achtzehn Geschichten.« Ein Grinsen. »Und sechsunddreißig weitere sind fest zugesagt. Ich war bis zwei Uhr morgens auf, um sie aufzuzeichnen.«
»Wunderbar«, sagte ich und grinste ebenfalls.
»Gab’s in meiner Abwesenheit irgendwelche Schwierigkeiten?« Ich
mühte mich, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen. Nicht
wegsehen, befahl ich mir. Nicht. »Nein«, sagte ich und sah weg, »nein, es war alles in Ordnung.«
Er sah mich forschend an. Ich klappte den Ordner auf, in der Hoffnung, ihn abzulenken, doch es funktionierte nicht. Ich glaube, es hat noch nie einen Menschen gegeben, der ein so feines Gespür für die Nuancen menschlichen Verhaltens hatte wie Prok, niemanden, der noch die kleinsten Regungen der Gesichtsmuskeln und all das, was wir heute Körpersprache nennen, so genau zu deuten vermochte. Ihm entging nichts. »Alles?« fragte er.
In diesem Augenblick wollte ich ihm alles beichten, aber ich tat es nicht. Statt dessen murmelte ich eine Bestätigung und fragte, um das Thema zu wechseln: »Soll ich die hier gleich transkribieren?«
Er schien geistesabwesend und antwortete zunächst nicht. Für sein Alter wirkte er jung – damals hielt man ihn meist für fünf bis zehn Jahre jünger, als er war –, doch in diesem Augenblick sah ich die Falten in seinem Gesicht, die ersten zart skizzierten Linien des fertigen Bildes, das er mit ins Grab nehmen würde. Er war gewiß erschöpft, dachte ich, er hatte sich verausgabt, um diese Geschichten aufzuzeichnen, er hatte die weite Reise in seinem klapprigen alten Nash gemacht, war spät zu Bett gegangen und früh aufgestanden und hatte niemanden gehabt, der ihm half. »Wissen Sie«, sagte er dann, und es war, als hätte er meine Gedanken gelesen, »ich habe darüber nachgedacht, wie praktisch, nein, wie unerläßlich es wäre, einen zweiten Interviewer auszubilden, eine Vertrauensperson, die mit mir zusammen Daten sammelt, jemanden, der nicht unbedingt eine wissenschaftliche Ausbildung hat, der sich aber in die von mir entwickelte Technik einarbeiten kann und bereit ist, sie unbedingt anzuwenden. Jemanden, der eine rasche Auffassungsgabe hat, John. Jemanden wie Sie.« Er hielt inne. »Was meinen Sie?«
Ich war so überrascht und mit Schuldgefühlen wegen meiner Schnüffelei beladen, daß ich ins Schleudern kam. »Ich ... Na ja, natürlich«, stotterte ich. »Ich würde natürlich gern ... Aber ich muß doch noch meinen Abschluß machen ...«
»In Englisch«, sagte er, und das Wort klang wie etwas Unappetitliches, das er ausspucken mußte. »Ich habe nie ganz verstanden, welche Nutzanwendung das haben sollte, als Fach, meine ich.«
»Ich weiß nicht.« Ich zuckte die Schultern. Er musterte mich noch immer mit unverwandter Konzentration. »Ich dachte, ich würde vielleicht gern Lehrer werden. Irgendwann, meine ich.«
Er seufzte. Geduld gehörte nicht zu seinen zahlreichen Qualitäten. Auch Enttäuschungen steckte er nicht ohne weiteres weg. »Denken Sie mal darüber nach, John, mehr will ich gar nicht. Sie brauchen sich nicht jetzt sofort zu entscheiden. Lassen Sie uns beim Abendessen darüber sprechen. Kommen Sie heute abend zu uns, um Punkt sechs – Sie haben doch keine anderen Pläne?«
»Sexforschung? Bist du verrückt?«
Paul lag hingestreckt auf seinem Bett, als wäre er Treibgut, das die zurückweichende Flut angeschwemmt hatte. Er kaute Kaugummi und ließ träge einen Tennisball auf dem Schläger hüpfen, den er auf seine Brust gelegt hatte. Auf dem Boden stapelte sich ein halbes Dutzend aufgeschlagene Bücher, auch sie eine Art Treibgut. Ich hatte keine Lust, ihm die Sache zu erklären; er hätte mich ohnehin nicht verstanden.
»Wenigstens ist es ein Job«, sagte ich und streifte den Pullover so vorsichtig wie möglich über den Kopf, damit meine Frisur in Form blieb. Ich zog mich für meinen Besuch bei den Kinseys um (sie machten sich, wie Mac gesagt hatte, zwar nichts aus Förmlichkeiten – im Privaten mochten sie sogar als Bohemiens gelten –, doch ich hatte das Gefühl, daß Einladungen zum Abendessen, und seien sie noch so häufig und informell, Jackett und Krawatte erforderten, und dieser Meinung bin ich auch heute noch).
Paul ließ den Ball vom Schläger auf den Boden springen, wo er noch drei-, viermal hüpfte, bevor er unter meinem Tisch verschwand. »Aber was für Fragen er stellt – das ist doch peinlich. Du wirst doch wohl nicht ...?« Er hielt inne und sah die Antwort in meinem Gesicht. »Doch, du wirst, stimmt’s?«
Ich band mir vor dem Spiegel die Krawatte und musterte meine Augen und die mit Pomade zurückgekämmten Haare. »Wenn ich mich recht entsinne, hattest du damals nichts gegen die Fragen einzuwenden. Du hast sogar was von einzigartiger Erfahrung‹ gesagt. Das war doch das Wort? ›Einzigartig‹?«
»Hör mal, John, kann ja sein, daß ich total auf dem Holzweg bin, aber findest du nicht, daß man schon eine ganz besondere Sorte Mensch sein muß, um andauernd in der Unterwäsche von anderen Leuten herumzuwühlen?«
Ich betrachtete ihn mit einem Blick, der vom Spiegel durch den ganzen Raum reflektiert wurde: Da saß er auf dem Bett, ein Kleingeist, der mit jedem Augenblick kleiner wurde. Ich antwortete nicht.
»Ich will damit nicht sagen, daß der Professor ein komischer Kauz oder ein Perversling oder so ist, aber dir ist doch wohl klar, daß alle Welt dich für einen halten wird? Und was ist mit deiner Mutter? Meinst du, das wird ihr gefallen – als Karriere-Entscheidung, meine ich?«
»Ich hab dir schon tausendmal gesagt«, antwortete ich und zog mir das Jackett an, »das ist reine Wissenschaft, Forschung, wie auf irgendeinem anderen Gebiet. So wie Lister, der die Antisepsis begründet hat, oder der Kerl mit dem Schimmelpilz auf dem Brot. Warum sollten wir nicht soviel wie möglich darüber herausfinden, was die Spezies Mensch tut?« Ich stand an der Tür und war im Begriff zu gehen, blieb aber stehen, um ihm Gelegenheit zu einer Antwort zu geben.
»Die Spezies Mensch? Du hörst dich schon genauso an wie er, John, merkst du das eigentlich? Das sagt er auch immer. Aber was ist mit menschlichen Wesen, gemacht zum Ebenbilde Gottes? Was ist mit uns? Was ist mit der Seele?«
Plötzlich ärgerte ich mich über ihn. »Es gibt keinen Gott. Und
auch keine Seele. Weißt du, was du bist?«
Er richtete sich nicht auf, hob nicht mal den Kopf. »Nein, aber ich
nehme an, du wirst es mir gleich sagen.«
»Du bist ein Spießer, das bist du«, belehrte ich ihn und
überließ es der Tür, diese Wahrheit zu unterstreichen.
Mrs. Lorber saß im Schaukelstuhl auf ihrem Posten und nickte mir
zu. Ich grüßte sie mit einem verkrampften Lächeln, und dann war ich
draußen, die flaumigen Weidenkätzchen an der Ecke blühten, die
festen, blassen Knospen standen wie Kerzenflämmchen auf den
Zweigen, und der warme Südwind brachte die Verheißung des nahenden
Frühlings. Als ich die Atwater Street überquerte, fiel mein Blick
auf eine schlanke, dunkelhaarige junge Frau mit aufregenden nackten
Beinen; sie entfernte sich unter den Alleebäumen, und ich dachte an
Iris. Ich hatte sie seit einem Monat, seit ich sie versetzt hatte,
nicht gesehen, und ich hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, aber
je länger ich es aufschob, mit ihr zu sprechen, desto schwieriger
wurde es.
Ein Wagen fuhr langsam vorbei, so langsam, daß ich dachte, der
Fahrer wolle parken. Ein alter Mann mit hartem, angespanntem
Gesicht hielt das Lenkrad, als befürchtete er, man könnte es ihm
entreißen. Ich blickte ihm lange genug nach, um zu sehen, wie er
von zwei Radfahrern überholt wurde: Er sah weder rechts noch links
und ließ nicht erkennen, ob er sie oder irgend etwas anderes
überhaupt bemerkte. Ich begann davon zu träumen, daß ich eines
Tages einen eigenen Wagen hätte: dann könnte ich einfach über die
Hügel und davonfahren, hinaus aus der Stadt, bis sich die
Landstraße vor mir entrollte und mein Ziel überall sein konnte.
Studenten gingen in beiden Richtungen an mir vorbei. Zwei Hunde
saßen hinter einem Gartenzaun und ließen mich nicht aus den
Augen.
Als ich in die First Street abbog, sah ich vor mir ein junges Paar.
Die Frau lehnte sich an den Mann, bis die beiden wie eine Einheit
waren, die sich auf vier im Gleichschritt gehenden Beinen
fortbewegte, und um sie nicht überholen zu müssen, wechselte ich
die Straßenseite; ihr Anblick und die Art, wie sie einander zu
vervollständigen schienen, ließ mich wieder an Iris denken. Was ich
getan hatte, war unentschuldbar, und ich nahm mir vor, sie gleich
am nächsten Tag anzurufen – ich würde mich zusammenreißen und es
einfach tun –, und wenn sie mir sagte, ich solle tot umfallen,
vertrocknen und verschwinden, dann wäre immerhin die Situation
geklärt. Und daß ich das verdient hätte, war nicht zu leugnen.
So ging ich dahin. Sofern ich die verschiedenen Aktivitäten der
Natur in dieser Jahreszeit der Erneuerung bemerkte, sofern ich den
Duft der Forsythien roch oder die Vögel sah, die, Grashalme oder
Zweige quer im Schnabel, auf die Bäume flogen, so drangen diese
Eindrücke jedenfalls nicht in mein Bewußtsein. Es war eben
Frühling, und ich war auf der First Street unterwegs zu den
Kinseys. Zum Abendessen.
Prok selbst öffnete mir die Tür. Er trug seine Gartenshorts und
sonst nichts. Die Beine waren schlank und muskulös, und die nackten
Zehen strichen über die polierten Dielenbretter aus Amberholz. Sein
Haar sah aus wie immer, als wäre er gerade beim Friseur gewesen.
»Ah, Milk«, sagte er und bat mich herein, »ich hab den Iris und den
Lilien eben ein bißchen Humus gegeben. Ich konnte nicht
widerstehen, das Wetter ist so schön.«
Zum Abendessen zog er ein kurzärmliges Hemd an, aber weder Socken
noch Schuhe. Auch Mac war legerer gekleidet als bei den früheren
Einladungen zum Abendessen: Sie trug ebenfalls Shorts, dazu eine
hellblaue Baumwollbluse, die ihre Kehle und die zarten
Schlüsselbeine frei ließ. Auch sie schien sich die Haare
geschnitten zu haben – sie waren jetzt beinahe so kurz wie die
eines Mannes. In meinem Jackett und der Krawatte kam ich mir etwas
fehl am Platz vor, doch sowohl Prok als auch Mac versicherten mir,
sie seien einfach der Jahreszeit ein wenig vorausgeeilt, das sei
alles.
Nach dem Essen gingen die Kinder auf ihre Zimmer, und Prok, Mac und
ich setzten uns ins Wohnzimmer und unterhielten uns. Prok knüpfte
seinen Teppich, Mac strickte. Prok hatte begeistert von der frühen
Rückkehr irgendeiner Zugvogelart erzählt – ich habe vergessen, wie
sie hieß – und daß das einen baldigen Sommerbeginn verhieß, doch
dann unterbrach er sich abrupt und wandte sich zu mir. »Milk«,
sagte er. »John. Haben Sie über meinen Vorschlag von heute
nachmittag nachgedacht?«
Macs Stricknadeln blitzten. Sie betrachtete mich aus den Winkeln
ihrer sanften braunen Augen, und ein mütterliches Lächeln spielte
um ihren Mund.
Ich sagte ihm – ihnen –, das hätte ich. »Es wäre ... äh ...«
sagte ich, »eine Ehre. Und ich möchte Ihnen sagen, wie sehr ...
also ... daß Sie gegenüber einem jungen Mann wie mir, einem
Studenten, so großzügig sind ...«
»Gut«, sagte Prok in seinem gewinnendsten Ton, »sehr gut. Wir
werden erst mal Ihre Stundenzahl erhöhen, und sobald das Semester
vorbei ist, kommen Sie als Vollzeitkraft zu mir. Ihr Gehalt läuft
weiter wie bisher. Und natürlich werden wir auch in Zukunft
gemeinsam im Garten arbeiten.«
In dieser Stimmung – einer Stimmung gegenseitiger Wertschätzung,
einer entspannten, angenehmen Atmosphäre – verging der Abend, bis
Mac sich entschuldigte und Prok und mich allein ließ. Ich hatte
keine Zweifel an der Arbeit, die er mir anbot, denn es war eine
wichtige, äußerst interessante, ja sogar edle Aufgabe, und ich war
zutiefst dankbar, daß man mir in einer Zeit, da die weltpolitische
Lage alles andere als stabil war, eine feste Anstellung in Aussicht
stellte, und doch hatte ich einen Vorbehalt. Oder vielleicht sollte
ich lieber sagen: einen Skrupel. Was ich hinter Proks Rücken im
Büro getan hatte, erschien mir nicht richtig. Er bemühte sich so
sehr, etwas aus mir zu machen und auf sehr konkrete Weise in mich
und meine Zukunft zu investieren, und ich verriet ihn, betrog ihn,
mißbrauchte sein Vertrauen. Er erzählte von der Schule in
Indianapolis, von der Porter School, und beschrieb einige Details
der interessanteren Geschichten, insbesondere denen von zwei
Lehrern, die ihre extensiven H-Erfahrungen vor der Schulleitung und
dem Rest ihrer Umgebung verheimlichten, als ich ihn unterbrach.
»Professor Kinsey«, sagte ich. »Prok. Ich ... äh ... ich muß Ihnen
etwas sagen.«
Er hielt inne – die geschickten langen Finger lagen auf dem Rand
des Teppichs – und sah mich an. »Ja?« sagte er. »Was müssen Sie mir
sagen, Milk?«
Ich hatte ein Klingen in den Ohren, das Läuten irgendeiner
Alarmglocke, und hob die Stimme, um es zu übertönen. »Ich muß Ihnen
etwas beichten.«
Nun schwieg Prok. Er schaltete in seinen Interview-Modus und war
ganz Ohr.
»Also, als Sie ... als Sie fort waren, habe ich den Code geknackt.
Den Sekundärcode, meine ich. Ich ... ich war an Ihrem
Schreibtisch.« Seine erste Reaktion war ungläubig. »Unmöglich«,
sagte er.
Ich hielt seinen Blick aus, in meinen Ohren lärmten die Glocken,
und ich sah Proks Augen mal scharf, mal unscharf, bis sie wie zwei
blaue, im Äther schwebende Planeten waren. »Ich habe nur zwei
Geschichten nachgelesen, mehr nicht, und ich weiß natürlich, daß
das unverzeihlich ist, aber ich konnte mich nicht...«
Nur ein Wort: »Wessen?«
Etwas stieß gegen das Fenster, etwas, das in Richtung der Lampe
geflogen war, eine Fledermaus wahrscheinlich oder ein Vogel, der in
den nächtlichen Schatten die Orientierung verloren hatte. Man hörte
den dumpfen Klang von Flügeln, die gegen das Fenster schlugen, und
dann nichts mehr. »Ihre«, sagte ich mit erstickter Stimme. »Und die
von Mac.«
Er ließ mich einen Augenblick zappeln. Dann sagte er: »Sie haben
den Code geknackt?«
»Ja«, murmelte ich.
»Ich hätte nie gedacht, daß jemand den Code knacken könnte, selbst
wenn es ihm gelingen sollte, sich Zugang zu den verschlüsselten
Aufzeichnungen zu verschaffen. Ihnen ist doch klar, daß ich mir
jetzt einen neuen Code ausdenken muß?«
»Ja.«
»Und daß er unendlich viel komplexer sein muß als der alte?«
Ich sagte nichts, sondern dachte an die Arbeit, die auf ihn zukam,
an die vergeudete Zeit, an meine oberflächliche Neugier und die
Tatsache, daß ich das Projekt zurückgeworfen hatte, noch bevor es
mir gelungen war, etwas beizusteuern. Ich war wütend auf mich. Und
ich schämte mich.
Prok stand auf, ging zum Kamin und richtete die Fotorahmen aus, die
auf dem Sims standen. Ich betrachtete seinen Rücken, seine lange,
sich nach oben verjüngende Gestalt, die schmalen Schultern, das
kurze, aufrecht stehende Haar. Er trat ans Fenster und spähte
hinaus in die Dunkelheit, dann setzte er sich wieder auf das Sofa
und schaltete die Lampe aus. Die Schatten kamen und bemächtigten
sich des Raums – das einzige Licht stammte von der Lampe in der
Eingangshalle. »So«, sagte er schließlich, »dann kennen Sie also
meine Geschichte. Aber« – er klopfte neben sich auf das Sofa –
»setzen Sie sich doch zu mir.«
Ich gehorchte, stand von meinem Sessel auf und setzte mich neben
ihn.
Er legte mir den Arm um die Schultern und zog mich zu sich heran,
bis unsere Gesichter nur noch zehn Zentimeter voneinander entfernt
waren. »Sie hätten nicht herumschnüffeln sollen, John«, flüsterte
er. »Das hätten Sie nicht tun sollen. Aber es ist gut, daß Sie es
gebeichtet haben.«
»Es tut mir leid«, sagte ich.
»Das beweist Charakter. Das wissen Sie doch, oder?« Er drückte
brüderlich meine Schulter. »Sie sind ein herausragender junger
Mann, und ich weiß Ihre Offenheit sehr zu schätzen, wirklich.«
Und dann geschah etwas Seltsames, das letzte, was ich unter diesen
Umständen erwartet hätte: Er küßte mich. Er beugte sich zu mir,
schloß die Augen und küßte mich. Es verging eine gewisse Zeit, in
der keiner von uns etwas sagte, dann nahm er meine Hand und führte
mich die Treppe hinauf zu dem ungenutzten Zimmer im Dachgeschoß,
und ich erinnere mich, daß dort ein Tischtennistisch und
Kindersachen, eine Angelrute und eine alte Nähmaschine waren – und
ein Bett. An jenem Abend ging ich erst sehr spät nach Hause.
4
In diesem Semester hatte Iris ein Shakespeare-Seminar in demselben Gebäude, in dem ich Professor Ellis’ Vorlesung über britische Lyrik der Moderne hörte. Das war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewußt, denn ich hatte es noch nicht über mich gebracht, mit ihr zu sprechen, obwohl ich es mir vorgenommen hatte, und so war ich einigermaßen überrascht, als ich ihr dort eines Nachmittags auf dem Korridor begegnete. Soweit ich mich erinnere, war es ein trüber Tag, der wie Mull vor den Fenstern hing, das Linoleum war naß und rutschig, und die ganze Welt roch nach Schimmel und Gärung. Seit einer Woche regnete es ständig, und es sollte noch mehr Regen kommen. Ich dachte an nichts Besonderes, hatte Schirm, Notizblock und Lyrikanthologie unter den Arm geklemmt, hielt in der anderen Hand meinen nassen Hut und schob mich lustlos durch das Gedränge der Studenten im Korridor. Vielleicht träumte ich. Vielleicht lag es daran.
Sie stand vor mir, bevor ich mich irgendwie wappnen konnte, genau vor mir: Zwei Schulterpaare wichen auseinander, eine Studentin in einem gelben Regenmantel trat grinsend beiseite, jemand rief irgend etwas. Iris. Da war sie. Wir blieben stehen. »Hallo«, sagte sie, und ihr Lächeln war eine Erziehungsmaßnahme für sich.
»Ja«, sagte ich. »Hallo.«
Ihre Augen schienen alles verfügbare Licht im Korridor aufzusaugen, und ich konnte nichts anderes tun, als sie fasziniert anzustarren. Sie schien irgendwas mit ihren Haaren gemacht zu haben, oder vielleicht waren sie einfach nur naß. Was hatte sie an? Einen sechs Nummern zu großen Pullover, einen Wollrock, kurze Söckchen, zweifarbige Schuhe. »Bist du jetzt bei Ellis?«
»Britische Moderne«, sagte ich. »Lyrik, meine ich. Aber sag mal,
ich habe nie ... Hast du meine Nachricht gekriegt?«
Sie sah mich fragend an.
»Du weißt schon, an dem Abend ... als wir uns eigentlich dieses
Stück ansehen wollten. Ich hab damals die Eintrittskarten und ...
na ja, eine Nachricht bei der Frau am Empfang hinterlassen. Im
Wohnheim. Ich wollte nur wissen, ob du ... ob du sie gekriegt
hast.«
Zwei Ströme von Studenten schoben sich an uns vorbei. Wir standen
wie Pfeiler in dem feuchten Korridor. Stimmen summten, am Ende des
Flurs sah ich Professor Ellis, hundert Paar Schuhe quietschten auf
dem nassen Linoleum. »Bitte, John«, sagte sie, und ihr Mund wurde
zu einem Nichts, zu einem Strich, einem verräterischen Sprung im
Porzellan ihres glänzenden gequälten Gesichts, »nicht hier. Das ist
nicht der richtige Ort.«
Ich starrte sie entsetzt an. Ein überwältigendes Gefühl von Verlust
und Schuld, von gnadenloser, unentrinnbarer Schuld, begann auf mich
einzuschlagen, als wäre ich ein straff gespanntes Trommelfell, und
ja, mein Nacken wurde kalt, und meine Kopfhaut prickelte. »Aber hör
mich wenigstens an«, sagte ich.
»Du willst reden? Na gut. Prima. Ich bin gespannt zu hören, was du
zu sagen hast, sehr gespannt.« Aus ihrem Gesicht war alle Farbe
gewichen, und sie stand stocksteif da. »Um vier«, sagte sie und
mühte sich, den richtigen Ton zu treffen. »Bei Webster’s. Du kannst
mich nicht verfehlen. Ich bin die Frau, die ganz allein am letzten
Tisch sitzt.«
Ich mußte Prok bitten, an diesem Tag zu anderen Zeiten arbeiten zu
dürfen, und ich kann nicht behaupten, daß er überglücklich war –
alles, was die Arbeit behinderte, war gegen das Projekt und damit
auch gegen ihn selbst gerichtet –, doch ich schaffte es, vor Iris
in Webster’s Drugstore zu sein, und als sie durch die Tür trat,
umständlich ihren Schirm ausschüttelte und sich das Haar
zurückstrich, um zu verbergen, was sie empfand, war ich da. Ich
sagte ihr, wie froh ich sei, daß sie gekommen sei, und dann sagte
ich ihr, wie sehr ich sie mochte und wie leid es mir tat. Meine
Erklärungen waren vermutlich mehrere Absätze lang, aber ich will
mich hier damit begnügen zu erwähnen, daß ich zu meiner Entlastung
Prok und die Notwendigkeit anführte, um meiner Zukunft und
beruflichen Karriere willen die Beziehung zu ihm zu vertiefen.
Sie hörte gleichgültig zu und ließ mich reden und reden, bis
schließlich an irgendeinem Punkt ein Lächeln ihr Gesicht erhellte
und sie sagte: »Ich bin mit jemand anderem gegangen. Zu dem Stück,
meine ich. Und es war einer der schönsten Abende, die ich seit dem
Beginn meines Studiums hier erlebt habe.«
»Oh«, sagte ich. »Na ja, wenn das so ist ...«
»Willst du nicht wissen, wie er heißt?«
Wir tranken Tee und kämpften gegen den Impuls an, unsere mit
Puderzucker bestäubten Doughnuts in die kleinen Steinguttassen zu
tauchen, die auf Untertellern vor uns standen. Ich war kein
Teetrinker. Ich mochte Tee nicht besonders. Aber ich trank Tee,
weil sie ihn bestellt hatte – mit einem Blick zur Kellnerin und
dann zu mir, der anzudeuten schien, daß Tee etwas Exotisches war,
die raffinierte Wahl der Eingeweihten. Ich hatte gerade die Tasse
an die Lippen gehoben, doch nun stellte ich sie wieder ab. Ich
versuchte, meiner Frage einen beiläufigen Klang zu geben. »Wie er
heißt?« sagte ich. »Warum, kenne ich ihn?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr Haar fing das Licht ein, das durch das
Fenster fiel. »Ich glaube nicht. Er ist auch im letzten
Studienjahr, wie du. In Architektur. Bob Hickenlooper?«
Was soll ich sagen? Hickenloopers Gesicht tauchte vor mir auf, ein
langweilig gutaussehendes Gesicht, das Gesicht von einem der
umschwärmtesten Männer der Uni, der in dem Ruf stand, allem
nachzulaufen, was hochhackige Schuhe trug – es durften aber auch
flache sein –, und obendrein war er noch intelligent und hatte eine
großartige, staunenswerte Zukunft vor sich. Ich wurde von
Eifersucht gepackt. Die Strähne, die nie bleiben wollte, wo sie
hingehörte, fiel mir in die Stirn, und am liebsten hätte ich sie
mir mit einem Ruck ausgerissen. »Er ... er wohnt in derselben
Pension wie ich«, sagte ich und machte meine Stimme so kalt und
klein, wie ich konnte.
Ihr gefiel die ganze Sache mittlerweile, das sah man an dem Funkeln
ihrer Augen und der Art, wie sie hin und her rutschte, um mich
besser mustern zu können. Sie senkte den Kopf, spitzte die Lippen
und trank langsam einen großen Schluck Tee. »Aber genug von mir«,
sagte sie. »Was ist mit dir? Ich hab gehört, du bist befördert
worden.«
»Ja, ich –«
»Sexforschung, stimmt’s?«
Ich nickte. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, und
einer der lautesten von ihnen fragte, woher sie das wissen mochte.
Von Hickenlooper? Von Paul? Von ihrer Mutter? Aber wie konnte ihre
Mutter es wissen, wenn meine es nicht wußte? Ich wollte das Thema
wechseln und sie hier und jetzt fragen, ob sie am Samstag mit mir
ins Kino gehen würde, und das tat ich auch, allerdings erst nachdem
sie gesagt hatte: »Wie bist du bloß an diesen Job
gekommen?«
Es wurde wärmer. Prok und ich verbrachten immer mehr Zeit im Garten. Wir setzten Steine als Kantenbefestigungen und Begrenzungen, wir gruben Beete um und schafften schubkarrenweise Mulch und Hühnermist heran, wir mähten, schnitten, pfropften. Wir teilten und verpflanzten unzählige Zwiebeln von Iris und Lilien aller Art. Iris waren seine Leidenschaft – er hatte über zweihundertfünfzig Arten gesammelt und verkaufte und tauschte die Zwiebeln landesweit per Post. Wir pflanzten auch Bäume – Obstbäume und Zierbäume, die wir irgendwo in den Hügeln ausgegraben hatten – und alle möglichen heimischen Pflanzen wie Kermesbeere, Goldrute, Schlangenwurzel, Wilde Astern und Wilde Möhren, und das hatte eine überraschende Wirkung, denn diese Pflanzen betonten die prächtigen Farben der Blumenbeete und verliehen dem ganzen Anwesen etwas Ungezügeltes, als hätte kein Mensch seine Hand im Spiel gehabt.
Bei der Gartenarbeit sprach Prok ausschließlich über Sex und insbesondere über die H-Geschichten, die er inzwischen nicht nur in Chicago und Indianapolis sammelte, sondern auch in New York. Er war beinahe zu Tränen gerührt, als er von den Interviews mit SexStraftätern berichtete, die er im Gefängnis besucht hatte. Diese Männer waren wegen irgendwelcher Handlungen, die im Widerspruch zu antiquierten Gesetzen standen, eingesperrt worden, und die Anklagen gegen sie waren beinahe willkürlich, wie zum Beispiel bei dem Mann aus South Bend, der im Knast saß, weil er sich von seiner Frau oral hatte befriedigen lassen (oder vielmehr von seiner Exfrau, die ihn ja dann auch angezeigt hatte), oder bei den vielen Homosexuellen, die von rachsüchtigen Ehefrauen, Eltern oder Kleinstadtpolizisten bloßgestellt und vor Gericht gebracht worden waren. Unehelicher Geschlechtsverkehr war überall verboten, Masturbation ebenfalls, und unnatürlicher Verkehr wurde in den meisten Bundesstaaten als Schwerverbrechen bestraft. »Weißt du«, sagte er zu mir, und zwar mehr als einmal, und ich spürte, daß er in Gedanken bereits sein nächstes Plädoyer, seinen nächsten Vortrag entwarf, »es ist einfach vollkommen absurd. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo – vorausgesetzt, alle Gesetze würden strikt angewendet – etwa fünfundachtzig Prozent der erwachsenen Bevölkerung hinter Gittern sitzen müßten.«
Ich sagte, er habe recht, vollkommen recht. Ich sagte, mein Leben wäre tausendmal besser verlaufen, wenn man mir nicht, kaum daß ich begriffen hatte, wozu das Ding zwischen meinen Beinen diente, alles, was damit zu tun hatte, verboten hätte.
Er lächelte und legte mir den Arm um die Schultern. »Ich weiß,
ich weiß«, sagte er. »Ich predige dem Bekehrten.«
In dieser Zeit traf ich mich immer öfter mit Iris – ich lud sie ins
Kino ein, wir machten Spaziergänge und lernten gemeinsam in der
Bibliothek –, doch da die Abschlußklausuren und das Examen näher
rückten und Proks Projekt (von seinem Garten ganz zu schweigen)
viel Zeit beanspruchte, entwickelte unsere Beziehung sich etwas
sprunghaft und holprig. Bei der Arbeit im Freien trugen Prok und
ich inzwischen nur noch das Nötigste, und bald waren wir so
braungebrannt, daß man uns für italienische Landarbeiter hätte
halten können. Prok war kein Nudist, jedenfalls nicht offiziell (er
war ein viel zu unabhängiger Geist, um sich irgendeiner Gruppe oder
Bewegung anzuschließen), doch er lief oft nackt herum, oder
jedenfalls so leicht bekleidet, wie es die Umstände zuließen, denn
seiner Meinung nach war Nacktheit bei unserer Spezies ein Ausdruck
äußerster Entspanntheit und Natürlichkeit – dieselben Kräfte
sozialer Kontrolle, die bestimmte sexuelle Handlungen sanktioniert
hatten, bestanden darauf, daß man Kleider trug, wogegen viele
Gesellschaften außerhalb des jüdisch-christlichen Kulturkreises
sehr gut ohne oder mit nur sehr wenig Kleidung auskamen. »Die
Trobriand-Insulaner zum Beispiel, Milk, denk bloß an die
Trobriand-Insulaner. Oder die Samoer.« Um den Nachbarn oder
irgendwelchen uniformierten Passanten seinen Standpunkt zu
verdeutlichen, reduzierte Prok seine Gartenkleidung schließlich auf
eine Art hautfarbenes Suspensorium und den rechten Schuh, den er
beim Umgraben brauchte. Selbstverständlich tat ich es ihm nach,
denn das wurde von mir erwartet, und ich tat immer, was man von mir
erwartete. (Es war lediglich ein Ausdruck meiner Loyalität, eines
Ethos, das in meiner Erziehung und Ausbildung sehr wichtig gewesen
war und wohl einen Teil meines Wesens ausmachte, doch Iris konnte
in späteren Jahren bei diesem Thema sehr ausfallend werden.)
Was als nächstes geschah – es war kurz vor dem Abschlußexamen im
Juni –, überraschte mich selbst, und dabei war ich der Urheber. All
diese Gespräche über Sex und darüber, wie unkompliziert und
natürlich er eigentlich war und sein sollte und sein könnte, wenn
nur die Gesellschaft ihre Verbote lockern würde, ließen mich über
meine Situation nachdenken und über die Möglichkeiten der
Triebbefriedigung (Proks Ausdruck), die mir zur Verfügung standen.
Ich war jung und gesund, und die Arbeit, die Sonne und der Geruch,
die Textur der Erde hatten mich zum Bersten mit Verlangen erfüllt.
Ich war so scharf wie noch nie, ich war frustriert und wütend. Ich
wollte Iris, ich wollte Laura Feeney, ich wollte irgendeine Frau,
doch ich wußte nicht, wie ich es anfangen sollte. Zugleich hatten
Prok und ich unsere Begegnungen (wie er diesen Euphemismus
gehaßt hätte – Sex, wir hatten Sex), dabei war meine H-Geschichte,
wie gesagt, sehr begrenzt, und daß ich auf der Skala von 0 bis 6
eine 1 oder bestenfalls eine 2 war, zeigt, wie wenig mir an dieser
Art von Sex lag. Daher machte ich mich, zögernd wie immer, daran,
das Thema heterosexuelle Beziehungen anzuschneiden. Aber ich will
etwas weiter ausholen, denn ich erinnere mich deutlich an jenen Tag
und muß die Umstände schildern.
Es war Sonntag, und wir hatten früh mit der Gartenarbeit begonnen.
In der Ferne läuteten Glocken, Kirchgänger spazierten vorbei, die
Luft war warm und schwer, und über den Hügeln lag die Verheißung
eines spätnachmittäglichen Regenschauers. Der Garten war geöffnet:
Jeden Sonntag stellte Prok ein handgeschriebenes Schild auf, das
die Passanten einlud, den Garten zu besichtigen und sich anzuhören,
was Prok über die Arten der Blumen und Gewächse zu sagen hatte,
über ihre Klassifizierung, ihre nahen Verwandten und ihre Vorlieben
im Hinblick auf Erde, Licht und Feuchtigkeit. Er liebte es über
alles, mit seinen gärtnerischen Leistungen zu prahlen, und das
wiederum entsprang hauptsächlich seinem ausgeprägten
Konkurrenzdenken (keine anderen Lilien kamen auch nur annähernd den
seinen gleich). Wir knieten auf allen vieren in einem der
Vorgartenbeete und arbeiteten an einem dichten Büschel Taglilien,
als Prok aufsah und sagte: »Sieh mal, ist das nicht Dean Hoenig?
Und wer ist das da neben ihr? Ich könnte wetten ... Ja, ich wette,
das ist ihre Mutter, die den ganzen weiten Weg von Cleveland
gekommen ist, um sie zu besuchen. Hat nicht irgendwer gesagt, ihre
Mutter wolle zu Besuch kommen?«
Prok erhob sich auf die Knie, ein schmales Lächeln um die Lippen.
Ich sah die Dekanin der Studentinnen vorbeikommen, zum Kirch- gang
gekleidet und angeregt mit einer gebeugt gehenden älteren Dame
plaudernd, die ein offenes Gesicht hatte und einen Hut trug, der
wie ein gestürzter Hochzeitskuchen aussah. Ich hatte gehört, daß
die Dekanin kürzlich in Proks Nachbarschaft gezogen war, doch
darüber hinaus wußte ich nichts über das Professorenkollegium und
konnte seine Frage nicht beantworten. »Ich weiß nicht«, sagte ich.
»Ich hab nichts gehört.«
Sein Lächeln wurde breiter. Er beobachtete die beiden, wie ein
Raubtier seine Beute beobachtet, und mir war klar, daß sie keine
Chance hatten. Die alte Dame ging so langsam, daß sie beinahe nicht
vorankam. »Da fällt mir ein«, sagte Prok mit einem subversiven
Frohlocken, »daß der Garten geöffnet ist.«
Ich erwiderte das Lächeln nicht. Mit der Dekanin wollte ich nichts
zu tun haben. Ich stand zwar unter Proks Schutz, aber jedesmal,
wenn ich sie sah, sank ich innerlich in mich zusammen: schuldig,
schuldig im Sinne der Anklage – und die Ironie dabei war, daß ich
trotz des ganzen Theaters nie mehr als diesen einen Kuß von Laura
Feeney bekommen hatte.
Prok fing sie am Gartentor ab. »Dean Hoenig, Sarah!« rief er und
sprang in Suspensorium und schlappendem rechten Schuh auf den
Bürgersteig. Die Dekanin sah ihn verwirrt an, und ihre Mutter, die
mit Absätzen kaum größer als eins fünfzig war, zuckte sichtlich
zusammen. Aber Prok ließ sich nicht beirren. Er war der
gewandteste, höflichste, vollendetste Gentleman in ganz Indiana. Er
hatte zufällig die Damen vorbeigehen sehen – »Auf dem Heimweg vom
Gottesdienst, wie ich vermute« – und verspürte den Wunsch, ihr Herz
für die Schönheiten seines Gartens zu öffnen und ihnen die seltene
Ehre einer persönlichen Führung zuteil werden zu lassen. »Und wer
ist Ihre charmante Begleiterin?« erkundigte er sich und wandte sich
mit einer Verbeugung zu der alten Dame. »Ihre Mutter, nehme ich
an?«
Die Dekanin war stämmig, großbusig und streng wie ein
Kompaniefeldwebel. Sie war es gewohnt, Anweisungen zu geben, die
Studentinnen zu beaufsichtigen und die Wohnheime mit eiserner Hand
zu regieren, aber diese Situation war ihr bereits jetzt
offensichtlich über den Kopf gewachsen. »Ja, das ist meine Mutter,
Leonora. Mutter, das ist Professor Kinsey vom Lehrstuhl für
Zoologie.«
Prok ergriff die Hand der alten Dame und drückte sie. Auf seiner
Brust glänzte Schweiß, die Muskeln und Adern seiner Arme zeichneten
sich infolge der harten Arbeit deutlich ab, und auf seinem Bauch
sprossen blaßblonde ergrauende Haare. Neben der alten Frau ragte er
auf wie ein Vorzeitmensch, ganz Fleisch und Präsenz, doch aus
seinem Mund kam die Sprache reinster Höflichkeit und
Kultiviertheit. »Ich habe gehört, Sie leben in Cleveland?«
Die Augen der alten Dame lagen tief in den Höhlen. Sie konnte kaum
eine bejahende Antwort krächzen.
»Ein Juwel von einer Stadt«, sagte Prok und kratzte sich in den
Achselhaaren des linken Arms. »Ein erstklassiges Museum. Absolut.
Ganz zu schweigen vom Symphonieorchester. Das sind Dinge, um die
ich Sie wirklich beneide, Mrs. Hoenig. Aber bitte, lassen Sie uns
nicht auf der Straße stehen – kommen Sie doch herein, und ich zeige
Ihnen meine Freude und meinen Stolz. Sie mögen doch Lilien?«
Die Mutter der Dekanin nickte stumpf und warf ihrer Tochter einen
hilflosen Blick zu. Dean Hoenig setzte ihr schmallippiges Lächeln
auf, und das war kein freundliches Lächeln, nein, ganz und gar
nicht. »Ich fürchte, wir müssen weiter, Professor Kinsey, aber es
war sehr nett von Ihnen, uns –«
Prok unterbrach sie. »Seien Sie nicht albern«, sagte er, nahm den
Arm der alten Dame und steuerte mit ihr auf das Gartentor zu, »das
macht überhaupt keine Mühe – im Gegenteil, es macht mir Freude, und
wie oft bekommt Ihre Mutter schon ein solches botanisches Wunder zu
sehen, und das auch noch in voller Blüte? Finden Sie nicht auch,
Mrs. Hoenig?«
Die Mutter der Dekanin hatte keine Gelegenheit, ihrer Meinung
Ausdruck zu geben, denn dies war der Augenblick, da sie meine fast
nackte Gestalt vor den Hydrogeas erblickte. (Prok hatte mir einen
Vortrag über meine, wie er fand, übertriebene Schamhaftigkeit
gehalten, und ich war nach und nach zu dem Schluß gekommen, daß er
recht hatte. Obgleich meine Gartenkleidung normalerweise nicht so
minimalistisch wie seine war, trug ich an diesem Tag nichts weiter
als einen braunen Lendenschurz, den er für mich angefertigt hatte,
und erdverschmierte Tennisschuhe ohne Socken.) Sie fuhr zurück, als
hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen, aber Prok hielt ihren
Arm und führte sie den Weg entlang zu mir. Die Dekanin stapfte
mißmutig hinterdrein. »Mrs. Hoenig«, sagte er, »darf ich Ihnen
meinen Assistenten John Milk vorstellen? Milk, das ist Mrs. Hoenig.
Die Dekanin kennst du ja wohl ...«
Als ich die Hand der alten Dame nahm und sanft schüttelte, spürte
ich, daß die Dekanin mich mit Blicken durchbohrte. Sie war auf
fremdem Territorium und bereits besiegt: Sie würde sich mit ihrer
Mutter den Garten ansehen und Proks pausenlosen Monolog anhören
müssen, und dabei würde sie etwas über den natürlichen Zustand des
Menschen erfahren, ob sie nun wollte oder nicht, aber sie konnte
nicht anders, sie mußte mich einfach aufs Korn nehmen. »Ja,
natürlich, vom Eheseminar«, sagte sie. »Aber Sie warten mit der
Hochzeit wohl noch bis nach dem Examen, nicht wahr, John?«
Ich lernte. Von Prok. Vom Meister persönlich. Und ich zuckte nicht
zusammen, ich schlug nicht die Augen nieder, mein Gesicht verriet
nichts. »Eigentlich nicht«, sagte ich. »Ich meine, wohl nicht.«
Die alte Dame stieß einen Ausruf der Begeisterung über die Iris
aus, eine Art langgezogenes, mattes Gurren, und Prok war entzückt
und ermunterte sie, näher zu treten, doch bevor die Dekanin mir
noch weiter zusetzen konnte, sah er über die Schulter zurück und
sagte: »Er hat eine andere kennengelernt, stimmt’s, Milk?«
Was blieb mir anderes übrig, als zu nicken?
Als die beiden Frauen, mit Schnittblumen beladen, gegangen wa- ren,
beendeten wir die unterbrochene Arbeit und verbrachten dann eine
gute Stunde mit Spitzhacke und Schaufel im hinteren Garten. (Prok
legte damals den Lilienteich an, und es war harte Arbeit, die
Steine auszugraben und die ausgehobene Erde zu verteilen.) Kurz
nach Mittag kam Mac mit Sandwiches und Limonade; wir drei setzten
uns auf die Erde, betrachteten die Umrisse des Lochs und redeten.
Sie war barfuß und hatte die khakifarbene Bluse und Shorts an, die
sie auch als Betreuerin und Zugführerin der Pfadfinderinnen trug.
Ich bemerkte, daß sie ihr Haar links gescheitelt und über dem
rechten Ohr mit einer Spange festgesteckt hatte, so daß es ihre
Stirn fast bis zu den Brauen bedeckte. Ich weiß nicht, woran es
lag, aber an jenem Nachmittag war sie fröhlicher und ausgelassener,
als ich sie je erlebt hatte. Sie zog die Beine an und wiegte sich
beim Essen hin und her, sie unterbrach Proks Monologe hier und da
mit Einwürfen, und obwohl sie damals Anfang Vierzig war, erschien
sie mir mädchenhaft und unbekümmert und ganz und gar nicht so, wie
man sich eine Hausfrau und Mutter vorstellt.
Worüber sprachen wir bei diesem Mittagessen? Ich weiß es nicht
mehr. Wahrscheinlich über den Teich, über Tiefe und Durchmesser,
über die Gewächse, die Prok dort pflanzen wollte: herzblättrige
Pontederien, Iris natürlich, die dann mit den Füßen im Wasser
stehen würden, und wie wär’s mit Sarracenia purpurea in der
Übergangszone? Ich ertappte mich dabei, daß ich verstohlen Macs
Beine musterte, ihre Knöchel, die Linie, wo ihre braungebrannten
Oberschenkel in den Shorts verschwanden. Das war wohl der Auslöser,
das war es, was mir den Mut gab, etwas zu tun, wozu ich vor wenigen
Wochen noch nicht imstande gewesen wäre. Meine Bildung machte, wie
gesagt, rasche Fortschritte. Also: Mac sammelte die Teller ein, und
Prok und ich sahen ihr nach, als sie über den Rasen zum
Hintereingang schlenderte und im Haus verschwand. »Prok, ich hoffe,
du ... na ja, du verstehst das jetzt nicht falsch«, begann ich,
»aber ich hab über das nachgedacht, worüber wir gestern gesprochen
haben, ich meine, im Hinblick auf meine Bedürfnisse und meine
Erfahrungen. Über mein Bedürfnis nach Triebbefriedigung mit einem
weiblichen Partner.«
Er konnte es kaum erwarten, wieder an die Arbeit zu gehen. »Ja«,
sagte er, »ja, was ist damit?«
»Tja, also, ich wollte dich fragen, wie es wäre, wenn Mac ...«
Er sah mich verwirrt an. »Mac?«
»Ja«, sagte ich und sah ihm, gelehriger Schüler, der ich war,
direkt in die Augen. »Mac.«
Er brauchte einen Augenblick. »Du meinst, du willst ... mit
Mac?«
Man kann über ihn sagen, was man will – und wie es scheint, hat jeder eine Meinung über ihn –, aber Prok war kein Heuchler. Er predigte die sexuelle Befreiung des Mannes und der Frau, und er lebte, was er predigte. Auf seinen Lippen erschien ein leichtes Lächeln, und seine Augen funkelten vor Vergnügen, als hätte er einen guten Witz gemacht, und dann legte er die Schaufel hin und sagte, er werde meinen Vorschlag am Abend seiner Frau unterbreiten, und wenn sie einverstanden sei, hätte ich seinen Segen.
Mac war, wie sich zeigte, nicht weniger überrascht als ihr Mann, überrascht, aber auch geschmeichelt, und als ich am nächsten Wochenende zur Arbeit im Garten erschien, stellte ich fest, daß sie allein im Haus war. Ich stand knietief in dem Krater, den Prok und ich ausgehoben hatten, und fragte mich, wo er war – hatte er etwa verschlafen? (Einfach unmöglich, selbst als sein Herz ihm mit Ende Fünfzig zu schaffen machte, schlief er nie länger als vier oder fünf Stunden pro Nacht.) Mit einem Mal hörte ich das Rascheln nackter Füße im Gras, und Mac stand vor mir, ein sanftes, schüchternes Lächeln auf den Lippen. »Hallo, John«, sagte sie, ihre Augen schimmerten, und in ihrer Stimme war dieses gaumige Etwas. »Ich wollte nur sagen, daß Prok mit den Kindern zum Lake Monroe gefahren ist. Sie wollen ein bißchen wandern und Gallen sammeln und werden erst heute abend zurückkommen. Er hat gesagt ...«
Ich hatte das Gefühl, als wären meine Herzklappen verengt. Das Atmen fiel mir schwer. Das Sonnenlicht war zu etwas Stofflichem geworden, eine Last auf meinen Schultern, die ich kaum zu tragen vermochte. Ich glaubte, das Bewußtsein zu verlieren, und vielleicht verlor ich es tatsächlich, nur für einen Augenblick; ich stand schwankend da, und unter mir drehte sich die Erde.
»Er hat gesagt, du brauchst heute nicht zu arbeiten. Nicht, wenn
du nicht willst.«
Auch hier will ich offen sein. Wenn Prok mich irgend etwas gelehrt
hat, dann das. Euphemismen sind die Zuflucht der Unechten, der
Zaghaften und Verklemmten. Ich verwende keine Euphemismen und
glaube, daß klare Worte die besten Worte sind. Oder deutliche
Worte. Schlicht gesagt: Ich war von Mac berauscht. Sie würde die
erste sein, die Frau, die mich aus meiner Jungfernschaft erlöste,
oder, um es auf die gröbste Weise zu sagen, nur damit es endlich
gesagt ist, um es mit den Worten auszudrücken, die die aus der
Unterschicht stammenden Befragten in zahllosen Interviews gebraucht
haben, in der Umgangssprache also, die die Dinge oft genauer auf
den Punkt bringt als die erhabenste Umschreibung: Sie würde mein
erster Fick sein. So, jetzt ist es heraus. Und wenn sich alles
wieder etwas beruhigt hat und Iris das hier hört oder es für das
Buch niederschreibt – und ein Buch soll es ja werden –, so habe ich
nichts zu verbergen. Sie kennt meine Geschichte. Sie kennt sie von
Anfang an, so wie ich ihre kenne.
Doch an jenem Junitag im Garten – die Blumen ein Aufruhr von Farben, die Luft so sanft und wohltuend wie ein Duftbad, hinter uns das Lebkuchenhaus, wir selbst durch die betäubende Stille des Morgens abgeschirmt von der Welt – streckte Mac die Hand nach mir aus, und ich ergriff sie. Sie sagte kein Wort. Sie zog mich ein wenig, um mir zu zeigen, was sie wollte, und ich stieg aus der Grube und ließ mich von ihr zu einer Stelle weiter hinten im Garten führen, wo wir durch Bäume vor Blicken geschützt waren. Eine Decke war auf dem Gras ausgebreitet, und dieser Anblick ließ mich innerlich jubeln. Sie hatte alles geplant, sie dachte an mich, sie begehrte mich, und hier war der Beweis.
»Da«, sagte sie, »setz dich.« Ich gehorchte, und mein Atem ging schnell und flach, als sie vor mir stand, ihre Bluse aufknöpfte, die Shorts abstreifte und mit einer langsamen, eleganten Bewegung neben mir niederkniete und ihre Hände über meine Brust und meinen Bauch flattern ließ, wobei sie mit leichtem, beruhigendem Druck über meine angespannten Schultern und Oberarme strich, bis ich mich erst auf die Ellbogen stützte und schließlich auf dem Rücken lag und spürte, daß sie sich an der Schnur des Lendenschurzes zu schaffen machte. Der Augenblick schien kein Ende zu nehmen, und dann fiel das Tuch, und sie packte mich an dem einzigen Teil meines Körpers, der von Bedeutung war. Ich wußte, was ich tat. Ich hatte die Dias gesehen, die Geschichten transkribiert. Und ich hatte an Professor Keatings Seminar über klassische Literatur teilgenommen und König
Ödipus und Ödipus auf Kolonosgelesen und wußte, daß Prok der alte König war und ich der Sohn und Mac die Mutter. Ich tat es offenen Auges. Ich war kein Opfer. Und das hier war Sex – nicht Liebe, sondern Sex –, und es fiel mir so leicht, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan.
5
Am folgenden Samstag war die Abschlußfeier.
Meine Mutter – später mehr von ihr – machte sich mit Tommy
McAuliffe und meiner Tante Marjorie in Tommys Dodge auf den weiten
Weg von Michigan City. (Wir hatten nie einen Wagen besessen, denn
das war laut meiner Mutter ein Luxus, den wir uns nicht leisten
konnten, und daher lernte ich erst fahren, als Prok es mir später
in jenem Sommer beibrachte.) Das war im Juni 1940, und die
Ereignisse in Europa – die Evakuierung bei Dünkirchen, die
bevorstehende Kapitulation Frankreichs – überschatteten eine
Abschlußfeier, die bestimmt die trübseligste in der Geschichte der
Universität von Indiana war. Alle waren beunruhigt, nicht nur die
Absolventen, die nun hinaus in die Welt gingen. Es war so gut wie
sicher, daß die allgemeine Wehrpflicht eingeführt werden würde, und
davon wären alle Studenten im Grundstudium betroffen.
Aber ich hatte meinen Abschluß gemacht, immerhin magna cum laude, und meine Mutter war – Hitler hin oder her – entschlossen, es würdig zu feiern. Um den anderen vielleicht nicht so schlauen oder weitblickenden Eltern zuvorzukommen, hatte sie ein ganzes Jahr im voraus zwei Zimmer für sich und meine Tante reserviert. Tommy würde auf einem Feldbett in dem Zimmer schlafen, das ich mir mit Paul Sehorn teilte. Das alles war bis in die Einzelheiten mit Mrs. Lorber besprochen. Nun zu meiner Mutter. Ich habe das Gefühl, daß ich hier auf sie eingehen muß, auch wenn man sagen könnte, daß sie wohl kaum eine zentrale Rolle in Proks Geschichte spielt, und dennoch finde ich es schwierig, über sie zu sprechen. (Sie lebt, es geht ihr gut, und jetzt, während ich dies schreibe, ist sie noch keine sechzig und arbeitet als Grundschullehrerin in Michigan City.) Sie hatte – hat – einen Charakter, der durch die Umstände geformt wurde, und damit meine ich vor allem die Tatsache, daß sie sich selbst und ihren Sohn in der Zeit der großen Wirtschaftskrise ganz allein durchbringen mußte, weil sie mit dreißig Witwe geworden war und ihre Eltern beinahe tausend Meilen entfernt wohnten und weder imstande noch willens waren, ihr zu helfen. Sie war genügsam und akkurat, tüchtig und berechenbar wie eine Maschine, und nichts, was irgend jemand je getan hatte oder noch tun würde, konnte vor ihren Augen Gnade finden. Das klingt streng, und dabei will ich gar nicht streng sein: Sie hat mich genährt und gekleidet und mir Möglichkeiten geboten, und wenn ihr emotionales Ich nach dem Verschwinden meines Vaters ebenfalls verschwunden ist, so steht es mir nicht zu, ihr daraus einen Vorwurf zu machen. Ebensowenig wie es anderen zusteht. Sie nahm ihren Kummer in sich auf, sie saugte ihn auf wie ein Schwamm, und dann verhärtete sie sich, bis sie erstarrt war. Aber auch das wird ihr nicht gerecht. Sie ist meine Mutter, und ich liebe sie bedingungslos, wie jeder Sohn seine Mutter liebt. Das versteht sich von selbst. Vielleicht besser eine Beschreibung ihres Äußeren, vielleicht sollte ich mich darauf beschränken.
Meine Mutter war überdurchschnittlich groß – eins siebzig –, und auf der Highschool hatte sie Basketball gespielt und Wandern, Schwimmen und Klatschgeschichten geliebt. Sie war holländischer Abstammung – ihr Mädchenname war van der Post –, und ihr rotbraunes naturgelocktes Haar färbte sich im Sommer an den Spitzen golden. Sie hatte eine spektakuläre Figur (das ist ein rückblickendes Urteil und beruht nicht so sehr auf eigener Beobachtung – man sieht die eigene Mutter nicht unter diesem Aspekt – als vielmehr auf der Tatsache, daß sie stolz darauf war und immer wieder erwähnte, Soundso habe ihr ein Kompliment über ihre Beine gemacht oder gesagt, im Pullover sehe sie wie ein Fotomodell aus und sie solle sich doch in Hollywood bewerben), aber wenn sie nach dem Tod meines Vaters irgendwelche Triebbefriedigungen hatte, so verbarg sie diese sorgfältig vor mir, und ich würde dieses Thema hier auch nicht anschneiden, wenn nicht die Sache zwischen Prok und ihr passiert wäre. Und aus Gründen der Vollständigkeit natürlich.
Jedenfalls sah ich an jenem Freitagnachmittag aus dem Fenster, als Tommys Dodge blitzend am Bordstein hielt und Mutter und Tante Marjorie ausstiegen und sich umsahen, als wären sie nicht in Bloomington, Indiana, gelandet, sondern am Amazonas. Sie rückten ihre Hüte zurecht, bevor sie die Eingangstreppe der Pension hinaufgingen. Ich hätte sie an der Tür begrüßen können, doch ich zögerte und weiß nicht mal, warum. Es war ein Tag des Feierns und der Freude – endlich würde ich mal ein bißchen verwöhnt werden; es würde bestimmt ein gutes Abendessen geben, Austern, mit Blauschimmelkäse gefüllte Selleriestangen, ein medium gebratenes Steak auf makellosen Tellern und einer Leinendecke, so weiß, als wäre sie am Morgen erst gewebt worden –, aber ich stand einfach am Fenster und setzte mich erst in Bewegung, als ich ihre Stimme in der Eingangshalle hörte. Ich weiß nicht mehr, was sie sagte – zweifellos begrüßte sie Mrs. Lorber und machte irgendeine tadelnde Bemerkung über den Zustand der Straßen, Tommys Fahrstil oder das Wetter: War es nicht furchtbar heiß? –, aber der Klang ihrer Stimme zog mich, und ich ging hinunter in ihre kalte Umarmung, der gehorsame Sohn, John, ihr Junge.
Die drei Frauen standen in der Eingangshalle, leicht der Treppe zugewandt, als posierten sie für ein Gruppenbild, das An einem Tag stiller Freude in Erwartung seiner Schritte heißen konnte oder Wer macht alles gut?. »Mutter«, sagte ich und ging, immer eine Stufe nach der anderen, gemessenen Schrittes die Treppe hinunter, ohne unreifes Gehüpfe und Gespringe, »willkommen. Und Tante Marjorie. Wie schön, daß ihr da seid. Habt ihr euch schon mit Mrs. Lorber bekannt gemacht?«
Meine Mutter umarmte mich steif und förmlich, doch ihre Augen verrieten, wie stolz sie auf mich war, wie sehr sie sich über mich freute. Sie wollte etwas in dieser Richtung sagen, jedenfalls dachte ich das, als Tommy die Eingangstreppe heraufgestürmt kam, die Tür aufriß und mich in seine Arme schloß. »Hallo, Professor!« rief er und wirbelte mich herum, als wäre ich ein überdimensionales Paket, das er bei einer Tombola verlosen wollte. »Du weißt doch: Es hat keinen Wert, wenn man nichts davon hört!« Alle lächelten, als wäre er soeben verrückt geworden. Und das war er ja auch. Als wir kurz darauf allein in meinem Zimmer waren, zeigte er mir die Ursache seines zeitweiligen Irreseins: einen Flachmann mit Whiskey, sehr praktisch, für die Innentasche eines Sportjacketts. Er reichte ihn mir, und ich trank automatisch einen großen, brennenden Schluck, doch als ich Tommy den Flachmann zurückgeben wollte, winkte er ab. »Sieh dir die Gravur an«, sagte er und sank auf Pauls Bett zusammen, als könnte er sich nicht mehr aufrecht halten.
Tatsächlich, dort stand in feinen Buchstaben J. A. M. für John
Anthony Milk. »Das sind ja meine Initialen«, sagte ich wie
ein Idiot.
Tommy betrachtete mich aus Augen, die am Ende zweier langer Tunnel
zu liegen schienen. Er hatte stundenlang meiner Mutter und meiner
Tante zuhören müssen, und wer konnte ihm einen Vorwurf machen, wenn
er nicht mehr ganz nüchtern war? »Genau«, sagte er.
Beim Abendessen waren wir zu fünft: meine Mutter, meine Tante,
Tommy, Iris und ich. Das Restaurant war im Erdgeschoß eines Hotels
in der Innenstadt (nicht das Hotel, in dem die beiden abgestiegen
waren und das sehr viel bescheidener war). Es stand in dem Ruf, das
beste in Bloomington zu sein, jedenfalls in jener verschlafenen,
provinziellen Vorkriegszeit. Topfpalmen schirmten die Tische
gegeneinander ab, der Oberkellner trug seine beste Imitation eines
Smokings und hatte es geschafft, seine Haare derart anzuklatschen,
daß sie wie eine schwarze Badekappe mit Scheitel wirkten, und auf
der Speisekarte standen Zwiebelsuppe au gratin, gegrillte
Kalbskoteletts, Weißfisch und natürlich Rindfleisch in allen
Variationen. Wir begannen mit Krabbencocktails, bei denen die
Krabben hübsch auf Halbkugeln aus Eis drapiert waren, und Tommy und
ich bestellten Bier, während die Damen Gin-Fizz tranken. Ich fühlte
mich beschwingt. Ich stand nicht nur im Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit, nein, diese Feier fand zu meinen Ehren statt, und
weil ich jetzt ein Erwachsener war, ein Universitätsabsolvent, der
aus eigener Kraft etwas erreicht hatte, gab es hier keine
Beschränkungen wie bei den Geburtstagsfeiern, die meine Mutter für
mich veranstaltet hatte, bis ich schließlich auf die Universität
gegangen war. Aber der Flachmann war auch nicht ganz unschuldig;
sein Inhalt hatte erheblich zu meinem Hochgefühl beigetragen. War
ich beschwipst? Ich weiß nicht. Doch ich sah die Dinge in einer Art
blendender Klarheit, als wäre alles plötzlich hell erleuchtet, als
hätte ich mein Leben bisher in einer zweidimensionalen Welt
verbracht, in einem Schwarzweißfilm, und als wäre unvermittelt eine
dritte Dimension hinzugekommen. Und alles in Technicolor. Iris zum
Beispiel.
Sie saß mir gegenüber, in einem schulterfreien Organdykleid – es
war blau, ein sanftes, kühles Hellblau, mit einem dazu passenden
Hütchen, das auf dem weich fallenden Schatten ihrer Haare thronte
–, und ich sah, daß sie die Augenbrauen gezupft und nachgezogen
hatte, so daß sie zwei vollkommene Bogen bildeten, die den Weg zu
ihren Augen wiesen. Bis dahin hatten wir nicht viel miteinander
gesprochen; sie war von meiner Mutter und meiner Tante in Anspruch
genommen, während Tommy und ich Erinnerungen an alte Zeiten
austauschten, mit Gekicher, kleinen Schlägen auf den Oberarm und
dem ganzen Sortiment spätpubertärer Verhaltensweisen, die uns noch
immer in der Adoleszenz festhielten, auch wenn wir empört gewesen
wären, wenn uns irgend jemand nicht wie erwachsene Männer behandelt
hätte. Meine Mutter sagte: »Wir müssen eingreifen. Wir haben gar
keine andere Wahl. Gott behüte, daß mein Sohn eingezogen wird – ich
brauche Ihnen ja wohl nicht zu sagen, daß er das einzige ist, was
mir auf dieser Welt geblieben ist –, aber wir können es uns nicht
leisten, uns vom Rest der Menschheit abzusondern, nein, das können
wir uns nicht mehr leisten.«
»Das ist das, was wir glauben sollen«, erwiderte Iris und legte die
Gabel hin. Sie hatte Fisch bestellt, und an den Gabelzinken
schimmerten weiße Stücke davon vor dem Hintergrund der goldgelben
Sauce auf ihrem Teller. »Warum sollten wir uns da hineinziehen
lassen? Entschuldigung, ich weiß, daß Holland besetzt worden ist –
aber so was passiert schließlich nicht zum ersten Mal. Es gibt doch
andauernd irgendwelche Kriege.«
Tommy war mitten in einer Geschichte über einen Streich, den er
nach einem Footballmatch der gegnerischen Mannschaft gespielt
hatte, und dachte irrtümlich, ich sei dabeigewesen, aber er war so
eingetaucht in diese Erinnerung, daß ich ihn nicht korrigieren
wollte. Nun hielt er inne und blickte seine Schwester an, als
traute er seinen Ohren nicht. »Jetzt komm aber, Iris, willst du
mich auf den Arm nehmen? Frankreich ist in ein, höchstens zwei
Wochen am Ende, und dann kann Hitler England bombardieren, bis
alles in Schutt und Asche liegt. Und glaubst du wirklich, er wird
sich damit zufriedengeben? Glaubst du, er schickt Roosevelt eine
Schachtel Pralinen und ein Briefchen: ›Nichts für ungut‹?«
»Genau«, sagte meine Mutter und reckte das Kinn. »Es wird
vielleicht Jahre dauern, bis er hier ist, vielleicht auch ein
Jahrzehnt, wer weiß? Aber die Welt ist kleiner, als Sie denken,
Iris, und niemand kann sicher sein, solange es diesen Verrückten
gibt. Haben Sie ihn letzte Woche in der Wochenschau gesehen? Dieser
Stechschritt! Macht Sie dieser Stechschritt nicht auch krank?«
»Sie verstehen nicht. Das ist nicht unser Krieg«, sagte Iris. »Er
hat nichts mit uns zu tun. Warum sollten unsere Jungs für irgendein
morsches Kolonialreich sterben, für ... für ... John«, sagte sie
und wandte sich an mich, »was meinst du?«
Ich meinte, daß die Feierstimmung zu wünschen übrig ließ. Ich
meinte, daß Iris die hübscheste Frau war, die ich je in meinem
Leben gesehen hatte. Ihre Augen funkelten vor Empörung, die Lippen
waren gespitzt, der Weißfisch harrte seines Schicksals. Ich
versuchte ein Grinsen. »Ich weiß nicht«, murmelte ich. »Ich
persönlich? Ich will nicht sterben.«
Ich wollte die Stimmung ein bißchen heben, dem Gespräch eine andere
Wendung geben und den stolzierenden Diktator von der festlichen
Tafel vertreiben, doch niemand lachte. Sie sahen mich bloß an –
sogar Tante Marjorie, die sanfteste Person, die ich kenne –, als
hätte ich soeben gestanden, ich sei ein Betrüger, ein
Kinderschänder oder Mörder. Krieg. Der Krieg hatte uns im Griff und
ließ sich nicht abschütteln.
Iris kam mir zu Hilfe. Sie hatte die Gabel in den Mund geschoben
und kaute auf einem Bissen Fisch und einem winzigen Stück grüne
Bohne herum. »Das ist genau das, was ich meine«, sagte sie, noch
immer kauend. »Ich will auch nicht sterben. Keiner will
sterben.«
Meine Mutter winkte ab. »Sie sind noch zu jung. Sie verstehen das
nicht. Das ist ein größeres Thema, es steht in einem größeren
Zusammenhang –«
»Hey«, sagte Tommy, als wäre er soeben aus einem Nickerchen
erwacht, »will noch einer ein Bier oder einen Cocktail?«
Wir begleiteten meine Mutter und meine Tante zu ihrem Hotel, gingen
zu dritt noch etwas trinken und brachten Iris kurz vor der
Sperrstunde ins Wohnheim. Im Aufenthaltsraum saßen etwa zehn Paare,
die einander in die Augen sahen. Eine der Studentinnen hatte auf
dem beigen, beinahe weißen Rock einen verräterischen Grasfleck,
einen leuchtendgrünen Streifen, und ein Student, der mir entfernt
bekannt vorkam, saß mit seiner Freundin auf dem Sofa und schmiegte
sich so fest an sie, daß es aussah, als wären die beiden
miteinander verklebt. Ihre Füße aber standen, wie es die Regeln
verlangten, auf dem Boden. Die Rezeptionistin – die Blondine mit
dem schlaffen Haar – war in ein Buch vertieft.
Tommys Tempo hatte sich im Lauf des Abends erheblich verringert,
und als wir nun am Empfang vorbei- und quer durch den
Aufenthaltsraum zur hinteren Wand gingen, wo wir einigermaßen
ungestört waren, glich sein Gang mehr einem Taumeln. Iris hatte
sich bei mir untergehackt. Wir lehnten uns an die Wand, und Tommy
versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden. Zweimal ließ er die
Zigarette fallen, einmal die Streichhölzer. »Hört mal«, sagte er,
richtete sich auf und blickte sich um, als hätte er noch nie einen
Raum voller knutschender Studentinnen und Studenten gesehen, »ich
muß hier raus. Es ist wahnsinnig warm hier drinnen, findet ihr
nicht? Ich schau mal, ob’s hier irgendwo ein Klo gibt.«
Wir sahen zu, wie er abwechselnd den einen und den anderen Fuß vom
Teppich hob und sich dabei bewegte, als hätte sich der Boden in ein
Trampolin verwandelt, und dann war er zur Tür hinaus, und mit der
Nachtluft trieb ein Hauch von Blütenduft herein. »Der gute alte
Tommy«, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. »Er muß ein
toller Bruder sein. Du hast wirklich Glück, weißt du das ?«
Iris war still geworden und lehnte mit dem Rücken an der Wand, die
Schultern hochgezogen, als wäre ihr kalt. Sie musterte mich. Die
Arme – schöne Arme, entzückende Arme, die bezauberndsten,
vollkommensten Arme, die ich mir vorstellen konnte – hatte sie vor
der Brust verschränkt, doch nun ließ sie sie sinken, als als wollte
sie sich für mich öffnen. Wir hatten uns schon zuvor hier geküßt,
genau an dieser Stelle, wo man uns vom Empfang aus nicht sehen
konnte, doch diese Küsse waren zurückhaltend und gesittet gewesen,
oder vielmehr so gesittet, wie man es erwarten konnte angesichts
der Tatsache, daß wir uns an der schummrigsten Stelle des ganzen
Raums an die Wand drückten und unsere Zungen gerade erst begonnen
hatten, eine neue Funktion zu entdecken. Iris wollte von Petting
oder vorehelichem Sex irgendwelcher Art nichts wissen. Sie war als
Katholikin erzogen worden, und das saß ihr immer im Nacken. Das,
was man ihr übergestülpt hatte, schränkte sie ein, aber sie war
nicht imstande, sich davon zu befreien. »Das macht dir doch nichts
aus, oder?« flüsterte sie eines Abends. Ich spürte ihren heißen
Atem auf dem Gesicht, ich schmeckte sie auf meinen Lippen. »Nein«,
sagte ich, »es macht mir nichts aus.«
Doch jetzt – an diesem Abend, an meinem großen Abend, dem Vorabend
der Abschlußfeier und all der damit verbundenen Ungewißheit –
umarmte sie mich und drückte sich an mich, so daß ich ihre weichen
Brüste spürte. Ihre Stimme war so leise, daß ich sie kaum verstand.
»Küß mich«, flüsterte sie.
Die Feier verlief nach Plan, die Reden waren hinreichend inspirierend, das Wetter spielte mit, und als President Wells Hände schüttelte und einem nach dem anderen sein Diplom überreichte, kam aus Richtung Illinois eine leichte Brise auf, die unsere Roben bauschte und an den Frisuren der Frauen zupfte. Danach gab es bei Prok einen Empfang für geladene Gäste – er bestand darauf, er wollte von Einwänden nichts hören, es war das mindeste, was er für einen jungen Mann tun konnte, der ihm eine solche Hilfe war –, und so genossen wir die Blumen, Macs Punsch und Proks Liköre. Meine Mutter verstand sich nicht sonderlich gut mit Mac, was nicht weiter ungewöhnlich war – sie trug ihre Zurückhaltung stets wie eine Rüstung und wurde mit anderen, wenn überhaupt, dann erst beim vierten oder fünften Zusammentreffen warm –, doch hier war noch etwas Tieferes, Komplexeres im Spiel, und wahrscheinlich würde ich in diesem Zusammenhang Freud zitieren, wenn Prok mich nicht so stark gegen ihn eingenommen hätte.
Bei Prok dagegen war es ganz anders: Er schien ihr sofort sympathisch zu sein. Natürlich gab er sich auch die größte Mühe, damit meine Mutter sich wie zu Hause fühlte. Er konzentrierte sich voll auf sie, führte sie durch den Garten und fragte sie nach ihrer Meinung zu den Dahlien oder den Heliotropen oder den Azaleen, die anscheinend einen sehr sauren Boden bevorzugten – hatte sie es mal mit Kaffeesatz probiert? Das Ausbringen von Kaffeesatz war, soweit Prok hatte feststellen können, die einfachste und billigste Methode, um den pH-Wert des Bodens zu verändern. Man mußte natürlich achtgeben, daß es nicht zu einer Chlorose führte, aber die ließ sich durch den Zusatz von Eisenchelat verhindern, das selbstverständlich gut untergearbeitet werden mußte ...
Ich sah, wie sie sich langsam vom Zentrum der Party entfernten. Meine Mutter hielt in einer behandschuhten Hand ein winziges Likörglas, die Sonne schien auf ihre Hutkrone und verwandelte die einzelne lange Feder in ein durchscheinendes Leuchten, und Prok nickte und gestikulierte, während er sie den Weg entlangführte. Er war formell gekleidet und trug, was wir (Corcoran, Rutledge und ich) insgeheim seine Uniform nannten: einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine ordentlich gebundene Fliege mit zweifarbigem geometrischem Muster. Ich bemerkte, daß er ein bißchen angespannt war, weil er seine Arbeit für einen ganzen Tag vernachlässigen mußte, zuerst wegen der Abschlußfeier, an der natürlich der gesamte Lehrkörper teilnehmen mußte, und dann wegen dieser kleinen Zusammenkunft, doch für das ungeschulte Auge war er so ruhig und charmant wie ein Plantagenbesitzer in den Südstaaten, der einen Gast über seinen von Sklaven bewirtschafteten Besitz führt. Die Kinder spielten eine ausgedehnte Partie Krockett, während Iris, Tommy und ich unter einem Baum bei Tante Marjorie und Mac saßen. Mac hatte ihre Schuhe ausgezogen und ging immer wieder ins Haus, um mit einem Tablett voller Kanapees oder den Persimonentörtchen zurückzukehren, die sie mir zu Ehren am Morgen gebacken hatte.
Wir sprachen über alles, nur nicht über den Krieg, denn der Krieg fand irgendwo weit jenseits des Ozeans statt, und dieser Tag gehörte uns – Tommy, Iris und mir –, und es gab keinen Grund, düstere Gedanken zuzulassen. Meine Tante, die nie sehr gesprächig war, es sei denn, sie klatschte mit ihrer Schwägerin, saß mit gekreuzten Beinen in einem Korbstuhl und lächelte wehmütig, vielleicht dachte sie an ihren Mann, der bei Ypern gefallen war. Wenn Mac uns Gesellschaft leistete, sprach sie gewandt über alle möglichen Themen, unter anderem über Pfadfinderinnen, Stricken – hier horchte Tante Marjorie ein wenig auf – und natürlich die Sexforschung. Alles war sehr entspannt.
Als die Kinder ihre Krockettpartie beendeten und der Jubelruf eines Mädchens erklang, stand Iris vom Rasen auf und strich ihr Kleid glatt, als hätte sie seit dem Frühjahr im Gras gelegen. »Kommt, laßt uns auch ein Spiel machen«, sagte sie. »Du und ich und Tommy. Na los.«
Vielleicht zögerte ich (das ist gut möglich, denn infolge ihrer – und Macs – Anwesenheit sowie der goldfarbenen Flüssigkeit in dem mitgeführten Flachmann war mir sehr geruhsam zumute), doch sie ließ keinen Widerspruch gelten.
»Na los«, wiederholte sie. »Oder habt ihr Angst zu verlieren?« Sie trug ein ärmelloses Sommerkleid und reckte sich, brachte die Fersen zusammen und hob den angewinkelten rechten Arm, damit wir ihre Muskeln bewundern konnten. »Die hättet ihr nämlich zu Recht. Ich muß euch leider sagen, daß ich die Krockettkönigin des ganzen Viertels war.«
»Als du neun warst vielleicht«, sagte Tommy. Auch er erhob sich
vom Rasen.
Wir spielten eine träge Partie. Die Sonne stand über uns, und Iris
machte Jagd auf unsere Kugeln und krockettierte sie in die
Blumenbeete, wann immer sich die Gelegenheit bot. Wir lachten
schallend und ließen den Flachmann kreisen. Ich glaube, ich war
noch nie glücklicher. Nur eines trübte das Bild: der Blick, den
Prok uns zugeworfen hatte, als er mit meiner Mutter vom hinteren
Teil des Gartens zurückgekehrt war. Sein Gesicht war einen
Augenblick lang ganz nackt gewesen, der Mund mißbilligend
verkniffen, und ich hatte mich gefragt, welcher Sünde, welcher
Übertretung wir uns schuldig gemacht hatten, bis mir eingefallen
war: Prok haßte alle Spiele. Spiele waren unproduktiv. Spiele waren
eine Zeitverschwendung oder vielmehr ein Zeitvertreib, was auf
dasselbe hinauslief. Für Prok besaß nur die Arbeit einen Wert, und
er konnte nie verstehen, daß wir (wieder Corcoran, Rutledge und
ich) auch nur Augenblicke mit Tätigkeiten verbrachten, die nicht
direkt mit dem Projekt zu tun hatten. Wir hatten vielleicht zwölf
Stunden lang Sexgeschichten aufgezeichnet und kehrten ins Hotel
zurück, um uns zu entspannen, Radio zu hören oder Karten zu
spielen, doch Prok bestand darauf, daß wir uns in die Fachliteratur
vertieften, damit wir unsere Funktion noch besser erfüllten und die
Forschung voranbrachten.
Einmal – ich greife hier acht bis zehn Jahre vor – waren Prok,
Corcoran und ich auf Forschungsreise in Florida, um Geschichten zu
sammeln. Wir waren den weiten Weg von Indiana dorthin gefahren,
damit Prok zu einer Gruppe von Universitäts-Verwaltungsdirektoren
sprechen konnte, die in Miami eine Reihe von Seminaren
veranstalteten, und wir hatten fünf Tage lang vom Frühstück bis um
zehn oder elf Uhr abends Geschichten aufgezeichnet. Am letzten Tag
vor unserer Rückfahrt nach Indiana, in den ewigen Winter, waren wir
schon um acht Uhr abends fertig, und Corcoran und ich hielten aus
einer Laune heraus an einem Minigolfplatz an. Corcoran war ein
überaus extravertierter Mensch: fröhlich, verbindlich, immer auf
der Suche nach einem sexuellen Abenteuer. An diesem Abend saß er am
Steuer, denn Prok, auf dem Beifahrersitz, blätterte, mit einer
Taschenlampe fuchtelnd, in den gesammelten Interviews. »He, John«,
rief Corcoran, »siehst du das, da vorne links?«
Ich saß auf dem Rücksitz, beugte mich vor und sah, was er meinte.
Es war eine glitzernde Spiellandschaft, erleuchtet von bunten
Lichtern, die in die Nacht über Florida sickerten, und darüber hing
ein Schild: TEETER’S MINIGOLF.
»Wie wär’s mit einer Pause und ein bißchen Entspannung?« fragte
er und bog bereits von der Straße ab, als Prok zerstreut
aufsah.
Corcoran hatte eine antiautoritäre Ader, eine jungenhafte
Verspieltheit, die Prok auf eine Art tolerierte, wie er es bei
keinem anderen getan hätte, und die in diesem Augenblick etwas in
mir weckte. Warum nicht* dachte ich. Warum nicht mal eine
Auszeit nehmen, und sei es nur für eine Stunde? »Klar«, sagte
ich, »das wäre ... das wäre Klasse! Ich hab noch nie ... Und morgen
fahren wir schon wieder zurück ...«
Und bevor Prok Einwände erheben konnte, waren bereits vollendete
Tatsachen geschaffen. Der Wagen stand neben dem Kassenhäuschen auf
dem mit Kies bestreuten Parkplatz, Corcoran und ich zahlten den
Eintritt und suchten uns Schläger aus, und die ganze Zeit
raschelten die Palmen in einer Brise, die so warm war wie zu Hause
die Heizung. Wir müssen zwei Stunden oder länger gespielt haben.
Wir waren unbeschwert und ein bißchen albern, wir fühlten uns wie
Jungen, die, bei aller Banalität der Situation, doch stets in
Konkurrenz zueinander standen und sich anstrengten, um zu gewinnen,
ganz gleich, wie unbedeutend dieser Sieg auch sein mochte. (Ich
habe ihn an jenem Abend übrigens geschlagen, wenn auch nur knapp.)
Aber Prok. Prok versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen,
aber im Grunde war er außer sich. Er konnte es einfach nicht
verstehen. Er begriff nicht, warum erwachsene Männer sich wie
Halbwüchsige benahmen und kostbare Zeit verschwendeten, die sonst
dem Projekt, der Arbeit, der Anhäufung von Wissen und dem
Fortschritt der Kultur zugute gekommen wäre. Er ging auf und ab. Er
rief uns von der anderen Seite des Zauns. »Corcoran. Milk.« Seine
Stimme war ein klägliches Nölen. »Ihr haltet das Projekt auf!«
Doch am Tag der Examensfeier wußte ich noch nichts von Proks
kompromißloser Ablehnung dessen, was er als »belangloses Treiben«
bezeichnete – jedenfalls war mir das Ausmaß seiner Ablehnung nicht
so klar, wie es mir später werden sollte –, und der Blick, den er
uns zuwarf, uns, die wir eine harmlose Partie Krockett spielten,
gab mir zu denken. Ich versuchte, ihn zu analysieren, ihn zu
dechiffrieren. War die Feier vorüber? Hatte meine Mutter etwas zu
ihm gesagt – oder er zu ihr –, was das Gesicht des Tages verdüstert
hatte? Wußte meine Mutter über das Verhältnis zwischen Prok und mir
oder Mac und mir, und hatte sie eine Bemerkung darüber gemacht?
Wie sich herausstellte, traf keine dieser Befürchtungen zu. Prok
war einfach Prok. Wir brachten unser Spiel zu Ende und setzten uns
dann wieder im Schatten auf den Rasen, und Prok ging ins Haus und
kehrte mit einem Geschenk für meine Mutter zurück – einer besonders
knotigen, aber unbewohnten Galle, die er durch einen
Schellacküberzug zu einem Kunstobjekt gemacht hatte –, und als sie
ihm dankte, entdeckte ich einen Anflug von Komplizenschaft zwischen
den beiden und wußte nicht, was ich davon halten sollte. Es gab
irgendeine Übereinkunft, und in diesem Augenblick ging mir auf, daß
es nichts mit mir zu tun hatte: Prok, nahm ich an, hatte über das
Projekt gesprochen und sie wie praktisch jeden anderen davon
überzeugt, ihm ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte meiner
Mutter. Am folgenden Tag oder noch am selben Abend würde sie ihm
zwei Stunden lang gegenübersitzen und die dreihundertfünfzig Fragen
beantworten: über ihre Masturbationsgewohnheiten, wie oft sie sich
selbst bis zum Orgasmus stimulierte und mit welchen Männern sie
seit dem Tod meines Vaters geschlafen hatte.
Danach wurde alles ein bißchen unscharf, und ich weiß nicht, ob
das, was als nächstes passierte, eine direkte Folge davon war –
auch um dies herauszufinden, brauchte man einen Psychiater, und
Prok haßte Psychiater –, aber ich weiß noch, daß ich mich
entschuldigte und die Gruppe auf dem Rasen verließ, daß ich Iris
und auch meine Mutter dort sitzen ließ und auf dem gewundenen Weg
zum Haus ging, wo Mac, wie sie gesagt hatte, einen kleinen Imbiß
zubereitete. Ich trat ein, ohne zu klopfen, ein geehrter Gast,
beinahe ein Mitglied der Familie. Die Kinder waren nirgends zu
sehen. Alles war still. Die Möbel schienen sich skelettartig und
umschattet in die Tiefen des Raums zurückzuziehen, die
Schallplatten lehnten schräg in den Regalen, als warteten sie auf
die Hand dessen, der sie zum Leben erwecken würde. Von fern, aus
dem Garten, hörte man das Summen der Stimmen.
Ich fand Mac in der Küche, wo sie, mit dem Rücken zu mir, an der
Theke stand. Sie war noch immer barfuß, hatte aber eine Schürze
umgebunden, die Schleife saß genau über der Rundung ihrer Hüften.
Muß ich Ihnen sagen, wie sehr ich sie in diesem Augenblick
brauchte, ein wie gelehriger Schüler meines Meisters ich geworden
war? Ich stellte mich hinter sie – und sie wußte, daß ich da war,
sie hatte auf mich gewartet –, ich drückte mich an sie, so daß sie
meine Härte an der Weichheit ihres Hinterns spürte, und dann
umarmte ich sie und legte die Hände auf ihre Brüste. Wie wunderbar:
Sie wandte den Kopf, um mich zu küssen, um mir die Erregung ihrer
Zunge zu schenken und zu unterstreichen, daß die Freude auf
Gegenseitigkeit beruhte. Und dann ... dann lagen wir auf dem
Küchenboden und zerrten an unseren Kleidern. Keine Kinder kamen
herein. Niemand überraschte uns. Und ich hatte Koitus mit ihr, in
einem wilden Rausch aus Stoßen und Lecken und Beißen, der alles in
allem kaum länger als drei Minuten dauerte, und danach zog ich mich
wieder an und ging über den Rasen zurück zu Iris und meiner
Mutter.
6
Seit Herbst 1938, als Prok sein Eheseminar abhielt, hatte es sowohl auf dem Campus als auch in der Stadt ein Geflüster gegeben, das Geflüster hatte sich zu einem mißbilligenden Grollen gesteigert und war schließlich, als der Sommer des Jahres 1940 in den Herbst überging und sich eine Koalition gegen Prok bildete, zu offener Empörung geworden. Ich hatte mich gewundert, wie viele vor allem ältere Mitglieder des Lehrkörpers an den Veranstaltungen teilgenommen hatten, doch nun begann ich zu begreifen: Sie waren Spione, Spitzel, die Nutznießer von Konvention und antiquierter Moral, denen daran gelegen war, die Welt im Hinblick auf Sex in Finsternis zu belassen. Sie waren nicht gekommen, um etwas zu lernen – sie waren gekommen, um Prok zu Fall zu bringen.
Dr. Thurman B. Rice, Professor für Medizin an der University of Indiana und leitender Beamter der Gesundheitsbehörde, tat sich besonders hervor. Rice hatte in den frühen dreißiger Jahren ebenfalls eine Vorlesungsreihe veranstaltet – er hatte sie als »Hygienekurs« bezeichnet –, die damals unter Studenten ein Dauerwitz war, ein Meisterstück der Fehlinformation, voller verschämter Andeutungen und viktorianischer Prüderie. Offenbar war er in der Vorlesung gewesen, in der Prok seine berüchtigten Dias gezeigt hatte, denn er beschwerte sich in Briefen an President Wells, das Kuratorium und Prok, diese Darstellungen seien so drastisch gewesen, daß sie selbst ihn erregt hätten, einen seit dreißig Jahren verheirateten Mann, der sich mit diesem Thema »auf sehr objektive Weise« befaßt habe, und daß er daher um die Studenten besorgt sei. Wenn nun eine unschuldige Studentin derart animiert werde, daß sie sich zum Geschlechtsverkehr hinreißen lasse, und wenn sie dann schwanger werde und nach Hause geschickt werden müsse, beschädigt sozusagen? Was dann?
Seine Kollegen vom Lehrstuhl für Medizin pflichteten ihm bei, denn sie fanden, daß Professor Kinsey sich etwas anmaßte, das ausschließlich der Medizin vorbehalten war. Wie konnte er Studenten beiderlei Geschlechts zum Thema Sexualität befragen und beraten – und zwar hinter verschlossenen Türen –, wenn er doch keinerlei medizinische Ausbildung hatte? Hinzu kamen der einstimmige Aufschrei der Geistlichkeit, eine Unmenge Briefe von besorgten Müttern aus allen Teilen des Staates, die gehört hatten, dieser Professor unterrichte ihre Töchter in verschiedenen Methoden der Empfängnisverhütung und fordere sie auf, die Länge ihrer Klitoris zu messen, sowie die Todfeindschaft von Dean Hoenig, die Prok zweierlei niemals verzeihen würde: die Szene in seinem Garten und die, wie sie fand, aufdringliche Hartnäckigkeit, mit der er einige der zurückhaltenderen Studienanfängerinnen ermuntert hatte, ihm ihre Geschichten zu erzählen. Das alles roch nach Lynchjustiz.
An einem vollkommen windstillen, auf kleiner Flamme köcheln- den Septembermorgen ging ich auf dem Weg zur Arbeit über den Campus und dachte an nichts Schwerwiegenderes als an die Frage, was ich in der Mittagspause machen würde, als ich auf sehr direkte Weise mit alldem konfrontiert wurde: mit den Gerüchten, dem Groll, den gegen Prok gerichteten Gefühlen im überbrodelnden Kessel der Gemeinschaft. Laura Feeney, jetzt im dritten Studienjahr, schöner und mit schwellenderen Formen ausgestattet, als ich sie in Erinnerung hatte, kam mir auf dem Weg am Bach entlang entgegen. Sie drückte ein Buch an den Busen (zwischen ihren Brüsten baumelte an einer Kette ein Jahrgangsring, der vermutlich Jim Willard gehörte). Als sie aufblickte und mich erkannte, veränderte sich ihr Gesicht, und sie blieb reglos stehen, bis ich vor ihr stand. »Laura«, sagte ich, plötzlich wieder schüchtern. »Hallo.«
Sie schwieg einen Augenblick. »John«, murmelte sie dann, mit einem zögernden Unterton, als probierte sie den Namen aus, um zu sehen, ob er paßte. »Hallo. Schön, dich zu sehen.« Eine Pause. »Wie war der Sommer?«
Wir hätten dieselbe Unterhaltung führen können wie ein Jahr zuvor, nur daß ich diesmal nicht in die tödliche Langeweile von Michigan City und das Dachzimmer im Haus meiner Mutter zurückgekehrt war, denn ich stand jetzt mitten im Leben und hatte eine Vollzeitstelle, und darum blieb ich auch in den Semesterferien bei Mrs. Lorber, obgleich Paul Sehorn ausgezogen war und ich bald einen neuen Zimmergenossen bekommen würde – sofern sich irgend jemand auf Mrs. Lorbers Annonce meldete. Während wir der Konvention Genüge taten und belanglos plauderten – darin war sie eine Meisterin –, sah ich sie an, und dann faßte ich mir ein Herz und kommentierte das Kettchen an ihrem Hals. »Wie ich sehe, trägst du Jim Willards Jahrgangsring.«
»Was? Ach, das.« (Eine Gelegenheit, über ihren Busen zu streichen und den Ring auf Augenhöhe zu heben.) Sie stieß einen kleinen Lacher aus, der bescheiden sein sollte, aber nur kokett war. Mein Interesse wuchs. »Du wirst es nicht glauben, aber ich habe einen Willard gegen den anderen eingetauscht.« Wieder ein Lachen. »Kennst du Willard Polk?«
Ich zögerte.
»Stellvertretender Kapitän der Football-Mannschaft? Ich gehe mit
ihm. Weihnachten wollen wir uns verloben.« Gedankenverloren ließ
sie eine Fußspitze kreisen, und ich warf unwillkürlich einen Blick
auf ihre Knöchel und Waden. »Jim und ich? Na ja, irgendwie kamen
wir einfach nicht mehr miteinander zurecht. Aber jetzt« – sie
strahlte mich mit voller Kraft an – »bin ich verliebt. Wirklich.
Ganz im Ernst. Für immer.« Wieder eine Pause. Ihr Gesicht zog sich
um ihren Mund zusammen. Ihre Augen wurden schmaler. »Aber was ist
mit dir? Wenn ich recht gehört habe, arbeitest du jetzt für
Kinsey?«
Ich nickte und versuchte zu lächeln.
»Unseren alten Professor«, sagte sie. »Dr. Sex.« Sie spielte noch
immer mit dem Ring und ließ ihn unvermittelt zwischen ihre Brüste
fallen. »Ich hab gehört, du machst jetzt selbst
Sex-Interviews.«
Ich war ein vollkommen anderer Mensch als ein Jahr zuvor, ich war
sexuell erfahren, ich stand mitten im Leben, ich war mit sämtlichen
sexuellen Praktiken vertraut, und trotzdem wurde ich rot. »Nur mit
Männern«, sagte ich. »Mit Studienanfängern. Weil die, na ja ... am
wenigsten kompliziert sind, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Tatsächlich?« Da war er wieder, der kokette Ton. »Und was ist mit
den Studentinnen? Sind die nicht noch ... unkomplizierter?
All diese züchtigen Jungfrauen in den Wohnheimen? Wirst du die auch
befragen, oder ist das eine von diesen Untersuchungen, die uns
verraten, was für Tiere Männer in Wirklichkeit sind? Als ob wir das
nicht schon längst wüßten, stimmt’s, John?«
Ich wurde also rot. Ich hatte Geschlechtsverkehr mit Mac gehabt,
ich hatte Iris den ganzen Sommer über vermißt, und der Schmerz war
so tief und unstillbar gewesen, als hätte man mir ein wichtiges
Organ entfernt. Doch als ich da stand und versuchte, das Blut mit
Willenskraft aus den Wangen zu drücken, wollte ich – warum es nicht
aussprechen? – Laura Feeney vögeln, ganz gleich, wie viele
Willards sie hatte. Ich sah sie nackt, ohne Kleid und Hütchen und
Schuhe, sah ihre nackten Brüste und die prallen Brustwarzen. Laura
Feeney, Laura Feeney, nur du allein. Das riefen meine Augen ihr zu,
und sie bemerkte die Veränderung in mir und tat wirklich einen
Schritt zurück, das heißt, sie verlagerte ihr Gewicht auf den
hinteren Fuß und vergrößerte den Abstand zwischen uns ein wenig.
»Nein«, sagte ich, und ich gebe zu, daß ich wohl ein bißchen
anzüglich grinste, »nein, die Frauen werde ich auch befragen. Das
hat Prok mir versprochen. Aber nicht hier. Nicht hier an der
Uni.«
Hochgezogene Augenbrauen. »Prok?«
»Professor Kinsey. So nennen wir ... so nenne ich ...«
»Ich hab gehört, sie wollen ihn rausschmeißen.«
Das war der Augenblick, in dem der Vogelgesang und das Plätschern
des Bachs und die Fehlzündungen eines Wagens auf dem
Fakultätsparkplatz verstummten, als hätte ein Dirigent seinen
Taktstock gehoben. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich hätte
nicht überraschter – nein, schockierter, das ist das bessere Wort –
sein können, wenn sie mir gesagt hätte, die Nazis seien im Anmarsch
auf Muncie. »Das können sie nicht«, sagte ich schließlich. »Er ist
ein ausgezeichneter Wissenschaftler. Er hat eine feste
Professur.«
»Das Eheseminar ist vorbei. Und weißt du, wie sie es nennen? Sie
nennen es ›diese Schmutzvorlesung‹. ›Diese Schmutzvorlesungs ja.«
Sie beobachtete mein Gesicht. »President Wells persönlich wird ihn
rausschmeißen, und zwar wegen ... was weiß ich, wegen
moralischer Verworfenheit. Das hab ich jedenfalls
gehört.«
Am nächsten Morgen stiegen Prok und ich noch vor Sonnenaufgang in
seinen Nash (ich kann mich weder an das Modell noch an das Baujahr
erinnern, aber die Karre, 1928 gebraucht gekauft, wurde meines
Erachtens nur noch von Heftklammern und Rost zusammengehalten). Wir
fuhren nach Lafayette, wo er zu den Studenten mehrerer
Soziologieseminare der dortigen Purdue University sprechen sollte.
Unterwegs wollten wir in Crawfordsville halten, um die Interviews
zu machen, zu denen wir in der Woche zuvor, als Prok an der DePauw
University gesprochen hatte, nicht gekommen waren. Und natürlich
freuten wir uns schon darauf, die Geschichten der Personengruppe
aufzuzeichnen, die abends Proks Vortrag hören würde; dafür hatten
wir die nächsten drei Tage veranschlagt. Das Mittagessen würden wir
auf der Fahrt einnehmen: ein paar Schlucke abgestandenes Wasser aus
der Steingutflasche, die hinter dem Fahrersitz stand, und einige
Handvoll Studentenfutter (Nüsse, Rosinen, Sonnenblumenkerne und ein
paar Stückchen Schokolade), das Prok zeit seines Lebens jeden
Mittag aß, ob er nun im Astor-Hotel am Times Square residierte, auf
der Suche nach Gallen durch die Vorberge der Sierra Madre wanderte
oder im Institutsgebäude an seinem Schreibtisch saß.
Der Wagen hatte kein Radio, aber das machte eigentlich nichts, denn
Prok sorgte selbst für Unterhaltung. Von dem Augenblick an, als ich
mich im morgendlichen Zwielicht auf den Beifahrersitz setzte, bis
zu dem Augenblick, als wir in Crawfordsville ausstiegen, redete er
ohne Punkt und Komma, und als wir weiterfuhren, knüpfte er nahtlos
an und hörte erst auf, als wir am späten Nachmittag in Lafayette
ankamen. Er sprach über Sex. Über das Projekt. Über die
Notwendigkeit, mehr Geschichten aus der Unterschicht zu sammeln,
aus der schwarzen Bevölkerung, von Taxifahrern, Bergleuten,
Baggerfüh- rern, zum Ausgleich gewissermaßen, weil die Geschichten
von Studienanfängern, so wertvoll sie auch sein mochten, nur einen
Teil des Gesamtbilds wiedergäben. Wenn neben der Straße eine Kuh
stand, sprach er über Milchproduktion und die schwere Zeit der
Dürrejahre. Er sprach über Topographie, über die Ökologie
fließender und stehender Gewässer, über das Suchen von Pilzen –
hatte ich schon mal frische Morcheln probiert, leicht paniert und
gebraten? Es störte mich nicht, kein bißchen. Es gehörte alles zu
meiner Ausbildung.
Außerhalb von Spencer kamen wir an den White River, als hinter uns
die Sonne aufging, sich über das Wasser ergoß und alles mit Kupfer
überzog. Im Dunst, der von der Wasseroberfläche aufstieg, stand die
Silhouette eines Graureihers, die Maisfelder fingen Feuer, Apfelund
Birnbäume lösten sich, mit leuchtenden Früchten beladen, aus dem
Zwielicht. Die Straße war feucht von Tau, und als die Sonne darauf
schien, stieg auch hier Dampf auf. Die Reifen durchpflügten ihn,
und er stob nach beiden Seiten durch die Brückengeländer wie ein
sich sammelnder Sturm. Das war der Augenblick, da ich beschloß,
mich von der Bürde der Information zu befreien, die Laura Feeney
mir gegeben hatte und die ich seit nunmehr beinahe vierundzwanzig
Stunden in meinem Kopf herumwälzte. »Prok«, sagte ich und
unterbrach ihn in einer Geschichte, die ich schon zweimal gehört
hatte – es ging um einen Häftling, der mitten im Interview in einem
Staatsgefängnis seinen Penis hervorgeholt und zum Vermessen auf den
Tisch gelegt hatte –, »stimmt es, daß ... Ich habe Gerüchte gehört,
daß du mal wieder unter Druck gesetzt wirst, jedenfalls mehr, als
du mir gesagt hast. Wegen des Eheseminars. Sie werden dich doch
nicht ... na ja, rausschmeißen, oder?«
Ein Strahl der tiefstehenden Sonne schien in den Wagen und
beleuchtete Proks Gesicht unterhalb des Mundes. Es sah aus, als
trüge er einen Bart aus Licht. Er blickte mich finster an, den Kopf
leicht schief gelegt. Ich sah das Weiße in seinen Augen. »Wer hat
dir denn das erzählt?«
»Ich ... äh, Laura Feeney. Laura Feeney hat es mir gestern morgen
erzählt. Du weißt schon, die Frau, mit der ich im Eheseminar
war.«
»Deine damalige Verlobte.«
»Ah ... ja.«
Die Bohlen der Brücke rumpelten unter den Rädern, und ich sah den
Reiher die Flügel ausbreiten. Proks Blick blieb auf die Straße
gerichtet. Er schwieg kurz und murmelte dann: »Miss Feeney hatte
wohl eine Audienz beim Rektor? Ober beim Kuratorium?«
»Du nimmst das auf die leichte Schulter, Prok, und das ist falsch.
Ich mache mir nur ... Ich mache mir nur Sorgen, das ist alles, und
es gibt tatsächlich Gerüchte, das kannst du nicht leugnen ...«
Er seufzte. Warf mir einen mitleidigen Blick zu und konzentrierte
sich dann wieder auf die Straße. »Wenn du es genau wissen willst«,
sagte er, »ich fühle mich wie Galileo. Sie stellen mir nach, sie
wollen mich mundtot machen, sie wollen mir das Grundrecht auf
wissenschaftliche Forschung verweigern, und das alles nur, weil
irgendein Pfaffe oder eine eingetrocknete alte Jungfer wie Dean
Hoenig oder ein abgehalfterter Bürokrat wie Thurman Rice Angst vor
den Tatsachen hat. Sie können der Wirklichkeit nicht ins Auge
sehen, darauf läuft es hinaus.«
Mir sank das Herz. Dann stimmte es also. Ich starrte aus dem
Fenster auf die strenge Geometrie der Maisfelder. Zu meinen Füßen
stöhnte der Motor, die Welt zog vorbei.
»Sie wollen mir ein Ultimatum stellen: Entweder ich setze das
Eheseminar ab, oder ich gebe das Forschungsprojekt auf.«
»Aber du kannst doch nicht ... Das wäre das Eingeständnis, daß Sex
tatsächlich etwas Schmutziges ist und daß sie die ganze Zeit recht
hatten ...«
Wieder ein Seufzer. Der verschleierte Blick. Die Hände lagen wie
Klauen auf dem Lenkrad. »Verstehst du, das Problem ist: das Seminar
und dann auch noch die Forschung, ganz zu schweigen von der
Beratung in sexuellen Dingen, die ja oft eingebunden war in die
Informationen, die wir verbreiten ...«
Er schaltete herunter. Der Wagen rumpelte durch ein Schlagloch, hob
leicht ab und setzte schaukelnd wieder auf. Prok legte die Hand auf
mein Knie. »Sie wollen das Forschungsprojekt abwürgen. Die
Vorstellung, daß wir leicht beeinflußbare junge Menschen hinter
verschlossenen Türen befragen, ist ihnen unerträglich. Schließlich
weiß man ja nie, was da alles passieren kann.« Er drückte mein
Knie. »Stimmt’s, John?«
Unser Zeitplan war eng, doch an diesem Tag hatten wir Glück, denn in der DePauw University erschienen alle pünktlich, lieferten ihre Informationen ab und machten sich wieder an die Arbeit, so daß wir uns an unsere machen konnten. Studentenfutter und Wasser im Wagen. Prok überholte Pickup-Trucks, überladene Lastwagen und hin und wieder eine Kuh, leuchtendgrüne Felder wechselten sich ab mit dunklen Wäldern und schattigen Senken, und dann waren wir da, wohlbehalten in Lafayette angekommen, eine Dreiviertelstunde bevor die Vorlesung beginnen sollte.
An das – Hotel kann ich mich kaum erinnern, und das ist sonderbar, denn diese Fahrt stellte einen markanten Einschnitt dar, aber die Hunderte von Kleinstädten und Hotels und Motels haben in mir anscheinend ein exemplarisches Bild entstehen lassen. Höchstwahrscheinlich war es ein Backsteinhaus aus dem vergangenen Jahrhundert, das sandgestrahlt und gestrichen werden mußte, und vermutlich stand es an der Hauptstraße, nicht weit vom Gerichtsgebäude. Schattenspendende Bäume, auf dem Bürgersteig vor dem Haus ein schlafender Hund, schräg geparkte Wagen. Das Haus hatte bestimmt drei Stockwerke und einen separaten Eingang für Restaurant und Bar. Um Geld zu sparen – Prok war ein Meister der Sparsamkeit –, teilten wir uns ein Zimmer. Das behielten wir auch in späteren Jahren bei, als zunächst Corcoran und dann Rutledge zu unserem Team stießen.
Die Vorlesung. Brauchte Prok noch irgend etwas? Nein. Er stand mit nacktem Oberkörper im Badezimmer und rasierte sich. Dann zog er ein frisches Hemd an, band seine Fliege, schlüpfte in das Jackett und ging zügig in Richtung Uni, so daß sein Gastgeber, Professor McBride vom Institut für Soziologie, Mühe hatte, Schritt zu halten. Ich folgte ihnen. Als wir eintrafen, war der Hörsaal bereits gefüllt (selbst damals, in der Frühzeit unseres Projekts, eilte uns ein gewisser Ruf voraus, und wenn sämtliche Soziologieseminare zusammen sechzig Studenten auf die Beine brachten, dann waren die übrigen dreihundert Anwesenden Neugierige, die mal vorbeischauten und auf ein wenig Stimulation hofften). Prok sprach wie immer frei, ohne schriftliches Konzept, und wie immer schlug er das Auditorium vom ersten bis zum letzten Wort in seinen Bann. (Ob das Thema vorehelicher Sex, die Psychologie der sexuellen Repression, die Funktion adoleszenter Triebbefriedigung, die Geschichte der Sexforschung oder der Vergleich der Häufigkeit von Masturbation bei Männern und Frauen einer Altersgruppe war – für Prok spielte das keine Rolle. Alle seine Vorträge waren im Grunde ein einziger Vortrag. Und ich sollte hinzufügen, daß er eine natürliche Begabung besaß und nie auf irgendwelche Tricks oder theatralischen Gesten zurückgriff. Er sprach klar und deutlich und weitgehend unmoduliert, jeder Zoll ein Mann der Wissenschaft, der sich über ein für die ganze Menschheit enorm wichtiges Thema verbreitete. Er war kein Mark Anton oder gar ein Brutus, aber er machte seine Sache besser als irgendein anderer.)
Und wie immer kamen anschließend viele, viele Studenten, die uns ihre Geschichten anvertrauen wollten, und Prok und ich saßen an einem langen Tisch hinter dem Podium und vergaben Termine. Abendessen? Ich kann mich nicht erinnern, ob wir an jenem Abend etwas gegessen haben – vielleicht ließen wir uns ein paar Sandwiches aufs Zimmer kommen –, aber wir begannen mit den Interviews, sobald sich der Hörsaal geleert hatte und wir wieder im Hotel waren. Prok führte seine Interviews in unserem Zimmer durch, und ich setzte mich in einen Nebenraum des Restaurants. Als ich fertig war, muß es schon nach Mitternacht gewesen sein (drei Soziologiestudenten, die sich freiwillig gemeldet hatten, weil sie bei Professor McBride ein paar Extrapunkte kriegen wollten; ihre Antworten waren erwartungsgemäß: nichts, was ich nicht bereits gehört hatte). Ich ließ mich mit einem verdünnten Drink in einen der Sessel in der Hotelhalle sinken und sah den Uhrzeigern zu, während Prok das letzte Interview des Abends beendete.
Danach machten wir uns bereit, zu Bett zu gehen, und verglichen unsere Termine. Dabei entdeckten wir, daß wir einen Fehler gemacht hatten: Wir hatten für den nächsten Morgen zwei Frauen um dieselbe Uhrzeit bestellt, anstatt einen Mann und eine Frau. Entweder würden wir einen dieser Termine absagen müssen, oder ich wäre gezwungen, mein erstes Interview mit einer Frau zu führen, und das war etwas, was Prok mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht zutraute. Er sah vom Terminplan auf, schüttelte langsam den Kopf, erhob sich vom Sofa und ging ins Badezimmer, um seine Dentalprophylaxe vorzunehmen (er legte großen Wert auf Zahnpflege, eine Angewohnheit, der er es verdankte, daß er, als er starb, noch sämtliche Zähne hatte). »Ich weiß nicht, Milk«, sagte er mit erhobener Stimme, um das Geplätscher des Wassers zu übertönen, »aber ich sage sehr ungern einen Termin ab. Zum einen ist es ineffizient. Zum anderen kostet es uns Daten. Nein. Es bleibt uns nichts anderes übrig – wir machen es wie geplant.«
Im nächsten Augenblick war er wieder im Zimmer, und zwar vollbekleidet, was an sich schon ungewöhnlich war, denn sobald wir unser Tagwerk vollbracht hatten, zog er sich nackt aus und ermunterte mich, es ihm nachzutun. (Ja, auf diesen Reisen waren wir oft miteinander allein und setzten unsere sexuelle Beziehung fort, aber meine Entwicklung und meine Vorlieben zogen mich in die andere Richtung. Ich verehrte Prok und verehre ihn noch heute, doch in dieser Hinsicht entfernte ich mich von ihm und bewegte mich auf Mac und Iris zu, auf die Studentinnen in ihren weiten Pullovern und engen Röcken, die über den Campus zogen wie Antilopen über die Savanne. Wie auch immer: Ich genoß es, mit Prok zusammenzusein, ich fühlte mich geehrt und freute mich auf diese Reisen, denn sie enthoben mich der langweiligen Schreibtischarbeit und den Beschränkungen des Kleinstadtlebens und ermöglichten es mir, ein bißchen mehr von der Welt zu sehen und aufzunehmen, jedenfalls von Indiana, später aber auch von Chicago, New York, San Francisco und Havanna.) »Wir werden deine Ausbildung etwas beschleunigen müssen«, sagte er, und in seiner Stimme war nicht ein Hauch von Leichtigkeit.
Ich war erschöpft. Die Reise, die übersprungenen Mahlzeiten, die Konzentration, die man aufbringen mußte, um an einem Tag fünf komplette Geschichten aufzuzeichnen – das alles hatte mich so ermüdet, als hätte ich den Tag damit verbracht, an einen Sträfling gekettet Steine zu klopfen. »Müssen wir das?« fragte ich.
»Die Interviews von Frauen erfordern ein bißchen mehr Finesse, würde ich sagen, als die von Männern, insbesondere die von Studenten etwa deines Alters, wo du wie ein Kommilitone oder ein älterer Bruder wirkst. Nein, ich weiß, wie du in dieser Hinsicht empfin- dest, in Hinsicht auf Frauen, meine ich, Mac und ich haben ausführlich darüber gesprochen« – er ließ das kurz wirken –, »und ich frage mich, ob du imstande bist, absolut professionell und neutral zu sein.«
Ich machte ein paar bestätigende Geräusche.
Er musterte mich. Er stand vor mir, in Hemd und Fliege. »Versteh
mich nicht falsch, Milk, aber deine Gefühle spiegeln sich zu oft
auf deinem Gesicht wider, und wenn dir eine Frau – diese Frau
morgen früh – etwas erzählt, was du möglicherweise stimulierend
findest ...«
Ich mühte mich, ein unbewegtes und möglichst blasses Gesicht zu
machen. »Also, ich glaube, wenn du mir eine Chance geben würdest
... Ich bin sicher, daß ich das kann, das heißt ...«
In dieser Nacht drillte er mich zwei Stunden lang. Zuerst war ich
die Frau, dann er, dann wieder ich, dann wieder er. Die Fragen
kamen eine nach der anderen, und seine Augen waren wie Peitschen,
wie Güsse mit eiskaltem Wasser am frühen Morgen, hart und
erbarmungslos. Er war anspruchsvoll, fordernd, überkritisch, und
wenn ich einen Fehler machte, ließ er mich Kaffee trinken, bis
meine Nerven so vibrierten, daß ich für den Rest der Nacht kein
Auge zutat. Im Gegensatz zu Prok. Ich lag im Dunkeln da und dachte
an tausend Dinge, hauptsächlich aber an Iris, die ich den ganzen
Sommer nicht gesehen hatte, auch wenn wir uns beinahe täglich
geschrieben hatten. Übermorgen würde sie zurück auf dem Campus
sein, und ich dachte an sie, als die Schatten weicher wurden und
von der Straße die ersten leisen Geräusche der erwachenden Welt
hereindrangen. Prok schnaufte und schnarchte und schlief den Schlaf
des Gerechten.
Am Morgen, beim Frühstück auf unserem Zimmer, prüfte Prok mich noch einmal. Ich hob eine Gabel mit Toast und Rührei zum Mund, legte sie wieder hin, beantwortete die Frage und trank rasch einen Schluck Kaffee. Ich hätte beinahe protestiert – setzte er denn nach all der Zeit kein Vertrauen in mich? –, doch ich ließ ihm seinen Willen, obgleich es keine großen Unterschiede zwischen den Fragebögen für Männer und denen für Frauen gab. Lediglich die Art und die Abfolge der Fragen waren auf das jeweilige Geschlecht abgestimmt. Frauen mußte man beispielsweise nach dem Alter beim Einsetzen der monatlichen Periode und dem Beginn der Brustentwicklung und so weiter fragen. Doch es war nicht meine Kompetenz, die Prok in Frage stellte, sondern mein Alter und meine Erfahrung oder vielmehr mein Mangel an beidem. »Milk, ach, Milk«, sagte er immer wieder, »ich wollte, du wärst zwanzig Jahre älter. Und verheiratet. Und hättest Kinder. Wie viele Kinder willst du mal haben, John – sagen wir drei?«
Zehn Minuten vor dem bewußten Interview, das um neun Uhr beginnen sollte, saß ich unten in dem Nebenzimmer. Bevor eine Person, die wir befragten, eintraf, notierten wir die grundlegenden Daten: Tag und Uhrzeit, laufende Nummer des Interviews (für unsere Registratur), Geschlecht der/des Befragten, Quelle der Geschichte (das heißt, auf welchem Weg der/die Befragte zu uns gekommen war – in diesem Fall handelte es sich natürlich um eine direkte Folge von Proks dringender Bitte am Ende seines Vortrags). Ich wußte nicht, was mich erwartete. In den kommenden drei Tagen würden wir etwa dreißig Interviews führen, und nächste Woche, auf dem Rückweg, würden es sogar noch mehr sein. Ich hatte keine Möglichkeit, eine Verbindung zwischen einem Namen auf der Terminliste und einem bestimmten Menschen herzustellen, obgleich ich diese Namen am Abend zuvor in die Liste eingetragen hatte. Die Frau, die ich befragen sollte – aus Gründen der Diskretion werde ich ihr einen anderen Namen geben –, war die junge Frau eines Professors, fünfundzwanzig, noch kinderlos. Mrs. Foshay. Nennen wir sie Mrs. Foshay.
Es klopfte an der Tür. Ich saß in einem Sessel am feuerlosen Kamin, die Terminliste und Mrs. Foshays Fragebogen lagen ausgebreitet auf einem Couchtisch vor mir. Der andere Sessel – Mahagoni, roter Plüsch, edwardianische Standard-Hotelausstattung – stand mir genau gegenüber. »Herein«, rief ich und erhob mich, um sie zu begrüßen, als die Tür aufschwang.
Dort stand eine hübsche junge Frau und spähte in den Raum, als hätte sie sich möglicherweise in der Tür geirrt. Sie war nach der neuesten Mode gekleidet und sah aus, als wäre sie soeben, nach einem Abend mit erlesenem Essen, Tanz und Champagner, aus einem Nachtclub in der Forty-second Street getreten. Sie lächelte zögernd. »Oh, hallo«, sagte sie. »Ich war mir nicht sicher, ob ich hier ...«
Ich ging zu ihr, ergriff ihre Hand und schüttelte sie kurz und professionell. »Es ist... es ist sehr freundlich, daß Sie gekommen sind, und auch wichtig, ja, wichtig ... Weil jede Geschichte, ganz gleich, wie umfangreich oder umfangarm ... ich meine ... zu dem Gesamtbild auf eine Weise beiträgt ...«
Plötzlich ging in ihrem Gesicht ein Lächeln auf, ein strahlendes Lächeln, das in meinem Bauch ganze Vogelschwärme aufscheuchte und im Kreis fliegen ließ. »Oh, es ist mir ein Vergnügen«, sagte sie, als ich sie mit einer Geste einlud, sich zu setzen, und ihr dabei zusah. »Alles für die Wissenschaft, nicht?«
Ich bot ihr eine Zigarette an – sie wählte Lucky Strike –, gab ihr Feuer und wünschte, es wäre nicht neun Uhr morgens, sondern neun Uhr abends, so daß wir etwas trinken könnten. Ein Drink hätte meine Nerven enorm beruhigt.
»Gut«, sagte ich und beugte mich, den Bleistift in der Hand, über den Fragebogen. »Also, Mrs. Foshay, vielleicht möchten Sie mir etwas über sich selbst erzählen –«
»Alice. Nennen Sie mich Alice.«
»Gut. Alice. Leben Sie schon lange hier, in Lafayette, meine ich?«
Das einleitende Geplauder, das, wie gesagt, dazu diente, den
Befragten zu entspannen, dauerte etwa fünf Minuten. Dann fror mein
Gehirn ein. Unwillkürlich stellte ich fest, daß Mrs. Foshays Brüste
die Bluse sehr gut füllten, ja den Stoff geradezu spannten, und daß
die durchsichtigen Strümpfe ihren Beinen einen seidigen Schimmer
verliehen. Ein Augenblick des Schweigens kroch dahin wie ein
Güterzug. »Also gut«, sagte ich, »na, dann. Bis zu welchem Alter,
sagten Sie, haben Sie in Trenton gelebt?«
Während wir uns durch die allgemeinen Angaben arbeiteten (Anzahl der Brüder, der Schwestern, Zwillingsstatus, Mitgliedschaft in einer studentischen Verbindung, Häufigkeit von Kinobesuchen usw.), gelang es mir, einen Rhythmus zu entwickeln und in einem einfachen Frage-Antwort-Muster zu bleiben, und auch die ersten fortlaufenden Fragen nach dem Beginn der Pubertät machten keine Schwierigkeiten, doch als wir in sensiblere Bereiche vorstießen, knickte ich leider ein wenig ein. »Wann haben Sie begonnen zu masturbieren?« fragte ich und zündete mir eine Zigarette an.
»Das muß mit elf gewesen sein«, antwortete sie und zog an ihrer Lucky. »Oder vielleicht mit zwölf.« Sie legte den Kopf in den Nacken, stieß den Rauch aus und wirkte so entspannt, als säße sie beim Friseur oder unterhielte sich am Telefon mit einer Freundin. »Wir wohnten damals noch in Newark, und ich kann mich an die Vorhänge erinnern. Meine Mutter hatte sie genäht, als ich noch klein war, sehr bunt und bedruckt mit Figuren aus irgendwelchen Kindergeschichten, Grimms Märchen und so. Meine Schwester Jean – sie ist ein Jahr älter als ich – hat mir gezeigt, wie es geht.«
Ich legte die Zigarette in den Aschenbecher und machte eine Notiz in dem entsprechenden Kästchen. »Ja? Würden Sie die Technik beschreiben?«
Sie wollte die Augen niederschlagen, doch ich hielt sie mit
meinem Blick fest. Ich blinzelte nicht. Ich rührte mich nicht.
»Na ja, Sie werden das jetzt vielleicht seltsam finden, Sie werden
es vielleicht nicht glauben –«
»Nein«, sagte ich, und meine Stimme war so gepreßt, daß ich Mühe
hatte, einen Ton herauszubekommen. »Nein, ganz und gar nicht. Es
gibt keine Praktik, die wir nicht verzeichnet haben, und überhaupt
hat Prok, hat Dr. Kinsey ja gestern in seinem Vortrag darauf
hingewiesen, daß wir keine Urteile fällen ...«
Das schien sie zu ermutigen. Sie schob ihre Frisur zurecht. Ihre
Haare waren toupiert und oben mit einer Spange zu einer Rolle
geformt, und der Rest war zu einer ausladenden Pompadourfrisur
gebürstet, die an Dolly Dawn erinnerte – die meisten werden sie aus
George Halls Band kennen (»It’s a Sin to Teil a Lie« sollten Sie
noch im Ohr haben, auf jeden Fall aber »Yellow Basket«). »Na ja«,
sagte sie, »ich bin sehr gelenkig. Jean ebenfalls. Und mein Bruder
Charlie auch.«
»Ja?« sagte ich, den Stift bereit.
»Wir – Jean und ich – setzten uns nebeneinander aufs Bett und
machten eine Art Rolle rückwärts, wie Akrobaten im Zirkus. Aber wir
hielten mitten in der Bewegung an, und weil wir so gelenkig waren,
na ja, konnten wir uns selbst lecken.«
Das Wort, das mir durch den Kopf schoß, lautete »Autocunnilingus«.
Dafür gab es noch kein Kästchen, keinen Code, also machte ich eine
handschriftliche Notiz. Wahrscheinlich war ich errötet. Auf jeden
Fall hatte ich eine Erektion.
Wir machten weiter.
War es ihre erste Ehe? Ja. Hatte sie vor der Ehe Erfahrungen mit
Zungenküssen gemacht? Ja. Mit Petting? Ja. Hatte sie männliche
Genitalien berührt, einen Penis mit dem Mund berührt,
Geschlechtsverkehr gehabt? Ja, ja und ja. Wie viele Partner hatte
sie gehabt, abgesehen von ihrem Mann? Ungefähr zwanzig, schätzte
sie. »Zwanzig?« wiederholte ich und versuchte, meiner Stimme einen
neutralen Klang zu geben. Sie wußte es wirklich nicht, vielleicht
waren es ein paar we- niger gewesen, vielleicht aber auch
fünfundzwanzig, und während sie zurückdachte, bekam ihr Blick etwas
Verträumtes. Und nun zum Orgasmus: Wann hatte sie ihren ersten
bewußten Orgasmus ? Konnte sie sich durch Masturbation, Petting
oder Geschlechtsverkehr zum Orgasmus bringen? Wann hatte sie
zuletzt einen Orgasmus erlebt?
Und hier verlor ich wieder den Boden unter den Füßen, denn ich
stellte dieser im landläufigen Sinne hübschen und
höchstwahrscheinlich verwöhnten Professorengattin, diesem eleganten
blonden Juwel von einer Frau, geschmackvoll und makellos gekleidet,
die nächste Frage dieser Sequenz, und die lautete: »Wie viele
Orgasmen haben Sie im Durchschnitt?«
Sie war bei der fünften Zigarette, und wenn sie anfangs entspannt
gewesen war, so war sie jetzt so aufgeschlossen und enthusiastisch
wie irgendeiner der Studenten, die ich bisher befragt hatte. Sie
sah mich an. Lächelte ein bißchen. Meine – unprofessionelle –
Erektion dauerte nun schon seit Stunden an. »Ich würde sagen, so
ungefähr zehn bis zwölf.«
Bestimmt war mir meine Überraschung anzusehen: Selbst unter den
Interviewten mit der höchsten Orgasmusfrequenz gab es nur wenige,
die an diese Zahl heranreichten. »Pro Woche?« fragte ich. Und dann,
idiotischerweise: »Oder ist das eine auf den Monat bezo- gene
Schätzung?«
Jetzt war sie es, die errötete – nur eine ganz zarte Verfärbung
unter den Wangenknochen und entlang der Nasenflügel. »Nein«, sagte
sie, »nein, ich meinte täglich.«
Wenn Iris verstimmt war, weil ich nicht gekommen war, um sie und Tommy zu begrüßen und ihren Überseekoffer in die dritte Etage des Wohnheims zu wuchten, dann ließ sie es sich nicht anmerken. Am frühen Morgen des vierten Tages kehrten Prok und ich wie geplant nach Bloomington zurück – er mußte damals ja auch noch seinen Stundenplan berücksichtigen –, und ich machte mich sogleich daran, die chiffrierten Protokolle zu transkribieren und nach und nach unseren rasch wachsenden Daten über das sexuelle Verhalten des Menschen hinzuzufügen, und ich sollte erwähnen, daß das immer erregend war: Ich fühlte mich dabei etwa so, wie sich ein Jäger fühlen muß, der von einem erfolgreichen Jagdausflug eine ganze Tasche voller Vögel mitgebracht hat, die meisten davon einheimisch, aber hier und da ist vielleicht mal ein Exot dabei. (Noch etwas zu dem eben erwähnten Interview: Glauben Sie bloß nicht, daß alle weiblichen Befragten ein so reiches, extensives Sexualleben hatten wie diese junge Professorengattin. Typischer waren Berichte von sexueller Unterdrückung, Schuldgefühlen und großer Beschränktheit im Hinblick auf die Zahl der Partner und die angewandten Praktiken. Und um die Anekdote zu Ende zu erzählen, sollte ich noch erwähnen, daß ich gar nicht anders konnte, als mich, kaum daß die Tür sich hinter ihr – Mrs. Foshay – geschlossen hatte, von dem Druck in meinen Lenden zu erlösen. Hätte Prok davon erfahren, dann hätte er mich bei lebendigem Leib gehäutet. Professionalität. Professionalität, das war das Zauberwort. Jedenfalls an der Oberfläche. Jedenfalls zu Anfang. In der verbrauchten Luft des Zimmers waren noch der Duft ihres Parfüms und ein Hauch ihrer Wärme zu spüren, und ich kam in Rekordzeit zum Orgasmus. Mir blieb gerade genug Zeit, um mich abzuwischen und alles zu verstauen, bevor es wieder klopfte und das aknezerfurchte Gesicht eines neunzehnjährigen Soziologiestudenten, der die weiblichen Geschlechtsorgane nicht einmal dann erkannt hätte, wenn man sie ihm auf dem Untersuchungstisch eines Gynäkologen präsentiert hätte, in der Tür erschien. Er sah mich unverwandt an und sagte oder vielmehr krächzte dann: »Bin ich hier richtig?«)
Aber Iris. Gleich nach der Arbeit eilte ich über den Campus zum Wohnheim. Zuvor, als Prok und ich uns ausrechnen konnten, daß wir nicht vor sieben fertig sein würden, hatte ich angerufen und bei der Rezeptionistin hinterlassen, daß ich direkt von der Arbeit kommen und sie zum Abendessen ausführen würde (Iris, nicht die Rezeptionistin, obwohl auch die attraktiv war). Sie solle sich also bitte ein wenig gedulden. Und obwohl ich nicht mit ihr persönlich sprechen und meine Gefühle daher nur andeuten konnte, fügte ich hinzu, daß ich mich sehr freute, sie wiederzusehen. Nach so langer Zeit. Sehr. Wirklich sehr.
Um Viertel nach sieben war ich im Wohnheim, doch Iris ließ mich warten. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht wollte sie mich aus Prinzip ein bißchen leiden lassen, vielleicht verwendete sie besondere Mühe auf ihr Kleid und ihr Make-up, um den Eindruck, den sie auf mich machen würde, zu verstärken, vielleicht kostete sie auch nur das Vorrecht der Frauen aus, die die Gejagten sind und daher tun und lassen können, was sie wollen. Jedenfalls sprang ich alle paar Minuten vom Sofa auf und ging in der Eingangshalle auf und ab, sehr zum Mißfallen der Rezeptionistin, die wenigstens so tat, als würde sie in dem Buch lesen, das aufgeschlagen vor ihr lag. Ich war angespannt, doch ich hätte nicht sagen können, warum. Vielleicht war es ganz natürlich, die Vorfreude eben – wir waren beinahe drei Monate getrennt gewesen, hatten uns geschrieben und Schnappschüsse geschickt und einander unsere Liebe erklärt. Ich konnte nicht behaupten, daß ich den Sommer über einsam gewesen wäre, schließlich hatte ich ja Prok und Mac gehabt und lange Stunden unterwegs oder am Schreibtisch verbracht, aber diese Briefe waren für mich wohl auch eine Gelegenheit, ihr meine Hoffnungen und Ambitionen zu zeigen (und auch meine Ängste: ich würde, wie praktisch alle anderen jungen Männer auf dem Campus, irgendwann meinen Einberufungsbescheid erhalten), und das machte den Augenblick unseres Wiedersehens um so bedeutender. Und belasteter. Ich hatte auch Liebesgedichte zitiert – »Nun, da Finsternis um unsre Liebe ist / Komm, Licht der Finsternis, Blut meines Herzens, komm!« –, und jetzt würde ich zeigen müssen, wie ernst es mir war. Und sie ebenfalls. Aber liebte sie mich überhaupt noch? Hatte sie vielleicht einen anderen kennengelernt? War ich ihrer würdig?
Es war kurz vor acht, und mindestens dreißig Frauen waren die Treppe heruntergekommen, aus der Tür zum Allerheiligsten getreten, von ihren Freunden begrüßt und umarmt worden und längst im Kino, auf der Eislauf bahn oder auf dem Rücksitz eines Wagens angekommen, als Iris endlich erschien. Ich ging auf und ab und war am anderen Ende des Aufenthaltsraums, als ich das leise Zischen des pneumatischen Türschließers hörte. Ich fuhr herum, und da stand sie. Darf ich etwas Überflüssiges sagen? Sie war sehr schön, sie war mehr als schön: Sie war etwas Besonderes, die eine unter Millionen, weil ich ihr geschrieben und den ganzen Sommer an sie gedacht hatte, weil sie Iris McAuliffe war und mir gehören würde, wenn ich wollte. Das wußte ich. Ich wußte es in dem Augenblick, in dem ich sie sah. Das war Liebe. Das war es.
Doch wie sah sie aus? Sie hatte sich das Haar legen lassen, so daß es in raffinierten Wellen über ihre Schultern fiel und das Medaillon an ihrem Hals einrahmte, das Medaillon, das ich ihr geschenkt hatte, und wessen Bild war jetzt darin? Ihr Kleid – blau, ärmellos, der Saum knieumspielend – war neu und eigens für diese Gelegenheit gekauft worden, und ihre Augen, stets das Auffallendste an ihr, schienen mich quer durch den Raum anzuspringen (ein Irrtum, den, wie ich später feststellte, geschickt aufgetragene Wimperntusche, Lidschatten und Rouge bewirkt hatten). Sie kam mir kleiner vor, dunkler und schöner, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich stand hilflos da und sah sie an, als sie auf mich zukam und sich umarmen und küssen ließ.
»Du bist wieder da«, sagte sie.
»Ja. Und du auch. Habe ich Tommy verpaßt?«
Sie nickte. »Er muß arbeiten und hatte nur einen Tag Zeit. Er war
enttäuscht, aber er wußte ja, daß du in ... Wo warst du noch mal?«
»An der Purdue. Und an der DePauw.«
»Er wußte jedenfalls, daß du zu tun hattest.« Die Rezeptionistin
starrte uns an, als könnte sie durch unsere Kleider und unsere Haut
sehen und unsere Knochen und sogar das Mark darin untersuchen. »Er
läßt dich grüßen.«
Einen Augenblick lang hatte ich ein schlechtes Gewissen und verspürte einen kleinen Stich, als würde mir ein Messer ins Fleisch gestoßen und gleich darauf wieder zurückgezogen. Ich wußte, daß ich hätte kommen sollen, wegen ihr und Tommy, aber ich schob den Gedanken beiseite. Ich hatte es nicht ändern können. Proks Zeitplan stand Monate im voraus fest, und ich hatte keinerlei Einfluß darauf. »Ich wollte, ich wäre gekommen«, sagte ich und sah über die Schulter zur Rezeptionistin (es war nicht die Blonde mit dem strähnigen Haar, sondern eine neue, untersetzt, mit kalkweißem Gesicht und einer Frisur wie ein Bündel Treibholz). Sie senkte den Blick. Ich wandte mich wieder zu Iris, zu Iris, deren Hand ich hielt, und sagte: »Du mußt ja sterben vor Hunger. Wie wär’s mit einem schönen Steak?«
Jetzt, da sich mein Leben in geregelten Bahnen bewegte – so geregelt jedenfalls, wie es bei einem jungen Mann, der seinen Einberufungsbescheid erwartete, möglich war –, konnte ich mich mit Iris treffen, sooft ich wollte. Ich mußte nicht mehr an Seminaren teilnehmen, Prüfungen ablegen oder Hausarbeiten schreiben, und die Arbeitszeiten bei Prok waren ziemlich geregelt, überstiegen allerdings bei weitem die üblichen vierzig Wochenstunden. Unser einziges Problem waren die Reisen – jede zweite Woche war ich drei bis vier Tage mit Prok unterwegs, und es dauerte nicht lange, bis wir noch mehr reisten –, aber Iris und ich stellten uns darauf ein, weil es uns wichtig war. Zuvor hatten wir uns hin und wieder verabredet und uns vorsichtig, ohne Eile, Druck oder gegenseitige Verpflichtung abgetastet, doch das war nun anders, grundlegend anders. Wir machten alles mögliche gemeinsam, wir trafen uns zum Essen, hörten Konzerte, gingen tanzen, wandern, Schlittschuh laufen, wir saßen abends im Aufenthaltsraum des Wohnheims so dicht nebeneinander, daß wir im selben Rhythmus atmeten; Iris las ihre Fachbücher, und ich vertiefte mich in Hirschfeld und Robert Latou Dickinson, um mich über die Literatur meines Fachgebiets auf dem laufenden zu halten. Das ging so weit, daß ich mich leer fühlte, wenn sie nicht da war, als hätte ich kein Ich, kein eigenes inneres Wesen. Wenn sie im Seminar war oder wenn ich arbeitete oder in einem zweitklassigen Hotel einem übergewichtigen Studenten gegenübersaß, der von Rita Hayworth besessen war und zu oft masturbierte, dachte ich an Iris, nur an Iris.
Aus dem Herbst wurde Winter, und der Winter unterlegte auch die Ferien und den Jahreswechsel (wir fuhren gemeinsam mit dem Bus zu unseren Familien in Michigan City, und alles erschien uns freundlich und wie neu, trotz der Tatsache, daß Tommy eingezogen worden war und die Nazis, die Faschisten und die kaiserlich japanische Armee an allen Fronten unaufhaltsam vorrückten). Im sonnenlosen Januarzwielicht kehrten wir zurück. Der Campus war unter Schnee begraben, und es pfiff ein Wind, gegen den Mützen und Schals nichts ausrichten konnten. Wie das Gesetz es befahl, hatte ich mich wie alle anderen Männer zwischen einundzwanzig und fünfunddreißig Jahren bei der Einberufungsbehörde gemeldet, aber meine Nummer war noch nicht dran, und so machten wir weiter wie zuvor und verbrachten jede freie Minute miteinander. Alles war gut. Wir waren glücklich. Ich schrieb Paul Sehorn lange, im Plauderton gehaltene Briefe und stellte fest, daß ich vor mich hin pfiff, wenn ich jeden Abend nach der Arbeit über die Grünfläche zum Wohnheim der Studentinnen schlenderte – wo ich es nicht lassen konnte, ein wenig mit der Rezeptionistin zu scherzen, die inzwischen so harmlos und vertraut wirkte wie eine liebevolle Großmutter, obgleich sie kaum zwanzig war.
Es gab jedoch ein großes Problem – Sie ahnen wahrscheinlich, welches. Sex. Sex war das Problem. Selbst wenn Iris dazu bereit gewesen wäre – und angesichts ihrer Herkunft und der Tatsache, daß sie Jungfrau war, konnte ich mir damals in diesem Punkt nicht sicher sein –, gab es absolut keinen Ort, wo wir es hätten ausprobieren können. Als ich Laura Feeney vor einem Jahr in einem Anfall sexueller Umnachtung meinen Vorschlag gemacht hatte, war das bloß heiße Luft gewesen: Ich hätte nicht mit ihr auf mein Zimmer gehen können, es sei denn, Mrs. Lorber hätte zufällig in dem Augenblick, da ich diese Frage stellte, der Schlag getroffen. Und selbst wenn es mir gelungen wäre, Iris irgendwie mitten in der Nacht durch ein Fenster im ersten Stock ins Haus zu schmuggeln, wäre da das Problem meines neuen Zimmergenossen gewesen, eines Burschen namens Ezra Voorhees, der aus einem winzigen Dorf stammte und dessen Gefühlswelt und Körperpflegegewohnheiten, milde gesagt, rustikal waren. Es war frustrierend. Iris und ich schmusten stundenlang im Aufenthaltsraum oder in der Bibliothek, bis ich Schmerzen hatte – körperliche Schmerzen, die nach Meinung der anderen Studenten von »dicken Eiern« herrührten, laut Prok jedoch auf zuviel angestaute Samenflüssigkeit in Hoden und Samenleitern zurückzuführen waren, und dann blieb mir nichts anderes übrig, als auf mein Zimmer zu gehen und mir unter der Bettdecke Erleichterung zu verschaffen, während mein Zimmergenosse so tat, als schliefe er. Wann immer ich konnte, ging ich zu Mac, aber ich fühlte mich nicht mehr gut dabei.
Es war Prok, der die Lösung vorschlug. Er hatte mir, wie gesagt, im Sommer das Autofahren beigebracht, und als ich ihm jetzt meine Situation schilderte, bewies er wieder einmal, wie großzügig er war und wie weit seine Bereitschaft ging, mir einen Gefallen zu tun. Ich weiß noch, daß ich das Thema während einer unserer Reisen anschnitt (wir waren unterwegs nach Gary, zu einem bestimmten Negerviertel, doch davon später) und daß er sich lächelnd zu mir wandte und sagte: »Ja, und es ist ja auch an der Zeit, Milk. Du brauchst zusätzliche Triebbefriedigung, wie wir alle. Nimm doch den Wagen. Nimm den Nash. Wann immer du willst.«
»Aber ich will dir – oder Mac – keine Ungelegenheiten machen.«
»Ach was – wir brauchen den Wagen abends sowieso nicht. Ich werde
den Schlüssel einfach hinter den losen Ziegelstein legen, den wir
im letzten Sommer nicht repariert haben – hinten im Garten, in dem
Mäuerchen um den Persimonenbaum. Weißt du, welchen ich meine?«
Und so hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Automobil zur
freien Verfügung. Allerdings würde ich besonders vorsichtig sein
müssen, denn der Wagen stellte den größten Sachwert des Projekts
dar. Was hätten wir ohne ihn anfangen sollen? Jedenfalls machte ich
mich, kaum daß wir von dieser Reise zurück waren, auf die Suche
nach Iris – ich traf sie auf der großen quadratischen Grünfläche,
sie war unterwegs zum nächsten Seminar – und sagte ihr, daß ich sie
abends stilvoll abholen würde.
»Stilvoll?« sagte sie. Sie schenkte mir ein wissendes Lächeln. Der
Wind hob die Krempe ihres Huts an und ließ sie flattern wie einen
Vogelflügel.
»Genau«, sagte ich. »Mit einer eigenen Limousine, zu Ihren
Diensten, Mademoiselle.«
»Kinseys Wagen«, sagte sie. »Die Käferkarre. Der Wespenwagen.«
»Wir fahren ein bißchen raus aus der Stadt. Zu einem Rasthaus. Zur
Feier des Tages.«
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »In Kinseys Wagen?«
»Ist doch besser als nichts.« Ich kam mir vor, als wäre ich in eine
Shakespeare-Komödie versetzt worden und würde im Wald von Arden
oder auf einer sonnigen Piazza in Messina geistreiche Bemerkungen
mit Rosalind oder Beatrice wechseln. Doch leider waren wir in
Indiana, es war Winter, und Iris ließ mich zappeln. Nur so zum
Spaß.
»Kennst du denn irgendwelche Rasthäuser? Bist du schon mal in einem
gewesen?«
»Klar«, log ich. »Dutzende Male.«
»Und dann?« fragte sie mit schelmischem Blick.
»Dann wollen wir essen und trinken und fröhlich sein.« »Und
dann?«
»Und dann«, sagte ich und beugte mich zu ihr, während der Wind an
meinem Kragen zerrte und Studenten mit blassen, frierenden
Gesichtern an uns vorbeieilten, »dann suchen wir uns eine ruhige,
dunkle Straße und sind mal ganz ungestört.«
Trotz allem, trotz all der Überlegungen, die ich angestellt hatte,
um mit Iris allein zu sein, ganz zu schweigen von den Phantasien,
denen ich mich hingab, war ich an jenem Abend sehr nervös. Das
Rasthaus war alles andere als romantisch, eine verrauchte,
schummrig beleuchtete Höhle voller Betrunkener mit anzüglich
grinsenden Gesichtern, und das Essen war von der Art, die den
schlechten Ruf der Küche von Indiana voll und ganz rechtfertigte.
Ich hatte etwas, das angeblich Rindfleischeintopf war und auf dem
eine mindestens einen Zentimeter dicke Fettschicht schwamm; dazu
bekam ich ein paar weiche Salzcracker, die anscheinend helfen
sollten, das Fett aufzusaugen. Iris schob auf ihrem Teller ein
Stück Fleisch hin und her, das hierorts als »Salisbury Steak«
bezeichnet wurde. Schließlich gab sie es auf, zerdrückte die
Erbsen, die als Beilage serviert wurden, zu einer Art Paste, die
sie auf die zerkrümelnden Cracker häufte. Wir tranken je zwei
Gläser Bier.
Als sie beim zweiten angelangt war, beobachtete ich sie und
versuchte, ihre Stimmung einzuschätzen. Ich hatte ein paar zarte
Andeutungen darüber gemacht, was ich mir von diesem Abend erhoffte,
und den Eindruck gewonnen, als wäre sie aufgeschlossen oder habe
sich jedenfalls damit abgefunden. »Beeil dich«, sagte ich. »Trink
aus.«
Sie sah mich mit einem glutvollen Blick an – oder vielleicht
bildete ich mir das auch nur ein. Wahrscheinlich wollte sie mich
nur auf den Arm nehmen. Sie liebte diese Art von Witzen. »Und
warum? Hast du Pläne für den Rest des Abends? In der Uni trifft
sich heute der Backgammon-Club. Und in der presbyterianischen
Kirche ist Chorsingen. Hast du nicht Lust, ein bißchen zu singen,
John? Wäre das nicht toll?«
Meine Hand fand unter dem Tisch den Weg zu ihrem Knie. »Du weißt
genau, was ich will«, sagte ich.
»Nein«, sagte sie unschuldig. »Was könnte das sein?«
Die Nacht war kalt – »arktisch« wäre das passendere Wort –, und die
Heizung des Nash war nicht gerade leistungsstark. Ich hatte von
einem Pärchen gehört, das den Motor des Wagens in der Garage hatte
laufen lassen (es handelte sich um den Wagen des Vaters der Frau,
es war drei Uhr morgens, und die Eltern lagen in ihren Betten und
schliefen). Die beiden waren erstickt und am nächsten Morgen
gefunden worden, halbbekleidet und starr wie Eisskulpturen. Ich war
mir der Gefahren also bewußt. Aber der Wagen würde nicht in einem
geschlossenen Raum stehen, und der Wind – der unerbittliche, der
strenge und mißbilligende Wind – würde die Abgase davonwehen, fort
vom Wagen und, weit wichtiger, fort vom Rücksitz. Lange Zeit saßen
wir auf den Vordersitzen, schmusten und betrachteten die Sterne,
und dann schien etwas in ihr nachzugeben – ich hatte das Gefühl,
als hätte eine Spannung in ihr nachgelassen, als hätten sich all
die alten Beschränkungen und Verbote mit einem Mal aufgelöst. Sie
ließ mich ihre Jacke und die Bluse aufknöpfen, und dann zog ich den
Büstenhalter herunter, so daß ihre Brüste nackt waren und ich sie
oral stimulieren konnte. Darauf reagierte sie, was mich ermutigte.
Ich streichelte sie, streichelte sie wie verrückt, ich gab ihr
Zungenküsse, massierte ihre nackten Brüste und strich mit den
Fingerspitzen über die Brustwarzen, ich stand innerlich in Flammen
und murmelte: »Sollen wir ... auf den Rücksitz ...?«
Sie sagte nichts, und das verstand ich als Zustimmung. Nach ein
paar heiklen Sekunden hatten wir die Lehnen der Vordersitze
überwunden und waren auf dem Rücksitz. Ich lag ausgestreckt auf
ihr, der Motor bullerte, die Heizung kämpfte gegen die Kälte an.
Ich dachte an Mac, an unser erstes Mal im Garten und daran, wie
offen sie war, wie natürlich und angenehm und leicht alles gewesen
war, als Iris plötzlich die Beine zusammenpreßte und meine Hand
einklemmte.
»Was ist los ?« fragte ich.
Ihr Gesicht war schwach und geisterhaft vom Sternenlicht
beleuchtet, das durch die Bäume sickerte. Ich roch ihre Erregung,
ihren Atem, der sich mit meinem vermischte, das Parfüm, das sie
sich hinter die Ohren getupft hatte und das beinahe ganz verflogen
war. »Du glaubst doch wohl nicht, daß ich das tue.«
Ich lag ausgestreckt auf ihr. Meine Hose war bis zu den Knien
hinuntergerutscht. Iris’ Hand lag auf meinem Penis, ihre Zunge war
in meinem Mund. Mit einem Mal wurde ich redegewandt. »Doch,
natürlich«, sagte ich. »Es ist das Natürlichste von der Welt, und
nur die Mächte der Konvention – Aberglaube, Priester, Pfarrer,
irgendwelche Buhmänner – hindern die Menschen daran, sich ganz zu
verwirklichen. Sexuell, meine ich. Na komm, Iris. Es ist keine
große Sache. Es wird dir gefallen, wirklich.«
Sie schwieg. Sie hatte sich nicht gerührt. Ihr Gesicht war
Zentimeter von meinem entfernt, es schwebte im Dunkel des Wagens
wie eine leere Schale auf dem mitternächtlichen Meer.
»Weißt du, was wir entdecken werden?« flüsterte ich.
»Nein«, flüsterte sie zurück. »Was?«
»Na ja, daß vorehelicher Geschlechtsverkehr in Wirklichkeit etwas
Segensreiches ist und daß die Leute, die es tun – die vorehelichen
Geschlechtsverkehr haben –, viel besser, äh, angepaßt sind als die
anderen. Und das wirkt sich auch auf ihr eheliches Sexleben aus.
Diese Menschen sind glücklicher, Iris. Glücklicher. Ich schwöre
dir, darauf läuft es hinaus.«
Wieder schwieg sie. Ich spürte, wie mein Penis schrumpfte, wie das
Blut ganz langsam aus ihm wich. Der Wind rüttelte am Wagen, wir
spannten uns einen Augenblick lang an, und dann war die Bö vorüber.
Die Stille wurde tiefer. »Vorehelich«, sagte sie schließlich. »
Vor« – sie machte eine kleine Pause und fuhr dann fort –
»ehelich. Das war doch das Wort, oder, John?«
»Ja«, sagte ich eifrig und verstand nicht ganz, worauf sie
hinauswollte. »Vorehelich. Geschlechtsverkehr vor der, na
ja, vor der Ehe eben.«
Wieder Schweigen, doch ich spürte eine Veränderung. Ihr ganzer
Körper teilte sie mir mit, durch die Nervenenden in ihrer Haut, die
in direktem Kontakt mit meinen standen. Obgleich es zu dunkel war,
um ihr Gesicht erkennen zu können, wußte ich, daß sie grinste.
»Tja«, sagte sie, »dann muß ich das wohl als Heiratsantrag
verstehen.«
Schließlich stellte President Wells das Ultimatum, mit dem Prok gerechnet hatte, doch Prok überraschte sowohl ihn als auch das Kuratorium. Sie hatten angenommen, daß er die Forschung dem Eheseminar vorziehen würde, daß er der Lehre, der er sich bisher gewidmet hatte und der er seit zwanzig Jahren seinen Ruf als hervorragender Wissenschaftler verdankte, den Vorzug geben würde vor etwas, das in ihren Augen vermutlich bloß eine neue und vielleicht vorübergehende Vorliebe war, doch sie kannten ihn nicht gut genug. Es kränkte ihn, es empörte ihn und machte ihn nur um so entschlossener, die Scheinheiligkeit der Bewahrer des Status quo, die Heuchelei der Rices und Hoenigs und all der anderen zu Fall zu bringen: Er gab das Eheseminar auf und stellte seine Lehrtätigkeit schließlich vollständig ein, um sich ganz dieser neuen, großen Aufgabe zu widmen. Bald, sehr bald würde das Institute for Sex Research gegründet und der Kreis der engsten Vertrauten um drei Personen erweitert werden.
7
»So, dann ist Iris also die Glückliche.«
Prok saß an seinem Schreibtisch und beugte sich über die Papiere im
Lichtkegel der Lampe. Die Fenster sahen aus, als wären sie mit
Lötzinn überzogen, der Korridor lag im Dunkeln, und die dumpfe Last
eines beständigen Nieselregens schien die Uni in den Winterschlaf
versetzt zu haben. Es war um die Mittagszeit, und wir aßen, wie an
den meisten Tagen, an unseren Schreibtischen: Prok knabberte sein
übliches Studentenfutter, und ich versuchte, das Beste aus einem
sich auflösenden Thunfischsandwich zu machen, das ich in der Mensa
gekauft hatte. Ich hatte ihm die gute Nachricht gerade erst
erzählt, obwohl ich seit dem Morgen darauf gebrannt hatte. (Sie
fragen sich bestimmt, warum ich gezögert hatte. Prok war den ganzen
Morgen noch mehr als sonst in seine Arbeit vertieft gewesen, und
ich hatte keine Gelegenheit gefunden – er haßte es, unterbrochen zu
werden. Außerdem war ich, ehrlich gesagt, nicht sicher, wie er die
Neuigkeit aufnehmen würde. Ja, er wollte natürlich, daß ich
heiratete, aber das war ein abstrakter Wunsch, der auf einer ganz
anderen zeitlichen Ebene angesiedelt war, und diese Eheschließung
würde im Hier und Jetzt stattfinden. Ich wußte, daß sein erster
Gedanke dem Projekt und der Frage galt, wie mein veränderter
Familienstand sich darauf auswirken würde.)
»Tja«, sagte er und wühlte, auf der Suche nach etwas, das er verlegt hatte, zerstreut in den Papieren. Das war jedoch nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver, um sich Zeit zu verschaffen und seine Gedanken zu ordnen. »Sie ist eine attraktive Frau, kein Zweifel. Und intelligent. Das auch.« Ein weiterer Augenblick schlurfte vorbei, die Rädchen in seinem Kopf drehten sich knirschend und knarzend, und dann war er fertig. »Aber wo bin ich nur mit meinen Gedanken?« rief er, sprang auf, kam mit ausgestreckter Hand zu meinem Tisch und strahlte mich mit dem Weitwinkelgrinsen an, das er einsetzte, wenn es ihm geraten schien. »Gratuliere, John. Wirklich. Das ist die beste Nachricht, die ich diese Woche gehört habe.«
Ich schüttelte seine Hand und sah ihn mit einem Lächeln an, das wohl ebenso schüchtern wie selbstzufrieden war. »Das freut mich. Ich bin wirklich ... Denn ich wußte nicht, wie du, na ja, wie du reagieren würdest ...« sagte ich, aber er unterbrach mich und war mir bereits weit voraus.
»Wann, sagtest du, soll die Hochzeit sein?«
»Also, äh ... Das hab ich noch gar nicht gesagt. Aber wir wollen,
äh, so schnell wie möglich ... Im März. Iris findet, März wäre ...«
Er schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Nicht im März. Im März
verdient der Garten kaum die Bezeichnung Garten, wie du ja besser
als jeder andere weißt. Nein, keine Frage, ihr werdet im Mai
heiraten.«
»Der Garten?«
Er sah mich direkt an, er starrte mir in die Augen, doch ich
glaube, er sah mich gar nicht. Er sah Sonnenschein und Blumen, er
sah Iris in einem Satinkleid mit Schleppe und über alldem das
tiefblaue Himmelsgewölbe. »Ja, natürlich. Ich biete ihn dir an –
mein Geschenk an euch, John. Und denk mal nach: Im Mai werden die
Iris in voller Blüte stehen. Iris für Iris. Was könnte schöner
sein?«
Ich sagte, ich sei einverstanden – nein, eigentlich dankte ich ihm
überschwenglich –, aber Iris habe bereits mit ihrer Mutter
gesprochen und gewisse Kräfte in Bewegung gesetzt, so daß ich nicht
sicher sei, ob ein Aufschub noch möglich sei. Er schien mich nicht
zu hören.
»Wir werden Mac dazu bringen, etwas Besonderes zu machen«, sagte
er. »Wie wär’s mit einem Persimonen-Hochzeitskuchen? Und ich werde
das Hochzeitsessen zubereiten, kalten Braten und so weiter und
Gulasch ... Und Champagner, wir werden natürlich Champa- gner
trinken ...« Er ließ den Satz in der Luft hängen und schien sich
meiner erst jetzt wieder bewußt zu werden; es war, als hätte ich
mich aus dem Raum geschlichen, meine leere Hülle zurückgelassen und
sie jetzt erst wieder in Besitz genommen. »Aber Iris«, sagte er,
»deine Zukünftige ... Die sexuelle Kompatibilität war
zufriedenstellend, nehme ich an?«
Ich stand, durch den Schreibtisch von ihm getrennt, im trüben Licht
des Büros und nickte, ein starres Lächeln auf den Lippen.
Er grinste jetzt noch breiter, trat von einem Fuß auf den anderen,
straffte die Schultern und rieb sich die Hände, als müßte er sie
wärmen. »Ja«, sagte er, »ja. Was moderne Aphrodisiaka betrifft, so
geht doch nichts über das Automobil. Ich habe es dir ja immer schon
gesagt: Wie zufrieden könnten junge Paare in Amerika sein, all
diese frustrierten Studentinnen und Studenten, die liebeskranken
Highschool-Schüler, die Paare, die zu arm sind, um zu heiraten« –
er wies mit einer ausladenden Armbewegung auf den Campus und die
Dächer der Stadt dahinter –, »wenn sie ihre sexuellen Bedürfnisse
ungestört befriedigen dürften, wann und wo sie wollten, ohne daß
die öffentliche Meinung den Stab über sie bricht? Allerdings hoffe
ich, John«, fuhr er fort, und sein Blick hielt mich fest, »daß du
die koitale Erfahrung nicht mit der Art von Bindung verwechselst,
die man braucht, um eine Ehe einzugehen und zu erhalten. Dasselbe
gilt natürlich auch für Iris. Sie weiß doch, daß Sex unabhängig von
der Ehe ist – oder es jedenfalls sein kann und in vielen Fällen
sein sollte? Daß sie nicht erst zu heiraten braucht ...« Er
unterbrach sich und ließ den Rest unausgesprochen.
Ich wollte ihn beruhigen und ihm versichern, daß wir einander
liebten und, wie er ja wußte, seit geraumer Zeit zusammen waren,
daß unsere sexuelle Kompatibilität sehr gut war, vielen Dank, mehr
als adäquat, ganz prima sogar, und daß wir genau wußten, was wir
taten, doch er kam mir zuvor.
»Was für eine wunderbare Neuigkeit! Du wirst verheiratet
sein, Milk – verstehst du, was das für unser Projekt bedeutet? Du
wirst nicht mehr – entschuldige bitte – so feucht hinter den Ohren
sein, oder jedenfalls wirst du nicht mehr diesen Eindruck machen.
Bei unseren Befragungen werden vor allem ältere Personen und Frauen
zu einem verheirateten Mann mehr Vertrauen haben als zu einem
Junggesellen. Meinst du nicht auch?«
Ich konnte ihm im Brustton der Überzeugung antworten, ob- gleich
das gedankliche Bild von Mrs. Foshay alles andere aus meinem Kopf
zu verdrängen drohte. »Selbstverständlich, Prok, und ich habe auch
gut zugehört, die vielen Male, wenn du gesagt hast, daß du dir
wünschst, ich wäre älter und, na ja, erfahrener, das kannst du mir
glauben.«
»Gut, gut«, sagte er, »gut«, und er wollte zu seinem Schreibtisch
zurückkehren, drehte sich jedoch noch einmal zu mir um. »Iris«,
sagte er. »Haben wir eigentlich ihre Geschichte?«
In den nächsten zwei Monaten war Prok als Redner immer stärker gefragt, und notgedrungen reisten wir häufiger. Es hatte sich herumgesprochen. Anscheinend wollte jede Bürgervereinigung, jede Privatschule, jede Universität im Umkreis von achthundert Kilometern, daß er bei ihnen auftrat, und zu diesem Zeitpunkt lehnte er keine einzige Einladung ab. Er verlangte auch kein Honorar und ging sogar so weit, die Reisekosten aus eigener Tasche zu bezahlen. Die ersten spärlichen Fördermittel vom National Research Council und der Rockefeller Foundation waren eine gewisse Hilfe – auch ich als sein erster Vollzeit-Assistent wurde aus diesem Topf bezahlt. Die Vorträge liefen immer gleich ab: Prok betrat den Saal, in dem die Zuhörer bereits versammelt waren, und sprach mit seiner üblichen Unverblümtheit über die bis dahin tabuisierten Themen. Anschließend bat er Freiwillige – er bezeichnete sie als »Freunde der Forschung« –, vorzutreten und ihre Geschichte aufzeichnen zu lassen. Wenn wir nicht in seinem Büro saßen und an Tabellen, Kurven und Korrelationen arbeiteten, waren wir unterwegs und sammelten Daten, denn – wie er immer sagte – man konnte gar nicht genug Daten haben.
Und wie ging es mir dabei? Ich war natürlich aufgeregt und ließ mich von Proks Begeisterung anstecken – ich war (und bin auch heute noch) durch und durch von der Bedeutung des Projekts überzeugt –, doch der Zeitpunkt war, wie Sie sich vorstellen können, ein bißchen ungünstig. Iris und ich hatten uns gerade verlobt. Jeder von uns sehnte sich nach der Gesellschaft des anderen. Wir hatten begonnen, einander sexuell zu entdecken (auch wenn wir beide noch immer mit unseren Hemmungen zu kämpfen hatten und meine Erlebnisse mit ihr keineswegs so waren wie die mit Mac). Ich wollte mit ihr Zusammensein, Arm in Arm mit ihr durch Bloomington schlendern, in Gebrauchtwarenläden nach Geschirr, Teppichen und dergleichen stöbern und die Preise für Möbel vergleichen, die wir für unseren gemeinsamen Haushalt brauchen würden. Den hofften wir im Juni zu gründen, doch zuvor mußten wir eine Wohnung finden, die wir uns mit unseren bescheidenen Mitteln leisten konnten, und das kostete Zeit und Mühe. Statt dessen saß ich in zweitklassigen Hotels, blieb, obgleich total erschöpft, bis ein, zwei Uhr morgens auf und versuchte, so viele Protokolle wie möglich zu erstellen. Ich trank und rauchte zuviel. Ich hatte ein leises Pfeifen in den Ohren, mein Kopf schmerzte, meine Augen fühlten sich an wie geschmolzen, und nichts, nicht einmal Einzelheiten über die entlegensten Sexualpraktiken, konnte mich aus meiner Apathie reißen, weder Koprophilie noch Inzest oder Sex mit Tieren. Ich nickte lediglich, sah dem oder der Befragten fest in die Augen und machte meine Einträge auf dem Formular.
In dieser Zeit sammelten wir etwa zweihundert Geschichten. Wir strengten uns wirklich an, doch bislang litt unser Forschungsprojekt an einem Mangel: Die Mehrheit der von uns befragten Personen entstammte einer oberen sozialen Schicht, das heißt, es handelte sich um Studenten oder Selbständige. Wir hatten unser Spektrum, wie gesagt, erweitert und sammelten Geschichten unter den Angehörigen der homosexuellen Subkultur in Indianapolis und Chicago sowie unter den Insassen mindestens einer Strafanstalt und des Staatsgefängnisses, in dem Prok so viele wertvolle Kontakte geknüpft hatte – und aus einem Kontakt ergaben sich regelmäßig weitere, aus denen wiederum neue Kontakte entstanden, so daß wir nun entschlossen waren, möglichst viele Geschichten aus den unteren sozialen Schichten aufzuzeichnen. Vor allem fehlten uns Berichte von Schwarzen, und so unternahmen wir eine zweite Expedition nach Gary, Indiana, in das bereits erwähnte dortige Negerviertel.
An einem regnerischen Samstagmorgen Mitte April brachen wir auf. Damals mußten wir noch Rücksicht auf Proks Stundenplan nehmen: Das Eheseminar war zwar eingestellt worden, aber er hielt noch immer einige Biologiekurse ab, von denen einer samstags morgens um acht Uhr stattfand – für Studenten eine ungünstige Zeit, um sich über einen Seziertisch zu beugen oder zu bestimmen, ob eine Pflanze ein- oder zweikeimblättrig ist. Wir fuhren ohne Pause, so schnell, wie es die Straßen, der Nash und die Staatspolizei zuließen, und trafen kurz nach Einbruch der Dunkelheit ein. Wir aßen ein nicht erwähnenswertes Abendessen in einem schlechtbeleuchteten Schnellimbiß, und als wir anschließend Kaffee tranken und ein Stück Kuchen aßen, wurde aus dem Nieseln ein stetiger grauer Regen, der uns die Arbeit nicht leichter machen würde, denn wir würden draußen unterwegs sein, auf der Straße. Prok machte ein grimmiges Gesicht. Immer wieder sah er auf die Uhr, als könnte er damit dem Regen Einhalt gebieten und das Zusammentreffen mit unserem Kontaktmann beschleunigen. Er hatte guten Grund, besorgt zu sein. Unser erster, im bitterkalten Februar unternommener Ausflug nach Gary war ein Reinfall gewesen. Stundenlang waren wir um einen Block nach dem anderen gefahren und hatten jedesmal, wenn auf den menschenleeren Straßen eine Gestalt erschienen war, hoffnungsvoll durch die Windschutzscheibe gespäht, doch Proks Kontaktmann war nicht aufgetaucht, und wir hatten nicht ein einziges Interview geführt. Jetzt verlor keiner von uns ein Wort darüber. Wir tranken den Kaffee, zogen unsere Regenmäntel an und fuhren sechs Blocks nach Süden, mitten ins Negerviertel.
Prok parkte in einer Seitenstraße. Um die Ecke war eine Kneipe namens »Shorty’s Paradise«. Es gab kleine Geschäfte (Friseur – Sandwiches nach Ihren Wünschen – Metzger), in den darüberliegenden Stockwerken waren Wohnungen, die über Außentreppen erreichbar waren, und hinter den Dächern ragten die Schornsteine von Fabriken auf wie die Türme einer Burgruine. Die Straße war mit aufgeweichten Zeitungen, leeren Flaschen und weggeworfenem Einwickelpapier übersät. Das Regenwasser lief an der Windschutzscheibe herunter und ließ den Bürgersteig schimmern. Nirgends ein Lebenszeichen. Wir stiegen aus. Als wir die Türen des Wagens zuschlugen, dröhnten sie wie Kanonendonner.
Die erste Überraschung kam, als wir um die Ecke bogen: Trotz des Regens drängten sich Menschen vor »Shorty’s Paradise« – ein ganzer Pulk quoll durch die offene Tür der Kneipe, und rechts und links unter der löchrigen Markise herrschte Gedrängel. Es waren Schwarze, ausschließlich Schwarze. Ich muß gestehen, ich hatte bis dahin nicht viel Kontakt mit Negern gehabt. Hin und wieder hatte ich in dem Geschäft, in dem ich früher in den Sommerferien arbeitete, ein paar freundliche Floskeln – »Schöner Tag heute, nicht?« – mit irgendeiner Köchin oder einem Dienstmädchen gewechselt, aber das war auch alles. Von drinnen ertönten Musik und Stimmengewirr, es roch nach Alkohol, Tabak und Marihuana. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich zögerte.
Im Gegensatz zu Prok. Prok war die zweite Überraschung. Obwohl er Bars, Zigaretten und ganz besonders den »Urwaldrhythmus« der populären Musik verabscheute, schob er sich durch die Menge und ging hinein, als hätte er an keinem Samstagabend seines Lebens etwas anderes getan. Er trug wie immer einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine Fliege, darüber einen gelben Regenmantel, der auf dem Rücken stets Falten warf, als wäre er aus zwei vollkommen verschiedenen Stücken Wachstuch zusammengenäht worden. Auch ich hatte einen schwarzen Anzug und eine Krawatte an, doch mein Regenmantel – das Ding hatte meine Großmutter für mich ausgesucht – war grau mit schwarzen Sprenkeln und reichte mir bis zu den Knöcheln. Die Haare unter dem Schweißband meines Huts prickelten und schienen sich aufstellen zu wollen. Ich zog den Kopf ein und folgte ihm.
Der Raum wurde von einer langen Theke aus Mahagoniholz beherrscht, an der dichtgedrängt Leute saßen und sich unterhielten. Alle drehten sich um, als wir eintraten, und wandten sich dann wieder ab, als hätten sie uns nicht bemerkt. Die Jukebox spielte mit voller Lautstärke »Minnie the Moocher«, und jeder, der etwas zu sagen hatte, mußte sich anstrengen, um sich verständlich zu machen. Prok ging geradewegs zum Tresen, verschaffte sich dort ein wenig Platz und begann sofort ein Gespräch mit einem hünenhaften Mann in einem glänzenden blauen Zweireiher. Und nun kam die dritte, die eigenartigste Überraschung: Prok sprach Dialekt. Ich war verblüfft. Wie Sie vielleicht wissen, war Prok ein fanatischer Verfechter korrekter Ausdrucksweise und scheute sich nicht, grammatikalische Fehler seines Gesprächspartners zu berichtigen – mitunter war er dabei verletzend sarkastisch –, doch hier, in dieser Bar, schaltete er auf den Dialekt der Schwarzen um, als wäre er ein Bauchredner. Die Unterhaltung verlief ungefähr folgendermaßen:
»‘naamd, mein Freund«, sagte Prok und faßte den anderen in seine
blauen Augen. »Ich such Rufus Morganfield. Kenn’ Sie den?«
Der Mann in dem glänzenden blauen Anzug ließ sich Zeit mit der
Antwort. Er musterte Prok aus zusammengekniffenen Augen, in der
einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein nicht ganz leeres
Glas. »Sind Sie ‘n Bulle?«
»Mh-mh.«
»Was dann? ‘n Bibelverkäufer?«
»Im Gegenteil. Ich bin Dr. Alfred C. Kinsey, Professor für Zoologie
an der Indiana State University, und Rufus – Bruder Rufus – hat
gesagt, er will sich hier mit mir treffen.«
»Das is ja ‘n Ding«, sagte der Mann leise. »Doktor, hm? Wolln Sie
meine Hemmoriden abtasten?«
Prok zuckte nicht mit der Wimper. Niemand lachte. »Sie möchten nich
zufällig noch ‘n Cocktail?« fragte er.
Es trat eine lange Pause ein. Prok rührte sich nicht und sah den
anderen fest an, und schließlich ließ der Mann im blauen Anzug ein
Lächeln aus den Falten rechts und links seines Mundes kriechen.
»Crown Royal und Soda«, sagte er dann.
Der Drink wurde bestellt und gebracht. Inzwischen war Prok in ein
Gespräch mit dem Mann im blauen Anzug und vier oder fünf anderen
vertieft, die ihm am nächsten standen, und Rufus Morganfield, unser
Kontaktmann, der bis dahin am anderen Ende der Theke gestanden und
abgewartet hatte, wie sich die Dinge entwickelten, trat zu uns und
stellte sich vor. Prok begrüßte ihn herzlich, und ich dachte, er
würde auch ihm einen Drink spendieren, doch statt dessen
verabschiedete er sich händeschüttelnd von allen, legte einen Arm
um Rufus, den anderen um mich und schob uns hinaus auf die Straße.
Sogleich verwandelte er sich wieder in sein gewohntes Ich, denn es
war gar nicht nötig, Rufus zu hätscheln. Prok hatte ihn im
Staatsgefängnis kennengelernt und seine Geschichte aufgezeichnet,
und Rufus bekam fünfzig Cent für jedes von ihm vermittelte
Interview mit einer der Prostituierten, die in dieser Gegend
arbeiteten. (Ich sollte erwähnen, daß Prok sich, jedenfalls
anfangs, sehr für Prostituierte interessierte, weil ihre Erfahrung
soviel größer war als die der meisten anderen Frauen – das war,
bevor wir Gelegenheit hatten, sie bei der Arbeit zu beobachten –,
doch letztlich waren sie im Hinblick auf die Physiologie der
verschiedenen Sexualpraktiken nicht so nützlich, wie man vielleicht
annehmen könnte, und zwar wegen ihrer Neigung, gewisse Reaktionen
vorzutäuschen.)
Mit Rufus als unserem Vergil waren wir jedenfalls in der Lage, die
Prostituierten aufzuspüren. Wegen des Regens fanden sie an diesem
Abend nur wenige Kunden und saßen in ihren Stammlokalen herum. Wir
machten uns sogleich daran, ihre Geschichten aufzuzeichnen. Anfangs
waren sie skeptisch – »Aber klar, Schätzchen, du zahlst einen
Dollar und willst nur reden« –, aber wenn Prok eine
Geschichte witterte, war er nicht aufzuhalten, und schon sehr bald
hatte er sie überzeugt, daß das eine ganz saubere Sache war, rein
wissenschaftlich, und daß wir sie nicht bloß als Quelle
betrachteten, sondern als menschliche Wesen. Auch dies war etwas,
worin sich Proks Genie offenbarte – oder vielmehr sein Mitgefühl.
Er brachte den Befragten echte Sympathie entgegen. Und er hatte
keinerlei Vorurteile, weder in rassischer noch in sexueller
Hinsicht. Es war ihm völlig gleichgültig, ob jemand eine andere
Hautfarbe hatte, ob er Italiener oder Japaner war, ob er
Analverkehr bevorzugte oder auf das Hochzeitsfoto seiner Mutter
masturbierte – jeder Befragte war ein Exemplar der menschlichen
Spezies und eine Quelle für Daten.
Es stellte sich jedoch ein anderes Problem: In dieser Gegend gab es
keine geeigneten Hotels, also keine privaten Räumlichkeiten, in
denen wir die Interviews durchführen konnten. Zwar hatten wir den
Wagen, doch den konnte nur einer von uns nutzen, und wir mußten die
Befragungen ja gleichzeitig vornehmen. Der Regen hatte zugenommen,
und wir- zwei Prostituierte, nicht älter als ich, Prok, Rufus und
ich – standen an der Straßenecke, als Rufus eine Lösung einfiel.
»Ich hab ein Zimmer«, sagte er, »zwei Blocks von hier. Nichts
Tolles, aber es gibt elektrisches Licht, ein Bett und einen Stuhl,
und wenn das reicht ...«
Schließlich entschied Prok, daß er den Nash nehmen und mir den
relativen Komfort von Rufus’ Zimmer überlassen würde, denn ich war
ja noch Anfänger und sollte nicht durch zusätzliche Erschwernisse
wie Kälte, Regen und unzureichende Beleuchtung behindert werden. Es
war eine noble Geste, vielleicht von praktischen Erwä- gungen
diktiert, doch sie war letztlich zu seinem Nachteil. Ich ging mit
dem Mädchen – ich spreche hier von »Mädchen«, weil sie erst
achtzehn war, mit schräg stehenden, zimtfarbenen Augen und einer
Haut, so braun wie die Trinkschokolade, die zu Hause von der
Molkerei Bornemann verkauft wurde – in Rufus’ Zimmer am Ende eines
Korridors im zweiten Stock eines frei stehenden Backsteinhauses,
das einst ein Einfamilienhaus gewesen war und dessen Zimmer nun
einzeln vermietet wurden. Anfangs schien sie im Zweifel zu sein und
war vielleicht auch ein bißchen nervös – ich jedenfalls war ein
Nervenbündel, nicht nur, weil ich zu diesem Zeitpunkt erst so
wenige weibliche Geschichten aufgezeichnet hatte, sondern auch
wegen ihrer Rassenzugehörigkeit und der Umgebung: bedrückende,
irgendwie gelbliche Wände, ein ordentlich gemachtes Einzelbett, das
ebensogut eine Gefängnispritsche hätte sein können, hartes Licht
von der nackten Glühbirne, die von der Zimmerdecke baumelte. Als
sie etwa eine Viertelstunde nach Beginn des Interviews erkannte,
worum es ging, entspannte sie sich, und ich glaube, daß ich bei
ihrer Befragung gute, professionelle Arbeit leistete (auch wenn
ich, um ehrlich zu sein, ebenso peinlich erregt war wie bei Mrs.
Foshay).
Ihre Geschichte war wohl typisch für eine Frau in ihrer Lage: Sie
hatte in der Pubertät sexuelle Beziehungen zum Vater und einem
älteren Bruder gehabt und mit vierzehn geheiratet, anschließend war
sie von Mississippi nach Norden gezogen, ihr Mann hatte sie
verlassen, ein Zuhälter hatte sich um sie »gekümmert«, und dann
waren die Freier gekommen und die Geschlechtskrankheiten. Ich weiß
noch, daß ihre schlichte, von allen Nuancen freie Aufzählung der
Tatsachen, der traurigen Tatsachen, mich rührte, wie mich noch nie
etwas gerührt hatte. Ich wollte mich ganz unprofessionell von
meinem Stuhl erheben und sie umarmen und ihr sagen, daß alles gut
war, daß alles besser werden würde, obwohl ich wußte, daß das nicht
stimmte. Ich wollte sie ganz unprofessionell ausziehen und mit ihr
hier, auf diesem Bett, schlafen und sehen, wie sie sich unter mir
wand. Aber ich gab weder dem einen noch dem anderen Impuls nach.
Ich verschloß diese Gedanken in meinem Kopf und zeichnete ihre
Geschichte auf – eine von Tausenden, die in unserem Archiv
landeten.
Kaum war sie gegangen, da kam die nächste Frau. Sie war älter,
dreißig oder fünfunddreißig, und hatte entlang der Kinnlinie auf
der rechten Seite ihres Gesichts eine weiße, schlecht verheilte
Narbe. Diese Frau hatte etwas Kämpferisches an sich: die Furche der
zusammengekniffenen Lippen, die Unwetterwarnung auf ihrer Stirn,
die »Das-wollen-wir-doch-mal-sehen«-Haltung ihrer Beine, als sie
mit in die Hüften gestemmten Händen in der Tür stand. Bevor sie
eintrat, wollte sie den Dollar haben, den wir jeder Befragten
versprochen hatten. Ich wühlte in meinen Taschen, doch die waren
leer. Prok hatte ein Bündel knisternder neuer Ein-Dollar-Scheine in
seiner Brieftasche; er hatte das Geld am Vortag von seinem
Bankkonto abgehoben, es aber in dem Durcheinander bezüglich
geeigneter Orte für die Interviews versäumt, mir mehr als den einen
Dollar zu geben, den nun die erste Prostituierte hatte. »Ich ... äh
... Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich glaube, ich muß mal eben
...«
»Na klar, es tut dir leid«, sagte sie und zog die Brauen zusammen.
»Dann tut’s mir auch leid.« Sie stieß einen Fluch aus. »Und dafür
hab ich meinen Arsch den ganzen Weg durch den Regen
geschleppt!«
»Nein«, sagte ich, »nein, Sie verstehen nicht.«
»Du bist bloß ein kleiner Betrüger wie alle anderen«, sagte sie.
»Du willst was umsonst, stimmt’s?«
Ich mußte all meine Überredungskünste aufwenden, die damals nur
sehr unvollkommen entwickelt waren, um sie dazu zu bringen, auf dem
Bett Platz zu nehmen und zu warten, während ich die Treppe
hinunter- und zurück zum Nash lief, wo Prok sein Interview mit
einer schwarzen Prostituierten führte. Er würde von dieser
Unterbrechung nicht begeistert sein. Es war eine eiserne Regel, daß
die Befragungen in einer privaten, ungestörten Atmosphäre
stattfinden mußten, ohne jede Ablenkung, die den Rapport zwischen
Interviewer und Befragtem zerstören könnte, ohne läutende Telefone,
ohne im Hintergrund anwesende Dritte, ohne Notfälle irgendwelcher
Art. Ich wußte das. Und ich wußte, wie unangenehm Proks Ungeduld –
oder Zorn – sein konnte. Dennoch hatte ich keine andere Wahl. Ich
legte die ganze Strecke rennend zurück, denn ich hatte Angst, die
Frau könnte genug haben und einfach gehen, und als ich bei
»Shorty’s Paradise« um die Ecke bog, erhob sich der dunkle Umriß
des Nash aus der schwarzen horizontalen Fläche der Straße wie
etwas, das ein abschmelzender Gletscher zurückgelassen hatte. Von
drinnen schimmerte das Licht von Proks Taschenlampe, und durch die
Windschutzscheibe waren die Silhouetten zweier Köpfe zu sehen.
Schnaufend kam ich auf dem nassen Bürgersteig zum Stehen, atmete
einmal tief durch und klopfte leise an das Seitenfenster auf der
Fahrerseite.
Genau in diesem Augenblick bog hinter mir der Polizeiwagen um die
Ecke. Seine Lichter begannen zu blinken.
Ich war noch nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und hatte
keinen Grund, von den beiden Polizisten, die aus ihrem Wagen
stiegen, irgend etwas anderes als Höflichkeit und freundliche
Unterstützung zu erwarten, ja ich dachte absurderweise, sie seien
hier, um uns zu helfen, so viele Prostituierte wie möglich zu
kontaktieren, damit wir unsere Interviews leichter durchführen
konnten. Es kam jedoch anders. Die Situation entwickelte sich
derart dynamisch, daß ich erst sehr viel später begriff, was
eigentlich geschehen war. Die beiden Polizisten – klein und
stämmig, mit der breiten Brust und dem o-beinigen Gang von
Rugbyspielern – kamen auf mich zu. Ich stand noch immer neben dem
Fenster des Nash. Der eine war etwa in Proks Alter und hatte eine
breite Nase und ein gerötetes Gesicht. Er packte wortlos meine
Arme, drehte sie mir auf den Rücken und legte zwei metallene Bügel
um meine Handgelenke. Mit anderen Worten: Handschellen.
»Aber ... aber was machen Sie denn da?« fragte ich. Oder vielmehr:
stammelte ich. Der Regen fiel auf mein Gesicht, durchnäßte die
Ärmel und Schultern meines Jacketts und sickerte in mein
pomadisiertes Haar, das nun wild in alle Richtungen stand und einen
traurigen Anblick bot (in der Eile hatte ich Hut und Mantel im
Zimmer zurückgelassen). »Nein, nein, nein, Sie machen einen Fehler.
Sie müssen doch ... Sie müssen ... Verstehen Sie denn nicht
...«
Der zweite Polizist – er war blond und hatte blasse Augenbrauen und
einen dünnen Schnurrbart, der wie der von Paul Sehorn verschwand,
als das Einsatzlicht des Streifenwagens über sein Gesicht glitt –
hatte meinen Platz neben der Fahrertür eingenommen. Er klopfte mit
seinem Knüppel gegen das Fenster, und sein Klopfen war dringlicher
als meins. Das Fenster wurde hinuntergekurbelt, Proks erstauntes
Gesicht erschien, und dann legte der Polizist die Hand auf den
Griff und riß die Tür auf. »Okay«, sagte er, »aussteigen.«
Unterwegs zur Wache, zusammengedrängt auf dem Rücksitz des
Streifenwagens, die Prostituierte (Verleen Loy, 1,65 m, 58 kg, geb.
17.3.1924) zwischen uns, protestierte Prok mit klaren, zornigen
Worten. Wußten sie eigentlich, wer er war? Wußten Sie, daß der
National Research Council, die Rockefeller Foundation und die
Indiana State University seine Forschungen unterstützten? War ihnen
bewußt, daß sie den Fortschritt der Menschheit zu einem besseren
Verständnis eines der bedeutendsten Verhaltensmuster der
menschlichen Spezies behinderten?
Dessen waren sie sich nicht bewußt, nein. Einer der beiden – der
mit dem roten Gesicht, der mir die Handschellen angelegt und mich
dann ohne erkennbaren Grund an die Mauer des Hauses hinter mir
gestoßen hatte – drehte sich um und wandte sich in einem Ton, den
ich ebenso derb wie beleidigend fand, an die Prostituierte. »Na,
Verleen«, sagte er breit grinsend, »halten wir hier den Fortschritt
auf?«
Der vorbeihuschende Schein einer Straßenlaterne fiel auf ihr
Gesicht. Ihre Augen sprachen von Mißhandlungen, und ihre Zähne
sahen aus, als wären sie spitz gefeilt. Sie antwortete mit leiser
Stimme, die über dem Zischen der Reifen auf der nassen Fahrbahn
kaum zu verstehen war. »Ihr haltet gar nichts auf«, sagte sie.
Auf der Wache schien sich die Angelegenheit zum Besseren zu wenden.
Der wachhabende Beamte war zwar äußerst skeptisch, aber auch
beeindruckt von Proks Auftreten und Erscheinung (und ich glaube, er
hatte Mitleid mit mir, weil meine Haare so zerzaust waren und ich
so niedergeschlagen aussah). Nachdem er festgestellt hatte, daß
Prok tatsächlich der war, der er zu sein behauptete, ließ ihn der
Wachhabende mit H.T. Briscoe, dem Dekan der biologischen Fakultät
an der Indiana State, telefonieren. Die Handschellen schnitten in
meine Handgelenke, als ich dastand und zusah, wie Prok die Nummer
aus dem Gedächtnis aufsagte und der Beamte sie an die Vermittlung
weitergab.
Es war nach zwei Uhr morgens. Verleen war abgeführt worden und saß
in irgendeiner Zelle, und aus dem Zellenblock für Männer an der
Rückseite des Gebäudes hörte ich hin und wieder einen Schrei oder
ein Wimmern. Ich schäme mich nicht zu sagen, daß ich Angst hatte.
Ich war keine dreiundzwanzig und hatte wenig bis nichts von der
Welt gesehen. Und nun hatte ich gegen das Gesetz verstoßen und eine
komplizierte Anklage wegen eines Sittlichkeitsdelikts zu erwarten,
die mir für den Rest meines Lebens anhängen würde, und ich
überlegte bereits voller Panik, was ich meiner Mut- ter sagen würde
– und was Iris. Förderung der Prostitution. So würde die Anklage
lauten, oder? Unnatürlicher Verkehr? Unzucht? Verführung
Minderjähriger? Ich sah mich schon im Staatsgefängnis, sah mich in
gestreifter Häftlingskleidung hinausschlurfen, um den Hof zu
harken.
Doch dann hörte ich, wie Prok Dean Briscoe, der unsanft aus seinem
gemütlichen Bett in seinem gemütlichen Haus im paradiesischen
Bloomington geholt worden war, mit kühler, beherrschter Stimme die
Situation erklärte, und sah das Gesicht des Wachhabenden, als Prok
ihm den Hörer reichte und Dekan Briscoe mit der Autorität seines
Amtes die Angaben seines Kollegen bestätigte, und da erst wußte
ich, daß die Krise überstanden war. Leider sah ich weder meinen Hut
noch meinen Mantel jemals wieder, und leider konnten wir auf dieser
Reise nur sechs Interviews durchführen, aber eines immerhin hatte
uns dieser Zwischenfall gelehrt: Von da an hatte Prok stets einen
von Dean Briscoe unterschriebenen Brief dabei, in dem dieser die
Zielsetzung des Projekts erläuterte und erklärte, daß es die
Unterstützung durch die höchsten Autoritäten der Indiana State
University genieße. Der besagte Brief solle vorgelegt werden »für
den Fall, daß Dr. Kinseys Forschungen ihn an Orte führen, wo der
Zweck seiner Arbeit möglicherweise nicht klar erkannt wird«.
Zurück im sicheren Bloomington, erzählte ich Iris die Geschichte unseres Mißgeschicks in einer gekürzten Version und versuchte so- gar, witzig zu sein, obgleich meine seelischen Wunden noch längst nicht verheilt waren, doch Iris fand das alles keineswegs amüsant. Wir aßen in der Mensa zu Abend (Schweinebraten mit dunkler Sauce, ungleichmäßig gestampfter Kartoffelbrei und Wachsbohnen, die so zerkocht waren, daß sie wie etwas Wiedergekäutes aussahen), und sie hatte unschuldig gefragt, wie die Reise gewesen sei. Ich sagte es ihr, wobei ich einige der unschöneren Details etwas beschönigte, und schloß mit einer ausführlichen Klage über den Verlust von Hut und Mantel (für den mich Prok übrigens beim Ausstellen meines nächsten Gehaltsschecks entschädigte).
»Prostituierte, hm?« sagte sie.
Ich nickte. Die Deckenbeleuchtung ließ mein Gesicht aussehen wie das eines Wasserspeiers – ich sah es in dem langen, schmutzigen Spiegelstreifen an der Wand hinter Iris. Draußen regnete es, ein Ausläufer der ausgedehnten Regenfront, die uns in Gary erwischt hatte.
Iris war sehr blaß und preßte die Lippen zusammen. Sie legte Messer und Gabel sorgfältig auf den Teller, dabei hatte sie das Essen kaum angerührt. Als sie sprach, klang ihre Stimme belegt. »Gehst du oft zu Prostituierten?«
»Ah, nein«, sagte ich. »Natürlich nicht. Das versteht sich von
selbst.«
»Hast du jemals ... Hast du schon mal mit einer geschlafen?«
Mir gefiel der darin enthaltene Vorwurf nicht, ebensowenig die
Kritik oder die Herabsetzung meiner Professionalität und meiner
Arbeit. Und nach dem, was ich in der vorangegangenen Nacht
durchgemacht hatte, war ich besonders empfindlich. Sie hatte ja
keine Ahnung. »Nein«, sagte ich barsch. »Sei nicht albern.«
»Hast du jemals mit einer geschlafen?«
»Iris, bitte. Wofür hältst du mich?«
»Hast du oder hast du nicht?«
»Nein. Und wenn du es ganz genau wissen willst: Bis gestern nacht
habe ich noch nie eine Prostituierte gesehen, und ich würde sie,
also Prostituierte, auch nicht anders behandeln als irgend jemand
anderen. Bei den Interviews, meine ich. Du weißt genau, daß wir so
viele Sexualberichte brauchen, wie wir kriegen können, wenn dieses
Projekt erfolgreich sein soll. Wir brauchen ein möglichst breites
Spektrum: Pfarrersfrauen, Vorsitzende von Wohltätigkeitsvereinen,
Pfadfinderführerinnen« – hier schössen mir Bilder der nackten Mac
durch den Kopf, sie zuckten auf wie die Flecke und Kleckse, die man
auf der Leinwand sieht, bevor der eigentliche Film beginnt – »und
natürlich auch Prostituierte.«
Sie wandte den Blick ab und zeigte mir ihr Profil. Ihr Haar war ein
sanftes Flackern aus Licht und Schatten. »Hast du je mit einer Frau
geschlafen?« Sie sprach zur Wand, flüsternd. »Außer mit mir?«
»Nein«, sagte ich, und ich weiß nicht, warum ich log, wo doch das
ganze Ethos hinter unserem Projekt darauf abzielte, die menschliche
Sexualität aus dem dunklen Keller zu holen, in den die Priester sie
verbannt hatten, sie zu feiern, sie zu genießen, sie ohne Verbote
und Hemmungen voll und ganz zu genießen. Aber ja – in diesem
Augenblick, in dieser Situation, die, milde gesagt, heikel war, log
ich.
»Aber warum nicht?« fragte sie, hob den Kopf und warf mir einen
Seitenblick zu, den Seitenblick eines für seine drakonischen
Strafen berühmten Richters, den Seitenblick eines Henkers. »Ist das
– mit vielen Menschen zu schlafen, meine ich – denn nicht genau
das, was Dr. Kinsey, Entschuldigung, was Prok propagiert?
Gehört das nicht zum Programm? Sexuelle Experimente, meine
ich.«
»Na ja«, sagte ich, und ein Stück Fleisch, weich wie ein Schwamm,
schien zurück in meine Kehle gekrochen zu sein, »eigentlich nicht.
Er selbst ist ja glücklich verheiratet, und er ... er will
eigentlich bloß, daß wir auch ...«
Ihr Gesicht war gerötet. Das gekreuzigte Schweinefleisch, das in
der erstarrten Sauce auf ihrem Teller lag, wurde kalt. Ich spürte
einen Luftzug, irgendwo hatte jemand eine Tür geöffnet, und ich
reckte den Kopf, um zu sehen, woher der kühle Wind kam. »Findest du
auch, daß es hier zieht?« fragte ich.
»Du lügst mich an«, sagte sie. »Ich weiß, daß du mit einer anderen
geschlafen hast.«
»Und mit wem?« wollte ich wissen.
Sie drehte den Ring, den ich ihr geschenkt hatte, hin und her, um
ihn über das Gelenk des Fingers zu ziehen. Es war ein Diamantring,
und ich hatte mir von Prok fünfundzwanzig Dollar Vorschuß geben
lassen, um ihn anzuzahlen. In meinem ganzen Leben hatte ich noch
nie etwas so Extravagantes gekauft, ich hatte nicht mal davon
geträumt. Sie zerrte den Ring vom Finger, legte ihn zwischen uns
auf den Tisch und griff nach ihrer Jacke. Alle Gefühle waren in den
Augen und der erbitterten, klaffenden Wunde ihres Mundes
konzentriert. »Mit Mac«, sagte sie. »Du hast mit Mac
geschlafen.«
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Soviel zum Thema »weibliche Intuition«, zu den unterschwelli- gen Signalen, die dieses Geschlecht irgendwie aufzufangen imstande ist, so wie ein Hund weiß, daß sein Herrchen kommt, obwohl dessen Wagen noch sechs Blocks entfernt ist, oder wie eine Katze beim leisesten Geräusch im entferntesten Winkel des Speichers die Ohren spitzt. Eine ganze Woche lang lief ich mit dem Ring in der Tasche herum und machte keinen Versuch, mit Iris zu sprechen oder sie davon zu überzeugen, daß sie falsch lag – ich hätte ihr auch nichts anderes gesagt als das, was ich ihr an jenem Abend in der Mensa gesagt hatte: daß sie verrückt sein müsse, daß Mac für mich wie eine Ersatzmutter war, verheiratet und viel zu alt, und daß ich mich sowieso nicht zu ihr hingezogen fühlte. Iris hatte mir schweigend zugehört, als wollte sie sehen, wie weit ich kam, bevor ich stolperte, und dann war sie aufgestanden und zur Tür am anderen Ende des Saals stolziert, die sie hinter sich zuknallte.
Das war unser erster Kampf, der erste Schlagabtausch in einer langen Reihe von Vor- und Meisterschaftskämpfen, und ich war unglücklich – unglücklich, aber nicht gewillt nachzugeben. Was hatte ich denn schon getan? Ein paar Prostituierte interviewt? Das war mein Job – konnte sie das nicht verstehen? Wenn eine so unbedeutende Sache sie derart aufregte, wollte ich mir lieber nicht vorstellen, was die Zukunft für mich bereithielt, denn wir würden sicherlich hundert weitere Prostituierte befragen müssen und obendrein ganze Busladungen von Sexual-Straftätern jeder Couleur. Ich wollte meine Mutter anrufen und ihr sagen, die Verlobung sei aufgelöst, aber ich hatte, wie gesagt, schon immer Probleme, mich ihr anzuvertrauen, weil sie nie für mich Partei ergriff. Ich war mir sicher, daß sie sich auf Iris’ Seite schlagen und mich zerlegen würde wie einen Weißfisch, den sie vor dem Braten filetierte. Schließlich ging ich zu Mac.
Prok hielt eine Vorlesung, und die Kinder waren in der Schule, als ich die vertraute Straße entlangtrottete. Die Sonne schien mir ins Gesicht, an den Bäumen entfalteten sich die Blätter, der Aprilregen hatte die Welt grün gemacht. Wie Prok es vorausgesagt hatte, machte sich der Garten prima, obgleich wir in diesem Frühjahr weniger Zeit dort verbrachten, weil wir immer häufiger unterwegs sein mußten. Ich blieb einen Augenblick stehen und betrachtete die Blumenbeete, doch dann nahm ich meinen Mut zusammen und ging zur Haustür. Alle meine Gedanken kreisten um Iris und die Frage, wie ich mich aus dem Gespinst von Lügen befreien konnte, das ich gewoben hatte. Einen Eheberater, ich brauchte einen Eheberater, und dabei war ich noch nicht mal verheiratet. Und auch was Mac betraf, war ich mehr als nur ein wenig beklommen. Sie hatte uns, wie Prok, ihren Segen gegeben und hätte nicht aufgeregter sein können, wenn eines ihrer eigenen Kinder geheiratet hätte. Ich fragte mich, wie ich nun umkehren und ihr sagen sollte, die Sache sei abgeblasen, und zwar wegen der Dinge, die wir getan hatten – im Garten, auf dem Bugholzsofa im Wohnzimmer, im Ehebett im ersten Stock. Da stand ich nun. Ich war mir undeutlich der Tatsache bewußt, daß rings um mich her das Leben pulsierte, daß Insekten sich auf Blüten niederließen und die Spatzen in ihren Nestern unter den Dachbalken tschilpten, und ich holte tief Luft und legte den Finger auf den Klingelknopf.
Mac öffnete. Sie trug Khakishorts, die dazugehörige Bluse mit dem auf die Brusttasche gestickten Pfadfinderabzeichen, darüber eine Strickjacke. (Im Haus war es um diese Jahreszeit kühl, denn der stets sparsame Prok schaltete jedes Jahr am i. April die Heizung aus, ganz gleich, wie das Wetter war – eine Gewohnheit, die ich übrigens übernommen habe. Warum Brennstoff verschwenden, wenn der Körper doch seine eigene Wärme erzeugt?) Sie war in der Küche gewesen und hatte Gemüsesuppe gekocht und Wurstbrote für die Kinder gemacht, und sie hatte gedacht, es sei der Briefträger, ein Nachbar oder ein Vertreter – irgend jemand eben, nur nicht ich. Ich sah das Erkennen in ihren Augen und dann das Überlegen: Wieviel Zeit blieb noch, bevor sie die Schritte der Kinder auf dem Weg zur Haustür hören würde? Genug, um mich ins Haus zu zerren und mir die Kleider vom Leib zu reißen? Genug für einen schnellen Orgasmus, bei dem die Shorts um ihre Knie hingen und die Bluse bis zum Hals hochgeschoben war?
»Hallo«, sagte ich und machte wohl ein recht bedrücktes Gesicht, denn sogleich verschwand der kokette Ausdruck in ihren Augen. »Hast du ... Darf ich kurz reinkommen?«
Sie sagte meinen Namen, als würde sie schlafwandeln, und öffnete die Tür weit, um mich einzulassen. »Stimmt was nicht?« fragte sie. »Was ist los?«
Ich stand da und schüttelte den Kopf. So verzweifelt wie in
diesem Augenblick war ich wohl noch nie.
Mac wußte, was zu tun war. Sie führte mich in die Küche, schenkte
mir eine Tasse Tee ein und gab mir vom Mittagessen der Kinder so
viel, wie sie entbehren konnte. Ich sah ihr zu, während sie sich
zwischen Herd, Arbeitsfläche und Eisschrank hin und her bewegte –
ein Ballett häuslichen Friedens –, und schüttete ihr mein Herz aus.
Ich weiß noch, daß von einem Haus in der Nachbarschaft, wo eine
Garage gebaut wurde, Hammerschläge erklangen. Das Geräusch schien
die Dringlichkeit – und die Hoffnungslosigkeit – der Situation zu
unterstreichen. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte ich,
und der Hammer pochte dumpf und schlug dann einen schnellen
Wirbel.
Bis dahin hatte Mac, abgesehen von kurzen Einwürfen – »Und dann?«,
oder: »Willst du Senf, John?« –, nicht viel gesagt, und ich hatte
unvermittelt das Gefühl, daß sie irgendwie eifersüchtig war,
eifersüchtig auf Iris und das, was sie mir bedeutete. Mac spielte
ihre Rolle als pflichtbewußte Frau des bedeutenden
Wissenschaftlers, als selbstlose Gefährtin, Köchin und Mutter
perfekt, doch ich fragte mich, was sie wirklich empfand. Was sie
für mich empfand, wie sie unsere Beziehung sah und wie diese Sache
sich auf die Beziehung auswirken würde oder sich bereits ausgewirkt
hatte.
»Sollte ich ... Ich meine, findest du, daß ich derjenige sein
sollte, der ...?« Ich wollte, daß sie mir sagte, ich solle zu Iris
gehen und alles wieder ins Lot bringen, daß sie mir sagte, es werde
für alle Beteiligten das beste sein, wenn ich aufrichtig war und
die Karten auf den Tisch legte, aber ich redete wie immer um den
heißen Brei herum.
Mac setzte sich mir gegenüber an den Tisch und schenkte sich eine
Tasse Tee ein. Sie beugte sich vor, blies den Dampf weg und rührte
mit einem Löffel in der dunklen Flüssigkeit. »Bist du dir sicher,
daß du sie liebst, John?« fragte sie.
Ja, ich liebte sie, dessen war ich mir sicher, und es würde nicht
das erste Mal sein, daß ich es Mac sagte, aber dort, in der von
sanftem Sonnenlicht durchfluteten Küche, wo wir auf den
Linoleumfliesen vor dem Herd miteinander geschlafen hatten, war es
mir unangenehm, es zuzugeben.
»Ja«, sagte ich, und der Hammer schlug zweimal zu, »ja, ich bin mir
sicher.«
Sie dachte lange darüber nach, blies mit gespitzten Lippen auf
ihren Tee, hob die Tasse an den Mund und musterte mich über den
Rand hinweg. Ihre Hände waren schön, ebenso wie ihre Augen und die
einander überlagernden Wellen ihrer Haare. Ich war auch in sie
verliebt, in Mac, und hatte mir etwas vorgemacht, als ich gedacht
hatte, das, was zwischen uns war, sei rein biologisch. Und was
hatte Prok zu seinen Kritikern gesagt, zu den Leuten vom Schlage
eines Thurman B. Rice und all den anderen, die ihm vorgeworfen
hatten, er beraube das Geschlechtliche seiner spirituellen
Komponente und betrachte es unter rein mechanistischen Aspekten?
Sie haben drei Jahrtausende Zeit gehabt, sich über die Liebe zu
verbreiten – jetzt sollen sie mal der Wissenschaft eine Chance
geben. Ich hatte ihm zugestimmt, ich hatte dieses Credo
übernommen und es wie ein Abzeichen getragen. Es war ein Kampf –
wir gegen sie –, ein Kampf von Wissenschaft und Forschung gegen den
süßlichen Quatsch, den man im Radio hörte oder auf der Leinwand
sah. Aber jetzt wußte ich es nicht mehr. Ich wußte gar nichts mehr.
Ich war zu aufgewühlt und verwirrt, um essen zu können, und legte
das Wurstbrot beiseite.
Als wir Schritte auf der Vorderveranda hörten und kurz darauf die
Haustür quietschte und mit dumpfem Knall ins Schloß fiel, lächelte
Mac plötzlich. »Weißt du was?« sagte sie, und der Hammer schlug in
einem langsamen, gemächlichen Rhythmus, der der eines Trauermarschs
hätte sein können. »Ich glaube, ich werde mal mit ihr
sprechen.«
Aber wieder habe ich das Gefühl abzuschweifen, denn hier geht es ja
um Prok – jedenfalls sollte es um ihn gehen. Prok war der
bedeutende Mann, nicht ich. Ich hatte bloß das Glück, ihm von
Anfang an helfen und mit meinen bescheidenen Mitteln zum
Fortschritt des Projekts und der Kultur insgesamt beitragen zu
dürfen. Prok definierte sich vor allem über seine Arbeit, und seine
Kritiker – all jene, für die die Sexualwissenschaft bloß ein Anlaß
für anzügliche Witze und pubertäres Gekicher ist, als wäre sie es
nicht wert, daß man sich mit ihr befaßt, als wäre sie eine
Pseudowissenschaft wie die Erforschung von außerirdischem Leben
oder von Ektoplasma oder dergleichen –, all sie sollen ruhig
wissen, wie groß seine Hingabe war. Ich werde Ihnen ein Beispiel
aus jener Zeit geben. Ich weiß nicht mehr, ob das, was ich jetzt
schildere, vor oder nach dem kleinen Gespräch stattfand, das Mac
und Iris miteinander führten; auf jeden Fall wirft es ein
bezeichnendes Licht auf Proks Zielstrebigkeit und Engagement. Und
auch aus einem anderen Grund ist es von Interesse: Es war die
einzige Situation, in der unsere Rollen vertauscht waren, in der
ich der Lehrer und er der Schüler war.
Aber ich hänge das schon wieder zu hoch. Jeder x-beliebige hätte
Prok beibringen können, was er wissen wollte – ich war nur gerade
zur Hand, das war alles. Wir saßen eines Abends gegen sechs in
seinem Büro und hatten stundenlang kein Wort gewechselt, als ich
hörte, daß Prok sich erhob. Ich saß gebeugt über einer Rohzeichnung
von Kurven, die die Häufigkeit verschiedener Orgasmusquellen bei
partnerlosen Studenten darstellten, und sah daher nicht auf, doch
ich hörte, daß eine Schublade des Aktenschranks geöffnet und wieder
geschlossen wurde, und anschließend wurde ein Schlüssel im Schloß
gedreht. Das alles waren Anzeichen, daß Prok die Arbeit für heute
beenden wollte. Einen Augenblick später stand er neben mir.
»Weißt du, John«, sagte er, »da Clara und die Mädchen bei diesem
Pfadfinderinnentreffen sind und mein Sohn offenbar ganz und gar von
einem Schulprojekt in Anspruch genommen ist und bei einem Freund
übernachtet – bei den Casdens, sehr anständigen Leuten –, habe ich
gedacht, wir könnten vielleicht den Abend zusammen verbringen
...«
Ich glaubte zu wissen, was er meinte, und hatte gewiß andere Pläne
– über Iris zu grübeln stand ganz oben auf meiner Liste –, doch ich
nickte. »Ja«, sagte ich, »klar.«
Er war erfreut, ja entzückt, und schenkte mir sein strahlendes
Lächeln. Seltsamerweise schüttelte er mir die Hand, als hätte ich
ihm soeben den Schlüssel zu einem Königreich übergeben. »Wir werden
einen Happen essen, und vielleicht können wir das mit einer
Ubungsstunde verbinden, und zwar auf einem Gebiet, auf dem meine
Fähigkeiten leider zu wünschen übrig lassen. Das heißt, ich möchte
meine Technik verbessern.«
»Deine Technik?«
»Meine Interviewtechnik.«
Ich sah ihn entgeistert an und sagte sinngemäß, er sei ein
ausgezeichneter Interviewer und ich könne mir nicht vorstellen, wie
er sich auf einem Gebiet verbessern sollte, wo er bereits perfekt
sei.
»Sehr freundlich«, murmelte er, drückte meine Hand noch einmal und
ließ sie los. »Aber es gibt niemanden, der sich nicht noch
verbessern könnte, und wie du weißt, fühle ich mich unter
ausschweifenden Menschen nicht so wohl, wie ich sollte.«
»Ausschweifenden Menschen?«
»Wo verbringen wir den größten Teil unserer Zeit – wenn wir
Feldforschungen treiben, meine ich?«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
»In Kneipen, Milk. In Bars und Raststätten, auf Partys und ande-
ren Versammlungen, wo es geradezu unabdingbar ist, zu rauchen und
zu trinken, und du weißt, wie ... wie ungeschickt ich bin, oder
vielleicht wäre ›ungeübt‹ im Zusammenhang mit diesen spezifischen
Tätigkeiten das bessere Wort.«
Ich konnte ihm noch immer nicht folgen. »Ja? Und?«
Er lachte, ein kurzes, abgehacktes Lachen, das kehlig begann und
nasal endete. »Na, liegt das nicht auf der Hand? Auf diesem Gebiet
bist du der Experte, Milk. Und ich bin der Neuling.«
»Du meinst, du willst, daß ich ...«
»Ganz recht. Ich will, daß du mir Unterricht gibst.«
Als wir an jenem Abend zu dem Haus in der First Street
zurückkehrten, hatten wir eine braune Papiertüte dabei, in der
Schinkensandwiches, drei Schachteln Zigaretten, zwei Zigarren, ein
Liter Bier, je ein Dreiviertelliter Bourbon, Scotch, Gin, Rum und
Wodka sowie die gängigen Mischgetränke waren. Möglicherweise
regnete es. Im Haus war es kalt. Prok machte Feuer im Kamin, und
dann reihten wir unsere Einkäufe auf dem Couchtisch auf, versahen
uns mit Eiswürfeln, den passenden Gläsern und Aschenbechern und
fingen an.
Zuerst kamen die Zigaretten. »Du brauchst nicht zu inhalieren«,
sagte ich, denn ich wußte, wie gräßlich er das Rauchen fand. »Klemm
sie einfach in den Mundwinkel, so« – ich zeigte es ihm –, »beug
dich beim Anzünden vor, schüttle das Streichholz mit einer Bewegung
aus dem Handgelenk aus, zieh den Rauch in den Mund, so, behalt ihn
für einen Augenblick dort und stoß ihn dann aus. Nein, nein, nein,
behalt die Zigarette im Mundwinkel und laß den Rauch einfach
aufsteigen. Genau. Kneif die Augen ein bißchen zusammen. Siehst du,
jetzt hast du die Hände frei und kannst nach deinem Glas greifen
oder, wenn du gerade ein Interview machst, die Antworten notieren.
Ja, und jetzt kannst du sie zwischen Zeige- und Mittelfinger nehmen
und dann die Asche abklopfen. Richtig. Genau. Sehr gut.«
Natürlich verabscheute er es. Er verabscheute den Geruch, den
Geschmack, das ganze Konzept, er verabscheute den Rauch, der ihm in
die Augen stieg, und das Gefühl des feuchten Papiers auf den
Lippen. Und beim zweiten oder dritten Zug inhalierte er
versehentlich, bekam einen Hustenanfall und wurde ganz blaß. Die
Augen quollen so sehr vor, daß ich fürchtete, sie würden ihm aus
dem Gesicht fallen. Mit den Zigarren war es noch schlimmer.
Irgendwann trat er vor den Spiegel, um zu prüfen, wie er aussah,
wenn er auf das aufgeweichte Mundstück einer White Owl biß, und kam
dann wortlos ins Wohnzimmer zurück und warf das Ding ins Feuer.
»Ich verstehe es einfach nicht«, sagte er. »Es ist mir ein Rätsel.
Wie kann man behaupten, es sei ein Genuß, getrocknete Blätter unter
seiner Nase oder sonstwo zu verbrennen? Und den Rauch dann auch
noch einzuatmen? Und Männer mit Gesichtsbehaarung, mit
Barten ? Wie machen die das ? Es ist das reinste Wunder, daß nicht
sämtliche Bars in Amerika abgebrannt sind.« Er ging auf und ab. »Es
ist unglaublich. Unglaublich.«
Beim Alkohol ging es besser. Ich schenkte ihm zunächst einen
Bourbon ein, mein Lieblingsgetränk, und riet ihm, etwas Wasser oder
Soda hinzuzufügen, aber er bestand darauf, ihn pur zu trinken, und
zwar mit der Begründung, wenn er sich ein Standardgetränk aussuchen
solle, etwas, das er in irgendeiner Kneipe ganz selbstverständlich
bestellen könne, um einem potentiellen Probanden die Befangenheit
zu nehmen, dann müsse er den unverfälschten Geschmack kennen. Ich
sah zu, wie er an dem blaßbraunen Getränk roch, den Kopf
zurücklegte, den Bourbon im Mund herumspülte und dann, nach kurzem
Nachdenken, zurück ins Glas spuckte. »Nein«, sagte er und verzog
das Gesicht, »ich fürchte, Bourbon ist untauglich.«
Mit den anderen Kandidaten war es dasselbe (Bier, sagte er, rieche
wie Sumpfgas und schmecke wie ein alter Schwamm, den man im Garten
vergraben und dann über einem Glas ausgedrückt habe). Bis wir es
mit Rum probierten. Er schenkte sich einen Schluck ein, roch daran,
ließ ihn über die Zunge gleiten und schluckte. Wieder verzog er das
Gesicht, und ich hatte den Eindruck, das Experiment sei
gescheitert. Doch dann beugte Prok sich vor, gab noch einen
winzigen Schluck in sein Glas und trank. Er biß die Zähne zusammen
und schmatzte ein-, zweimal. Seine Augen hinter den blitzenden
Brillengläsern waren gerötet. »Rum«, sagte er schließlich. »Das
wird gehen. Wie heißt es noch mal in dem Lied? ›Fünfzehn Mann auf
des toten Manns Kiste, joo-hoo, und ‘ne Buddel voll Rum.‹«
Iris’ Geschichte hatten wir noch nicht. Dennoch wußte ich ziemlich genau, was darin stehen würde: Sie war verklemmt gewesen, gehemmt durch Erziehung und Religion; sie hatte schuldbewußt masturbiert und dabei an einen Jungen in ihrer Klasse oder an einen Filmschauspieler gedacht; sie hatte viele Freunde gehabt, aber keine ernsthafte Beziehung, und bis vor kurzem hatte sie nicht mehr zugelassen als Zungenküsse und vielleicht ein paar ungeschickte Manipulationen ihrer Brüste; sie hatte nur einen Sexualpartner gehabt und ihre Jungfräulichkeit mit neunzehn auf dem Rücksitz eines Nash verloren. Und mehr noch: Sie liebte diesen Partner und hatte vor, ihn zu heiraten. Jedenfalls bis vor einer Woche noch.
Obwohl er sich bemühte, es nicht zu zeigen, war Prok verärgert, daß Iris ihre Sexualgeschichte noch nicht beigesteuert hatte. Was für einen Eindruck mußte man von dem Projekt haben, wenn die zukünftige Frau seines einzigen Kollegen es bisher abgelehnt hatte, sich befragen zu lassen? Einen schlechten – und das war noch milde ausgedrückt. Daraus sprach Unvernunft, ja Heuchelei. Schlimmer noch: Es würde alle Bemühungen untergraben, unsere Offenheit im Hinblick auf Sex und unsere gleichzeitige absolute Verschwiegenheit zu dokumentieren. Was dachte Iris sich eigentlich? Würde sie das Projekt beeinträchtigen? Und wenn ja, würde mich das meinen Job kosten?
Der Druck war indirekt. Erst kam jene beiläufige Nachfrage an dem Nachmittag, als Prok mir zur Verlobung gratulierte, und dann, als die Tage und Wochen vergingen, machte er immer wieder ganz nebenbei eine Bemerkung über Iris’ sexuelle Anpassung oder über irgendeine Studentin aus seinem Biologie-Seminar, deren Geschichte er aufgezeichnet habe und die ihn zufällig an Iris erinnert habe – »dieselbe Statur, dieselben lebhaften Augen, ein richtig süßes Mädchen«. Sobald er jedoch – vermutlich von Mac – erfahren hatte, daß die Verlobung aufgelöst war, nahm er sich ein bißchen zurück und erwog seine Optionen. Er wollte zweifellos, daß ich heiratete, und selbstverständlich wollte er Iris’ Geschichte, aber da ich mich noch nicht dazu durchgerungen hatte, ihn ins Vertrauen zu ziehen, konnte er mir weder unerbetene Ratschläge geben noch direkten Druck ausüben, wie er es sonst so gern tat. Die ganze Woche, in der ich das Gewicht des Rings in meiner Tasche spürte, als trüge ich einen Amboß mit mir herum, sagte er kein Wort, obgleich ich ihm anmerkte, daß er sich kaum beherrschen konnte, einzugreifen, mich zu beraten, zu belehren, zu ermuntern und alles wieder ins Lot zu bringen.
Wie sich herausstellte, war es aber Mac, die den Schlüssel in der Hand hielt. Am Tag nach unserem Gespräch lud sie Iris zum Tee ein. Ich weiß nicht (oder wußte jedenfalls damals nicht), wieviel Mac ihr erzählte oder in welche Worte sie es kleidete, aber Iris schien besänftigt. Mac rief mich in der Studentenpension an – Rufe, trampelnde Schritte auf der Treppe, Telefon für dich, Milk! – und sagte mit ihrer sanften, sämigen Stimme, ich solle so bald wie möglich zu Iris gehen. Es war kurz nach sieben Uhr abends. Ich hatte allein in einem Schnellimbiß gegessen, wo ich, als ich von meinem Hamburger aufblickte, Elster gesehen hatte, meinen alten Widersacher aus der Bibliothek des Instituts für Biologie, der mich voller Verachtung und unverhohlener Eifersucht gemustert hatte. Danach hatte ich mich mit einer Flasche Bourbon auf dem Bett ausgestreckt und der traurigen, erschöpften, zu Herzen gehenden Stimme von Billie Holiday gelauscht, die sich ihrem Kummer hingab. War ich betrunken? Vermutlich. Ich dankte Mac überschwenglich, kämpfte vor dem Spiegel mein Haar nieder und stürzte zur Tür hinaus.
Der Campus. Das Studentinnenwohnheim. Das Quaken der Frösche am Bach. Die Rezeptionistin und ihr herzliches Lächeln. »Hallo, John«, sagte sie und zwinkerte mir zu. »Schön, daß du wieder da bist.« Der große, bleiche Mond ihres Gesichts ging auf und wieder unter. »Ich hab ihr schon Bescheid gesagt.«
Zufällig kamen zwei Studentinnen durch die Tür, die zum Treppenhaus führte, und bevor sie sich zischend wieder schloß, erhaschte ich einen Blick auf Iris, die die Treppe herunterkam, und hatte ein paar Sekunden Zeit, mich zu sammeln. Ich strich mir über die Haare, legte die Hand vor den Mund und überprüfte meinen Atem, der nicht viel anders roch als die Flasche in meinem Zimmer. Ich hätte einen Kaugummi gebraucht, aber diese Gewohnheit hatte ich aufgegeben, weil Prok es im Büro verbot und an allen anderen Orten mißbilligte. Ich tastete in der Tasche nach dem Ring, stand stocksteif da und erwartete mein Schicksal.
Sie trug ihr schönstes Kleid, zu dem ich ihr wiederholt Komplimente gemacht hatte, und hatte offenbar viel Zeit auf ihre Frisur und ihr Make-up verwendet. Und wozu das? Wollte sie mir vorführen, was mir entging, was sie zu bieten hatte, was für einen Schatz sie darstellte? Als sie auf mich zukam, versuchte ich, in ihrem Gesicht zu lesen. Wieviel hatte Mac ihr erzählt? Und meine Lüge – war sie aufgeflogen? Ich war betrunken. Ich wollte die Arme ausbreiten und Iris an mich drücken, doch ihr Lächeln hielt mich davon ab: Es war ein verkniffenes Lächeln, tapfer und gezwungen, und ihr Kinn zitterte, als würde sie gleich weinen. »Iris«, sagte ich, »bitte hör mich an. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich getan habe oder was ich tun kann, um ... um es wiedergutzumachen, aber ich ...«
Die Rezeptionistin strahlte. Auf einem Sofa in der Nähe saß ein Pärchen, das sich zum gemeinsamen Lernen verabredet hatte – davon war allerdings nicht viel zu sehen, jedenfalls lernten sie nicht aus Büchern oder Mitschriften.
»Nicht hier«, sagte Iris, nahm meine Hand und führte mich zur
Tür hinaus.
Die Nacht war mild, warme Luft hing über den Rasenflächen, die sich
im Dunkel verloren, und die Laternen waren in Nebel gehüllt. Die
Frösche quakten. Andere Paare tauchten schemenhaft aus dem Dunst
auf und verschwanden wieder. Wir gingen Hand in Hand und ohne viel
zu sagen über den Campus und landeten schließlich vor dem Institut
für Biologie, wo wir uns bis zur Sperrstunde auf die Treppe
setzten. Eine Stunde lang hielten wir einander umarmt, küßten uns
und murmelten die üblichen Klischees, von denen die Liebe lebt, bis
unsere Erregung sich langsam steigerte und ich sie mit belegter
Stimme fragte, ob ich Proks Wagen holen sollte.
Wir waren vollständig bekleidet, und jeder, der vorbeikam, konnte
uns sehen, aber es ist gut möglich, daß meine Hand unter dem Rock
auf ihrem Oberschenkel lag. Und sie ... sie preßte ihre Hand auf
den Schritt meiner Flanellhose, und dieser Druck, dieses langsame,
herrliche, voll und ganz beabsichtigte Reiben verriet mir alles,
was ich wissen wollte. »Nein«, sagte sie, zog ihre Hand aber nicht
zurück, »heute abend nicht. Es ist schon spät.«
»Dann also morgen?«
Sie küßte mich leidenschaftlicher und fuhr fort zu reiben.
»Morgen«, murmelte sie.
Es dauerte einen Augenblick, bis das zu mir durchdrang. Ich
schwebte in der Nachtluft, als hätte ich meinen Körper verlassen,
und ich dachte weder an Mac noch an Versionen von Wahrheit oder
Unwahrheit. Ich tastete in meiner Tasche nach dem Ring. »Wenn das
so ist«, sagte ich und hob ihre Hand keine Sekunde länger von
meinem Schoß, als ich brauchte, um den Ring wieder auf ihren Finger
zu stecken, »sind wir also wieder verlobt, oder?«
Die Hochzeit war so bescheiden, wie sie angesichts meines Einkommens, der Vermögensverhältnisse von Iris’ Eltern – ihr Vater lieferte für die Molkerei Bornemann’s in Michigan City und Umgebung Milch aus – und der herrschenden Ungewißheit sein mußte. Was allerdings nicht heißen soll, daß es keine schöne, erhebende Zeremonie war, eine Feier, an die ich mich mein Leben lang erinnern werde, von Gefühlen erfüllt, die den Prunk aller Fürstenhochzeiten der Welt aufwogen. Die Braut trug ein weißes Tüllkleid, und der Schleier brachte ihr Haar und das unbezähmbare Blitzen der Augen sehr gut zur Geltung. Der Bräutigam fand sich zu seiner Überraschung in einem geliehenen Smoking wieder, dem ersten, in den er jemals seine Schultern und seine geschwellte Brust gezwängt hatte. Die Trauzeugen waren Tommy und Iris’ Zimmergenossin, ein stattliches, bebendes Pferd von einer Frau mit stecknadelgroßen Augen und einem Mund, der die ganze untere Hälfte ihres Gesichts beherrschte, und es ist eigenartig, daß ich mich heute nicht mehr an ihren Namen erinnern kann. Doch das spielt kaum eine Rolle: Sie war da, in einem schulterfreien Kleid, und tat, was sie zu tun hatte. Anfangs hatten Iris’ Eltern auf eine kirchliche Hochzeit und den Segen eines Priesters gedrängt, doch seit sie aufs College ging, hatte Iris sich vom katholischen Glauben entfernt (oder vielmehr: sie war ihm mit gesenktem Kopf und gegen den Strom davongeschwommen), und als abtrünniger Methodist verspürte ich keinerlei Neigung, irgendeiner Kirche beizutreten, und ganz sicher keiner, die derart kompromittiert war durch Mysterienkrämerei, Aberglauben und Repression. Und Prok, der die Hochzeit ausrichtete, waren alle Religionen, alle religiösen Menschen ohnehin ein Greuel.
Doch zunächst ein Wort über Iris, denn ich merke, daß ich sie hier vernachlässigt habe. Immerhin ist sie eine zentrale Figur in dieser Geschichte, in Proks Geschichte, denn an jenem Tag Ende Mai 1941 wurde sie das vierte Mitglied des engsten Kreises und nahm ihren Platz neben Prok, Mac und mir ein, und alles, was seitdem geschehen ist, betrifft sie ebensosehr wie alle anderen. Sie war ... Nun ja, sie hatte etwas Unabhängiges. Sie hatte ihren eigenen Kopf. Sie bildete sich ihre eigene Meinung. Und obgleich ich damals so stark auf das Projekt und unser gemeinsames Ziel fixiert war, daß ich ihre geistige Ungebundenheit nicht klar erkannte, würde ich sagen, daß diese im Lauf der Jahre noch zunahm, bis Iris schließlich beinahe in offenem Widerspruch zu dem stand, woran wir glaubten. Es war eine Rebellion oder kam jedenfalls einer Rebellion sehr nahe. Aber ich schweife ab. Iris. Ich will sie mit ein paar Worten beschreiben. Sie ist schön. Dickköpfig. Geistreich. (Ich kenne niemanden, der so schlagfertig ist wie sie, mit Ausnahme vielleicht von Corcoran.) Blitzgescheit. Hervorragend organisiert. Als Schülerin und auf dem College spielte sie Klarinette, und bis zu ihrem letzten Studienjahr, als wir längst verheiratet waren, zog sie jeden Samstagmorgen eine gestärkte Uniform an und marschierte mit der Kapelle über die leuchtendgrüne große Rasenfläche des Campus. Sie war eine gewissenhafte Studentin, obwohl ihre Noten nicht so gut waren wie meine (was ja eigentlich auch keine Rolle spielt), sie besaß ein verblüffendes künstlerisches Geschick und war imstande, unseren Haushalt – unseren erst noch zu gründenden Haushalt – trotz äußerst karger Mittel mit eindeutiger Eleganz zu versehen. Was noch? Ihr Lächeln. Ich wollte auf diesem Lächeln davonsegeln, und lange tat ich das auch. Und ihre sexuellen Reaktionen natürlich – in einem Bericht wie diesem kann ich sie nicht aussparen. Was ich Prok erzählt hatte, entsprach weitgehend der Wahrheit. Sie hatte sich mir geöffnet, sie liebte mich, und als wir uns besser aneinander gewöhnt hatten, als wir immer mehr Zeit auf dem Rücksitz von Proks Wagen oder, nachdem es wärmer geworden war, auf einer Decke in einem abgelegenen Winkel des Parks verbrachten, ließ sie ihrer Leidenschaft freien Lauf. Wir begannen zu experimentieren, und sie entwickelte einen zunehmenden Enthusiasmus und nahm mehrmals aus eigenem Antrieb die Stellung ein, bei der die Frau oben liegt. Und obgleich sie niemals, in keiner Situation, unanständige Wörter gebraucht hätte, gebrauchte sie sie dann doch, wenn sie die Augen verdrehte und ihre Hände an meinen Schultern zerrten, als wollte sie mich in ihre Brust hinein- und noch weiter ziehen, in die Erde und tiefer, tiefer. »Ficken«, rief sie dann. »Ficken ... Fotze ... Ficken ...«
Prok hatte einen Friedensrichter gebeten, eine schlichte Trauung unter dem Persimonenbaum hinter dem Haus vorzunehmen, und erhebliche Mühen auf sich genommen, um das Klavier in den Garten zu schaffen, so daß er mit dem Hochzeitsmarsch die Zeremonie besiegeln konnte. (Ich habe noch gar nicht erwähnt, daß er als Junge davon geträumt hatte, Konzertpianist zu werden, und diesen Traum erst aufgab, als er seine wahre Berufung, die Wissenschaft, entdeckte. Er war ein guter Pianist, so gut wie einer, der in kleinen Konzertsälen auftritt, und er erfreute uns an jenem Nachmittag nicht nur mit dem Hochzeitsmarsch, sondern auch mit einem Potpourri aus Peer Gynt, das gespenstisch gut zu der märchenhaften Szenerie paßte.) Prok am Klavier, Iris in meinen Armen, Tommy an meiner Seite: So nahe war ich dem Paradies noch nie gewesen. Und meine Mutter war selbstverständlich ebenfalls da. Sie war mit Tante Marjorie gekommen, ein schmales, entrücktes Lächeln auf dem Gesicht. Ich glaube, sie trank zuviel an diesem Tag. (Es waren Rum-Cocktails – Prok hatte eine Leidenschaft dafür entwickelt, nicht so sehr, weil ihm das Trinken gefiel, sondern weil er gern Rezepte sammelte, und so tranken wir schon am Nachmittag Zombies, und in einem Eisbett stand eine Kristallschüssel mit etwas, das sich Charleston Cup nannte.) Sie weinte allerdings nicht, nur Mac vergoß ein paar Tränen. Die Zeremonie muß meine Mutter, die in keiner Weise zur Sentimentalität neigte (sie hatte sich mir gegenüber mehr als einmal als Fatalistin bezeichnet), an ihren eigenen Hochzeitstag vor vielen Jahren zurückversetzt und sie daran erinnert haben, daß das, was später folgte, nicht die Erfüllung der Träume einer jungen Braut gewesen war, sondern eine Katastrophe. Aber sie war mit Iris einverstanden, denn sie spürte, daß Iris über Stehvermögen verfügte, und das war das einzige, was es meiner Mutter ermöglicht hatte, alles zu überleben: Um in einer Welt der Kriege und Verwüstungen und Bootsunglücke durchzuhalten, brauchte man Zähigkeit und Stehvermögen, besonders als Frau.
Irgend jemand – Tommy, die Brautjungfer oder Paul Sehorn – hatte ein Sortiment alter Töpfe und Reibeisen an die hintere Stoßstange des Nash gebunden, und Prok, der kerzengerade wie ein Chauffeur neben meiner Mutter und der kerzengeraden Mac am Steuer saß, verzog auf dem ganzen Weg zum Bahnhof das Gesicht über diesen Lärm, während Iris und ich aneinandergeschmiegt auf dem weichen Leder der breiten, vertrauten Rückbank saßen.
9
Mit unserer Hochzeitsreise folgten wir dem Beispiel, das Prok und Mac zwanzig Jahre zuvor gegeben hatten, das heißt, wir machten eine ausgedehnte Campingtour, allerdings nicht durch die White Mountains in New Hampshire, sondern durch die Adiron-dacks, eine Gegend, die mich schon als Junge, der zwischen den mit Gestrüpp bewachsenen Hügeln und Dünen am Ufer des Lake Michigan aufwuchs, fasziniert hatte. Iris hatte mit dem Zelten nicht viel Erfahrung und ich, ehrlich gesagt, auch nicht. Es erschien mir jedoch wie ein Abenteuer und hatte den zusätzlichen Vorteil, billig zu sein. Das war auch eines der Motive gewesen, die Prok damals dazu bewegt hatten; er war freilich ein Naturkundler, der sein Leben lang gezeltet hatte und sich, wenn es sein mußte, ohne weiteres von Wurzeln, Beeren und Bucheckern ernähren konnte – was ich, wie man sich denken kann, weder konnte noch wollte. Iris hielt sich tapfer, das muß ich ihr lassen, obgleich sie für eine konventionellere Hochzeitsreise nach Niagara Falls votiert hatte, und tatsächlich fuhren wir auch dorthin und verbrachten eine Nacht in einem Hotelzimmer, das soviel kostete wie der ganze Rest der Reise zusammengenommen. Ich habe schöne Erinnerungen an diese Zeit – Iris im Badeanzug und mit Gänsehaut am Rand eines gerade eben eisfreien Sees, der Duft des Nadelwalds und der betörende Geruch unseres Feuers, die Berührung ihrer Hände, unsere landstörzerischen Liebesakte in einem für eine Person konzipierten Schlafsack, eingetaucht in schwärzeste Finsternis und absolute Stille –, aber alles in allem hatte das Vergnügen auch seine Grenzen. Ich werde hier nicht auf die Details eingehen, die nichts zur Sache tun, und mich darauf beschränken zu sagen, daß die Insekten gnadenlos waren und das Zelt seiner Funktion nur knapp gerecht wurde, daß das Wetter gräßlich und der Boden hart war wie eine Eisenbahnschiene aus einem Stahlwerk in Gary, Indiana.
Nicht daß das wichtig zu sein schien (natürlich war es das, aber wir gaben uns alle Mühe, einander zu versichern, daß es nicht so war). Wichtig war, daß wir zusammen waren, nur wir beide, zum ersten Mal in unserem Leben. Wir verwandelten das große weiße Bett in dem Hotelzimmer in Niagara Falls in eine erotische Spielwiese und ergingen uns in Aktivitäten – Fellatio, Cunnilingus, Analverkehr –, für die ich bei Mac zu gehemmt, zu sehr in Eile gewesen war. Damals wußten wir es noch nicht, aber ironischerweise waren diese zwei Wochen für beinahe ein ganzes Jahr unsere letzte Gelegenheit, diese Art von Freiheit zu genießen. Soll heißen: In Bloomington kehrte Iris ins Wohnheim zurück und war, in der Hoffnung, ihr Studium zu beschleunigen, das ganze Sommersemester über eine fleißige Studentin, und ich wohnte weiter bei Mrs. Lorber. Zwar verbrachten wir jede freie Minute damit, uns Wohnungen, Zimmer, umgebaute Keller und diverse als »Mietwohnung« annoncierte Anbauten anzusehen, doch wir fanden nichts, was sowohl erschwinglich als auch erträglich war, und so mußten wir uns wieder mit einer Decke im Park oder dem Rücksitz von Proks uraltem Nash begnügen. Dabei waren wir verheiratet, und ich war erwachsen und hatte eine Vollzeitstelle. Prok hatte viel Verständnis für unsere Situation, aber Sie dürfen nicht vergessen, daß der Löwenanteil der Mittel für das Projekt damals noch aus seiner eigenen Tasche stammte, also aus seinen Bezügen als Professor und den Tantiemen seines Biologie-Lehrbuchs, und ich konnte unmöglich erwarten, daß er mein Gehalt auch nur um ein paar Dollar pro Woche erhöhte.
Wie zahllose Paare, die während der Weltwirtschaftskrise hatten getrennt leben müssen, improvisierten wir. Wir sparten und malten uns in lebhaften Bildern aus, wie unsere erste Wohnung aussehen würde, und mittlerweile ging der Sommer unmerklich in Herbst über, und die Nachrichten aus dem Ausland wurden schlecht und schlechter. Es war eine seltsame, beunruhigende Zeit, diese Zeit zwischen unserer Hochzeit und dem Kriegseintritt. Einerseits waren wir voller Hoffnung, doch andererseits stürzte uns alles, was wir taten, und sei es noch so selbstverständlich, in Zweifel: Warum sollte ich diesen Dollar sparen, meine Zähne pflegen, mir Gedanken über mei- ne Ernährung machen, warum sollte ich von meiner Frau, von einer Wohnung, von der Zukunft träumen, wenn das Beil jeden Augenblick fallen konnte? Ich kannte viele Männer, die verzweifelten. Andere verheizten ihre Energie und ihre Mittel, Tag und Nacht – carpe
diem.
Meine Krise setzte Ende Oktober ein. Prok und ich hatten frohlockt,
weil wir eine Korrelation zwischen dem Bildungsstand und der Anzahl
der Sexualpartner während der Adoleszenz entdeckt hatten. Es war
wie eine Regel, und das war das Wunderbare: Diejenigen, die nicht
aufs College gingen, machten zahlreichere und umfassendere sexuelle
Erfahrungen als diejenigen, die ein Studium begannen. Ich weiß
noch, wie hochgestimmt ich in Mrs. Lorbers Studentenpension
zurückkehrte. Ich freute mich auf das Abendessen mit Iris, auf den
Film, den wir uns danach ansehen wollten, und auf ein, zwei schöne
Stunden auf dem Rücksitz des Nash, und als ich den offiziell
wirkenden Briefumschlag sah, der neben einem Stoß Rundschreiben auf
dem kleinen Tisch im Vestibül lag, ahnte ich zunächst nichts
Böses.
Einberufungsbehörde stand da. Amtlicher Bescheid. Sie kennen diese Art von Mitteilung sicher: Die Sprache ist so klinisch wie eine Beschreibung der neuesten Methode zur Darmentleerung oder eine Anleitung zur sachgerechten Installation eines neuen Kondensators im Radioapparat, und doch ist sie geeignet, einen auf der Stelle hellwach zu machen.
Werter Mitbürger!
Nachdem Sie sich zwecks Prüfung Ihrer Verfügbarkeit für den Dienst
in den Landoder Seestreitkräften der Vereinigten Staaten von
Amerika einer aus Ihren Mitbürgern bestehenden Kommission
vorgestellt haben, teilen wir Ihnen hierdurch mit, daß Sie
aufgefordert sind ...
Es war nicht so, daß ich nicht gehen wollte. Langsam wimmelte es auf dem Campus von jungen Männern in Uniform, die Studentinnen würdigten jeden, der Zivil trug, keines Blickes mehr und hüllten sich in Rot, Weiß und Blau, und man darf nicht vergessen, daß alle nach und nach von einer Begeisterung erfaßt wurden und ich den ehrlichen Wunsch verspürte, hinauszuziehen und mein Land und die Freiheit zu verteidigen, die bedrängten Briten vor dem Terror der deutschen Luftwaffe und die Albaner vor den Italienern und so weiter zu beschützen. Dennoch, als ich an diesem friedlichen Nachmittag durch die Tür trat und den Umschlag dort vorfand, wo Mrs. Lorber ihn hingelegt hatte, nachdem sie ihn zweifellos eingehend von allen Seiten und im Licht der hellsten Lampe untersucht hatte, erschrak ich. Ich hatte gerade erst geheiratet, stand am Anfang meiner Karriere, verdiente eigenes Geld (nicht viel, aber immerhin) und hatte ein Automobil zur Verfügung – und nun sollte ich noch einmal von vorn anfangen, unter Fremden und an einem fremden Ort. Es war auch nicht so, daß ich Angst hatte. Ich war zu jung, zu gesund, um mir auch nur in schlimmen Träumen auszumalen, ich könnte verwundet, verstümmelt oder gar getötet werden. Solche Dinge passierten nicht konkreten Personen – mir –, sondern irgendwelchen gesichtslosen Mitgliedern der Allgemeinheit in der Wochenschau vor dem Hauptfilm. Das Problem war eher die Ungewißheit: Man lieferte sich der Willkür einer so vielgliedrigen Institution wie der Armee der Vereinigten Staaten aus und konnte nur auf das Beste hoffen.
Ich muß gute fünf Minuten dort im Vestibül gestanden haben, bevor Schritte auf der Eingangstreppe, dicht gefolgt vom Aufreißen und Zuschlagen der Haustür, mich aus meinen Gedanken rissen. Ezra Voorhees kehrte von einem Seminar zurück. Ezra studierte Betriebswirtschaftslehre, beziehungsweise deren Anwendung auf landwirtschaftliche Betriebe, und hatte den Ehrgeiz, die Produktion der Hühnerfarm seines Vaters, die er eines Tages übernehmen wollte, zu steigern. Er war neunzehn und ziemlich harmlos, aber auch laut und leicht erregbar. Er hatte seine Sexualgeschichte nicht preisgeben wollen (dabei hatte nicht viel gefehlt, und ich hätte ihn auf Knien darum gebeten), und er kümmerte sich nicht sonderlich darum, ob seine Kleider – oder er selbst – sauber waren. »John!« rief er und blickte mich so überrascht an, als wäre ich der letzte, den er in einem Haus, in dem wir ein Zimmer teilten, zu sehen erwartet hätte. Er riß mir den Brief aus der Hand und sagte: »Was ist das ? O Gott, o Gott. Das ist ja dein Einberufungsbescheid.«
Ich streckte, zu benommen, um verärgert zu sein, steif die Hand
aus. Er gab mir den Brief zurück.
»Willst du dich freiwillig verpflichten?«
»Tja, ich ... ich weiß nicht. Ich hab nie darüber nachgedacht.«
Plötzlich sah ich mich in Uniform, aufrecht und hochgemut, die
Haare ganz glatt und schimmernd, über den Ohren schneidig kurz, und
unter dem linken Arm hielt ich den steifkrempigen Hut, während ich
mit der Rechten salutierte. Meine Mutter würde stolz auf mich sein.
Iris würde toben. Und Prok ... Prok würde der Schlag treffen.
»Du solltest dich verpflichten, glaub mir. Ich hab mit Dick Martone
und ein paar anderen, zum Beispiel mit Dave Frears, gesprochen, und
wir überlegen, ob wir zum Marine Corps gehen, ob wir uns dafür
melden, meine ich. Bevor das Gedränge losgeht.« Ezra war groß,
sechs bis acht Zentimeter größer als ich, und stämmig, aber mit
einem eigenartig geformten und unproportional kleinen Kopf, an dem
er sich jetzt langsam und nachdenklich kratzte. »Wenn du dich
freiwillig meldest«, sagte er, »bist du mitten im Geschehen, in
Übersee, in Frankreich oder Belgien ... Oder in Italien, in
Italien, wo es richtig knallen wird.«
Ich ging zuerst zu Iris. Wir trafen uns in der Mensa zum Essen (das
Rindfleisch war so lange gegart, daß es fast weiß war, und schwamm
in einer karamelfarbenen Sauce, daneben lagen ein paar verzagte
Kartoffeln und ein Häufchen Erbsen, die vor der Verabschiedung des
New Deal geerntet und in Dosen verpackt worden waren), und erst als
wir saßen, das Brot mit Butter bestrichen und das Fleisch
gepfeffert hatten, schob ich ihr den Umschlag zu. Sie beugte sich
darüber und erfaßte den Inhalt des Briefs, noch bevor sie ihn auf
dem Tisch glattgestrichen hatte. Ihr Kinn zitterte, und als sie den
Kopf hob, war in ihren Augen ein grauenvoller Ausdruck. »Ich fasse
es nicht«, sagte sie. »Du kannst doch nicht... Reicht es ihnen denn
nicht, daß sie Tommy haben?«
»Ich weiß nicht.«
»Du wirst doch nicht gehen?«
Ich zuckte die Schultern. »Was bleibt mir übrig?«
»Aber du bist verheiratet.«
Abermals ein Schulterzucken. »Verheiratet sind viele – und was
glaubst du, wie viele in den vergangenen sechs Monaten geheiratet
haben, nur um nicht eingezogen zu werden? Denen in Washington ist
das egal. Und wie es aussieht ... Tja, Wilkie hat die Wahl
verloren, nicht?«
Sie streckte die Arme über den Tisch und nahm meine Hände,
verschränkte ihre Finger mit meinen und drückte zu, als wollte sie
sie zerquetschen. »Ich werde dich nicht gehen lassen«, sagte sie.
»Nein. Das ist nicht unser Krieg. Damit haben wir nichts zu
tun.«
Aber natürlich stimmte das nicht, wie das ganze Land und selbst die
eingefleischtesten Isolationisten erkannten, als die Japaner kaum
zwei Monate später Pearl Harbor angriffen. Aber an jenem Abend, als
ein kalter Wind dürre Blätter über den Campus wirbelte und Iris
nach meinen Händen griff, als ringsumher Studentinnen und Studenten
auf ihrem zähen, zu lange gegarten Fleisch herumkauten, Lehrbücher
oder die Witzseite einer Zeitung lasen oder einfach übermütig
lachten, schien es, als würde die Kraft ihrer Worte ausreichen:
»Ich werde dich nicht gehen lassen. Nein.«
Am nächsten Morgen zeigte ich Prok den Brief. Wie üblich war er früher als ich im Büro und saß, in die Arbeit vertieft, an seinem Schreibtisch. Ich wollte ihn nicht stören, doch als ich eintrat, begrüßte er mich mit einem Lächeln, und ich fand, ich könnte ihm die schlechte Nachricht ebensogut gleich mitteilen. »Guten Morgen, Prok«, sagte ich. Er senkte den Blick wieder auf das Blatt, das vor ihm lag, doch ich beharrte, wenn auch etwas unbeholfen. »Prok«, wiederholte ich, er hob wieder den Kopf, und sein Lächeln verschwand, »ich muß dir was ... Also, ich wollte dir sagen, daß ... daß ... na ja ... hier.« Ich reichte ihm den Einberufungsbescheid.
Er überflog ihn, erhob sich, faltete den Brief sorgfältig zusammen und gab ihn mir zurück. »Das habe ich schon seit einiger Zeit befürchtet«, sagte er. Für einen winzigen Augenblick wirkte er wie besiegt: Der Schatten der Resignation huschte über sein Gesicht, und seine Wangen waren schlaff und schwer, doch dann straffte er die Schultern und stieß scharf die Luft aus, so daß es klang, als würde ein Wasserkessel kochen. »Zum Teufel«, sagte er und kam damit dem Fluchen so nahe wie nie zuvor und später nie mehr, »wir werden das anfechten, und wenn wir bis zum Verteidigungsminister gehen müssen.« Er hielt inne und sah mich fragend an. »Wie heißt der überhaupt?«
Ich sagte ihm, ich wisse es nicht.
»Schon gut. Ist ja auch unwichtig. Wichtig ist nur unsere
Forschungsarbeit, und ich frage mich, ob irgendeiner von diesen
Menschen« – er machte eine ausladende Armbewegung, als wären sowohl
all die Politiker mitsamt ihren Land- und Seestreitkräften als auch
Hitler und seine Wehrmacht nichts als unwissende Studenten, die bei
einer Biologieklausur eine zentrale Frage falsch beantwortet hatten
–, »ob irgendeiner von ihnen auch nur die leiseste Ahnung hat, was
es heißt, einen Interviewer auszubilden. Nein«, knurrte er als
Antwort auf seine eigene Frage. »Das bezweifle ich sehr. Aber du
weißt es, John, stimmt’s?«
Ich nickte. Wir hatten Hunderte Stunden auf meine Ausbildung verwendet. Prok hatte mich mit Prüfungsfragen bombardiert, war ungeduldig aufgesprungen, hatte mir den Protokollbogen aus der Hand gerissen und ihn korrigiert, er hatte mir stundenlang über die Schulter gesehen und mich Probeinterviews machen lassen – seine eigene Geschichte muß ich an die fünfzigmal aufgezeichnet haben –, und als ich meine ersten echten Befragungen durchführte, saß er hinter mir wie ein geschnitzter Indianer. Er war, wie gesagt, ein Perfektionist, und für alles gab es für ihn nur eine einzige Methode: die Kinsey-Methode. Ich kann nicht sagen, ob man diesen Charakterzug als Makel bezeichnen soll oder nicht. Seine Methode war erfolgreich, keine Frage, und das auf einem Gebiet, auf dem so viele andere – KrafftEbing, Hamilton, Moll, Freud, Havelock Ellis – zu kurz gegriffen hatten. Doch das kam nicht von ungefähr: Die Ausbildung war eine sehr ernste Angelegenheit. Und auf jeden Fall mußte man über eine ganz bestimmte Persönlichkeit verfügen – über die eines Rekruten wahrscheinlich, vielleicht auch die eines Jüngers –, um sich ihr zu unterziehen.
Prok war hinter seinem Tisch hervorgekommen und ging, die Hände auf dem Rücken gefaltet, in dem engen Büro auf und ab. »Nein«, sagte er schließlich und baute sich vor mir auf, so daß unsere Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt waren. »Nein, ich werde es einfach nicht zulassen.«
Und so begann Prok eine energische Kampagne mit dem Ziel, mich für die gesamte Kriegsdauer an seiner Seite zu behalten. Interessanterweise erkundigte er sich nie nach meiner eigenen Haltung in dieser Sache, sondern nahm einfach an, daß ich hundertprozentig mit ihm übereinstimmte, daß Sexforschung – sein Projekt und die Mehrung menschlichen Wissens – für das Wohlergehen des Landes weit bedeutsamer war als der Sieg in einem Krieg in Europa oder im Pazifik. Er setzte mich nie unter Druck. Er wußte auch nicht, daß ich stundenlang in meinem Zimmer auf der Bettkante hockte und mit Ezra, Dick Martone und ein paar anderen das Für und Wider einer freiwilligen Verpflichtung erörterte: Sollte ich meinen Teil tun und für die Sache der Freiheit alles aufgeben? Letzten Endes fügte ich mich. Das heißt, ich tat nichts und ließ den Dingen ihren Lauf.
Prok schrieb ein Gesuch und erbat sich Empfehlungsschreiben zu meinen Gunsten von President Wells, Robert M. Yerkes vom National Research Council und anderen Besitzern von Macht und Einfluß, erwog aber zugleich sehr ernsthaft eine Verstärkung durch einen zweiten Forschungsassistenten. Dieser zweite Assistent war, wie die meisten bereits wissen, Purvis Corcoran. Er war Psychologe, das habe ich schon erwähnt, jung, auf eine etwas geleckte Weise gutaussehend, kontaktfreudig, ein sexuelles Wunderkind. Er hatte zehn Jahre zuvor das Grundstudium an der University of Indiana absolviert, anschließend in Chicago seinen Abschluß gemacht und arbeitete jetzt auf eine Promotion hin. Er war verheiratet – seine Frau hieß Violet –, hatte zwei kleine Kinder, beide Mädchen. Prok lernte ihn kennen, während ich auf Hochzeitsreise war, nach einem Vortrag vor Sozialarbeitern in South Bend (»die prüdesten und in ihrer Vorstellung von Sex beschränktesten Menschen, die man sich vorstellen kann«). Corcoran hatte sich freiwillig gemeldet, um seine Geschichte beizusteuern, die, milde ausgedrückt, umfangreich war, sowohl in heterosexueller wie in homosexueller Hinsicht. Prok war beeindruckt. So beeindruckt, daß er ihn nach Bloomington einlud, damit er das Institut für Sexualforschung, wie wir unsere beengten Büroräume inzwischen offiziell nannten, besichtigen und sich um eine Stelle bei uns bewerben konnte.
Als ich Iris gegenüber erwähnte, Prok habe Corcoran in Erwartung neuer Mittel vom NRC und der Rockefeller Foundation zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen, war sie sogleich mißtrauisch. »Siehst du denn nicht, daß er dich ersetzen will?« sagte sie. »Er läßt dich fallen, er läßt uns im Stich, und ich werde hier ganz allein sein, während sie dich Gott weiß wohin schicken werden, in eine Wüste in Afrika, damit du gegen diesen Rommel kämpfen kannst oder wie der heißt, gegen irgendeinen Preußen mit Stechschritt, Gewehr und Bajonett.«
Wir fauchten eine postkoitale Zigarette im Nash, den ich an unserer Lieblingsstelle geparkt hatte, mit Aussicht auf einen Steinbruch – geisterhaft aufragende Felsformationen und das stille, dunkle Wasser eines Teichs. »Das stimmt nicht«, sagte ich. »Es hat nichts mit dem Einberufungsbescheid oder dem Krieg oder sonst irgendwas zu tun. Wir brauchen einfach mehr Mitarbeiter, das ist alles.«
Sie schwieg einen Augenblick. »Weißt du eigentlich«, sagte sie
dann, »daß er mir ein Angebot gemacht hat?«
»Wer?«
»Dein Boß.«
»Prok?«
Es war sehr dunkel im Wagen, aber ich konnte erkennen, daß sie
nickte. Wir waren nackt, ihr Geruch hüllte mich ein. Ich legte
einen Arm um sie, zog sie an mich und streichelte ihre Brüste, doch
sie wandte sich ab. »Ja, Prok«, zischte sie. »Er hat ... Als
ich neulich auf dich gewartet habe. Er hat mir gesagt, daß er alle
Hebel in Bewegung setzen wird, damit du zurückgestellt wirst,
Briefe an die Einberufungsbehörde in Michigan City, sogar eine
persönliche Eingabe will er machen, wenn es sein muß, weil dieses
Forschungsprojekt, das weißt du ja, so wichtig für die nationale
Sicherheit und so weiter ist, und ich habe gesagt, daß ich ihm
dafür sehr dankbar bin. Mehr als das. Ich wäre beinahe auf die Knie
gefallen und hätte ihm die Füße geküßt, denn du kennst ja meinen
Standpunkt in dieser Sache – du wirst nicht in diesen Krieg ziehen,
nicht solange ich am Leben bin, John Milk –, und er hat mich
angesehen ... Ich weiß ja, daß du denkst, er ist Gott
höchstpersönlich, vom Himmel herabgestiegen und umschwirrt von
verzückt singenden Engeln, aber es war der kälteste Blick, den ich
in meinem ganzen Leben bekommen habe. Und weißt du, was er dann
gesagt hat, als wären wir dabei, ein Geschäft abzuschließen? Er hat
gesagt: ›Deine Geschichte haben wir noch gar nicht, oder?‹«
»Ja«, sagte ich. »Na und?«
»Na und? Hörst du mir nicht zu?«
»Also, Iris«, sagte ich, und mir sank das Herz, »ich habe dir doch
schon tausendmal gesagt, daß du deine Geschichte aufzeichnen lassen
mußt, weil es ... weil es sonst einen schlechten Eindruck macht ...
Weil es jetzt schon einen schlechten Eindruck macht.«
»Er ist ein Erpresser.«
»Ein Erpresser? Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«
»Red nicht solchen Unsinn, und tu nicht so, als wärst du blind.«
Abermals streckte ich die Hand aus, aber sie rückte von mir ab, bis
ihre Schultern das Seitenfenster berührten. Die Glut der Zigarette
beleuchtete im Dunkeln ihr Gesicht. »Ich werde ihm meine
Geheimnisse verraten, ich werde ihm sagen, was ich noch nie
jemandem gesagt habe, nicht mal dir, und er wird dafür sorgen, daß
du nicht eingezogen wirst.« Sie hielt inne, gerade lange genug, um
ihre Stimme mit Bitterkeit zu durchtränken. »Und wenn ich das nicht
tue – tja, dann heißt es ›Adieu, Johnny‹, nicht?«
Eine Woche später kam Corcoran, allein, ohne seine Frau. Er traf früh an einem Samstag ein, als ich – auf Proks Geheiß – mit Iris irgendwohin unterwegs war. Natürlich wollte Prok wissen, was ich von Corcoran hielt, aber an diesem ersten Tag wollte er ihn für sich allein haben, und ich weiß nicht, was, wenn überhaupt, zwischen ihnen passierte, aber ich bin sicher, Prok war wie immer die Höflichkeit in Person und veranstaltete für Corcoran eine VIP-Tour, die mit einem intimen, von Mac zubereiteten Abendessen im Lebkuchenhaus in der First Street endete. Am Tag darauf, am Sonntag also, waren Iris und ich bei Prok zu einem seiner wöchentlichen »musikalischen Abende«, wie er sie nannte, eingeladen, um in Gesellschaft ausgesuchter Freunde und Kollegen einem von Prok zusammengestellten Musikprogramm zu lauschen, und ausdrücklich auch, um Corcoran kennenzulernen.
Wir kamen ein paar Minuten zu spät. Kein Grund zur Sorge, obgleich Prok mich gebeten hatte, möglichst früh zu kommen, damit ich ein wenig Zeit für Corcoran hatte, bevor die anderen eintrafen. In diesem Fall war es Iris’ Schuld. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie sich umgezogen und geschminkt hatte – es war zum Verrücktwerden. Ich ließ die Rezeptionistin fünfmal anrufen, bis sie schließlich die Treppe herunterkam und durch die Tür trat, die ich so lange und intensiv angestarrt hatte, daß ich schon glaubte, ich könnte sie vermittels reiner Willenskraft öffnen. Ich war ungeduldig, vielleicht auch ein bißchen wütend, aber ich muß zugeben, daß sich das Warten gelohnt hatte: An jenem Abend sah Iris atemberaubend aus, ganz in Schwarz, mit einer Perlenkette (einem Familienerbstück, das ihre Mutter ihr geschenkt hatte), und sie hatte einen besonders intensiv roten Lippenstift aufgelegt, der ihrem Gesicht alle Farbe verlieh, die es brauchte. Ich weiß nicht, was es war – vielleicht die Perlen –, aber sie wirkte wie verwandelt, als wäre sie mit einem Mal fünf Jahre älter und besäße die Finesse einer Dame der Gesellschaft, und Sie werden mir nachsehen, daß ich unwillkürlich an Mrs. Foshay und ihr Savoir-faire dachte.
Als wir eintrafen, waren die meisten anderen Gäste bereits da. Es waren fünfzehn bis zwanzig – Professoren und ihre Frauen, Proks Nachbar, zwei ehrfürchtige Studienanfänger, die sich kaum trauten, die von Prok im Raum verteilten Kristallschüsseln mit Cracker, Nüssen und Schokolade auch nur anzusehen. Mac begrüßte uns an der Tür. »John«, hauchte sie mit ihrer atemlosen Stimme, zog mich an sich und gab mir einen Kuß auf die Wange, »und Iris, wie schön, daß ihr gekommen seid.« Sie ergriff Iris’ Hände und umarmte sie, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen.
Die Umarmung dauerte ein klein wenig länger, als ich für angemessen hielt, und ich begann mich unwohl zu fühlen, als wäre ich dort, in der Eingangshalle, einfach stehengelassen worden. Die Blicke der anderen Gäste richteten sich auf uns. »Aber Mac«, sagte Iris und fixierte ihr Gesicht, als wären die beiden dabei, auf telepathischem Wege Geheimnisse auszutauschen, »du weißt doch, daß ich mir das nie im Leben entgehen lassen würde.« Sie lächelte strahlend, so glücklich, wie ich sie nicht mehr erlebt hatte, seit der Einberufungsbescheid gekommen war. All ihr Ärger über Prok hatte sich in diesem Augenblick in Luft aufgelöst. Und das muß ich ihr lassen: Es war nicht gespielt. »Ihr seid einfach die Besten, wirklich, und wir –John und ich – finden es immer so schön, wenn ihr uns einladet. Das weißt du doch. Ich wollte, wir könnten uns revanchieren ...«
»Macht euch keine Sorgen«, sagte Mac, nahm uns die Mäntel ab und führte uns ins Wohnzimmer, »ihr werdet schon was finden. Prok und mir ist es nach unseren Flitterwochen genauso gegangen, und was wir dann schließlich gefunden haben ... Na ja, für euch käme das heute wahrscheinlich gar nicht mehr in Frage.«
Iris murmelte etwas Freundliches. Ich hatte noch immer nicht den Mut gefunden, mit ihr über Mac zu sprechen, aber ich glaube auch, daß jeder, der einmal in einer ähnlichen Situation gewesen ist, verstehen wird, wie groß die Versuchung ist, die schlafenden Hunde nicht zu wecken. Dann standen wir unter den anderen Gästen, und Mac entschuldigte sich und eilte in die Küche. Ich kannte nicht alle der Anwesenden, obwohl ich schon bei einigen von Proks musikalischen Abenden gewesen war. Die Gästeliste wurde von Mal zu Mal verändert, und so wußte ich nicht, wer Corcoran war. Professor Bouchon vom Lehrstuhl für Chemie und besonders seine Frau, die an Logorrhö zu leiden schien, nahmen uns in Anspruch. Wir wurden getrennt, und ich stand in eine Ecke gedrängt da und nickte in, wie mir schien, angemessenen Abständen, während Mrs. Bouchon mir in erschöpfender Detailliertheit die Defekte des deutschen Charakters und die Entbehrungen schilderte, denen sie während des Krieges, als Mädchen, in Nantes ausgesetzt gewesen war. Iris war am anderen Ende des Raums, hielt ein langstieliges Glas mit einer grünlichen Flüssigkeit (einem von Proks Kräuterlikören) in der Hand und unterhielt sich reserviert mit Professor Bouchon und einem Mann im Flanellanzug, hager und gebeugt und zu alt, um Corcoran zu sein. Erst da fiel mir auf, daß Prok gar nicht da war.
Ein Wort zu den musikalischen Abenden: Prok, der unermüdliche Sammler, besaß über tausend Schallplatten und veranstaltete seit mehr als zehn Jahren diese wöchentlichen Zusammenkünfte, um andere an seinem Reichtum teilhaben zu lassen. Das Niveau dieser Abende war hoch, der Ablauf folgte stets einem geradezu starren Schema: Prok präsidierte, und das tat er so, wie er alles tat. Die Gäste fanden sich ein und ergingen sich, wie wir jetzt, für eine Weile in Gesprächen, anschließend hielt Prok einen Vortrag über die Stücke und die Komponisten, die er ausgewählt hatte, und dann kam die Musik. Man saß im Halbkreis um das Grammophon und sah zu, wie Prok die Schall- platte abwischte, die Kaktusnadel justierte und sie sanft auf die sich drehende Scheibe setzte; darauf folgte ein Augenblick gespannter Erwartung, die Gäste lauschten steif und ausdruckslos dem ersten Knistern und Knacken, bis mit charakteristischem Getöse die Musik einsetzte und alle ihre Konzertposen einnahmen. Die Platten liefen immer auf voller Lautstärke, denn Prok war überzeugt, daß man nur so die Nuancen der Pianissimo-Passagen erfassen und die Komplexität des Zusammenspiels der verschiedenen Instrumente würdigen konnte, und für die Dauer der Symphonie oder des Quartetts oder was immer Prok ausgewählt hatte, mußte absolute Stille herrschen. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem die Frau eines erstmals eingeladenen Gastes sehr unruhig war und ständig auf ihrem Stuhl hin und her rutschte, obwohl Prok ihr einen mahnenden Blick nach dem anderen zuwarf. Der Stuhl quietschte, und sie konnte nicht stillsitzen. Als in der Pause Erfrischungen gereicht wurden, ignorierte Prok sie. Sie wurde, soviel ich weiß, nie wieder eingeladen.
Aber an diesem Abend war es, Corcoran zu Ehren, anders. Die Gespräche vor dem Konzert waren eingehender und lebhafter, als wäre dies eine Einladung zu einem formellen Abendessen und nicht zu einem musikalischen Abend. Ich wollte mich gerade entschuldigen, um Prok zu suchen, als die Tür zur Küche aufschwang und er, die Kristallschüssel von unserer Hochzeitsfeier in beiden Händen haltend, ins Zimmer trat. Hinter ihm stand Corcoran und hielt die Tür auf.
Das erste, was mir an ihm auffiel, war sein Ausdruck – nicht direkt selbstzufrieden, aber überaus entspannt und selbstsicher – und dann seine ganze Physiognomie. Wissenschaftler (nicht wir, sondern andere Erforscher dieses Gebiets) haben herausgefunden, daß wir bei beiden Geschlechtern jene Gesichter am attraktivsten finden, die perfekter Symmetrie am nächsten kommen, und das galt auf jeden Fall für Corcorans Gesicht. Er sah sehr gut aus, keine Frage. Augen, so braun wie eine Kalblederbrieftasche, sandfarbenes Haar, eine vollkommen ebenmäßige Stirn – alles an ihm war so gepflegt und elegant, daß man es als angenehm empfand, einfach nur als angenehm. Man sah ihn an und mochte ihn, und wenn er lächelte und dann etwas sagte, mochte man ihn noch mehr. Das war Corcoran: gutaussehend, charmant, gesellig. Er war etwas größer als der Durchschnitt, ungefähr eins achtzig, und wirkte nicht besonders athletisch; er war irgendwie zu entspannt, zu unbekümmert. Als hinge vor ihm stets ein unsichtbarer Klingelzug, an dem er nur zu zupfen brauchte, um einen ganzen Trupp Diener antraben zu lassen.
Die Schüssel war bis zum Rand mit einer dunkel ockerfarbenen Flüssigkeit gefüllt, auf der drei oder vier leuchtendgrüne Limonenhälften schwammen, und ich erkannte sofort, daß es sich um Proks Spezialversion von Planter’s Punch handelte (2 Teile dunkler Rum, 1 Teil Triple sec, Orangen- und Ananassaft zu gleichen Teilen, Limonensaft, ein Spritzer Grenadine, das alles gut geschüttelt, auf Eis serviert und mit einer Orangenscheibe und einer Maraschinokirsche garniert). Prok wirkte gedankenvoll, als er die Schüssel auf dem Couchtisch abstellte, und dachte offenbar über irgendeine witzige Bemerkung von Corcoran nach, doch dann nahm sein Gesicht wieder den neutralen Ausdruck an, und er konzentrierte sich darauf, die Gläser zu füllen und sie seinen Gästen zu reichen. Corcoran hatte sich mittlerweile zu Dean Briscoe und seiner Frau gesellt und unterhielt sich angeregt mit ihnen; er gestikulierte so gewandt und geschmeidig wie eine aufrecht stehende Forelle. Und dann, gerade als Mrs. Bouchon mir zum dritten Mal erzählte, daß sie sich im Herbst 1917 neun Wochen lang von Steckrüben hatte ernähren müssen, sah ich, daß er Iris bemerkte. Sie stand in einer Ecke und unterhielt sich noch immer mit Professor Bouchon und dem gebeugten Mann, der zu alt war, um Corcoran zu sein, und ich sah, wie Corcoran den Kopf wandte und seinen Blick auf sie richtete.
»Ein Trinkspruch!« rief Prok, obgleich das Glas in seiner Hand beinahe leer war und er vor einem musikalischen Abend noch nie irgendwelche alkoholischen Getränke serviert hatte, nicht einmal einen seiner Liköre. »Auf Purvis Corcoran«, sagte er und erhob das Glas, »einen hervorragenden, talentierten jungen Mann, ganz sicher nicht verklemmt, nicht im mindesten, und wenn ich ihn richtig verstanden habe, ist er willens und bereit, an unserem Projekt mitzuarbeiten ... Das heißt, sofern es uns gelingt, ihn von den kulturellen und ästhetischen Reizen von South Bend wegzulocken.«
Es gab vereinzeltes Gelächter über Proks Versuch, witzig zu sein, und dann tranken wir. Prok führte sein Glas nicht an den Mund, stellte es ab und sah sich um, als suchte er etwas. Ich tupfte meine Lippen mit einer Serviette ab und lächelte Mrs. Bouchon geistesabwesend an. Sie war natürlich eine Langweilerin, aber ich blieb sehr aufmerksam und höflich – das war mein Job, und es entsprach meinem Wesen. Doch nun winkte Prok mich zu sich, und im selben Augenblick löste Corcoran sich von den Briscoes und schlenderte mit eigentümlichen Bewegungen in Richtung meiner Frau. Es war beinahe ein Tanz, und das Wort »schleichen« drückt es nicht annähernd aus – es war ein Gleiten, ja, das war es, er glitt über den polierten Holzboden, als wäre er im Eisstadion.
»Milk«, sagte Prok, »Milk«, und ich murmelte eine Entschuldi- gung und ging zu ihm. »Und Corcoran«, rief er, worauf mein zukünftiger Kollege auf dem Absatz herumwirbelte, als wäre er ein menschlicher Kreisel, den Prok soeben in Bewegung gesetzt hatte. »Ich möchte Ihnen John Milk vorstellen.«
Das Summen der Gespräche war, befeuert durch Proks Rum, wiederaufgelebt. Auch ich spürte ihn als ein unvermitteltes Stimulans, als befände sich eine Klappe an meinem Hinterkopf und als hätte ich den Rum direkt in mein Gehirn gegossen. Im selben Augenblick fiel mein Blick durch das Fenster auf den kahlen Persimonenbaum, der hinter Corcorans großem, glattem Kopf eingerahmt dastand wie das einzige Überbleibsel einer längst vergangenen Feuersbrunst. Corcoran lächelte. Er streckte die Hand aus, der glücklichste, der bestangepaßte und entspannteste Mann der Welt, ein Kaiser in seinem Schlafzimmer. Ich ergriff sie.
»Ich freue mich sehr«, sagte er und schüttelte mir die Hand. »Seit zwei Tagen singt Dr. Kinsey nun schon Ihr Loblied. Ich habe das Gefühl, als würde ich Sie bereits kennen.«
Zwischen uns war Proks Gesicht mit den Falten und den schweren Wangen, den scharf blickenden Augen und der Habichtsnase. Er nickte, er nickte beifällig.
»Ja«, sagte ich und war mir der Berührung seiner Hand bewußt,
»ich auch. Ich meine, ja, ich ... äh ... freue mich auch.«
»Er wird langsam ein erstklassiger Interviewer«, warf Prok ein.
»Und das ist keine kleine Leistung, wie Sie vermutlich feststellen
werden, sobald wir alles unter Dach und Fach haben.«
Ich neigte angesichts dieses Kompliments den Kopf, um anzudeuten,
wie wenig ich es verdiente. Beide Männer musterten mich, als wäre
ich ein seltenes Exponat in einem Museum. »Wirklich, sehr
freundlich, Prok.« An Corcoran gewendet, fuhr ich fort: »Es ist
alles nur eine Frage der Ausbildung. Und Prok ist, na ja ...«
»Da bin ich sicher«, erwiderte Corcoran und sah Prok mit seinem
nüchternsten Blick an.
»Wenn alles unter Dach und Fach ist«, wiederholte Prok
geschäftsmäßig. »Und ich hoffe sehr, daß Sie uns nicht zu lange auf
Ihre Entscheidung warten lassen, Corcoran, denn das Projekt
erfordert Daten, und wir haben noch ein paar andere Bewerber,
lauter sehr fähige Männer, wie Sie selbst.« Wenn die Atmosphäre
etwas Festliches gehabt hatte, so hatte Prok alle Spuren davon
getilgt. Ich spürte, daß er ungeduldig war, daß er zum
musikalischen Teil des Abends kommen und ihn hinter sich bringen
wollte, obwohl er diese Abende als ein Mittel schätzte, sich seiner
emotionalen Seite, die er im Arbeitsalltag immer unterdrückte, zu
überlassen. Und ich spürte auch, daß er Corcoran einstellen,
ausbilden und hinaus in die Welt schicken wollte, damit er Material
sammelte. Er betrachtete uns, während wir uns die Hände schüttelten
und uns ein erstes Bild voneinander machten, und sah nichts als
Daten, Daten, deren Menge um fünfzig Prozent schneller wachsen
würde.
Mac ging mit einem Tablett herum und sammelte die Gläser ein, und
wir setzten uns. Prok bestand darauf, daß Iris und ich in der
ersten Reihe neben Mac Platz nahmen, und angesichts dieses
Arrangements überkam mich einen Augenblick lang Panik. Ich setzte
mich zwischen die beiden Frauen, die sich sogleich über mich hinweg
zueinander beugten und Worte, von denen ich rein gar nichts
mitbekam, wie Vögel hin und her fliegen ließen. Auch Corcoran, der
Ehrengast, saß in der ersten Reihe, und zwar neben Iris. Es wurde
still. Professor Bouchons Frau kehrte von der Toilette zurück und
nahm geduckt am Ende der zweiten Reihe Platz, und eine füllige Frau
mittleren Alters, die ich nicht kannte oder jedenfalls nicht
erkannte, holte ihr Strickzeug hervor und begann mit lautlosen
Lippenbewegungen Maschen zu zählen. Es gab eine kurze
Unterbrechung, in der Prok das Grammophon überprüfte, und ich
beugte mich zu meiner Frau und stellte die beiden eilig einander
vor. »Iris«, flüsterte ich, »das ist Purvis Corcoran – Corcoran,
das ist meine Frau Iris ...« Und dann begann Prok mit seinem
Vortrag.
»Heute abend habe ich einen besonderen Leckerbissen für Sie: zwei
Versionen von Gustav Mahlers wunderbarer, kraftvoller Sym- phonie
Nr. IV in G-Dur, die eine eingespielt von dem unsterblichen Leopold
Stokowski, der das Philadelphia Orchestra dirigiert (einige von
Ihnen werden ihn vom Beginn seiner Karriere mit dem Cincinnati
Symphony Orchestra kennen), die andere von seinem Protege und
Nachfolger Eugene Ormandy, einem Neuling sozusagen.« Prok fuhr in
seinem Vortragsmodus mit einer kurzen Biographie Mahlers fort,
zählte die bekannten, in den USA oder Europa gemachten Aufnahmen
auf und verglich Stokowskis Stil mit dem von Ormandy. »Und nun«,
sagte er, »werde ich Ihnen die Sätze im Wechsel vorspielen,
Stokowski für den ersten und dritten Satz, Ormandy für den zweiten
und vierten.« Sein zu großer Kopf wirkte wie eine reifende Frucht,
aus Gründen der Balance waren seine Beine leicht gespreizt, und mit
der Rechten gestikulierte er. »Den abschließenden Satz werden Sie
dann aber auch in der von Stokowski dirigierten Version hören.
Dieser Satz enthält das berührende Sopransolo Wir genießen die
himmlischen Freuden‹, gesungen von« – er nannte zwei Sängerinnen,
die mir vollkommen unbekannt waren –, »aber ich möchte, daß Sie
sich nicht von den Unterschieden im Timbre der beiden Stimmen
ablenken lassen, sondern sich voll und ganz auf die Tempoauffassung
des jeweiligen Dirigenten konzentrieren, ja?«
Es erhob sich ein zustimmendes Gemurmel, das ihn zufriedenzustellen
schien. Er faltete kurz die Hände in einer Geste des Gebets oder
wohl eher der Beschwichtigung und wandte sich dann ab, um die
Schallplatte aufzulegen. Mit einem Ruck, gefolgt von Rauschen und
drei deutlichen Knacksern, setzte die Nadel auf, und dann erklang
Mahler in voller Lautstärke.
Nach dem Konzert blieben wir noch etwa eine halbe Stunde (auch
hierin unterschied sich dieser Abend von den anderen, denn sonst
hatte Prok irgendwann eine Pause verkündet und das Programm mit
einigen leichten Stücken beschlossen). Wir standen in kleinen
Gruppen herum, tranken Kaffee und sprachen über die Musik und
darüber, wie groß die Unterschiede zwischen der Auffassung der
beiden Dirigenten waren – jedenfalls wenn sie durch eine
Demonstration wie diese deutlich gemacht wurden. Ich hatte sehr
gehofft, Iris mit dem Nash irgendwohin entführen zu können, aber es
war schon spät, und ich mußte morgen zur Arbeit und sie ins
Seminar, also stand ich dumm herum, in der einen Hand eine Tasse
Kaffee, in der anderen ein Löffelbisquit, wieder mal in die Ecke
gedrängt von Professor Bouchon und seiner Frau, die sich lobend
über die soeben gehörte Musik äußerten. Da ich von klassischer
Musik nur das wußte, was ich mir aus Proks Bemerkungen
zusammengereimt hatte, hörte ich eigentlich bloß zu, während
Professor Bouchet sich in Erinnerungen an einen Abend erging, an
dem er Stokowski am Pult erlebt hatte – entweder in Philadelphia
oder in New York, er wußte es nicht mehr genau –, und seine Frau
darauf hinwies, daß die Deutschen zusammen mit dem Familienklavier
auch all ihre Freude an der Musik zerstört hätten.
Auf der anderen Seite des Raums machten sich Iris und Corcoran
miteinander bekannt. Corcoran hatte Prok irgendwie überredet,
jetzt, zu angemessen vorgerückter Stunde, das Tablett mit seinen
Likören hervorzuholen, und ich sah, daß er sich vorbeugte und eine
urinfarbene Flüssigkeit in ihren Kaffee goß. Das Konzert hatte ihr
nicht gefallen. Dessen war ich mir sicher. Sie behauptete stets,
Proks Angewohnheit, die Stücke klinisch zu sezieren, beraube sie
all ihres Gehalts, und im Lauf der Jahre wurden diese musikalischen
Abende für sie immer mehr zu einer lästigen Pflicht. Doch an diesem
Abend stand sie mit Corcoran im Halbdunkel der gegenüberliegenden
Ecke, eingerahmt von den glatten schwarzen Flächen der Möbel und
den dunklen Schlieren auf der Wand, und schien sich großartig zu
unterhalten.
Woher ich das wußte? Ihre Körperhaltung und ihr Gesicht verrieten
es mir. Ich kannte ihr Gesicht besser als mein eigenes, und daran,
daß ihre Augen größer wurden und sie beim Sprechen die Lippen
spitzte (was sagte er zu ihr, was war daran so faszinierend?), sah
ich, daß sie ganz bei der Sache war. Und dann war da noch die Art,
wie sie den Kopf beim Lachen zur Seite neigte, wie sie unbewußt an
ihrem rechten Ohrring zupfte und von einem Fuß auf den anderen
trat, als hätte der Boden unter ihren Füßen Feuer gefangen.
Körpersprache. Ich hatte sie notwendigerweise gelernt. Ob ich
eifersüchtig war? Kein bißchen, noch nicht. Warum hätte ich
eifersüchtig sein sollen? Ich liebte sie, und sie liebte mich,
daran gab es keinen Zweifel – und den hat es auch bis heute nie
gegeben –, und der ganze Rest war, wie ich von Prok gelernt hatte,
nichts weiter als eine Körperfunktion, reine Physiologie, Stimulus
und Reaktion. Ich hörte Professor Bouchet und seiner Frau höflich
zu, nickte und lächelte, wenn es angebracht schien, und
entschuldigte mich dann, um den Raum zu durchqueren, meine Frau zu
holen, mich bei den Gastgebern zu bedanken und hinaus in die Nacht
zu gehen.
Der Heimweg war ... Na ja, man könnte ihn als anregend bezeichnen. Nicht im sexuellen Sinne (wie gesagt, in jener Nacht genossen wir nicht den Luxus sexueller Stimulation), sondern in emotionaler Hinsicht. Zuerst fummelten wir an unseren Mantelknöpfen herum, schlugen gegen den Wind die Kragen hoch, drückten uns aneinander und eilten die Straße entlang, ohne ein Wort zu sagen. In der Luft lag ein Geruch, der von Winter kündete, von kalten, mit Felsen übersäten kanadischen Weiten und den steifgefrorenen Fellen Hunderttausender von Tieren, die sich da über die Tundra schoben, und der Himmel über uns war offen, das Sternengesprenkel von Horizont zu Horizont war wie das weiße Blut der Nacht. Ich hatte Lust, noch irgendwo etwas zu trinken, wußte aber, daß Iris dem nicht zustimmen würde – absurderweise galt für sie, obwohl verheiratet, noch immer die Hausordnung des Wohnheims, wo die Rezeptionistin die Sperrstunde überwachte –, und so sagte ich statt dessen das erste, was mir durch den Kopf schoß. »Und Corcoran? Was hältst du von ihm?«
Sie hatte den Kopf gesenkt, die Schultern nach vorn gezogen, eine Hand am Kragen, und sie ging mit raschen Schritten. »Ach, ich weiß nicht«, sagte sie. »Er scheint ganz in Ordnung zu sein.«
»In Ordnung? Ist das alles?«
Meine Hände waren kalt. Ich hatte nicht daran gedacht, Handschuhe
mitzunehmen, denn der Winter hatte ja noch gar nicht richtig
begonnen. Ich hakte mich bei ihr unter und zwängte die rechte Hand
in meine Manteltasche. Die Linke steckte ich in die Hosentasche,
auch wenn es sich seltsam anfühlte, so unausgewogen zu laufen. Vor
uns raschelte dürres Laub im Wind. Hinter uns hörten wir die
Fehlzündung eines Motors, die anderen Gäste brachen ebenfalls auf.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Überzeugend vielleicht.«
»Überzeugend? Wie meinst du das?«
»Er kann gut reden. Sehr gewandt. Er wird bestimmt mal ein
umwerfender Interviewer.«
»Höre ich da einen leisen Anklang von Sarkasmus?«
Sie wandte mir ihr Gesicht zu, ein kaltes, blasses Oval aus
reflektiertem Licht, dann sah sie wieder auf ihre Füße. »Nein, gar
nicht«, sagte sie. »Ich denke nur praktisch. Er ist ideal. Er wird
dich ersetzen, ohne daß es auch nur –«
»Er wird mich nicht ersetzen.«
»Ist dir aufgefallen, wie Kinsey ihn angesehen hat?«
Ich zitterte. Der Mantel war zu dünn, und der Wind stach durch
meine Hose. Ein Schauer überlief mich. Ich sah Corcorans Gesicht,
sah Prok, der sich den ganzen Abend nie weit von ihm entfernt
hatte, so stolz, als hätte er ihn persönlich zur Welt gebracht, und
im selben Augenblick wußte ich, daß zwischen ihnen etwas war,
nämlich dasselbe wie zwischen Prok und mir. Es kam über mich: Mit
einem Mal war ich wütend. Eifersüchtig. »Na und?« sagte ich. »Was
geht mich das an? Ich sage dir doch, wir brauchen mehr
Mitarbeiter.«
Iris erwiderte nichts. Unter unseren Füßen knisterten die Blätter.
Dann sagte sie: »Aber er ist wirklich überzeugend.«
»Tatsächlich«, sagte ich, und ich dachte an nichts, an gar nichts.
»Wovon hat er dich denn überzeugt? Das würde ich gern wissen.
Wirklich.«
Wir waren am Ende des Blocks angekommen und bogen nach rechts in
Richtung Campus ab. Der Wind fegte ungehemmt um die Ecke. Zwei
Autos fuhren vorbei, so dicht hintereinander, als würde das zweite
abgeschleppt. Sie überrollten einen Ast, den der Wind auf die
Straße geweht hatte – ein Krachen wie von mehreren kleinen
Explosionen. »Meine Geschichte beizusteuern«, sagte Iris. Ich
dachte, ich hätte sie nicht richtig verstanden, und fragte:
»Was?«
»Meine Geschichte beizusteuern. Bei Kinsey.«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Seit Monaten hatte ich ihr in
den Ohren gelegen, und nun hatte sie dieser Neue – dieser
überzeugende Mensch, dieser Corcoran – in wie viel ... ? in
zehn Minuten rumgekriegt? »Gut«, sagte ich wie betäubt. »Das ist
gut. Aber wie ... Ich meine, warum hörst du auf ihn, wenn dein
eigener, na ja, dein eigener Mann dich nicht überzeugen kann? Und
nach so langer Zeit?«
Die Rücklichter der beiden Wagen vor uns entfernten sich. Am Campus
bogen sie beide nach rechts in die Atwater Street ein und waren
verschwunden. »Aus seinem Mund klang alles ganz vernünftig«, sagte
sie. »Für den Erfolg des Projekts, wie du immer gesagt hast. Seine
Frau hat schon einen Termin für ein Interview – also, wenn du das
nächste Mal nach South Bend fährst... Wer weiß, vielleicht machst
du ja ihre Befragung. Wäre das nicht toll? Dann bleibt es in der
Familie.«
»Worauf willst du hinaus? Das ist doch nichts Schlimmes ...«
»Kinsey hat gesagt, er verschafft ihm eine Zurückstellung.«
Wir gingen schweigend weiter. Natürlich würde Prok ihm eine
Zurückstellung verschaffen. Mir ebenfalls, aber das diente dem
Projekt und hatte nichts damit zu tun, ob unsere Frauen ihre
Geschichte beisteuerten oder nicht. Ich hätte hocherfreut sein
sollen. Es war Corcorans erster Tag bei uns, und er hatte Iris
überzeugt, um des Teamgeists willen mitzumachen, und das war
wunderbar, das war großartig, lobet den Herrn, doch ich war nicht
hocherfreut, sondern sauer. »Das hat nichts damit zu tun«, sagte
ich.
Vor uns ragten die Universitätsgebäude auf. Hier und da brannte
noch Licht, und in der Schwärze der Nacht bildeten diese
beleuchteten Fenster ein unregelmäßiges Muster. Der erfrorene Rasen
und dürres Laub knirschten unter unseren Schritten. »Was ist mit
Mac?« sagte sie dann.
»Mac?« wiederholte ich. Ich verstand nicht, worauf sie
hinauswollte. »Wie meinst du das? War Mac auch dabei? Hat sie dich
auch überzeugt – oder dabei geholfen? Meinst du das?«
»Nein. Mac als Ehefrau. Als eine aus dem engsten Kreis. Jetzt wird
der engste Kreis aus drei Männern und ihren Ehefrauen bestehen –
wenn ich Prok meine Geschichte erzähle und wenn er
dir eine Zurückstellung verschafft.«
»Das wird er«, sagte ich, nur um etwas zu sagen, um das Gespräch in
Gang zu halten. »Ich meine, er hat schon Briefe geschrieben. Er tut
sein Bestes.«
»Aber was ist mit Mac?« wiederholte sie. Wir steuerten auf das
Studentinnenwohnheim zu. Unter dem Bogen des Eingangs standen
Gestalten, Pärchen drückten sich in die Schatten, und aus den
Fenstern der Zimmer in den oberen Etagen strahlte Licht, als wäre
alles Leben auf dem Campus hier konzentriert. Und so war es ja
auch. Jedenfalls um diese Uhrzeit.
»Was soll mit ihr sein?«
Plötzlich riß Iris sich los und beschleunigte ihre Schritte. »Du
hast mit ihr geschlafen«, sagte sie. »Sie hat mir alles erzählt.«
Das Licht aus der Reihe der Fenster über uns lag auf ihrem Gesicht
und ihrem Haar, es versilberte die Schultern des Mantels und die
dunkle gewellte Hutkrempe. »Sie hat’s mir gesagt«, sagte sie, und
es war etwas in ihrer Stimme, eine Mischung aus Wut und
Verzweiflung, die ihr die Kehle zuschnürte, »und du hast mich
angelogen.« Sie fuhr herum und baute sich vor dem Eingang auf.
»Du«, sagte sie. »Du, John Milk. Mein Ehemann.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich hätte eine Rede halten
müssen, ich hätte stunden-, tagelang Zeit haben müssen, ich hätte
ein ganzes Gebäude aus philosophischen Versatzstücken errichten und
Punkt für Punkt erläutern müssen, doch bis zur Sperrstunde blieben
uns nur mickrige zehn Minuten. »Ich wollte dich nicht... nicht
überraschen«, sagte ich. Das war das Beste, was mir einfiel.
»Oder ... oder dich verletzen, ich meine, wenn –«
»Lügner.« Sie spuckte mir das Wort vor die Füße. Köpfe wandten sich
zu uns um. Für einen kurzen, harten Augenblick lösten sich die
Pärchen in den Schatten aus ihren Umarmungen. »Du bist ein Lügner«,
sagte sie, drehte sich um, ging die Treppe hinauf und trat ins
Licht, und ich stand da und sah zu, wie sie die Tür aufriß und
hinter sich zuknallen ließ.
Eine Woche später vereinbarte Iris einen Termin bei Prok und gab ihm ihre Geschichte. Wenn ich mich recht entsinne, regnete es in jenem Herbst ungewöhnlich viel, und der Winter setzte früh ein. Alles war wie erstarrt, die Wochen verschmolzen miteinander, und dann schrieb Corcoran, er nehme Proks Angebot an, und die Japaner stiegen eine Stunde vor Sonnenaufgang in ihre Maschinen und fielen über Pearl Harbor her. Und dann war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war.
10
Nach dem, was ich bereits über mich selbst enthüllt habe, wird es Sie kaum überraschen, daß ich bei der ersten Gelegenheit (Prok war allein weggefahren, um vor einer Bürgervereinigung in Elkhart zu sprechen und im benachbarten South Bend Violet Corco-rans Sexualgeschichte aufzuzeichnen) an den Aktenschrank ging und zwei Geschichten heraussuchte, die für mich von besonderem Interesse waren: Corcorans und die meiner Frau. Darf ich Ihnen auch anvertrauen, daß ich nicht die leisesten Skrupel oder Schuldgefühle hatte? Nein, diesmal nicht. Nicht mehr. Prok war nicht da, und nur er hätte mich davon abhalten können, sonst niemand. Innerhalb einer Stunde hatte ich Proks neuen, wasserdichten Code geknackt. Ich nahm die Unterlagen aus dem Schrank und legte sie nebeneinander vor mich auf den Schreibtisch.
Es war kurz vor den Weihnachtsferien, das ganze Land steigerte sich in eine Kriegshysterie hinein. Prok war bereits besorgt, weil Benzin, Reifen und alles mögliche andere, wie es hieß, bald rationiert sein würden, und kündigte an, daß wir in Zukunft öfter mit dem Zug fahren müßten, mit dem Zug und dem Bus. Alle waren so abgelenkt, so schockiert und empört über die Ereignisse des 7. Dezember, daß Weihnachten unwichtig geworden zu sein schien – wer konnte schon an den Weihnachtsmann denken, solange Tojo und Hitler die Welt unsicher machten? Wenn ich mich recht erinnere, herrschte eine Kältewelle, die Stadt hatte die Farbe von Muschelschalen, für den Nachmittag waren Schneeschauer vorausgesagt, und ich war früh ins Büro gegangen und hatte einiges zu erledigen: Ich mußte zahllose Daten tabellieren, Kurven und Grafiken zeichnen und die Korrespondenz erledigen, auch wenn diese damals nichts war im Vergleich zu der Flut von Briefen, die wir – eigentlich hauptsächlich Prok – beantworten mußten, nachdem wir 1948 unsere Forschungsergebnisse veröffentlicht hatten. Von da an erhielt Prok jährlich unzählige Briefe von wildfremden Menschen, die Rat suchten, sich Hilfe bei sexuellen Problemen erhofften, ihre Dienste als Hilfswillige anboten und freizügige Fotos und Tagebücher, erotische Kunstwerke, Godemiches, Handschellen, Peitschen und dergleichen schickten. Ich erinnere mich an einen Brief von einem Anwalt, dessen Mandant angeklagt war, »widernatürliche Unzucht mit einem Schwein (Analverkehr)« getrieben zu haben, und der von Prok ein Gutachten über die statistische Häufigkeit solcher Akte mit Tieren erbat (6 Prozent der Gesamtbevölkerung, 17 Prozent der männlichen alleinstehenden Landbevölkerung). Prok lehnte ab. Höflich.
Jedenfalls beugte ich mich über den Schreibtisch, während in einem hinteren Winkel meines Kopfes ein Weihnachtslied herumspukte (Iris und ich waren am Abend zuvor in einem Chorkonzert gewesen), auf dem Korridor einer von Proks Kollegen sich räusperte oder die Nase putzte und Sekretärinnen in hochhackigen Schuhen vorbeiklackerten, daß es sich anhörte, als würden kleine Lokomotiven über die Schienen einer Modelleisenbahn rattern. Ich nahm mir zuerst Iris’ Geschichte vor, und wie ich vermutet hatte, gab es hier keine Überraschungen. Erst mit siebzehn, als sie bereits auf dem College war, fand sie heraus, was das Wort »masturbieren« überhaupt bedeutete, und dann war sie so gehemmt, daß sie es nur zwei- oder dreimal ausprobierte, ohne zum Orgasmus zu kommen. Sie hatte sowohl manuelle als auch orale Stimulation der Brüste durch andere Männer – Jun- gen – erfahren, aber bis zu ihrer Verlobung und Heirat weder Petting noch Koitus. Sie verfügte über begrenzte sexuelle Erfahrungen mit dem eigenen Geschlecht, und die lagen weit zurück, in ihrer Kindheit, sie hatte keinerlei sexuelle Kontakte mit Tieren und nur wenige Phantasien. Sie hatte niemals irgendwelche Objekte benutzt und (bis jetzt) niemals das männliche Glied in den Mund genommen.
Es gab in ihrer Geschichte nichts, was ich nicht schon hundertmal gehört hatte, und ich fragte mich, warum sie sich gesträubt hatte, ihre Geschichte beizusteuern – wirklich, sie war ganz und gar nicht ungewöhnlich –, und dann fragte ich mich, ob es vielleicht genau daran lag, daß sie sich schämte, so wenig vorweisen zu können. Als wäre uns nur an den extremen Fällen gelegen, an den Sexathleten, den Promiskuitiven und Verwöhnten, an denen, deren Werte weitab vom statistischen Mittel lagen. War das möglich? Oder lag die Ursache tiefer, in einem Widerstand gegen die Idee des Forschens an sich? In einem Widerstand gegen Prok? Gegen mich? Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, als würde mein Herz brechen: Es war ihr nicht leichtgefallen, und sie hatte es für mich getan, nur für mich – wenn sie mich nicht lieben würde, hätte sie ihre Geschichte niemals preisgegeben. Es entsprach einfach nicht ihrem Wesen. Vielleicht starrte ich eine Zeitlang aus dem Fenster auf die verschlossene graue Krypta des Himmels, vielleicht sprach ich ihren Namen laut aus: Iris. Nur dieses eine Wort: Iris.
An dem Tag, als sie in unser Büro kam, war sie so nervös, so angespannt, so schüchtern und verletzlich und schön. »Hallo, Dr. Kinsey«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Und hallo, John.« Ich wußte, daß sie kommen würde, und war selbst sehr aufgeregt, den ganzen Tag schon. Stunden vor dem vereinbarten Termin war ich jedesmal, wenn ich Schritte auf dem Korridor gehört hatte, unwillkürlich auf meinem Stuhl hin und her gerutscht und hatte zur Tür gesehen. Ich dachte, ich sei bereit dafür, bereit, diese Sache hinter uns zu bringen wie ein letztes Hochzeitsritual, wie eine Impfung oder den für die Heiratserlaubnis erforderlichen Test auf Geschlechtskrankheiten, doch obwohl ich andauernd auf die Uhr sah und mein Magen sich anfühlte, als hätte ich seit einer Woche nichts gegessen, war ich, als sie dann kam, beinahe überrascht, sie zu sehen. Ich hatte an einer für meine Verhältnisse reichlich komplizierten Berechnung gearbeitet (Standardabweichung vom Durchschnitt bei stichprobenartig ausgewählten Männern, die von nächtlichen Samenergüssen berichtet hatten), und sie war lautlos wie eine Katze eingetreten. Ich sah auf, und da war sie, mit hängenden Schultern, elfenhaft, in ihrem Mantel versunken wie ein Kind, Handschuhe, Hut, ein flüchtiges, blasses, aufgeregtes Lächeln auf den Lippen. Prok und ich erhoben uns gleichzeitig, um sie zu begrüßen.
»Iris, kommen Sie, kommen Sie.« Proks Stimme troff vom süßen Schmelz seines gewinnendsten Interviewertons. »Warten Sie, lassen Sie mich Ihren Mantel nehmen – furchtbar kalt draußen, nicht?«
Iris bestätigte es. Sie lächelte mir zu, als sie den Mantel ablegte und Prok um sie herumwuselte, begierig, eine neue Geschichte aufzuzeichnen. Ob sie unschlüssig wirkte, vielleicht sogar ein bißchen benommen? Ich glaube schon. Doch mir blieb gar keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Prok wandte sich sogleich an mich und sagte: »Ich könnte mir vorstellen, daß du heute etwas früher gehen möchtest, Milk. Oder besser noch: Vielleicht möchtest du unten, in der Bibliothek, weiterarbeiten.«
Und dann Corcoran.
Doch Corcorans Geschichte – und sie war, wie gesagt, sehr
umfangreich, er war der sexuell aktivste Proband, der uns bisher
begegnet war – ist an diesem Punkt vielleicht nicht so wichtig wie
der Fortgang der Szene mit Iris auf der Treppe vor dem Wohnheim,
denn die war von großer Bedeutung für dies und alles, was noch
kommen sollte. Sie nannte mich einen Lügner. Ließ die Tür zuknallen
und mich in der Kälte stehen. Die anderen Studentenpärchen
schlichen an mir vorbei wie Phantome. Ich war mit zwei Tatsachen
konfrontiert: Mac hatte ihr alles erzählt, und sie hatte es
höchstwahrscheinlich die ganze Zeit gewußt – bei unserer
Versöhnung, bei unserer Hochzeit, während der Flitterwochen, an den
intimen, verbummelten Sonntagnachmittagen im Sommer, im Herbst –
und dennoch nie ein Wort darüber verloren. Sie hatte mich
beobachtet wie eine Spinne und auf ihre Gelegenheit gewartet. Und
die hatte sich nun geboten. Die Tür knallte hinter ihr zu, das Haus
verschluckte sie, und ich stolperte wie ein Invalide über den
Campus, bis ich ein Münztelefon fand und im Wohnheim anrief.
Es meldete sich die Rezeptionistin. »Bridget?« sagte ich. »Hier ist
John Milk. Kannst du Iris an den Apparat holen?«
»Klar«, sagte sie, doch ihre Stimme war kalt und distanziert, und
ich fragte mich, wieviel sie wußte. Der Hörer wurde mit einem
Klatschen, das wie Fleisch auf Fleisch klang, abgelegt, und dann
hörte ich nur noch Rauschen. Nach einigen Sekunden vernahm ich
vertraute Geräusche: entfernte Schritte, ein Kichern, die Stimme
eines Mannes. »Gute Nacht«, sagte ein anderer, und eine weibliche
Stimme bat: »Noch einen Kuß.«
Als Iris schließlich den Hörer aufnahm – nach zwei Minuten oder
zehn, ich hätte es nicht sagen können –, klang sie, als spräche sie
mit einem Fremden, einem unerwünschten Anrufer, mit jemandem, der
ihr etwas verkaufen wollte. »Was willst du?« fuhr sie mich an.
»Ich will bloß ... also ... ich will bloß reden ... das heißt, wenn
du ...«
»Was hast du dir dabei eigentlich gedacht?« sagte sie, und jetzt
klang sie schon besser, jetzt klang sie wieder wie Iris – wütend
zwar, aber irgendwie auch ergeben. »Hast du gedacht, ich bin blöd
oder was? Oder blind? Hast du das gedacht?«
»Nein, hab ich nicht. Es war nur so, daß ich ... Na ja, ich fand
eigentlich nicht, daß ich irgendwas falsch gemacht hatte, und ich
wollte nicht, daß du dich aufregst, das war alles. Es war das
Projekt. Das menschliche Säugetier. Es gibt nichts, wofür man sich
schämen müßte, gar nichts.«
Sie schwieg. Ich lauschte dem Blitzkrieg der statischen
Elektrizität. Iris befand sich auf der anderen Seite des
Rasengevierts, doch sie hätte ebensogut tausend Meilen entfernt
sein können.
»Hör zu, Iris«, sagte ich, »du mußt versuchen, diese antiquierten
Vorstellungen über ... na ja, über freiwillige Beziehungen
zwischen erwachsenen Menschen abzulegen. Wir leben in modernen
Zeiten, und wir sind Wissenschaftler oder wollen es jedenfalls
sein, und all dieser Aberglaube, diese Ängste und
Schuldzuweisungen, all diese gesellschaftliche Ächtung hemmt uns,
als Gesellschaft, meine ich. Verstehst du das nicht?«
Ihre Stimme klang, als hätte sie gar nicht zugehört. Es war eine
kleine Stimme, die an den Rändern bebte. »Und Prok?«
»Was soll mit Prok sein?« fragte ich.
»Du und Prok?«
Ich stand in einer Telefonzelle, in gelbes Licht getaucht. Es war
kalt. Der Wind rüttelte an der Falttür und drang durch die Ritzen.
Ich bin sicher, daß ich zitterte, aber ich sprach mit Iris, mit
meiner Frau, und ich mußte alles auf den Tisch legen, ich mußte von
nun an offen und ehrlich sein, sonst war diese Ehe zum Scheitern
verurteilt, das war mir jetzt klar. »Ja«, sagte ich.
Ihre Reaktion überraschte mich. Sie fiel nicht über mich her, sie
rief nicht: »Wie konntest du nur?«, sie wollte nicht wissen, wann
und wie oft, sie fragte mich nicht, ob ich ihn liebte oder er mich
oder wie sie und Mac da hineinpaßten, und sie benutzte keines jener
ekelhaften Wörter, mit denen andere so schnell bei der Hand sind:
Schwuchtel, Tunte, Perverser. Sie sagte nur: »Ich verstehe.«
Was empfand ich? Scham? Ein wenig. Erleichterung? Ja, sicher, aber
sie war so schwächlich wie der Draht, der unsere Stimmen durch die
Nacht transportierte. »Ich liebe dich«, sagte ich. »Dich und
niemand sonst. Der Rest ist bloß –«
»Eine Körperfunktion?«
»Iris, hör mir zu. Ich liebe dich. Ich will dir ins Gesicht sehen,
denn das hier ist nicht... Wir sollten nicht am Telefon ...«
»Mac«, sagte sie, und ich war mir nicht ganz sicher – die
Verbindung war schlecht –, aber in ihrer Stimme war ein Kummer,
dessen Schärfe etwas vom Augenblick abschnitt und mir das Gefühl
gab, sie werde gleich in Tränen ausbrechen. »Mac und ich haben
geredet. Sie ist wie eine Mutter, aber das weißt du ja, nicht? Sie
hat mir dasselbe gesagt wie du: daß es nichts bedeutet, überhaupt
nichts. Es sind bloß Tiere, die sich aneinanderreihen.«
»Iris«, sagte ich, »ich liebe dich.«
Es trat eine lange Stille ein. Als sie schließlich sprach, war ihre
Stimme beinahe unhörbar. »Und Prok und ich?« flüsterte sie. »Ist es
das, was du willst?«
Ich hätte aus Zellulose sein können, aus Holz, ein Bildnis von John
Milk, das jemand an einem stürmischen Herbstabend in einer
Telefonzelle am Rand des Rasengevierts aufgestellt hatte. Man hätte
Nägel in mich schlagen können, man hätte mich versengen und mit
allen möglichen Werkzeugen an mir herumschnitzen können – ich
spürte nichts. »Nein«, sagte ich. »Nein, das will ich nicht. Das
ist nicht das ... Du sollst nichts tun, was du nicht willst.«
»Aber ich gebe ihm meine Geschichte, oder nicht? Warum nicht auch
den Rest von mir?« Eine Pause. Der Wind schüttelte die
Telefonzelle. »Es bedeutet doch nichts, oder?«
Ich war aus Holz. Ich konnte nicht sprechen.
»John? John, bist du noch da?«
»Ja.«
»Dein ... wie soll ich ihn nennen? Dein Kollege Corcoran ...« Ein
neuer Ton hatte sich in ihre Stimme geschlichen, ein Ton, der mir
gar nicht gefiel. »Er schien sehr interessiert. Hast du ihn gesehen
heute abend? Ja? Er hat wie eine Klette an mir gehangen.«
Und so machte ich mich über Corcorans Geschichte her. Das heißt,
nachdem sich alles wieder ein bißchen beruhigt hatte, nachdem Iris
und ich hundertmal darüber gesprochen hatten, nachdem wir das
Gelübde, das wir vor dem Friedensrichter abgelegt hatten, noch
einmal bestätigt und auf dem Rücksitz des Nash miteinander
geschlafen und all unser Geld zusammengekratzt hatten, um eine
Anzahlung auf eine erste gemeinsame Wohnung zu leisten, denn das
alles war unerträglich, diese Trennung, diese Sehnsucht, diese
Mißverständnisse. Jetzt war alles in Ordnung, und das würde
es auch bleiben – soweit ich das an diesem wie ausgehöhlten
Dezembermorgen sagen konnte, an dem Prok nicht da war und ich mir
die Unterlagen vornahm, um zu sehen, was für ein Mensch Corcoran
war. Was soll ich sagen? Ich saß im Licht der Lampe da und fuhr mit
dem Finger über den Interviewbogen, registrierte Akte, Alter,
Häufigkeiten und rekonstruierte ein sich ständig erweiterndes
Szenario voll Experimentierlust und sexuellem Draufgängertum. Was
die sexuelle Erfahrung betraf, war Corcoran tatsächlich das
Gegenteil von mir. Er war früh gereift und hatte sich das zunutze
gemacht, er war genau die Art von Person, die wir später als
»hochaktiv« bezeichneten und die zeit ihres Lebens mehr sexuelle
Kontakte mit mehr Partnern haben als der Durchschnitt – und weit
mehr als die »minderaktiven« am anderen Ende der Skala.
Corcoran war in Lake Forest aufgewachsen, als Sohn eines
Professors, der später, als Corcoran vierzehn war, mit der ganzen
Familie nach South Bend zog, um einen Ruf an die Notre Dame
University anzunehmen. Corcorans Vater war katholisch, ging aber
kaum zur Kirche, und seine Mutter war Unitarierin und eine Art
Freigeist. Man war zu Hause nackt herumgelaufen, denn beide Eltern
waren eine Zeitlang Nudisten gewesen, was der Vater sorgfältig vor
seinen Vorgesetzten verbarg, ebenso wie Prok sein Privatleben vor
den Blicken seiner Kollegen schützen mußte. Corcoran konnte sich
erinnern, als kleines Kind Erektionen gehabt zu haben, und seine
Mutter hatte ihm versichert, die habe er schon als Säugling gehabt
– sie habe darüber immer Witze gemacht und gesagt, er sei wie ein
kleiner Zinnsoldat gewesen, der immer in Habtachtstellung gegangen
sei, wenn sie ihm die Windeln gewechselt habe –, und obgleich das
ungewöhnlich ist, hat unsere Erforschung der kindlichen Sexualität
ergeben, daß ein solches Verhalten – insbesondere bei hochaktiven
Menschen – keineswegs anormal ist. Mit elf hatte er seinen ersten
Orgasmus, danach beteiligte er sich mit Begeisterung an
Aktivitäten, die man umgangssprachlich als »Rudelwichsen«
bezeichnen würde. Die anderen Teilnehmer waren Jungen aus der
Nachbarschaft, und das alles fand zuerst in Lake Forest und dann in
South Bend statt, wo Corcoran anscheinend Initiator diverser
sexueller Aktivitäten mit Mädchen und anderen Jungen war.
Den ersten Koitus hatte er mit vierzehn, in einem Sommerhäuschen an
einem der Seen auf der Michigan-Halbinsel. Offenbar waren in dieser
Gegend eine ganze Reihe von Häusern an Gleichgesinnte – das heißt
Nudisten – vermietet, und Corcoran und seine beiden Schwestern
liefen den ganzen Sommer hindurch unbekleidet herum,
»braungebrannt«, wie er später sagte, »bis in die letzte Ritze«.
Seine Tante, die Schwester seiner Mutter, führte ihn ein, und dann
machte er mit der sechzehnjährigen Tochter eines anderen
Sommergasts weiter und probierte jede Form von Triebbefriedigung
aus, die ihm einfiel. Er stellte fest, daß er, wie er gern sagte,
ein Talent für Sex besaß und diese Aktivitäten mehr genoß als alle
anderen, die er kannte, und so dauerte es nicht lange, und er
verlor alles Interesse an jungenhaften Vergnügen wie Baseball,
Forellenfischen, Kinofilmen und Abenteuerromanen; er widmete sich
beinahe ganz und gar der Befriedigung seiner Triebe, und zwar auf
so viele verschiedene Arten und mit so vielen verschiedenen
Partnern wie möglich. Violet, seine spätere Frau, lernte er auf dem
College kennen. Wie er war sie von Anfang an geradezu begeistert
von Sex. (Zu diesem Zeitpunkt existierte sie für mich nur als
Vorstellung, und ich muß gestehen, daß der Gedanke, ihr Interview
zu transkribieren, mich erregte.) Sie hatten zwei Kinder, sieben
und neun Jahre alt, beides Mädchen. Gelegentlich luden sie andere
Paare ein, und dann hatte Corcoran Sex sowohl mit den Männern als
auch mit den Frauen (auf Proks Skala von 0 bis 6 stufte er sich mit
3 ein und hielt sich für ganz und gar bisexuell). Und schließlich –
das machte ihn für Prok so wertvoll und bescherte uns eine
wachsende Zahl von Daten – besaß er ein schwarzes Büchlein, in dem
er seine Eroberungen, die zu diesem Zeitpunkt bereits in die
Hunderte gingen, verzeichnet hatte.
Natürlich entspringt vieles von dem, was ich hier über ihn erzähle,
meinen eigenen Erfahrungen mit Corcoran – schließlich sind wir
jetzt seit vierzehn Jahren Kollegen und haben gewiß keine
Geheimnisse voreinander –, und doch waren die grundlegenden
Informationen bereits da, in unseren Unterlagen, als ich an jenem
Dezembermorgen vor dem Ungewissen Weihnachtsfest des Jahres 1941
zum zweiten (aber nicht zum letzten) Mal gegen Proks Anweisung
verstieß. Ich weiß noch, wie ich zwischen all den getrockneten
Gallen saß und mein Herz raste, während ich das verschlüsselte
Protokoll meines zukünftigen Kollegen las, ich weiß, daß mir die
ganze Zeit »Engel auf den Feldern singen« im Kopf herumging und auf
dem Korridor die Schritte einer Gruppe Studenten verklangen. Wie
konnte ich ihm je auch nur annähernd gleichkommen? Das war es, was
ich dachte. Ich war plötzlich sicher, daß ich mir die ganze Zeit
etwas vorgemacht hatte und Iris recht hatte: Corcoran sollte mich
tatsächlich ersetzen, er sollte meinen Schreibtisch, mein Gehalt
und meine Interviews übernehmen und mich aus der Hierarchie eines
Projekts entfernen, bei dem ich der erste Mitarbeiter gewesen war.
Eine Art Panik überkam mich, und ich mußte aufstehen und auf und ab
gehen, um mich zu beruhigen. Ich zählte im Geist meine Vorzüge auf
– ich war loyal, ich besaß ein freundliches Wesen und einen
Kenntnisstand, der nur von Prok selbst übertroffen wurde, und ich
war schon länger dort –, doch wie ich es auch drehte und wendete,
ich mußte zugeben, daß Corcoran mich, zumindest auf dem Papier, in
allen Belangen übertraf: Er war acht Jahre älter, Vater zweier
Kinder, Inhaber eines höheren akademischen Titels, und seine Werte
lagen in all unseren Tabellen und Grafiken im oberen Bereich. Jetzt
bekam ich Schuldgefühle, ich machte mir Vorwürfe und schämte mich
plötzlich. Ich legte den Protokollbogen wieder in den Schrank und
drehte den Schlüssel im Schloß.
Am Neujahrstag zogen wir in unsere neue Wohnung. Sie war keineswegs ideal, zehn ermüdende Blocks vom Campus entfernt, in dem vermutlich heruntergekommensten Viertel von Bloomington, feucht wie eine Gruft, denn das Haus lag am Fuß eines Hügels in ehemaligem Marschland. Drei Zimmer, ein Bad und der unauslöschliche Geruch der alten Dame, die darin gestorben war – Mrs. Lorbers ältere Schwester, falls Sie sich fragen, woher wir die Wohnung hatten –, aber es war wirklich unsere, und dank Iris’ Talent für Einrichtung war sie bald nicht wiederzuerkennen. Iris hängte zwischen Küche und Wohnbereich einen Perlenvorhang auf, löste die ausgebleichte viktorianische Tapete ab, klebte eine neue an, mit einem beinahe spartanisch anmutenden Muster aus ineinander verschränkten grauen und weißen Rechtecken auf beigem Grund, und dirigierte mich, nachdem sie einen Nachmittag bis in den Abend und zu meiner Rückkehr darüber nachgedacht hatte, beim Aufhängen der vier gerahmten Holzschnitte mit Szenen aus Sturmhöhe, die sie in einer der hinteren Ecken eines Trödelladens entdeckt hatte. Sofa und Sessel hatten wir über Kleinanzeigen gefunden. Prok hatte uns den Nash freundlicherweise als Umzugswagen geliehen, und Ezra half mir, die Sachen durch die schmale Eingangstür zu manövrieren. Wir besaßen ein Bett, ein Doppelbett aus lackiertem Eisen, zu einem Sonder-Sonderpreis beim Trödelhändler gekauft, dazu eine Matratze (»neuwertig«), ein Regal, das die Wand gegenüber dem Sofa etwas imposanter machen sollte, mein Radio sowie eine Reihe blauer Glasvasen mit verschiedenen Trockenblumensträußen und Schildblumen, die Mac uns zusammen mit einem Sortiment Töpfe und Pfannen zur Hochzeit geschenkt hatte. Auch Prok war mehr als großzügig gewesen und hatte mir gerade zur rechten Zeit ein Weihnachtsgeld gegeben und außerdem das Versprechen, mein Gehalt ab Anfang des Jahres um fünf Dollar auf fünfzig pro Woche zu erhöhen.
An jenem Abend aßen wir Sandwiches aus einer braunen Papiertüte und saßen mit untergeschlagenen Beinen auf der Matratze, die noch auf dem Boden lag, weil wir zu erschöpft waren, um das Bett aufzubauen. Wir teilten uns eine Flasche Bier, und dann machten wir noch eine auf. Ich hatte das Radio eingeschaltet – Benny Goodman spielte »Don’t Be That Way« oder vielleicht auch etwas Sanfteres, Süßeres –, lehnte an der demnächst nackten Wand und hielt Iris in den Armen. Der Duft ihres Haars, frisch gewaschen in unserem eigenen Waschbecken im Badezimmer, war der Duft eines neuen Anfangs, des Beginns eines selbständigen, erwachsenen Lebens, gemeinsam und unzertrennlich. Ich kann nicht beschreiben, welchen Frieden ich an diesem Abend empfand. Wir saßen auf unserer neuen Matratze und bewunderten bis lange nach Mitternacht unsere neuen Wände, unsere neue Wohnungstür, unseren neuen Perlenvorhang; das Bier ließ uns sanft dahinschweben, und die Musik wogte sacht auf ihrem eigenen Strom dahin. Mrs. Lorber und die diversen Rezeptionistinnen waren nicht mehr Teil unseres Universums. Ezra konnte sich waschen oder es lassen – es kümmerte mich nicht mehr. Der Rücksitz des Nash war Vergangenheit. Wir hatten unsere eigene Wohnung, ein eigenes Heim, und konnten jederzeit, ob Tag oder Nacht, tun, was immer wir wollten, ohne einen Gedanken an die Scheinwerfer eines anderen Wagens, an tödliche Abgase oder an die Nacht, die uns umgab wie ein feindliches Territorium.
Als ich am nächsten Tag von der Arbeit nach Hause kam, hatte Iris sich ein Kopftuch und eine Schürze umgebunden. Es roch stark nach etwas ganz anderem als Mrs. Lorbers verstorbener Schwester und den schwarzen Streifen, die die Konturen der von ihr übernommenen Küchenmöbel nachzeichneten. »Was ist das, Iris?« fragte ich und schob mich rasselnd durch den Perlenvorhang. »Das riecht, na ja, gutoder anders.«
Der wacklige, mit uralten dunkelgrünen Lackschichten überzogene Küchentisch war ein Katastrophengebiet. Jeder Teller, den wir besaßen – es waren lauter gebrauchte, mit angeschlagenen Rändern, die wir meiner Mutter und einer Truhe im Keller ihres Hauses in Michigan City verdankten –, war entweder verkrustet oder in irgendeinem Schmier gebadet. Mehl und Zucker waren verstreut, Eierschalen lagen herum, Haufen von Kartoffel- und Apfelschalen, etwas, das aussah wie eine Gemisch aus Ketchup und Worcestersauce, und natürlich Gewürze, wobei Majoran, wenn ich mich nicht irre, besonders stark vertreten war.
Sie lächelte, schlang mir die Arme um den Hals und küßte mich. »Hackbraten«, sagte sie, »mit gratinierten Kartoffeln und grünen Bohnen. Und als Nachtisch gibt’s Apfelauflauf. Das Rezept für den Hackbraten und die Kartoffeln hab ich von meiner Mutter – schließlich hab ich all die Jahre, als ich auf der Highschool war, neben ihr in der Küche gestanden und gelernt, wie man eine gute kleine Hausfrau ist, herzlichen Dank.« Sie grinste und war sehr zufrieden mit sich selbst, und was machte es schon, daß die Küche ein Tohuwabohu war – wir waren gerade eingezogen, und sie hatte für mich gekocht. »Und das Rezept für den Apfelauflauf hab ich in einer Zeitschrift in der Bibliothek gefunden, und weil ich nichts zum Schreiben dabeihatte, hab ich es einfach rausgerissen.« Ein Viereck aus Hochglanzpapier war mit Klebeband an dem Hängeschrank über dem Herd befestigt.
Ich sah sie wohl streng an (sie wußte ganz genau, daß ich als ehemalige Bibliothekshilfskraft jede Beschädigung von Bibliotheksmaterial, und sei es etwas Nebensächliches wie eine Zeitschrift, mißbilligte), denn sie fügte hinzu: »Sei nicht böse, John. Die Bibliothek der University of Indiana wird das Rezept nicht vermissen. Oder denkst du, daß schluchzende Studentinnen am Ausgabetisch stehen und traurig sein werden, weil sie jetzt keinen Apfelauflauf mehr machen können?«
In der Innentasche meines Mantels, den ich noch nicht ausgezogen hatte, steckte eine Flasche Bourbon. Ich fand, jetzt sei der rechte Augenblick, um sie hervorzuholen und inmitten des Durcheinanders auf den Tisch zu stellen. »Zur Feier«, sagte ich, nahm zwei Gläser vom Bord und schenkte ein. »Auf dich«, sagte ich. Wir stießen an, und sie korrigierte mich: »Auf uns!«
Darf ich sagen, daß es das leckerste Essen war, das ich je gegessen hatte? Denn ein großartiges Essen kommt nicht nur durch erstklassige Zutaten, die Könnerschaft bei der Zubereitung oder die Eleganz der Umgebung zustande, sondern auch durch die Stimmung des Speisenden – die infolge der Situation, des Bourbons, der Liebe stark gehoben war –, denn sie kann bewirken, daß jeder Bissen so sinnlich ist wie ein Kuß. Apfelauflauf. Hackbraten. Ich aß wie ein Mann, der einen Monat schiffbrüchig gewesen war, ich aß, bis ich nicht mehr konnte. Dann nahmen wir uns die Bourbonflasche vor – es war ein Dreiviertelliter, und wir waren, fürchte ich, ziemlich beschwipst –, und anschließend fiel ich wie dieser schiffbrüchige Matrose oder vielleicht sein Admiral über meine Frau her.
So war es am Anfang, so war unser Leben tagein, tagaus. Man nennt es Glück, und wir hatten es, wie man sagt, kübelweise. Der Krieg hing in diesen Wochen und Monaten nach Pearl Harbor drohend über uns wie über allen anderen, aber Prok hielt Wort, und es gelang ihm schließlich, mir eine berufsbedingte Zurückstellung zu verschaffen, indem er all seinen Einfluß geltend machte, all sein rhetorisches Geschick aufwandte und die Einberufungsbehörde davon überzeugte, daß unsere Forschung kriegswichtig war. Iris war entschlossen, ihr letztes Semester zu beenden und den Abschluß als Grundschullehrerin zu machen, nahm aber eine Teilzeitstelle beim Supermarkt an, und das Geld, das sie dort verdiente, dazu meine Gehaltserhöhung, bescherten uns soviel materielle Sicherheit, wie unter diesen Umständen zu haben war. Allerdings mußten wir sehr genau rechnen. Ich schränkte das Rauchen ein, wir gingen nicht mehr in Kneipen oder Bars und beschränkten uns auf einen Kinobesuch pro Woche.
War es ein Idyll? Nein, natürlich nicht. Die Art unserer Beziehung zu Prok und Mac war noch immer ungeklärt. Sie luden uns regelmäßig zum Essen oder zu einem musikalischen Abend ein, und natürlich war ich sehr viel öfter mit Prok unterwegs, als Iris lieb war, eine wunde Stelle, die mit den Jahren immer quälender zu werden schien. Außerdem war Iris von dem Projekt selbst immer weniger begeistert. »Wir sind im Krieg«, sagte sie. »Die ganze Welt ist bedroht, und ihr fahrt irgendwo in den Hinterwäldern herum und meßt Orgasmen. Ich meine, findest du das nicht auch ein bißchen trivial?«
»Aber du wolltest doch, daß ich bleibe«, konterte ich. »Du hast doch darauf bestanden. Du warst so unerbittlich wie Lindberghs Redenschreiberin. ›Ich werde dich nicht gehen lassen‹, hast du gesagt. ›Das ist nicht unser Krieg.‹ Weißt du noch?«
Sie hatte eine Art, die Unterlippe einzuziehen, als wäre sie
gerade vergiftet worden, als hätte sie soeben das Glas abgesetzt
und würde sich gleich mit letzter wilder Kraft auf den Schurken –
also mich – stürzen. »Komm mir nicht damit, John. Mag sein, daß ich
gegen den Krieg war, aber das war, bevor die Japaner uns überfallen
haben. Jetzt ist es beinahe so, als ob du ... Nein, ich will es
nicht sagen. Aber Orgasmen. Ich meine, gibt es was
Lächerlicheres?«
Ich erinnere mich an einen Abend in jener Zeit, irgendwann im
Winter oder Vorfrühling. Ezra und Dick Martone, die ihr Studium
abbrachen, um sich freiwillig zu melden, kamen mit zwei Freundinnen
und drei großen, bauchigen Einkaufstüten voller Bier- und
Ginflaschen. Das war Dicks Lieblingsdrink: Gin aus einer silbernen
Flasche, gemischt mit Tonicwater aus einem Siphon. Die Frauen waren
unscheinbar, hatten Aknenarben und Haar, das wie tot wirkte – ich
glaube, es waren Schwestern, vielleicht sogar Zwillinge –, und
abgesehen von den üppigen Rundungen war schamlose Lüsternheit ihr
augenfälligster Reiz. Sie benutzten schmutzige Wörter, tranken wie
die Bürstenbinder und hatten der Hälfte der männlichen
Studentenschaft »einen geblasen«. Da sie patriotische Mädels waren,
gefielen ihnen Uniformen besonders.
Jedenfalls feierten wir eine Abschiedsparty, und Iris machte Lammkeule mit Bratkartoffeln, Karotten und süßem Mais, Biskuits frisch aus dem Ofen und zum Nachtisch Pfirsichkuchen. Ich verbrachte den Nachmittag – es war ein Samstag – damit, die Teppichkehrmaschine durch die Wohnung zu schieben, Gemüse zu putzen und zum Laden zu gehen und Minzsauce, Knoblauch, ein Pfund Margarine oder sonst irgend etwas zu kaufen, das Iris in letzter Minute brauchte. Ich sagte ihr, es sei keine große Sache, bloß Dick und Ezra und ihre Freundinnen, zwei Frauen, die wir nie wiedersehen würden und die nur zu einem einzigem Zweck dabei waren, aber Iris war nicht zu bremsen. »Das ist unser erstes Abendessen mit Gästen, John«, sagte sie und hantierte, den Rücken zu mir gekehrt, am Spülbecken. »Das erste Mal, daß wir Gäste in unserer eigenen Wohnung haben.«
Das Wasser lief, Dampf stieg auf, der köstliche Geruch der Lammkeule erfüllte alle Winkel unserer Drei-Zimmer-Küche-Bad-Wohnung mit einem Flair von Reichtum und Opulenz, so daß ich mir vorkam wie ein Raubritter, wie ein Sultan, der auf bunten Teppichen ruht, während von unten, aus der Palastküche, die exotischen Düfte der zubereiteten Speisen heraufziehen. Ich legte meine Hände auf ihre Hüften und küßte sie hinter dem Ohr. »Ich kenne dich«, sagte ich und lehnte mich an sie, drückte mit dem Unterleib gegen die Rundung ihres Hinterns, »du willst nur angeben.«
Sie machte sich steif und straffte die Schultern, und die Teller tauchten aus dem Seifenschaum auf, versanken im Becken mit klarem Wasser und landeten auf dem Abtropfgestell, in einem Tempo, als wäre Iris ein Roboter. »Du könntest mir helfen«, sagte sie, ohne sich umzusehen. »Du könntest abtrocknen. Wir brauchen die Teller für den Tisch, und unsere Gäste werden in weniger als einer Stunde hier sein.«
»Klar«, sagte ich, »klar«, und ich nahm das Geschirrtuch und stellte mich neben sie. »Aber du brauchst wirklich nicht so viel Aufwand zu treiben, nicht für Dick und Ezra –«
Sie wandte mir ihr Halbprofil zu, und ich sah ihre Unterlippe und den pfeilschnellen Seitenblick. »Und wenn ich nun angeben will mit meiner Wohnung – und mit meinem Mann? Ich bin stolz darauf. Du nicht?«
Ich sagte ihr, natürlich sei ich ebenfalls stolz, und versuchte sie zu umarmen, in der Hand eine nasse Vorlegeplatte, und vielleicht war ich ein bißchen ungeschickt – noch keineswegs betrunken, ganz und gar nicht, aber ich gestehe, daß ich zur Einstimmung schon einen Schluck getrunken hatte. Jedenfalls fiel die Platte zu Boden und zerbrach. In tausend Stücke. Wir standen stocksteif da und starrten entsetzt auf die Trümmer. Es war unsere einzige Vorlegeplatte, die Platte, auf der die Lammkeule serviert werden sollte, und diese Krisis war zuviel für Iris. Sie warf mir einen wilden Blick zu, durchpflügte den Perlenvorhang und stapfte ins Schlafzimmer, dessen Tür sie hinter sich zuknallte. Ich wollte zu ihr gehen und mich entschuldigen – oder nein, ich war mit einem Mal wütend und wollte gegen die Tür treten, am Griff rütteln und sie anschreien, denn es war doch schließlich nicht das Ende der Welt, bloß ein kleiner Unfall, und warum sollte ich das nun ausbaden?
Warum reißt du das verdammte Dingnicht gleich aus den Angeln, hm? Das wollte ich sagen, das wollte ich brüllen. Aber ich tat es nicht. Ich ging zur Tür, doch sie war abgeschlossen. »Iris«, sagte ich. »Ach, komm schon, Iris.« Ich lauschte – weinte sie? – und ging dann wieder in die Küche, wo ich mir noch einen Bourbon einschenkte und auf den Knien herumrutschte, um die Scherben aufzusammeln.
Trotzdem verlief die Party so gut, wie wir gehofft hatten. Oder vielmehr noch besser. Dick und Ezra und die beiden Frauen – nennen wir sie Mary Jane und Mary Ellen – waren bei ihrem Eintreffen bereits reichlich beschicken, und hätten wir ihnen die Lammkeule am Spieß serviert, dann hätten sie es gar nicht mitgekriegt, und wenn, dann wäre es ihnen egal gewesen. Ich schnitt das Fleisch auf dem Herd und legte die Scheiben auf einen normalen Teller, allerdings erst nachdem Iris jedem ausgiebig Gelegenheit gegeben hatte, die Lammkeule in der Pfanne zu bewundern, und als wir bei Kaffee und Pfirsichkuchen angekommen waren, lachten wir über die zerbrochene Vorlegeplatte und den tölpelhaften Ehemann, der in der Küche zu nichts zu gebrauchen war. Mary Ellen, die rechts von mir saß, gab mir einen spielerischen Knuff auf die Schulter und nannte mich »Zitterfinger«. »Du bist ja ein richtiger Zitterfinger«, sagte sie, und beide Schwestern brachen in brüllendes Gelächter aus.
Ich brachte den Bourbon, damit wir unseren Kaffee veredeln konnten, und Ezra schenkte seine Tasse randvoll und stürzte sie hinunter, obgleich der Kaffee so heiß war, daß die anderen nicht mal nippen konnten. Dann bat er um mehr. Danach hatte er einen etwas abwesenden Blick, doch er saß glücklich und zufrieden da, einen Arm entspannt um Mary Janes Schultern gelegt, und schob mit der Gabel in seiner anderen Hand ein zweites Stück Kuchen auf dem Teller herum. Er und Dick, der im Herbst sein Graduiertenstudium begonnen und als Assistent am Lehrstuhl für Ingenieurwesen gearbeitet hatte, würden am nächsten Morgen zur Grundausbildung einrücken. Dies war ihr letzter Abend in Freiheit, ihre letzte Gelegenheit, und ich wollte – Iris und ich wollten –, daß es ein denkwürdiger Abend wurde. Es war noch Bier da, und als wir uns vom Tisch erhoben und ins Wohnzimmer gingen, schenkte Dick eine neue Runde Gin Tonic für sich und die Schwestern ein.
Schon am nächsten Morgen konnte ich mich an nicht mehr viel erinnern, und heute ist mir der ganze Ablauf noch viel unklarer, aber an irgendeinem Punkt drehte sich das Gespräch nicht mehr darum, wie Dick und Ezra die Wende herbeiführen, Hitler mit links erledigen und im nächsten Herbst als strahlende Helden zurück nach Amerika dampfen würden, sondern um mich und meine Situation. Dick saß zusammengesunken auf dem Sofa und hatte den Arm um Mary Ellen gelegt, so daß seine Hand leicht auf ihrem Busen ruhte. Das Radio war eingeschaltet, aber aus Rücksicht auf die Nachbarn leise gestellt. Aus dem Äther sickerte irgend etwas Bluesig-Stimmungsvolles. »Dann hat Kinsey dir also tatsächlich eine Zurückstellung verschafft, was?« sagte er.
»Kinsey?« fragte Mary Ellen. »Du meinst Professor Kinsey?
Dr. Sex?«
Mary Jane, die engumschlungen mit Ezra auf dem Schaukelstuhl saß,
hob kurz den Kopf und kicherte.
»Ja«, sagte ich. »Ja, Dr. Kinsey. Ich arbeite für ihn.«
»Forschung«, warf Iris ein. »Er ist phantastisch, wenn es um
Statistiken geht, er zeichnet all die Kurven –«
Ezra schnaubte. »Das kann ich mir vorstellen. Ich sehe geradezu,
wie er all diese Kurven zeichnet ...« Er und Dick lachten
schmutzig.
Mary Ellen hatte gewisse Schwierigkeiten, ihren nächsten Gedanken
zu formulieren. Ich sah, wie sie mit dem Satz kämpfte, bis sie ihn
heraus hatte. »Du meinst ... du ... du bist so was wie ein
Sexforscher?«
Ich saß auf einem der harten Küchenstühle, die ich ins Wohnzimmer
getragen hatte, damit alle sitzen konnten. Ich hatte, wie gesagt,
keinerlei Bedenken wegen meiner Arbeit, ich war Proks rechte Hand
und in allem sein Schüler, aber ich hatte keine Lust, mich dafür zu
rechtfertigen, nicht in gemischter Gesellschaft, nicht in meinem
eigenen Wohnzimmer. Ich sah Mary Ellen in die Augen – ihre hübschen
Augen waren, abgesehen von der verführerischen Figur, ihr größtes
Kapital – und nickte nur.
Sie machte ein gurrendes Geräusch, wandte sich zu Dick und küßte
ihn voll auf den Mund. Als sie absetzte, um Luft zu holen, lächelte
sie kokett und sagte, Sex sei für sie das faszinierendste Thema
überhaupt. »Ich liebe Sex«, sagte sie, noch immer mit diesem
Gurren, »und ich liebe Männer. Tut mir leid, aber so bin ich nun
mal.« Eine Pause. »Kannst du auch zusehen? Ich meine, wenn die
Leute ... wenn sie« – sie blickte zu Iris, war sich nicht sicher,
wie weit sie gehen konnte –, »wenn sie, na ja, wenn sie es
machen?«
Die Zeiten, da ich bei solchen Fragen errötete, waren längst
vorbei, doch ich spürte, wie warm es in dem Raum war und daß die
Augen meiner Frau und auch die von Dick und Ezra auf mir ruhten.
»Nein«, sagte ich und hob die Hand, um meine Haare
zurückzustreichen. »Nein, wir stellen nur –«
»Sie stellen nur Fragen«, antwortete Iris für mich. Sie sah mich
mit einem Blick an, den ich nicht zu deuten vermochte. »Stimmt’s,
John?« Mary Jane war wieder bei Bewußtsein. Sie saß auf Ezras
Schoß, und ihr Lippenstift war in den Mundwinkeln zu großen Ovalen
verschmiert. Der viele Alkohol und die späte Stunde gaben ihrem
Blick etwas Stumpfes. Aus dem Radio ertönte das leise Klagen eines
Saxophons wie der Schrei eines Erdrosselten und verklang. »Fragen?«
sagte sie. »Was für Fragen?«
»Wie oft masturbierst du?« sagte Iris, ohne den Blick von mir zu
wenden. »Mit wie vielen Männern warst du zusammen, wie viele
Orgasmen hast du, wie oft hast du Oralverkehr mit deinem Freund?
Solche Sachen eben.«
Schweigen. Dick hob den Kopf, als hätte er nichts von dem gehört,
was wir in den vergangenen fünf Minuten gesagt hatten. »Ich weiß
nicht«, sagte er, »aber immerhin bist du verheiratet und so weiter,
und ich finde, man kann dir nicht vorwerfen, daß du dich hast
zurückstellen lassen.«
Wieder Schweigen. Die Bemerkung hing über dem Abend wie etwas, das
niemand berühren wollte, am wenigsten ich. Der Radiosprecher teilte
uns mit, das Programm des Senders sei nun beendet, und wir alle
starrten den Apparat an, bis nur noch statisches Rauschen zu hören
war und ich fand, es sei langsam Zeit, zu Bett zu gehen.
Schließlich kam Mary Jane lange genug hoch, um zu fragen: »Was ist
Oralverkehr?«
Iris und ich hatten uns vorher darauf geeinigt, daß wir uns früh in
unser Schlafzimmer zurückziehen würden, damit die beiden Paare von
Sofa, Schaukelstuhl und der von der Heizung erzeugten angenehmen
Zimmertemperatur profitieren konnten und nicht in irgendeinem
zugigen Korridor herumstehen oder mit dem Rücksitz eines geliehenen
Wagens vorliebnehmen mußten, und so zogen wir uns bald darauf
zurück und überließen unseren Gästen das Wohnzimmer. Ich war, wie
Iris, ziemlich erledigt, und ich glaube, ich ließ sogar das
Zähneputzen ausfallen, bevor ich ins Bett fiel, als stürzte ich von
einem hohen Sprungbrett ins Wasser. Ich schlief auf der Stelle
ein.
Irgendwann wachte ich auf, weil meine Kehle vollkommen
ausgetrocknet war. Das passiert mir oft, wenn ich getrunken habe.
Ich hatte geträumt, ich sei in einen Drugstore gegangen und hätte
ein Schokoladensoda bestellt, das sich wunderbarerweise in eine
eiskalte, mit Wassertropfen beperlte Flasche Coca-Cola verwandelte,
die sich in meiner Hand wie eine kalte Kompresse anfühlte, und im
nächsten Augenblick stand ich auf und tappte barfuß zum Badezimmer.
Meine Füße waren übrigens nicht das einzige Nackte an mir. Ich habe
immer nackt geschlafen, jedenfalls seit meiner Pubertät, als meine
Mutter nachts nicht mehr in mein Zimmer kam, um nach mir zu sehen.
Vom Schlaf umfangen, hatte ich ganz vergessen, daß wir Gäste
hatten. Im Grunde war ich noch immer betrunken. Trotzdem rief
irgend etwas mir die Situation ins Bewußtsein: ein Duft, eine
verstohlene Bewegung, das schwache Flackern der Kerze, die Iris im
Wohnzimmer hatte brennen lassen.
Ich tastete mich mit unsicheren Schritten durch den Flur und
merkte, daß ich nicht allein war. Da war noch jemand, ein
schwärzerer Schatten, der sich in der Dunkelheit an der Wand direkt
vor mir zu verdichten schien. Ich streckte die Hand aus und fühlte
einen Körper, einen weiblichen Körper, strich über die beiden
dazugehörigen Brüste, spürte die Wärme der Haut und der Zunge,
hörte ein Flüstern: »Ich suche das Badezimmer ...«
Was hätte ein guter Gastgeber getan? Sie zum Badezimmer geführt.
Ihr ein frisches Handtuch, ein Stück Seife, einen Tupfer Eau de
Cologne gegeben. Ich tat nichts dergleichen. Ich hatte nicht mal
Zeit, darüber nachzudenken. Eben noch hatte ich geschlafen, und nun
stand ich hier, im Flur meiner Wohnung, und sammelte taktile
Eindrücke von der glatten, erglühenden Haut einer fremden nackten
Frau, während ich zugleich ein leises Schnarchen und das Ticken
einer Uhr vernahm. Ihre Brustwarzen waren hart, ihre Vagina war
feucht. Im nächsten Augenblick waren wir vereint, und ich habe
deswegen nicht den Hauch eines schlechten Gewissens, denn es war
der dem Augenblick entsprechende natürliche Impuls, unkompliziert,
gesund, Forschung im Vorübergehen sozusagen.
Ich fand nie heraus, ob Mary Ellen oder Mary Jane in jener Nacht
die Förderin der Forschung war, aber das spielt ja auch keine
Rolle.
11
Obgleich Benzin rationiert war und die Automobilfabriken auf Kriegsproduktion umstellten, dachte ich in jenem Winter viel über Autos nach. Im Dezember, kurz vor dem Angriff der Japaner, hatte Prok seine erheblichen investigativen Energien aufgewendet, um einen zweiten Wagen aufzutreiben, denn er fand es ungerecht, daß Mac und die Kinder, wenn wir so lange unterwegs waren, um Vorträge zu halten und Geschichten zu sammeln, kein Transportmittel hatten. Nachdem er ein gutes Dutzend Autos, die in der Stadt zum Verkauf angeboten wurden, untersucht hatte, entschied er sich für einen ziemlich neuen Buick mit fast neuen Reifen und makellosem Lack in einem Blau, so dunkel, daß es beinahe schwarz wirkte. Er hatte einem seiner Kollegen an der University of Indiana gehört, einem älteren Musikprofessor, der im vergangenen Jahr gestorben war und den Wagen seiner Frau hinterlassen hatte, die aber nicht Auto fahren konnte und ihn in der Garage stehenließ. Prok suchte die Witwe eines Nachmittags auf, trank Tee mit ihr und bekam nicht nur den Wagen (zu einem Spottpreis), sondern auch ihre Sexgeschichte. Ich war mit Iris, Mac und den Kindern in dem Haus in der First Street, und wir waren allesamt gespannt, ob er es tatsächlich geschafft hatte. Ich erinnere mich deutlich an das festliche Aufblitzen der Sonne auf der Windschutzscheibe, als er in die Einfahrt bog, und an den unverhüllten Triumph in seinem Gesicht. Angeblich sollte das also Macs Wagen sein, während wir für unsere Fahrten weiterhin den altersschwachen, unzuverlässigen Nash nehmen würden, doch von dem Augenblick an, in dem Prok damit in die Einfahrt rollte, gehörte der Buick de facto uns.
Da Iris und ich ein paar Wochen später unseren Hausstand gründeten, war unser Bedürfnis nach einem Wagen natürlich nicht mehr so groß wie zuvor, doch ich wünschte mir damals sehnlich einen eigenen Wagen. An Sonntagnachmittagen liefen Iris und ich durch die ganze Stadt – und manchmal auch hinaus in jenes Niemandsland, wo die dichtere Bebauung in Farmland übergeht –, um uns diese oder jene alte Rostlaube anzusehen, die wir uns ohnehin nicht leisten konnten. Aber wir sahen sie uns an – man konnte ja nie wissen. Jedesmal wenn ich eine Annonce las (Modell A, 1929, gute Reifen, rep.bed.,
gegen Höchstgebot; 34er Chevy, sauber), entstand vor meinem geistigen Auge ein Bild, und jedesmal, wirklich jedesmal, wurde ich enttäuscht. Ich war kein Mechaniker. Genaugenommen hatte ich keinen blassen Dunst von Zündkerzen, Schwungrädern oder Getriebe- öl. Doch ich war voller Hoffnung. Ich suchte nach einem zuverlässigen Wagen, billig in Anschaffung und Unterhalt, mit einem guten Motor und einer rostfreien Karosserie. Marke, Modell und Baujahr waren mir egal. Wie gesagt: Die Straße, die aus der Stadt hinausführte, war für mich eine ständige Verlockung, und als Student wie als verheirateter Mann hatte ich manchmal das Gefühl, als wäre ich in Bloomington gestrandet, als wäre ich umzingelt, als hätte man mich für tot erklärt. Natürlich gab es Busse und Züge und meine Reisen mit Prok, aber wenn ich meine eigenen vier Räder unter mir hätte, wäre ich mein eigener Herr und könnte fahren, wann ich wollte und wohin ich wollte.
Es muß gegen Ende Februar gewesen sein, und ich weiß wirklich nicht mehr, ob es vor oder nach unserer kleinen Abschiedsfeier für Dick und Ezra war: Corcoran zog nach Bloomington. Es hatte einen Wetterumschwung gegeben – blauer Himmel und Tagestemperaturen zwischen fünf und zehn Grad –, und ich verließ gerade das Institutsgebäude, um etwas für Prok zu erledigen, als eine Hupe ertönte und ein Wagen am Randstein vor mir hielt. Es war ein gelbes Cadillac La Salle Cabriolet mit makellosen Weiß wandreifen und verchromten Radkappen, und das Verdeck war aufgeklappt. Am Steuer saß Corcoran in einem Tweedjackett, die Pfeife in den Mundwinkel geklemmt. Er riß die Arme hoch und schwenkte sie wie ein Schiffbrüchiger auf hoher See. »John«, rief er, »he, John! Ich bin da!«
Ich weiß nicht, was ich antwortete. Wahrscheinlich war es
irgendeine Bemerkung über den Wagen. Es war ein Schlitten wie aus
einer Zeitschrift, mit Abstand das sportlichste Fahrzeug, das
Bloomington je gesehen hatte.
»Gefällt er dir?« krähte er, stieg mit einer geschmeidigen Bewe-
gung aus und schüttelte mir die Hand. »Hab ihn erst vor einer Woche
gekauft. Und du hättest erleben sollen, wie ich damit hergefahren
bin, mit der Hand auf dem Hupring, denn: Paßt auf, ihr Kühe, ihr
Farmer mit euren Heuwagen – jetzt komm ich!«
Ich gab ein paar bewundernde Laute von mir, auf der Straße fuhren Autos vorbei, Studenten blieben stehen und glotzten, die kahlen Bäume staken entlang der Straße im Boden wie Galgen. Auf dem Beifahrersitz des Wagens lagen ein Koffer und ein breitkrempiger hellbrauner Hut. Ich fragte mich, wie Corcoran sich mit seinem Sozialarbeitergehalt einen solchen Wagen leisten konnte (die Familie seiner Frau war vermögend, erfuhr ich später) und wieviel Prok ihm angeboten hatte, damit er zu uns kam – mehr als mir jedenfalls, das war sicher –, als sein Blick zwischen mir und dem Koffer hin- und herwanderte und er sagte: »Meinst du, das geht? Mit dem Koffer, meine ich. Nur für ein paar Minuten?«
»Tja, äh ...« sagte ich. »Na ja, ich glaube ...«
»Könntest du kurz ein Auge darauf haben? Ich will nur eben
raufgehen und Prok sagen, daß ich da bin. Die Wohnung finde ich
dann schon, das wird ja kein Problem sein ... Ach ja, ich wollte
mich bei dir und wohl auch bei Prok bedanken, daß ihr was für mich
gefunden habt.«
Das hörte ich zum ersten Mal, und anscheinend war mir meine Verwirrung anzusehen, denn er fügte hinzu: »Oder wer auch immer es war. Das war sehr nett. Wirklich. In den nächsten Monaten werde ich improvisieren und etwas Passendes für Violet und die Kinder finden müssen, aber daß ich jetzt schon eine Bleibe habe, das ist wirklich ... Ich weiß ja, wie schwierig es ist, mitten im Semesters was aufzutreiben.«
Ich stand schließlich eine halbe Stunde dort am Bordstein, während Studentengrüppchen, Einheimische und hin und wieder ein Professor vorbeigingen. Ich hatte ein Auge auf den Wagen, und vielleicht tat ich sogar so, als gehörte er mir. Ich sah ihn mir jedenfalls sehr genau an, klappte auch die Motorhaube und den Kofferraum auf (ein Tennisschläger, ein Satz Golfschläger, ein Paar zweifarbige Schuhe und noch ein Koffer), und gegen Ende meiner Wachtätigkeit setzte ich mich ans Steuer, nur um zu sehen, was das für ein Gefühl war. Dann wurde ich ein wenig unruhig – Prok würde sich fragen, wo ich blieb –, doch da sah ich die beiden aus dem Institutsgebäude treten und auf mich zukommen, Prok wie immer in zügigem Tempo, und neben ihm, mit lässigen, langen Schritten, Corcoran. Sie lächelten, gestikulierten und waren in ein angeregtes Gespräch vertieft. Schuldbewußt (obgleich ich nicht weiß, warum ich ein schlechtes Gewissen hatte – immerhin hatte er mich ja gebeten, auf den Wagen und den Koffer und so weiter aufzupassen) stieg ich aus und schloß leise die Tür. Als sie vor dem Wagen – das heißt, vor mir – standen, starrten sie mich an, als wären sie verwundert, mich dort zu sehen, und Prok trat sogleich an die Beifahrerseite, hob den Koffer hoch und reichte ihn mir. Dann stieg er ein, schloß die Tür, sah zu mir auf und sagte: »Stell ihn bitte irgendwo hinter die Sitze, Milk.« Und dann zu Corcoran: »Ich muß sagen, sehr beeindruckend, Corcoran. Aber auch ein bißchen auffällig, nicht?«
Ich merkte, daß die Nadel von Proks Protzometer heftig ausschlug, ganz zu schweigen davon, daß er fürchtete, einer seiner Mitarbeiter könnte ungebührliche Aufmerksamkeit erregen. Sein Gesichtsausdruck sagte alles: Ein gelbes Cabriolet. Und was kommt als nächstes? Und zweifellos überlegte er, daß ein Teil der Aufwendungen für Corcorans Umzug in unserem Projekt weit mehr Nutzen gebracht hätte, obgleich das unfair gewesen wäre, aber trotzdem ...
Corcoran merkte, wie so oft, nichts davon. Das war eines seiner Talente. Er glitt auf gesalbten Schwingen durchs Leben, er nahm und gab, was er wollte. Wenn eine Situation bedrückend oder in irgendeiner Weise unangenehm wurde – und als das Projekt richtig in Gang gekommen war und die Öffentlichkeit sich auf uns stürzte, gab es Augenblicke, die ich, milde gesagt, qualvoll fand –, dann ignorierte er das einfach. Ich glaube nicht, daß er unsensibel war, ganz im Gegenteil. Es kümmerte ihn eben nicht. Er war unbekümmert. Er war sorglos. Er war Corcoran – und der Rest der Welt sollte sich lieber vorsehen. Zu Prok sagte er bloß: »V-8-Motor, Prok, schnurrt wie ein Kätzchen. Und hat jede Menge Schubkraft.«
Ich zwängte den Koffer hinter Proks Sitz, und Prok tätschelte meine Hand und sagte: »Geh schon mal rauf, Milk – ich will Corcoran nur schnell seine Wohnung zeigen, damit wir das erledigt haben. In spätestens einer Stunde sind wir wieder da, und dann« – ein Seitenblick zu Corcoran – »beginnt die eigentliche Arbeit.«
Corcoran startete den Motor, ließ ihn aufheulen und jagte mit quietschenden Reifen davon. Prok gestikulierte und hielt ihm vermutlich bereits den ersten von unzähligen Vorträgen über richtiges Autofahren. Ich stand da und sah ihnen nach, dann drehte ich mich um und ging wieder hinauf in unser Büro im Institutsgebäude. Proks Auftrag hatte ich vergessen.
Am nächsten Samstag gab es eine Einladung zum Abendessen, am
folgenden Sonntag einen musikalischen Abend für eine ausgesuchte
Gruppe von Proks Kollegen, darunter die Briscoes und President
Wells (Prok gab, wie nicht anders zu erwarten, mit seiner neuesten
Erwerbung an, mit diesem gutaussehenden, strahlenden,
zuversichtlichen jungen Mann), und dann gingen wir in dem
stromlinienförmigen Buick auf unsere erste gemeinsame Reise. Prok
saß am Steuer, Corcoran auf dem Beifahrersitz, und ich hatte es mir
hinten bequem gemacht und sah hinaus auf die Landschaft. Wie immer
redete Prok ohne Punkt und Komma, von dem Augenblick an, als er und
Corcoran mich von unserer Wohnung abgeholt hatten, bis zu unserer
Ankunft, und Corcoran, unser neuer Mann, gab sich alle Mühe, einige
von Proks hingeworfenen Bemerkungen durch eigene Gedanken zu
akzentuieren. Ich lehnte mich mit halbgeschlossenen Augen zurück
und ließ das alles vorbeiziehen. War ich desillusioniert, weil ich
so plötzlich und uneingeschränkt von meinem Platz verdrängt worden
war? Ja, natürlich, jedenfalls zunächst. Doch ich begriff rasch,
welcher Vorteil darin lag: Es gab jetzt jemanden, der Proks
Aufmerksamkeit ablenkte, der einen Teil nicht nur seiner
überschüssigen Energie, sondern auch seiner Kritik, seines
Starrsinns und nicht zuletzt seines sexuellen Begehrens auffangen
würde. Und so lehnte ich mich in dem relativen Luxus des Buick
zurück, hörte dem Gespräch auf den Vordersitzen mit halbem Ohr zu,
antwortete, wenn man mich direkt ansprach, mit einem Nicken oder
Grunzen und hatte das Gefühl, daß es unverkennbar aufwärts ging und
daß der Druck, un- ter dem ich stand, um einiges nachlassen
würde.
Denn ich war tatsächlich angespannt gewesen. In den Wochen vor
Corcorans Ankunft hatten Prok und ich an unseren Anträgen für
Forschungsstipendien gearbeitet und waren viel herumgereist, um so
viele Geschichten wie möglich zu sammeln, bevor alles rationiert
wurde, und mit dem wachsenden Druck, der auf ihm lastete, wurde
Prok immer fordernder. Vielleicht lag es an der allgemeinen
Ungewißheit (er sagte nie ein Wort über den Krieg und verfolgte
weder die allgemeine Entwicklung noch äußerte er sich zu
weltpolitischen Ereignissen, es sei denn, sie hatten irgendwelche
Auswirkungen auf unsere Forschungen, doch es war klar, daß er sich
zunehmend Sorgen machte, unser Projekt könnte Schaden leiden),
vielleicht merkte er aber auch, daß ich mich emotional von ihm
entfernte, seit Iris und ich eine gemeinsame Wohnung hatten. Er
wollte eine sexuelle Beziehung, und ich fügte mich, doch es steckte
keine Freude darin, und das muß er gespürt haben. Ich erinnere mich
an eine Nacht in einem Motel am Stadtrand von Carbondale – wir
hatten eine lange Fahrt und viele Interviews hinter uns –, wo er
nackt und mit erigiertem Penis an mein Bett trat. Ich wollte nur
noch schlafen, und das sagte ich ihm auch. »Was ist los?« fragte er
und setzte sich auf die Bettkante. »Du wirst mir doch nicht etwa
verklemmt werden?«
»Nein«, sagte ich, »nein, ich bin bloß müde«, aber ich tat dann doch, was er wollte, und dachte dabei die ganze Zeit an Iris, die zu Hause auf mich wartete.
Auf dieser Reise – der ersten von mehr als hundert, die wir drei im Lauf der Jahre machten – waren wir unterwegs nach Indianapolis, wo wir Prostituierte und, wenn möglich, ihre Kunden befragen wollten. Corcoran sollte in der Rolle des Lehrlings anwesend sein und die nötigen Kenntnisse sammeln, damit er bald seine eigenen Interviews führen konnte. Prok war in bester Stimmung und noch gesprächiger als sonst, und obgleich er wie immer schlecht fuhr und, um Benzin zu sparen, versuchte, eine gleichmäßige Geschwindigkeit beizubehalten, kamen wir gut voran und trafen so früh im Hotel ein, daß wir noch gemeinsam essen konnten, bevor wir uns auf den Weg machten. Ich hätte vor dem Essen gern einen Cocktail getrunken, ebenso wie Corcoran, aber davon wollte Prok nichts wissen. Wir würden bis in die frühen Morgenstunden die verschiedensten Bars aufsuchen, und da das unvermeidlich mit dem Genuß eines gewissen Quantums Alkohol verbunden sein würde, bestand kein Grund, bereits jetzt damit anzufangen – ein betrunkener Interviewer war das letzte, was er brauchen konnte. Das sahen wir doch sicher genauso, oder? Ja, natürlich sahen wir das genauso, wenn auch widerwillig, und als der Kellner unsere Speisekarten mitnahm, wechselten Corcoran und ich über unsere Gläser mit jungfräulichem Sodawasser hinweg einen Blick, und ich hatte das Gefühl, einen Verbündeten gefunden zu haben. Wir waren Proks Gefolgsleute – und zwar immer und freiwillig –, aber wir konnten auf unsere eigene verschwörerische Art rebellieren, und das gab mir das Gefühl, ein klein wenig aufsässig zu sein. Es war, als hätte ich einen großen Bruder gefunden, den ich unter dem Tisch anstoßen konnte, wenn unser Vater nicht hinsah.
Wir nippten also an unserem Sodawasser, während Prok eine CocaCola trank (»Ich mag dieses Zeug eigentlich gar nicht«, behauptete er, obgleich sein Appetit auf Süßes legendär war, »aber das Koffein ist gut, das hält mich wach«) und unseren Schlachtplan für den Abend entwarf. »Ich glaube«, sagte er und sah sich in dem beinahe leeren Speisesaal des Hotels um, »daß wir heute abend einige exzellente Daten sammeln werden, die Art von Geschichten hochaktiver Menschen aus den unteren Schichten, die wir als statistischen Ausgleich brauchen – du erinnerst dich sicher an Gary, Milk, und was wir dort für Funde gemacht haben –, aber das ist noch nicht genug.«
Das Hotel gehörte zur mittleren bis unteren Kategorie, und das dazugehörige Restaurant war wirklich nichts Besonderes, denn auch in diesem Punkt war Prok der Meinung, es sei unnötig, Projektmittel für flüchtigen Luxus aufzuwenden. Er legte Messer und Gabel sorgfältig neben dem Salatteller ab, auf dem drei Scheiben eingelegte rote Bete neben einem bräunlichen Salatblatt in einer unappetitlichen Pfütze schwammen.
»Was meinen Sie damit?« fragte Corcoran. »Die Daten, die Sie mir gezeigt haben – Sie und John natürlich –, sind genauer und umfassender als alle, die irgendwelche anderen Forscher gesammelt haben.«
Prok sah sich abermals um und vergewisserte sich, daß uns nie- mand belauschte. Dann beugte er sich vor. »Mein Gedankengang war folgender: Es ist ja ganz gut und schön, mündliche Schilderungen sexueller Aktivitäten aufzuzeichnen, es ist unerläßlich, es ist das Fundament dessen, was wir erreichen wollen – aber trotzdem könnten wir viel, viel mehr tun.«
Corcorans Blick schoß zu mir, aber ich zuckte nur ganz leicht
die Schultern. Ich konnte mir nicht vorstellen, worauf Prok
hinauswollte.
»Ich habe für heute abend eine kleine Änderung arrangiert«, sagte
Prok, nahm seine Gabel, betrachtete sie, als hätte er ein solches
Utensil noch nie gesehen, und legte sie wieder hin, als wäre ihre
Funktion ihm ein Rätsel. »Ich will es mal so sagen«, fuhr er fort.
»Unserer Spezies ist es gelungen, Tiere zu domestizieren und in den
verschiedensten Rassen zu züchten, ihre sexuellen Aktivitäten also
zu beobachten und in die gewünschten Bahnen zu lenken. Nur bei
Menschen ist uns das nicht gelungen. Die sexuellen Aktivitäten zu
beobachten, meine ich.«
»Ja, natürlich.« Corcoran erwärmte sich für den Gedanken. »Wir
ergehen uns zwar in sexuellen Aktivitäten, aber wir beobachten uns
dabei nicht. Wir sind dabei nicht gerade Wissenschaftler, stimmt’s,
John?«
»Tja«, sagte ich, »na ja, stimmt schon«, und grinste. »Im Eifer des
Gefechts denkt man nicht in wissenschaftlichen Kategorien, das tut
niemand –«
»Richtig. Wo ist da deine Objektivität?« Corcoran strahlte. Er war
einem Gedanken auf der Spur. Der Augenblick gehörte ihm. »Wenn du
mit einer Frau zusammen bist, in den Fängen der Leidenschaft, ist
alles andere, jede andere Überlegung vergessen, und an einem
gewissen Punkt ist es sogar ganz egal, wie sie aussieht, solange
sie nur –«
»Genau.« Prok sah uns zufrieden an. Seine blauen Augen ließen uns
nicht los, als er verstummte, weil der Kellner an den Tisch trat
und wir uns schweigend das dampfende Essen servieren ließen. Der
Mann blieb hoffnungsvoll stehen – konnte er uns noch etwas bringen?
–, doch Prok winkte ab. Als der Kellner zu seinem Platz am anderen
Ende des Saals zurückgekehrt war, stocherte Prok ein wenig in
seiner Vorspeise herum: Corned beef und Kohl, ohne Kartoffeln – er
aß nie welche. »Heute abend werden wir etwas tun, was noch nie ein
Forscher gewagt hat, jedenfalls nicht daß ich wüßte: Wir werden den
Akt selbst beobachten, seine Ausübung. Es ist alles
vorbereitet.«
Mit klopfenden Herzen schwiegen wir, bis er hinzufügte: »Bei einer
der jungen Frauen. Wir werden in ihrem Zimmer – eigentlich in ihrem
Wandschrank – versteckt sein, wenn sie ihre Freier bedient.«
»Du meinst«, entfuhr es mir, »wir werden sie belauschen, als ...
als wären wir ... na ja ... Spanner?«
»Voyeure«, korrigierte mich Corcoran mit einem leisen Lächeln.
Prok sah uns an. »Ja«, sagte er. »Genau so.«
Jean Sibelius, einer von Proks erklärten Favoriten, hatte im Mittelpunkt des vorigen musikalischen Abends gestanden. Ich war ohne große Begeisterung hingegangen, aber angenehm überrascht worden. Swing war, wie gesagt, mehr nach meinem Geschmack als klassische Musik, aber die Stücke, die Prok für den Abend ausgewählt hatte, waren melodisch und warm, beinahe verträumt, und bevor ich wußte, wie mir geschah, rückte alles ringsumher von mir ab, und ich überließ mich der Musik wie einer Naturgewalt. Etwas Ähnliches geschah wahrscheinlich, wenn man Jitterbug tanzte – Iris und ich, direkt vor der Bühne –, doch da wurde es vom Rausch des Augenblicks und dem herzschlagähnlichen Wummern der Baßtrommel bewirkt. Das hier war anders. Kaum hatte die Nadel auf der Platte aufgesetzt, da versank ich ganz ruhig und entspannt in träumerischen Betrachtungen, und meine Gedanken glitten ohne Logik und Zusammenhang von einem Gegenstand zum anderen. Zum ersten Mal begriff ich, was die Musik für Prok war und warum er sich so dafür begeisterte.
Iris und ich waren ausnahmsweise pünktlich, und ich setzte mich,
wie Prok es von mir erwartete, auf einen Stuhl in der ersten Reihe.
Iris saß zwischen Corcoran und mir, die Präliminarien beschränkten
sich diesmal auf weiche Cracker, Obstpunch ohne Rum und ein bißchen
Geplauder mit President Wells, und ich weiß noch, daß ich über
Wells nachdachte, als er neben mir Platz nahm. Er war ein kleiner,
rundlicher, energischer Mann, der Prok gegen den Sturm von Kritik,
Beschimpfungen und zweideutigen Anspielungen, der uns ständig
entgegenwehte, in Schutz nahm, und dennoch war er über vierzig und
unverheiratet, und das war zu jener Zeit, an jenem Ort eigenartig,
sehr eigenartig. Ich nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit einen
Blick in seine Geschichte zu werfen.
Es war kühl im Raum. Prok hatte den Thermostaten
heruntergeschaltet, in der Annahme, daß die Körperwärme seiner
Gäste den Raum ausreichend heizen würde – sie und die Klangfarbe
der Musik. Im Kamin brannte ein kleines Feuer, doch es erstarb,
denn Prok hatte keine Lust, sich darum zu kümmern, wenn eine Platte
spielte, und wer konnte ihm das verdenken? Also froren wir, und mir
taten die Gäste ein wenig leid, die zum ersten Mal da waren und
sich, im Gegensatz zu Iris, Corcoran und mir, nicht wie für ein
Freiluftkonzert gekleidet hatten. Dennoch war Prok so liebenswürdig
und herzlich wie immer und machte uns kurz mit dem Leben des
Komponisten und dem Stück, das wir hören würden, bekannt. Er sprach
über Sibelius’ Liebe zu seiner Heimat Finnland, über den Zauber der
Wälder, die er in seinen Klangbildern heraufbeschwor, und darüber,
daß die Mehrzahl seines emotionsreichen Schaffens auf dem
finnischen Nationalepos Kalevala beruhte. Es wurde still,
als er zum Grammophon ging, die Nadel prüfte und sie auf die Platte
setzte. Wir hörten den »Schwan von Tuonela« und eine Auswahl aus
»Pohjolas Tochter«, und ich schloß, wie gesagt, einfach die Augen
und ließ mich von der Musik davontragen. Es gab eine Pause, in der
Mac alkoholfreie Erfrischungen anbot und die Gäste sich erhoben und
ein wenig plauderten, und danach hörten wir noch einige Lieder –
ich erinnere mich ganz deutlich an »War es ein Traum?« und »Das
Mägdlein war beim Stelldichein«, denn ich kaufte mir bei nächster
Gelegenheit eine Platte mit diesen Stücken, und ich liebe sie noch
heute. Danach brach man auf. Ich erwähne das alles nur, weil in der
Pause etwas geschah – oder auch nur vielleicht geschah, denn ich
bin nicht sicher, ob es der Beginn von etwas war, habe aber einen
gewissen Verdacht.
Jedenfalls gab ich mir mit einer Handvoll ledriger Cracker und einem Becher voll abgestandenem Punsch alle Mühe, eine gute Figur zu machen, während Prok mich und Wells in einer Ecke festnagelte und sich über die soeben gehörte Musik (und unsere Forschungen natürlich) verbreitete, als ich bemerkte, daß Iris allein mit Corcoran am anderen Ende des Raums stand, genau wie beim letzten Mal, im Herbst, als wir alle drei bei einem solchen musikalischen Abend gewesen waren. Ich hätte nicht weiter darauf geachtet, wenn sie mir damals am Telefon, während ich im Glashäuschen der Telefonzelle unglücklich in mich zusammengesunken war, nicht gesagt hätte: Er
hat an mirgehangen wie eine Klette. Prok erzählte President Wells und mir (obwohl ich das schon oft genug gehört hatte), daß er während einer musikalischen Darbietung gern in den Gesichtern der Zuhörer nach Zeichen sinnlicher Erregung suche – ein über siebzigjähriger emeritierter Professor sei bei Mahlers Lied von der Erde tatsächlich sexuell erregt gewesen –, doch ich beobachtete Iris und ihr Gesicht, ich beobachtete Corcoran und sah, daß er jede ihrer Bewegungen vorauszuahnen schien, als tanzten die beiden zur Musik eines imaginären Orchesters. »Prok«, unterbrach ich ihn, »President Wells, würden Sie mich bitte, äh, entschuldigen ... Ich bin gleich wieder da ...«
Prok sah mich verwundert an, hielt in seinem Redestrom jedoch nicht inne. Als ich in Richtung Toilette davonging, hörte ich ihn sagen: »Natürlich würde ich den Namen dieses Herrn niemals preisgeben, denn es könnte ihm peinlich sein. Obgleich daran eigentlich gar nichts Peinliches ist.«
Ich hatte, für den Fall, daß Prok und Wells mir nachsahen, einen Umweg über die Toilette gemacht und trat nun von hinten zu Corcoran und meiner Frau, und das schien sie zu erschrecken. Was auch immer es gewesen war, worüber sie eben noch so angeregt geplaudert hatten – es fiel über die Klippe, und die beiden blickten mich verwirrt an. Ich wollte irgend etwas Unbekümmertes sagen wie: »Ich störe doch nicht etwa?«, doch als ich ihre Gesichter sah, blieben mir die Worte im Hals stecken, und ich brachte nur ein »Hallo« heraus.
Corcoran lächelte mich an. »Oh, hallo, John. Wir haben gerade darüber gesprochen, wie Prok unseren Rektor mit Beschlag belegt hat.« Er sah verstohlen zu den beiden, die noch immer in der Ecke standen. Prok hielt einen Vortrag, Wells unterdrückte ein Gähnen.
Iris sagte: »Er läßt keine Gelegenheit aus, nicht?«
Ich war mit einem Mal wütend oder gereizt – gereizt ist wohl das
bessere Wort. »Da hat er auch recht«, sagte ich und starrte in ihr
Gesicht, und jetzt lächelte ich nicht, jetzt war ich nicht leicht
und unbekümmert. »Du würdest dich wundern, wie sehr die Institute
um Finanzmittel kämpfen müssen. Wir haben Aussichten auf weitere
Forschungsstipendien, und das wiederum könnte Wells, oder vielmehr
die Universität, überzeugen, uns mehr Mittel für Gehälter,
Material, Reisekosten und so weiter zu geben.«
Iris setzte ein kleines amüsiertes Lächeln auf. »Also?« sagte
sie.
»Also wirf Prok nicht vor, daß er sich ... daß er sich
einschleimt oder wie immer du das nennen willst, denn wenn
er nicht wäre, dann wären wir –«
»In den Arsch gekniffen«, sagte Corcoran, und sein Lächeln wurde
noch breiter. Er hatte ein Glas mit malvenfarbenem Punsch in der
Hand und drehte es mit der anderen Handfläche hin und her, als
wollte er gleich drei oder vier weitere nehmen und damit
jonglieren, um ein bißchen Schwung in die Party zu bringen, ohne
Rücksicht auf Prok und Wells und die kultivierte Atmosphäre des
Abends. Doch dann legte er mir eine Hand auf den Arm. »Schon gut,
John«, sagte er, und auch Iris wärmte ihr Lächeln auf, »wir sind
auf deiner Seite. Wir sitzen doch alle im selben Boot, oder
nicht?«
Ich glaube, das war der Zeitpunkt, an dem sich mein Verdacht regte – Corcoran, der sexuelle Olympier auf der Pirsch, und Iris, die Frau meines Lebens, die noch immer unter dem litt, was ich mit Mac und Prok im Bett getrieben hatte –, doch ich war wie gelähmt. Ich wollte einfach glauben, daß da nichts weiter war als ein gutes Einvernehmen zwischen meinem Kollegen und meiner Frau, und ich fürchtete mich vor einer Konfrontation mit Iris, denn ich wußte, daß sie mir alles, was ich gesagt hatte, an den Kopf werfen würde, jeden Satz, jede Ausrede, jede Rationalisierung, alles, was ich über unser animalisches Wesen ausgeführt hatte, über Sex als reine Körperfunktion, die unabhängig war von irgendwelchen Gefühlen, nicht anders als Hunger oder Durst. Natürlich machte ich Andeutungen. Ich stellte ihr kleine Fallen. Ich kam von der Arbeit nach Hause, machte ein Kompliment über den Duft des Essens auf dem Herd, schenkte mir einen Drink ein, setzte mich mit ihr hin und erzählte, wie mein Tag gewesen war, und dazu gehörte natürlich auch Corcoran. Ich ließ seinen Namen so oft wie möglich fallen und beobachtete ihr Gesicht. Sie zeigte nie eine Reaktion. Ich fragte sie, was sie von ihm hielt. Ach, sagte sie, er sei ganz nett. Netter, als sie gedacht habe. Inzwischen sei sie überzeugt, daß er sich sehr gut machen werde, und es tue ihr leid, daß sie ihn anfangs so negativ beurteilt habe. »Ja«, meinte ich, »ich hab’s dir ja gesagt.« Und dann, mit einem Lächeln, als wäre das alles bloß ein Scherz: »Und wie ist er so als Klette?«
Sie hatte plötzlich zu tun: Auf dem Herd kochte ein Topf über, oder es mußte sofort eine Zwiebel geschält werden. Es war ein Scherz, natürlich war es das, und sie lachte nur. »Er ist bei allen Frauen so«, sagte sie. »Und bei Männern auch. Aber das weißt du besser als ich.«
Wäre ich eine Schildkröte gewesen, eine von Darwins Galapagosschildkröten, die Prok oft erwähnte, dann hätte ich meine freiliegenden Körperteile unter meinen schützenden Panzer ziehen können, und auf eine metaphorische Art war es genau das, was ich tat. Wir fuhren nach Indianapolis, drei Kollegen auf einer gemeinsamen Mission, und Corcoran und ich saßen einander gegenüber am Tisch, als Prok uns eröffnete, daß wir entgegen dem Inhalt der Empfehlungsschreiben von Dean Briscoe, President Henry B. Wells und Robert M. Yerkes etwas Illegales, wenn nicht Unmoralisches tun würden: Heute nacht zumindest würden wir Spanner sein.
Ich muß zugeben, daß der Gedanke daran mein Herz schneller klopfen ließ. Ich bin überzeugt, daß jeder von uns ein Voyeur ist, daß jeder darauf brennt, andere Menschen in ihren privatesten Augenblicken zu sehen, damit er diese mit seinen eigenen vergleichen und das erregende Gefühl der Überlegenheit genießen kann oder vielleicht, am anderen Ende des Spektrums, mit der harten, ernüchternden Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert wird. So
also macht man das, denkt man dann. Das könnte ich auch. Oder etwa nicht?Na klar könnte ich, und zwar noch besser. Am liebsten jetzt gleich – sieh doch, wie sie sichan ihn klammert, wie sie sich ihm entgegenkrümmt, wie sie –
Doch wir waren natürlich Wissenschaftler und überzeugt, daß unsere Verpflichtung zur Forschung Vorrang vor allen anderen Erwägungen haben sollte. Wie andere Wissenschaftler mußten wir Feldforschung betreiben und sexuelle Akte in allen Variationen beobachten – wie hätten wir uns sonst Experten nennen dürfen? Wie konnten unsere Daten die angestrebte Gültigkeit besitzen, wenn sie nur auf dem Papier standen? Wenn man es recht bedenkt, dann hätte alles, was wir taten, jede genaue Beobachtung, jeder Meßwert, angesichts von hundert bereits vorliegenden Studien eigentlich überflüssig sein müssen. Aber es gab keine hundert bereits vorliegenden Studien, es gab keine fünfzig – es gab nicht mal eine einzige. Wir hatten unsere Kultur geschaffen, wir hatten Kriege geführt und noch die kleinsten Dinge, die Mikroben und Atome, ergründet, und dennoch wollten die Moralapostel und Heuchler uns niederbrüllen. Sex ist schmutzig, sagten sie. Sex ist etwas Anstößiges, Privates, Obszönes, als Forschungsgegenstand ungeeignet. Nun denn. Wir standen auf, bezahlten und gingen hinaus in die Nacht, um ihnen zu beweisen, daß sie unrecht hatten.
Diesmal regnete es nicht, ja für die Jahreszeit war es nicht einmal besonders kühl. Prok hatte keinen Mantel an, obgleich die Straßen hier und da noch Pfützen aufwiesen von einigen Wolkenbrüchen, die in der vergangenen Woche hier niedergegangen waren, doch er hatte Gummigaloschen über seine Schuhe gezogen. Corcoran trug seinen braunen Hut und einen hellbraunen Trenchcoat und sah aus, als wäre er soeben aus einem Film über feindliche Agenten und kriegsentscheidende Missionen getreten. Ich dagegen sah aus wie immer: Anzug, Krawatte, kein Hut, und meine Füße steckten in frisch geputzten Schuhen aus Pferdeleder und würden, wenn ich nicht scharf auf Pfützen achtete, eben naß werden. »Also gut«, sagte Prok und blieb an einer Straßenecke stehen, »ich glaube, wir müssen hier entlang, die Straße hinunter und dann einen Block nach links. Unsere Kontaktperson ist übrigens eine junge Frau. Sie hat rotes Haar und heißt Ginger.«
Wir fanden Ginger ohne große Mühe. Sie trug ein billiges Pelzimitat, saß auf einer Bank im hinteren Teil einer Billardkneipe und trank irgendeine Limonade durch einen Strohhalm. Neben ihr fläzte sich ein Mann, sehr modisch gekleidet, mit greller Krawatte und einer Hose mit extrem weit geschnittenen Beinen, die seine dünnen Beinchen verbargen, jedenfalls so lange, bis er sich zurücklehnte, um sich eine Zigarette anzuzünden, und dabei die Knöchel kreuzte. Es war Gerald, Gingers Zuhälter, und er beäugte uns mißtrauisch, bis Prok mit einer kurzen Ansprache in breitem Slang, einer Spende von drei Dollar für den Unterhalt seiner Mitarbeiterinnen und dem Versprechen, einen Dollar für jede Geschichte, einschließlich der eigenen, zu bezahlen, sein Herz eroberte. Ginger war üppig gebaut und mindestens eins siebzig. Sie war zweiundzwanzig, von einer stämmigen Fleischigkeit, die sie mit spätestens dreißig verfetten lassen würde, und hatte den milchigen Teint einer echten Rothaarigen. Sie rührte sich nicht. Sie saugte mit ihrem roten Kußmund an dem Strohhalm und sah zu, wie ihr Zuhälter Proks Geldscheine zusammenfaltete und in den Tiefen seiner Hosentasche verschwinden ließ. »Okay«, sagte Gerald dann, »okay.« Lächelnd entblößte er hoffnungslos ruinierte Zähne in diversen Stadien der Verfärbung. Er sah zu Ginger, und das Lächeln verschwand. »Also, worauf wartest du? Setz deinen Arsch in Bewegung, und nimm diese Herren gleich mit.«
Dann waren wir draußen und wichen den Pfützen aus. Prok ging an Gingers Seite, als führte er sie zu einem Debütantinnenball, der, in reines weißes Licht getaucht, wunderbarerweise gleich hin- ter der nächsten Ecke stattfinden würde. Corcoran und ich folgten ihnen. Es war ein unbehaglicher Moment, und keiner von uns, nicht einmal Prok, sagte etwas. Ginger ging mit hypnotisierend rollen- den, wiegenden Hüften, und im Dunkel erschienen Gesichter und verschwanden wieder, mißtrauische Augen versuchten herauszufinden, ob wir Freier oder potentielle Überfallopfer waren. Ginger hatte ein günstig gelegenes Zimmer im Erdgeschoß eines viktorianischen Hauses, das dringend hätte renoviert werden müssen, und sie schwenkte wortlos zur Seite und öffnete die unverschlossene Tür, ohne uns hereinzubitten oder sich auch nur umzusehen, ob wir noch da waren.
Im Zimmer herrschte ein heilloses Durcheinander, aber das ist auch alles, woran ich mich erinnere. Außer, daß es recht hoch war und über einen begehbaren Schrank verfügte, der früher wohl eine Art Vorzimmer gewesen war. Man hatte über der Türöffnung einen Draht gespannt, an dem ein vom vielen Anfassen speckig gewordener Flickenvorhang hing. Im vorderen Teil baumelten an Drahtbügeln Gingers Kleider – es waren etwa ein Dutzend, und sie rochen nach ihren Achselhöhlen und dem Parfüm, mit dem sie vor den Freiern die Gerüche ihrer Vorgänger verbarg –, und Schuhe und Unterwäsche lagen auf dem Boden. »Da wären wir«, sagte sie mit hoher, flötender Stimme, die zu einer halb so großen Frau oder einem Kind gepasst hätte, und sie hielt die Hand auf, damit Prok seinen versprochenen Dollar hineinlegte.
»Klasse«, sagte Prok. »Einfach Spitze.« Er zog den Vorhang zurück, um die Örtlichkeit in Augenschein zu nehmen, und das Grinsen, mit dem er Ginger ansah, war beinahe dämonisch. Das Licht, schummrig und gelblich, stammte von einer Nachttischlampe, über die Ginger ein orangerotes Tuch gelegt hatte, und in diesem Licht wirkte sein Gesicht schwer von Zufriedenheit. Ich warf Corcoran einen Blick zu. Auch er sah aus wie ein Dämon. Ich fragte mich, was auf meinem eigenen Gesicht stand. »Das paßt«, sagte Prok und legte den Dollarschein in Gingers Hand, während wir die beiden anstarrten, als hätten wir noch nie gesehen, wie Geld den Besitzer wechselte. »Aber vielleicht könntest du mir noch einen Gefallen tun. Nur einen kleinen.«
Sie hatte sich umgedreht, um das Geld irgendwo an ihrem Körper
zu verstauen, und fuhr nun argwöhnisch herum. »Kommt drauf an.«
»Wie wär’s« – Prok ging zur Nachttischlampe und entfernte das Tuch
–, »wenn du das heute mal weglassen würdest? Außer es hängt dein
Herz dran ...«
Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Okay«, sagte sie,
»klar. Wer zahlt, sagt an.«
Während sie loszog, um ihren ersten Freier einzufangen (und ich
weiß nicht, ob ich es schon erwähnt habe, aber »Freier« war der
Ausdruck, mit dem Prostituierte damals ihre Kunden bezeichneten –
heute ist er weiter verbreitet, aber damals kannten ihn nur
Personen aus den unteren Schichten), machten wir es uns, so gut es
ging, im Wandschrank gemütlich. Wir räumten Gingers Unterwäsche
beiseite, stellten den einzigen Stuhl, den es in dem Zimmer gab,
hinein und vereinbarten, ihn reihum zu benutzen, um die Anstrengung
durch das lange Stehen zu mindern – es würde eine lange Nacht
werden, und wir durften uns nicht durch Recken und Strecken,
geschweige denn durch ein Husten oder Niesen verraten. Wir sprachen
nur noch im Flüsterton und waren in aufgeregter Erwartung. Wie es
war? Etwa so wie die Erregung, die man als Kind beim Versteckspiel
empfunden hat, nur daß noch dieser herrliche Erwachsenenkitzel des
Verbotenen dabei war. Echter Sex. In Kürze würden wir echten Sex
sehen.
Es dauerte nicht lange. Vor der Tür erklangen Schritte, wir hörten
leises Gemurmel und das Klicken der Klinke und erstarrten. Prok
hatte den Vorhang zugezogen – wir waren nacheinander in Gingers
Zimmer gegangen und hatten uns davon überzeugt, daß wir dahinter
vollkommen verborgen waren –, und zwar so, daß wir das Geschehen
aus zwei Blickwinkeln verfolgen konnten. Corcoran spähte durch den
Schlitz am einen Ende, Prok und ich waren am anderen Ende. Er saß
reglos wie ein Fakir auf der Stuhlkante, und ich beugte mich so
dicht über ihn, daß wir praktisch vereint waren. Bewegungen,
Stimmen. Ich spürte Proks Anspannung und wagte kaum zu atmen. Wir
konnten das nun hellbeleuchtete Bett sehen, nicht aber die Tür und
das, was dort geschah: Offenbar umarmten sich Ginger und ihr
Freier. Wir hörten das Rascheln von Kleidern, Schritte auf den
Dielen und dann den unvermittelten, überraschenden Baß eines
Mannes. »Scheiße, das ist deine Bude?« sagte er, und beim Klang
seiner Stimme schwang mein ganzer Körper mit, von der Hirnrinde,
die das akustische Signal registrierte, bis zu den Fußsohlen.
»Scheiße«, sagte er wieder. Bewegung, und da waren sie – da war er,
keine zwei Meter von uns entfernt. Ich würde gern schreiben, er sei
eine Art Schläger gewesen, ein tätowierter Seemann, der hier
gestrandet war, ein Prachtexemplar, doch so war es nicht. Er
war eher schmächtig, mittelgroß, in jeder Hinsicht
durchschnittlich, und seine Haut wirkte in dem grellen Licht
körnig. Ginger war auch da, ihr fülliger Körper, ihre üppigen
Brüste. »Also bläst du mir einen oder was?« fragte er.
»Was immer du willst, Schätzchen«, sagte sie, beugte sich vor und
strich mit der Hand über den Schritt seiner Hose. »Wer zahlt, sagt
an.«
Sie trug keinen Slip – Strümpfe, ja, an der schwellenden Mitte der
Oberschenkel gehalten von schwarzen Strumpfbändern – und zog sich
später nur widerwillig ganz aus; dies aber war es, was wir wollten,
wie Prok zuvor noch einmal klargestellt hatte. (Für sie war es
lästig und reine Zeitverschwendung, das Kleid und den Büstenhalter
auszuziehen, denn das hinderte sie daran, den jeweiligen Kunden so
schnell wie möglich abzufertigen, damit sie sich den nächsten
vornehmen konnte, doch für uns war es unerläßlich, denn wir wollten
sehen, wie der weibliche Körper auf sexuelle Stimulation reagiert.)
Der Mann – der Kunde, der Freier – ließ sie seinen Hosenschlitz
öffnen, obgleich sie noch ganz bekleidet war, und während sie ihn
oral befriedigte, massierte er ihre Kopfhaut und drückte an ihrem
Kopf herum, als wäre er eine Bowlingkugel, die er gleich aufnehmen
und auf die Bahn werfen wollte. Ihre Lippen glänzten von den
Sekreten der Cowper-Drüse, die als natürliches Gleitmittel
abgesondert werden, und sie nahm ihn ganz in den Mund. Das war sehr
erstaunlich. Sie nahm seinen ganzen Phallus in den Mund, bis zur
Wurzel, als wäre sie eine Schwertschluckerin auf dem Jahrmarkt.
Später fanden wir übrigens heraus, daß zu den zahlreichen
physiologischen Modifikationen, die mit sexuellen Aktivitäten
einhergehen, auch die Aufhebung des Würgereflexes gehört, die bei
einem hohen Prozentsatz von Männern und Frauen auftritt, womit die
Anpassungsfähigkeit der Oralhöhle an sexuelle Bedürfnisse
hinreichend demonstriert wäre. Doch lassen wir das. Soll ich Ihnen
sagen, wie verwundert ich war? Wie – ganz und gar unprofessionell –
erregt?
Er zog sich aus ihr zurück, bevor er zum Orgasmus kam, und erst
jetzt ließ er die Hose herunter. »Aufs Bett, Schwester«, sagte er.
»Wenn du denkst, du kommst so leicht davon, hast du dich
geschnitten. Ich hab schließlich für ‘ne komplette Nummer
bezahlt.«
Ginger streckte sich gehorsam auf dem Bett aus, zog das Kleid hoch
und stellte ihre Nacktheit aus, doch dann schien sie sich an ihre
Aufgabe zu erinnern: Wir waren im Wandschrank, ihre Hilfsfreier,
und auch wir hatten für unsere komplette Nummer bezahlt. Sie setzte
sich auf, nahm seinen Penis in die Hand und streichelte ihn ein
bißchen; dann zog sie das Kleid über den Kopf, öffnete den
Verschluß ihres Büstenhalters und ließ ihre Brüste frei schwingen.
Sofort warf er sich auf sie und stimulierte ihre Brustwarzen mit
der Zunge und den Fingern, während sie seinen Penis in sich
einführte, doch mit einem Mal hielt er mitten im Stoß inne. »Das
Licht«, sagte er. »Was soll das Scheißlicht? Hast du denn gar
keinen Sinn für Romantik?«
Doch, das hatte sie. Jedenfalls sah es so aus. Denn bis zu dem
Augenblick, als er seinen Penis wieder rauszog und die Hand nach
dem Lichtschalter ausstreckte, hatte sie gestöhnt und gewimmert,
als gäbe es auf der ganzen Welt keinen besseren Mann als ihn, als
wäre kein Augenblick je so reich und bedeutsam gewesen wie dieser.
»Laß es an, Schatz«, sagte sie. Eine dramatische Pause, sie hatte
den Zeigefinger in den Mund gesteckt. »Ich will jeden Zentimeter
von dir sehen.«
12
Das erste, was ich tat, als wir wieder in Bloomington waren: Ich ging zu Iris. Es war zwei Uhr morgens, ich war schmutzig, erschöpft, hungrig – geradezu ausgehungert, denn wir hatten unterwegs nicht angehalten, um etwas zu essen –, in meinem Hinterkopf summte das Motorengeräusch des Buick noch immer wie eine Dauerstörung. Ich hatte persönlich acht Geschichten aufgezeichnet (darunter auch die von Gerald und Ginger) und im Verlauf der drei Nächte, die wir in Gingers Gesellschaft verbracht hatten, zusammen mit Prok und Corcoran zugesehen, wie sie mit sechzehn verschiedenen Männern Geschlechtsverkehr hatte. Erstaunlicherweise war die Variationsbreite recht klein, und obgleich ich zugeben muß, die ganze Zeit über in einem Zustand sexueller Erregung gewesen zu sein, setzte nach einer Weile eine gewisse Gewöhnung ein. Die Männer waren behaart oder unbehaart, groß oder klein, dick oder dünn, sie trugen lange Unterhosen oder Boxershorts, Sportjacketts oder Flanellhemden, Galoschen, Stiefel oder Tennisschuhe. Sie hatten Leberflecken, Muttermale und Tätowierungen, sie waren beschnitten oder unbeschnitten, ihre Penisse zeigten nach rechts oder links oder senkrecht nach oben, sie legten ihre Kleider ordentlich gefaltet auf den Schreibtisch oder warfen sie in einem Haufen auf den Boden. Was den Sex betraf, so war er ganz und gar konventionell: Etwa in der Hälfte der Fälle begann er mit einer kurzen Fellatio, sonst lediglich mit etwas Tasten, Lecken und Drücken, gefolgt von der Penetration, dem Pumpen der nackten weißen Pobacken mit schlaffen oder straffen Glutäalmuskeln, Gingers zunehmend theatralischer Simulation orgastischer Ekstase und schließlich dem abrupten Ende, der absoluten Gleichgültigkeit gegenüber der Nacktheit der Frau, ihren entblößten Genitalien oder auch nur ihrem Gesicht, während die Kleider schweigend aufgehoben und angezogen wurden, und dann wurde die Tür geöffnet und wieder geschlossen.
Aber ich ging zu Iris. Ich stieg aus Proks Wagen und ging sofort in die Wohnung, in der es ganz still und dunkel war – das einzige Licht kam vom matten Schein einer Straßenlaterne und vom Mond, der mit all seinem symbolischen Gewicht über der Stadt hing. Ich ging ins Schlafzimmer. Iris schlief. Sie hatte sich vor der Kälte unter die Decke verkrochen, ihr Haar lag ausgebreitet auf dem Kissen, sie blinzelte mit einem Auge, als ich die Nachttischlampe einschaltete, das Zifferblatt des Weckers leuchtete, und in der bodenlosen Höhle der Nacht war es ganz still. Ich zog mich aus, Jackett, Hemd, Hose, und das Licht war an. Ich wollte, daß sie mich sah, daß sie mich und das Souvenir bewunderte, das ich im Wandschrank einer Hure in Indianapolis drei schreckliche Nächte lang für sie festgehalten hatte. »John?« murmelte sie. »John? Wieviel Uhr ist es?«
Ich roch sie, einen Geruch, den ich nicht beschreiben kann, ihren ganz persönlichen Geruch, der wie kein anderer war, zusammengesetzt aus Körperwärme, ihrer Hand- und Gesichtscreme, den Duftspuren ihres Shampoos, ihres Parfüms und ihres natürlichen Haarfetts. »Schhh«, machte ich und wartete darauf, daß sie mich würdigte, daß sie sah, was ich ihr mitgebracht hatte, und obwohl ich aus unseren publizierten Forschungsergebnissen weiß, daß die Mehrheit der Frauen auf den Anblick eines erigierten Penis mit Gleichgültigkeit reagiert, daß ein Teil sogar davon abgestoßen ist, spielte das in dieser Nacht überhaupt keine Rolle. Ich war so erregt, daß ich zu platzen glaubte, und ich wollte, daß sie es sah, daß sie es wußte und spürte. »Schhh«, wiederholte ich und warf die Decke zurück: all die Wärme, der Anblick ihrer nackten Füße und Knöchel, ihr Gesicht, das jetzt mir zugewendet war, die weit ausgebreiteten Arme. Ich schlüpfte ins Bett und schob ihr Nachthemd hoch. Wir löschten das Licht erst, als es hell wurde.
Eine von tausend, von fünftausend Nächten. Ein Mann und seine Frau – ein Sexforscher und seine Frau – stillen ihr Begehren. Es war die normalste Sache der Welt – oder vielmehr nein, es war ein Fest, denn wir hatten eine eigene Wohnung und mußten keine Rücksichten auf John junior oder sonst jemanden nehmen. Wir hatten sechs- oder siebenmal pro Woche Verkehr. Wir experimentierten mit ausgedehntem Vorspiel, aufreizenden Posen und Gesten, Strip-Poker und allen Stellungen, die uns einfielen. Und die ganze Zeit schritt das Projekt fort und nahm Fahrt auf, und Corcoran und ich kamen uns als Freunde, als Kollegen immer näher, obgleich wir beide um Proks Gunst buhlten.
Eines Abends bot Corcoran mir nach der Arbeit an, mich nach Hause zu fahren. Unterwegs hielten wir an einer Kneipe, um noch etwas zu trinken. Ich überlegte, ob ich Iris anrufen und ihr sagen sollte, daß ich später kommen würde, aber das war eigentlich nicht nötig. Bei Prok gab es keinen pünktlichen Feierabend. Ich wußte nie, wann ich zu Hause sein würde, aber es war selten vor sieben Uhr. Die Kneipe war die, in der ich in meinem letzten Studienjahr oft gesessen hatte, wo ich nach Proks Diashow atemlos und aufgeregt mit Laura Feeney und ihren Freunden eingekehrt war. Als ich daran dachte, mußte ich lächeln. Es kam mir vor, als wäre es hundert Jahre her – und angesichts dessen, was ich seitdem gelernt und erfahren hatte, war es das auch. Corcoran legte einen Geldschein auf die Theke und fragte mich, was so amüsant sei.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich glaube, es liegt an dieser
Kneipe. Hier bin ich als Student oft gewesen.«
In diesem Augenblick drehten wir beide uns um, als würden wir von
einer größeren Kraft dazu gezwungen, und sahen eine Studentin in
langen Hosen in Begleitung eines gerade mal achtzehnjährigen Jungen
vorbeigehen. »Perlen vor die Säue«, sagte Corcoran.
Ich grinste. »Ja«, sagte ich, »allerdings.«
Er starrte ins Leere und klopfte geistesabwesend mit einem
Fingerknöchel auf die Theke. »Mit der wüßte ich was anzufangen«,
sagte er. »Du auch?«
Ich sagte, mir gehe es ebenso, und dann kam der Barmann, und wir
bestellten zwei große Martinis mit Extraschuß, obwohl ich mir
eigentlich gar nicht viel aus Gin machte. Es war einfach so, daß
Corcoran zuerst bestellte, und die Bestellung klang gut, also sagte
ich: »Dasselbe.«
Worüber sprachen wir an diesem Abend, in dessen Verlauf wir drei
Martinis tranken und ich schließlich einen Rausch hatte und mein
Kopf sich anfühlte, als wäre er ein Topf, in dem Wasser hin und her
schwappte? Über Sex natürlich. Über das Projekt. Über Prok. Über
die unmittelbare Zukunft, nämlich unsere nächste Reise, die zwei
Tage später stattfinden sollte. Irgendwann gab es eine Pause, und
Corcoran beugte sich vor und zündete eine Zigarette an. »Wie geht’s
dir eigentlich damit, mit diesen Reisen, meine ich?« fragte er und
löschte mit einer wedelnden Handbewegung das Streichholz. »Macht
das – wie soll ich sagen? – irgendwelche Schwierigkeiten? Mit
Iris?«
Ich sah durch den Raum. Mein Blick kreuzte sich mit dem der
Studentin, die zuvor an uns vorbeigegangen war, und sofort schlug
ich die Augen nieder. »Na ja, klar.« Der dritte Martini war warm
geworden. Mein Gaumen fühlte sich so taub an, als hätte mir der
Zahnarzt ein Betäubungsmittel gespritzt. Das war der Gin. Ich
mochte keinen Gin und wußte nicht, warum ich ihn überhaupt trank.
»Aber das gehört nun mal zu unserer Arbeit. Sie versteht das. Wir
beide verstehen das.« Ich hob das Glas mit dem dünnen Stiel an den
Mund und war mir mit einem Mal seiner Zerbrechlichkeit bewußt. »Und
wie ist es bei euch? Ihr habt... na ja ... Wie ist es mit deiner
Frau?«
Corcoran sah mich ausdruckslos an. Auf seinem Haar schimmerten
goldene Lichtflecken. Sein Schulterzucken begann in den Oberarmen,
wanderte über die Schultern zum Hals und lief in einer Drehung des
Kopfes aus. »Es ist schwierig, aber die Kinder gehen noch bis zum
Juni in die Schule – wir konnten sie nicht mitten im Schuljahr da
rausreißen. Und wenn ich es schaffe, hinzufahren – du weißt ja,
vorletztes Wochenende war ich dort –, und wenn wir dann zusammen
sind ... Ich kann dir sagen, es ist einfach unbeschreiblich, die
wilde Leidenschaft, das kannst du mir glauben.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Bis dahin war ich Violet
Corcoran nur einmal begegnet, als sie mit dem Bus gekommen war, um
sich ein wenig umzusehen und ihren Mann zu motivieren, eine
passende Wohnung für die ganze Familie zu finden. Sicher, sie war
attraktiv – italienischer Abstammung, mit einem Teint von der Farbe
von Olivenöl, sehr dunklen Augen und einem Mund, der, auch wenn er
ganz entspannt war, immer leicht schmollte –, aber sie war nichts
im Vergleich zu Iris. Vielleicht war ich voreingenommen, natürlich
war ich das, doch in meinen Augen war Iris eine natürliche
Schönheit und spielte in einer ganz anderen Liga als Violet
Corcoran. Ich versuchte, mir Violet nackt vorstellen, im Bett mit
Corcoran, aber das Bild flackerte und verschwand, bevor ich es
festhalten konnte. Schließlich sagte ich etwas wie: »Aber die
Situation hat ja auch ihre Vorteile, oder?« und versuchte ein
verschwörerisches Lächeln.
Gäste kamen und gingen, ich hörte ein hohes, wieherndes Lachen, das
Knarzen und Scharren von Männerschuhen. Die Jukebox spielte ein
Stück, das ich nicht kannte. Corcoran sah mit zusammengekniffenen
Augen dem Rauch seiner Zigarette nach, und ich dachte, daß
eigentlich er derjenige sein sollte, der Prok Unterricht in
Savoir-faire gab. »Ja«, sagte er schließlich, »aber das sind nicht
die einzigen, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Nein«, sagte ich. »Was meinst du?«
Er zog an der Zigarette, blies den Rauch aus, legte sie sorgsam auf
dem Rand des Aschenbechers ab, nahm ein hartgekochtes Ei und
klopfte damit sacht auf die Theke. Ich sah zu, wie er die Schale
und das Häutchen darunter abzog, das glänzende weiße Ei salzte und
es in den Mund steckte. »Na ja, du weißt schon«, sagte er kauend,
»das Leben eines Junggesellen. Dauernd eröffnen sich Möglichkeiten.
Nicht daß es zu Hause in South Bend nicht so wäre, und du weißt ja,
daß ich von Konventionen nicht viel halte, aber so, wie es ist, ist
es eben ... na ja, einfacher. Wenn man ganz allein ist. Weniger
kompliziert, verstehst du?«
Ich dachte kurz darüber nach, über ihn und Iris an jenem
musikalischen Abend, als sie so vertraulich geplaudert hatten. Ich
hatte nichts hinzuzufügen.
»Und was ist mit dir?« fragte er und blickte mich an, mit diesem
Gesicht, das so nichtssagend und gnadenlos gut aussah wie das eines
Filmstars. »Hast du auch mal was nebenbei?«
Über das Erröten war ich hinaus – diese Art von emotionaler
Offenbarung war etwas für pubertierende Jünglinge –, aber mein Herz
schlug unregelmäßig, als ich die Lüge aussprach. »Nein«, sagte ich
und dachte an die tastende Begegnung im dunklen Flur meiner
Wohnung. »Nein, eigentlich nicht.«
Dann kam ein Abend, an dem ich früh – kurz nach sechs – heimkam und Iris nicht da war. Den ganzen Nachmittag hatte ich in einem hinteren Winkel der Bibliothek des Instituts für Biologie verbracht und an verschiedenen Tabellen gearbeitet (Kumulative Verbreitung:
Kindliche T riebbefriedigung aus beliebigen QuelleninBeziehung zum Bildungsgrad; Beziehung zwischen Lebensalter, Häufigkeit und Bedeutung des Liebesspielsbis zum Orgasmus), die unserem Antrag auf Forschungsmittel der Rockefeller Foundation beigelegt werden sollten. Ich hatte über meine Arbeit gebeugt dagesessen und mich um nichts anderes gekümmert, während Elster auf und ab marschierte und mich wütend anstarrte, als würde die bibliographische Stille dieses Ortes gestört, wenn mein Bleistift über das Papier kratzte oder ich Lineal und Dreieck beiseite legte. Ich versuchte, so gut es ging, ihn zu ignorieren, doch jedesmal, wenn er mit einem Armvoll Papier oder einer Wagenladung Bücher in mein Blickfeld kam, ertappte ich mich bei der Frage, warum man ihn nicht aufgerufen hatte, in Europa, Afrika oder im Pazifik gegen unsere Feinde zu kämpfen. Doch als er an seinem Schreibtisch stand und ich ihn ein wenig genauer betrachtete – die zusammengesunkene Haltung, die kraftlosen Arme und Beine, die leuchtende kahle Stelle auf seinem Schädel, die wie der Stempel früher Greisenschaft war –, fand ich die Antwort auf meine Frage: Er war IV-F, untauglich, völlig klar.
Und was hatte ich überhaupt in der Bibliothek zu suchen? Ganz einfach: Prok hatte mich für den Nachmittag vor die Tür gesetzt, damit er und Corcoran gemeinsam Interviews mit einer Gruppe von Psychologen aus Südindiana durchführen konnten, die an einer Konferenz in der Universität teilnahmen. Ich hatte am Morgen und am frühen Nachmittag bereits zwei von ihnen befragt, und jetzt wollte Prok sehen, wie gut Corcoran eingearbeitet war, und die Protokolle vergleichen, sobald der Befragte gegangen war. So kam ich früher als sonst nach Hause, und Iris war nicht da.
Ich sah, daß sie Makkaroniauflauf mit Thunfisch und Käse gemacht hatte und daß das abgewaschene Frühstücksgeschirr noch auf dem Abtropfgestell stand. Das war in Ordnung, nichts Ungewöhnliches, aber wo war Iris? Hatte sie beim Einkaufen etwas vergessen, das man unbedingt im Haus haben mußte – Kaffee, Margarine, eine Kuchenmischung für den Nachtisch? Vielleicht war sie nur schnell um die Ecke zum Lebensmittelladen gegangen. Vielleicht hatte es auch einen Unfall gegeben. Vielleicht hatte sie sich geschnitten oder war gestürzt. Oder eine der Nachbarinnen. Ich dachte an die alte Dame, die über uns wohnte, früher die beste Freundin von Mrs. Lorbers Schwester, Mrs. Valentine. Sie war so zerbrechlich, so ausgezehrt und eingeschrumpft, daß es niemanden gewundert hätte, wenn sie einfach gestorben wäre. Aber es hatte keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sofern irgend etwas passiert war, konnte ich nichts daran ändern. Zu gegebener Zeit würde ich davon erfahren, also warum sollte ich mir Sorgen machen? Der Auflauf war im Ofen, der Bourbon stand auf dem Regal. Ich schenkte mir ein Glas ein und schaltete das Radio an.
Ich war bei meinem dritten Glas angelangt, und die Oberfläche des Auflaufs hatte eine Farbe und Beschaffenheit, wie ich sie bei einem Ofengericht noch nie gesehen hatte – ich bin allerdings auch kein großer Koch –, als ich begann, mir Sorgen zu machen, Sorgen um Iris. Der Auflauf konnte von mir aus in der Mülltonne landen, dann würde das Abendessen eben aus Sandwiches und einem ordentlichen Bourbon bestehen. Im Radio kamen Vic and Sade, dann die neuesten Kriegsberichte und schließlich Kate Smith, die God Bless America sang, und schließlich begann ich, auf und ab zu gehen und durch den Vorhangspalt zu spähen, wenn ich glaubte, jemanden kommen zu hören. War sie vielleicht zum Büro gegangen, um mich zu überraschen? Hatten wir Karten für das Universitätsorchester? Waren wir zum Essen verabredet? Nein, da stand ja der Auflauf, ein unwiderleglicher Beweis. Ich beschloß, zurück zum Campus zu gehen, um zu sehen, ob sie dort war und ich irgendeine Verabredung vergessen hatte. Ich zog den Mantel an, setzte meinen Hut auf und ging hinaus.
Das Tageslicht war geschwunden, die Straßen waren leer. Der Bourbon befeuerte mich, und ich hielt mich, wie gesagt, stets gewissenhaft in Form; so schaffte ich die zehn Blocks bis zum Campus in Rekordzeit. Ich rannte zwar nicht, schritt aber zügig aus. Ich ging die vertrauten Stufen zum Eingang des Institutsgebäudes hinauf, durch die unverschlossene Tür und in den ersten Stock. Es war ganz still, nirgends brannte Licht. Vielleicht rüttelte ich am Türknopf – ich hätte natürlich aufschließen können, aber wozu? –, dann drehte ich mich um und ging wieder hinunter. Ich überlegte kurz, ob ich unterwegs noch irgendwo etwas trinken sollte, tat es jedoch nicht.
Auf dem Rückweg dachte ich daran, wie eigenartig das war. Es sah Iris ganz und gar nicht ähnlich. Natürlich hatte sie noch Vorlesungen und Seminare belegt – es war ihr letztes Semester – und mußte Arbeiten schreiben, in der Bibliothek bibliographieren und so weiter, doch all das hatte sie immer tagsüber erledigt, damit wir abends Zeit füreinander hatten. Auch den Rückweg legte ich in zügigem Tempo zurück, denn jetzt war ich besorgt, ich war auf ganz ähnliche Weise frustriert wie wenn ich, was selten vorkam, etwas verlegt hatte und meinen Weg zurückverfolgte und so lange im Kreis ging, bis ich es gefunden hatte oder die Suche aufgab. Meinen Füller zum Beispiel. Ich hatte einen schlanken silbernen Parker, den Iris mir zum Geburtstag geschenkt hatte, und eines Tages konnte ich ihn nach dem Mittagessen nicht mehr finden. Ich stand immer wieder vom Schreibtisch auf und ging zu den Aktenschränken, den Regalen, dem Vorzimmer und wieder zurück, bis Prok schließlich von seiner Arbeit aufblickte und mich mit gereizter Stimme fragte, was ich da eigentlich täte. Ich sagte es ihm, und er musterte mich lange mit verwundert gerunzelter Stirn und beugte sich wieder über seine Protokolle, doch ich suchte den ganzen Nachmittag weiter, bis ich den Füller schließlich beim fünften oder sechsten Versuch in der Herrentoilette fand, auf der Metallablage über dem Waschbecken, wo ich mir vor dem Händewaschen eine Notiz gemacht hatte. Es war wahrscheinlich ein bißchen neurotisch, aber wenn ich das Gefühl hatte, die Dinge seien außer Kontrolle geraten, etwas sei nicht in Ordnung oder ich hätte etwas verpatzt, dann hatte ich Atembeschwerden, und ich bin sicher, daß mein Blutdruck in die Höhe schoß. Flattrig. Ich fühlte mich flattrig, als hätte ich zuviel Kaffee getrunken. Und so fühlte ich mich auch jetzt, als ich im Dunkeln am letzten Block entlangging, während ich doch mit meiner Frau bei einem Makkaroniauflauf zu Hause hätte sitzen sollen.
Weiter vorn wurde eine Wagentür zugeschlagen. Ich sah die roten Rücklichter wie Brandlöcher im schwarzen Stoff der Nacht aufleuchten, der Wagen, ein heller Wagen, fuhr an der Straßenlaterne vorbei und verschwand am Ende des Blocks. War da eine Gestalt, ein Schatten in den Schatten, der sich zu einem der Häuser auf unserer Straßenseite bewegte? Es war dunkel. Ich war mir nicht sicher. Als ich zwei Minuten später in unsere Wohnung trat, beugte Iris sich gerade zum Ofen.
»Du liebe Zeit, Iris«, sagte ich, »wo warst du denn? Ich war ...
äh ... Ich war hier und hab den Ofen ausgestellt...«
Ihre Haut war gerötet, als wäre sie gerannt oder hätte in der
Sporthalle auf dem Trampolin geturnt – ein Gerät übrigens, das sie
liebte; ich hatte ihr dabei zugesehen: ihre zielgerichtete
Konzentration, die auf und ab schwingenden Arme, als wäre sie im
Begriff davonzufliegen, ihr Haar, das senkrecht in der Luft stand,
als trotzte es der Schwerkraft. Sie hielt die Auflaufform in den
Händen, die roten Topflappen waren über die Griffe gelegt. Sie
stellte die Form auf der Arbeitsplatte ab und sah mich mit einem
Lächeln an, das sogleich erstarb. »Das war gut«, sagte sie. »Sonst
wäre er nämlich verbrannt.«
Ich war jetzt in der Küche, der Perlenvorhang hinter mir rasselte
wie ein Schwarm wütender Insekten. »Aber wo warst du? Ich hab mir
Sorgen gemacht. Ich ... ich bin den ganzen Weg zurück zum Büro
gegangen, um zu sehen, ob ... ob du vielleicht da bist.«
»Tut mir leid, John. Ich hab dich nicht so früh erwartet.« Sie
machte eine Dose Erbsen auf und kehrte mir den Rücken zu, so daß
ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Rasche Bewegungen, der Topf,
die Flamme, und dann zum Tisch, um ihn zu decken. »Willst du Milch
zum Essen, oder kann’s auch Wasser sein? Oder Saft?«
»Was hast du gemacht?« fragte ich. »Gelernt? War die Klausur nicht
erst letzte Woche?«
Sie war in Bewegung, ging an mir vorbei, zum Tisch und wieder
zurück, und die Perlen rasselten. Sie sah mich nicht an, ihr Blick
war auf alles mögliche gerichtet, nur nicht auf mich – auf den
Tisch, den Kühlschrank, den Boden. »Gelernt«, sagte sie, »das
stimmt. Ich hab gelernt.«
»Wo? In der Bibliothek? Ich war den ganzen Nachmittag dort, da
hätte ich dich doch... Aber du brauchtest die Hauptbibliothek,
nicht? Für das Seminar bei Huntley?«
Die Auflaufform stand auf dem Untersetzer in der Mitte des Tischs,
und Iris schenkte mir ein Glas Milch ein. Solide und weiß stand es
neben meinem Teller wie in einem Stilleben der Normalität. Sie sah
gehetzt aus. Unglücklich.
»Was ist los?« fragte ich. »Was ist passiert?«
Sie hielt mitten in der Bewegung inne, die Erbsen auf der
Schöpfkelle, den heißen Topf auf der Tischkante balancierend. »Oh,
John, ich kann das nicht. Ich kann das einfach nicht.«
Das war das Fieber, jetzt kam es, jetzt kam der Augenblick, der
mein Herz klopfen ließ. Ich sagte kein Wort.
Zwei Kellen Erbsen, eine auf jeden Teller. »Ich sag’s dir lieber
gleich: Ich war mit Purvis zusammen. Ich ... ich bin zum Büro
gegangen, um dich zu überraschen, und er war gerade dabei
abzuschließen ...«
»War das sein Wagen? Vorhin, als ich gekommen bin?«
Sie nickte.
»Tja«, sagte ich. »Und dann? Hat er dich nach Hause gebracht, habt
ihr unterwegs noch irgendwo was getrunken oder was?«
»Nein«, sagte sie, und ihr Blick wich dem meinen aus. »Oder
vielmehr ja, er hat mich nach Hause gebracht.«
Ich zuckte die Schultern. Er hatte sie nach Hause gebracht. Fall
erledigt.
Sie hatte noch immer den Topf mit den Erbsen in der Hand, stand
noch immer neben dem Tisch. »Aber ich werde dich nicht anlügen,
John, keiner von uns wird das tun. So bin ich nicht, und ich
glaube, das weißt du auch.« Schweigen, und ich schätze, irgendwo
auf der Welt begegneten sich Schiffe in der Nacht, gingen Frachter
unter, machte Eis die schmale Durchfahrt noch schmaler. »Wir ...
wir hatten eine Beziehung.«
Ich starrte sie nur an.
»Im Büro. Auf dem Schreibtisch.«
»Im Büro«, wiederholte ich.
»Purvis und ich.« Ihre Augen blickten mit einem Mal kalt. »Nichts,
worüber man sich Sorgen machen müßte.« Der Topf stand endlich auf
dem Tisch, und sie wischte sich die zitternden Hände an der Schürze
ab. »Du weißt ja, John«, sagte sie, »das menschliche
Säugetier.«
Etwa zu dieser Zeit führten wir unsere ersten Interviews mit Kindern durch, womit wir, wie viele zweifellos wissen, nicht nur ein lange bestehendes Tabu durchbrachen, sondern auch den Grundstein für die zahlreichen späteren Studien zur kindlichen Sexualität legten.
Eigentlich bin ich, wenn ich die Ereignisse gedanklich rekonstruiere, beinahe sicher, daß unser erster Vorstoß in diesen Bereich gleich nach dieser beunruhigenden Szene mit Iris stattgefunden hat, gleich am nächsten Morgen, denn ich erinnere mich deutlich, wie aufgewühlt ich war und daß ich die ganze Situation im Geiste immer wieder hin und her wälzte, als wäre sie ein scharfkantiges Objekt, das ich abschleifen mußte, bis es so glatt war wie gebrannter Ton. Es war eigenartig. Als ich, unterwegs zur Fillmore School in Indianapolis, neben Prok auf dem Beifahrersitz des Buick saß und er mir einen Vortrag über frühkindliche Sexualität und das vorpubertäre Erwachen des Begehrens hielt, konnte ich nicht umhin zu denken, daß meine Gefühle sich auf Kollisionskurs mit meiner Objektivität befanden. Immer wieder sagte ich mir, ich sei Forscher, und Gefühle hätten in der Welt der Wissenschaft nichts zu suchen, da sie keinen quantifizierbaren Wert besäßen. Es war etwas Negatives, etwas, das mich disqualifizierte, eine Schwäche, die ich überwinden mußte. Prok hatte mich gut indoktriniert, und beinahe schaffte ich es über diese Hürde, doch jedesmal fiel ich wieder zurück. Ich konnte nicht anders.
»Alles in Ordnung?« fragte Prok und musterte mich mit einem
seiner bohrenden Blicke.
Ich war wohl hin und her gerutscht, hatte mit dem Knie gewippt und
im Flackern der Lichter rechts und links der Straße das Kinn
gereckt, als wäre ich unterwegs zu einem qualvollen Märtyrertod,
aber wenigstens hatte ich nicht mit Corcoran zu tun, noch nicht.
Prok hatte ihm drei Tage freigegeben, damit er sich um seine
Angelegenheiten kümmern und nach South Bend fahren konnte, wo seine
Tochter am Osterumzug teilnahm.
»Milk?« sagte Prok. »Hast du mich gehört? Ich habe dich gefragt, ob
alles in Ordnung ist.«
»Ja«, sagte ich. »Mir geht’s gut.«
Der Motor summte. Die Landschaft zog vorbei. Prok legte den Kopf
schräg und musterte mich erneut. »Kriegst du genug Schlaf? Ehrlich
gesagt, Milk, siehst du nämlich aus wie ein lebender Toter.«
»Nein, ich ... äh ... letzte Nacht nicht.«
Er begann einen kleinen Vortrag darüber, wie unerläßlich die drei
wichtigsten Faktoren – Ernährung, Körperertüchtigung und Schlaffür
die Gesundheit seien, und war mitten in einem seiner langen,
kunstvoll verschränkten Sätze, als er plötzlich innehielt. »Aber
John«, sagte er, »was ist denn? Ist dir etwas ins Auge
geflogen?«
Ich sagte, es sei bloß eine Allergie. »Heuschnupfen.«
Er schwieg einen Augenblick, wandte mir sein Gesicht zu und
betrachtete mich forschend, bevor er wieder auf die Straße sah.
»Ein bißchen früh dafür, nicht?«
Ich hatte Iris nicht zur Rede gestellt – wie denn auch? Wie hätte
ich irgend etwas sagen können, ohne wie ein Heuchler zu erscheinen?
Wir aßen schweigend, das Radio lief. Iris legte einen Text –
Moderne britische Lyrik, mein altes Exemplar mit Anmerkungen
– neben ihren Teller und starrte darauf, aber ich sah sie nicht
umblättern, nicht ein einziges Mal. Als wir fertig waren, wollte
ich abräumen, aber sie ließ mich nicht. »Nein, nein«, sagte sie und
nahm mir den schmutzigen Teller aus der Hand – ich hatte so gut wie
nichts gegessen, die Makkaroni waren wie durchweichte Pappe, obwohl
ich gekaut hatte, daß ich glaubte, mir würde der Kiefer brechen –,
»laß mich das machen. Du bist bestimmt müde.«
Sie war bleich, ihr Haar hing schlaff herunter, und ich wollte
nicht daran denken, was mit den Locken geschehen war, auf die sie
abends so viel Zeit verwendete und die sie morgens mit viel Mühe in
perfekte Form brachte. Ich war tatsächlich müde. So müde, daß ich
kaum die Arme vom Tisch heben konnte. »Gut«, sagte ich. »Okay.«
Ich schaffte es bis zum Sofa, und da lag ich dann, eine Hand flach
auf der Stirn, während das Radio knackte und knisterte und das
Wasser in die Spüle lief. Iris machte sich in der Küche zu
schaffen; ich hörte ihr lange zu, dem Offnen und Schließen der
Schränke, dem Zischen des Wassers, dem Klirren von Glas und
Geschirr, und dann zündete ich mir eine Zigarette an und starrte an
die Decke. Von irgendwo ertönte Band-Musik, eine Varieteshow, der
Chiquita-Banana-Jingle – ich muß ihn an die zehnmal gehört haben.
Schließlich kam sie zu mir. Ich spürte, daß sie neben dem Sofa
stand, doch ich wandte nicht den Kopf. »John«, sagte sie, »John,
bitte«, und ich hörte, wie sehr ihre Stimme von Gefühlen
durchdrungen war, wie sie mich um Absolution bat, aber das ließ
mich nur noch steifer und härter werden: Ich versteinerte wie ein
Stück Holz, das äonenlang in den tiefsten Sedimentschichten gelegen
hat. Ich sagte nichts. Sie hielt eine Ansprache, eine tränenvolle,
von Schluchzern unterbrochene Ansprache – sie habe es nicht
gewollt, es habe nichts zu bedeuten, die Leichtfertigkeit eines
Augenblicks, und irgendwie habe sie ihm, Purvis, einfach nicht
widerstehen können, er sei so überzeugend –, doch ich rührte
mich nicht. Nach einer Weile ging sie ins Schlafzimmer und schloß
die Tür.
Darf ich Ihnen sagen, daß ich mich fühlte, als hätte man mir einen
Pflock durchs Herz getrieben? Ich wußte, warum sie es getan hatte –
dazu brauchte man kein Psychiater zu sein. Sie hatte in ihrem Leben
einen Mann gehabt, einen einzigen, und ich hatte Mac und Prok
gehabt und außerdem andere, über die sie nur Vermutungen anstellen
konnte. Das Projekt und unsere ganze Vorgehensweise
erforderten geradezu, daß sie Erfahrungen machte – wir schätzten
doch die »Hochaktiven«, ganz gleich, wie unvoreingenommen wir uns
gaben, oder nicht? Ich wußte, wo die Schuldgefühle lauerten. Ich
wußte, wer unrecht hatte. Aber wenn ich glaubte, was ich predigte,
wenn ich an meine Arbeit glaubte – und das tat ich, das tue ich
noch heute, aus tiefstem Herzen –, dann hatte ich kein Recht zu
einem J’accuse.
In jener Nacht ging ich spät zu Bett, so spät, daß in den Büschen
vor den Fenstern bereits die Vögel sangen und graues Licht durch
die Vorhänge sickerte. Sie war noch wach. Ich sah sie im Bett
liegen, und alle Traurigkeit der Welt ließ sich in meiner Kehle
nieder, säuerlich, unbarmherzig, bis ich mich zusammennahm und sie
hinunterschluckte. In diesem Augenblick wollte ich Iris haben, mehr
als alles andere, ich wollte die Decke zurückschlagen, ihr das
Nachthemd ausziehen und mich in sie hineinstürzen.
Vielleicht sagte sie meinen Namen. Ich weiß es nicht. Ich erinnere
mich nicht. Ich erinnere mich nur daran: Wir kamen ohne Eröffnung,
ohne Worte zur Sache, ich warf mich in befreiender Ekstase auf sie,
und sie blieb mir nichts schuldig, sie wehrte sich, sie schlug nach
mir, wütend, getrieben vom Stachel ihrer Schuld und ihrer Lust, und
die ganze Zeit dachte ich daran, daß sie nicht gebadet hatte, daß
sie Corcoran nicht ausgespült hatte und daß er hier dabei war,
grinsend wie ein Schauspieler.
Ja, und ich fand es eigenartig, nach Indianapolis zurückzukehren,
um diesmal mit Kindern aus einer Grundschule zu sprechen anstatt
mit einer abgetakelten Nutte und ihrer endlosen Reihe gesichtsloser
Kunden, im klaren, hellen Licht des Tages anstatt in nächtlichen
Schatten. Prok hatte mit dem Schuldirektor und einer
Vorschullehrerin, beide Freunde der Forschung, alles besprochen,
und wir hatten das normale Prozedere verändert und dem kindlichen
Auffassungsvermögen angepaßt. Außerdem hatten wir uns im voraus die
Einwilligung – und die Geschichten – der jeweiligen Eltern geben
lassen, und wir führten die Interviews zu zweit und in Anwesenheit
mindestens eines Elternteils, damit nicht einmal der Anschein von
Ungebührlichkeit entstehen konnte.
Wir trafen früh ein, die Kinder waren noch in den Klassenzim- mern,
der borstige gemähte Sportplatzrasen leuchtete nur an den Rändern
grün, und die Sonne schien hell auf den Spielplatz mit seinen
unbenutzten Schaukeln und Wippen und dem starren Skelett des
Klettergerüsts. Der Schuldirektor – ein Mr. McGuiniss, dessen
angenehm unspektakuläre Geschichte wir bei unserem letzten
Aufenthalt aufgezeichnet hatten, tagsüber, als Ginger nicht
gearbeitet hatte – begrüßte uns an der Tür und führte uns in sein
Büro. Dort gab es eine Fahne, eine ausgestopfte Eule, die
ungelenken, seltsam dynamischen abstrakten Bilder sehr kleiner
Kinder sowie ein Fenster mit Blick auf den Spielplatz. »Dr.
Kinsey«, sagte McGuiniss – er war klein, kahlköpfig, und seine
Fingerspitzen waren von Nikotin verfärbt – »und Mr. Milk, herzlich
willkommen. Schön, daß Sie da sind. Wie Sie wissen, haben sich
einige Schülerinnen und Schüler freiwillig gemeldet, und ihre
Mütter sind ebenfalls hier. Alle sind schon ganz aufgeregt.«
Wir begannen mit zwei Schwestern, fünf und sieben Jahre alt. Der
Direktor stellte uns sein Büro zur Verfügung – er hatte auch für
ein paar Spielsachen und Bilderbücher gesorgt, um den Kindern die
Befangenheit zu nehmen –, und dann trat die Mutter mit den beiden
Mädchen ein. Sie war groß, brünett, nicht unattraktiv, mit
ausgeprägten Wangenknochen und vollem, kräftig wirkendem Haar, das
zu einer Welle frisiert war und von zwei Perlmuttspangen gehalten
wurde. Ich wußte, wie alt sie war – neunundzwanzig –, denn ich
hatte ihre Geschichte bei unserem vorigen Aufenthalt selbst
notiert. (Sie war monogam und seit acht Jahren verheiratet, sie
wollte gern mit verschiedenen koitalen Stellungen und
oral-genitalen Kontakten experimentieren, war in diesen Dingen
jedoch sehr unerfahren und hatte zudem mit dem Widerstand ihres
Mannes zu kämpfen. Er war gläubiger Katholik mit typisch
unterdrückter Sexualität, er war auch der einzige in dieser Gruppe,
der sich nicht hatte befragen lassen.)
Prok und ich erhoben uns und begrüßten sie, während McGuiniss,
einen Stoß Papier unter dem Arm, sich mit einer Verbeugung
verabschiedete. »Mrs. Perrault«, rief Prok, schüttelte ihr die Hand
und lächelte strahlend, »wie nett, daß Sie gekommen sind. Mr. Milk,
meinen Assistenten, kennen Sie ja schon. Und« – er wandte sich zu
den Mädchen und begrüßte sie mit einer Verbeugung, die sie für ihn
einnehmen sollte – »wer sind diese schönen jungen Damen?«
Die Mädchen – Suzie war die Jüngere, Katie die Ältere – hatten den
Teint und die großen, feuchten Augen ihrer Mutter. Sie lächelten
gezwungen und freuten sich, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu
stehen, schienen aber auch ein wenig nervös, weil sie nicht wußten,
was von ihnen erwartet wurde. »Ich bin Katie«, sagte die
Siebenjährige. »Und das ist meine Schwester.«
»Suzie«, sagte die Schwester und drehte sich auf einem Fuß hin und
her. »Ich heiße Suzie.«
»Aha«, sagte Prok, der sich noch immer hinunterbeugte, so daß sein
Gesicht auf ihrer Kopfhöhe war, »dann seid ihr gar keine
Prinzessinnen? Ich war mir sicher, daß ihr Prinzessinnen seid.«
Kichern. Noch mehr Hin-und-her-Drehen. »Nein«, sagte die Kleinere,
und beide brachen in Gelächter aus.
»Und wie findet ihr es, das Zimmer des Direktors ganz für euch zu
haben? Das ist schon was Besonderes, nicht? Na ja, es ist ja auch
ein besonderer Nachmittag für zwei sehr besondere kleine Mädchen.
Ich bin Onkel Kinsey, und das« – er wies auf mich, und ich lächelte
so aufrichtig wie möglich, um allen Beteiligten zu zeigen, wie
vollkommen harmlos ich war – »ist Onkel Milk.«
Die beiden Mädchen musterten mich kurz, und ihr Lächeln wurde etwas
unsicher und lebte erst wieder auf, als Prok in seinem fröhlichsten
Ton fortfuhr: »Und wen haben wir denn da? Herrn Eule. Seht ihr ihn,
da oben? Der ist heute auch dabei. Ich habe mir nämlich ein Spiel
ausgedacht, und zwar ein Camping-Spiel. Wart ihr mal mit euren
Eltern zelten?«
Oh, ja, ja. Und wo? Ein Seitenblick zur Mutter. »Im Wald«, sagte
Katie.
»Gut, sehr gut.« Prok hatte sich im Schneidersitz auf den Boden
gesetzt, als wäre er ein Indianerhäuptling, der im Begriff war, die
Friedenspfeife zu rauchen. »Also gut«, sagte er, »dann setzt euch
mal hin, genauso, kreuzt die Beine wie ich, denn wir spielen jetzt,
daß wir im tiefen Wald sind und um ein Lagerfeuer sitzen und
Marshmallows rösten. Mögt ihr Marshmallows? Ja? Gut. Sehr gut.
Natürlich mögt ihr Marshmallows.« Und er zauberte zwei weiße
Marshmallows aus der Manteltasche.
Ich möchte hier darauf hinweisen, daß Prok entgegen dem, was Sie
möglicherweise gehört haben – und ich kenne einige der bösartigen
und ekelhaften Gerüchte, die von Gegnern des Projekts in die Welt
gesetzt wurden, von Menschen, die in allem nur Schmutz sehen –, mit
unseren minderjährigen Befragten denkbar einfühlsam, respektvoll
und korrekt umging. Wir alle lernten von ihm und versuchten, seine
Methoden anzuwenden, doch keiner von uns konnte den Rapport mit
Kindern so rasch und mühelos herstellen wie Prok. Es war eine
seiner großen Begabungen als Interviewer und als Mensch. Er konnte
an das Urinal in der Penn Station treten und sofort das Vertrauen
eines Strichjungen auf der Suche nach Kundschaft gewinnen, er
konnte durch die Negerviertel von Gary oder Chicago spazieren und
sich authentisch ausdrücken, und er konnte auf die offenste,
unschuldigste Weise mit Kindern umgehen. Und die sexuellen
Geschichten der Kinder waren für unsere Forschung bedeutsam, denn
beinahe alle Erwachsenen, die wir nach dem Erwachen ihrer
Sexualität befragten, konnten sich nur verschwommen daran erinnern,
und wir glaubten, die Mängel der Erinnerung unserer erwachsenen
Befragten durch die Erfassung der Daten von Kindern, die ja noch
mitten im Erleben steckten, ausgleichen zu können. Es erschien uns
sinnvoll. Dennoch gab es natürlich Kritik: Wir besudelten den Geist
dieser Kinder, wir brachten sie vom rechten Weg ab und so weiter.
Ich kann Ihnen jedoch versichern, daß das absolut nicht der
Wahrheit entspricht.
An diesem Tag führte Prok die beiden schönen Kinder mit den großen
Augen durch einen imaginären Wald, saß mit ihnen an einem
gemütlichen Lagerfeuer und stellte sehr einfühlsam und ganz
nebenbei seine Fragen, erst Suzie, während ihre Schwester in einer
Ecke spielte, und dann Katie. Ich muß zugeben, daß ich eine Menge
lernte. Die Fragen waren vollkommen unschuldig, und dennoch waren
die Antworten aufschlußreich. Spielst du öfter mit Mädchen oder
mit Jungen? Magst du Jungen? Aber zwischen Jungen und Mädchen gibt
es Unterschiede, nicht? Ja? Und welche? Woher weißt du das? Ich
saß auf dem Sessel des Direktors, grinste in mich hinein und
wechselte, während ich die Antworten notierte, hin und wieder einen
Blick mit der Mutter. Ich spürte, wie sich mir neue Möglichkeiten
eröffneten. Kinder. Ich hatte nie besonders viel über Kinder
nachgedacht. Eigentlich machten sie mich immer unsicher und nervös,
ich wußte nichts mit ihnen anzufangen, hatte keinen Zugang zu
ihnen, und hier war Prok, einer der hervorragendsten Männer seiner
Generation, ein mehrfach ausgezeichneter Wissenschaftler, und
führte es mir vor. »Man muß nur mit ihnen reden«, sagte er. »Man
muß mit ihnen reden und ihnen zuhören.«
All dieser Sex, und wofür? Für das hier. Für Kinder. An jenem
Nachmittag war es wie eine Offenbarung. Meine Gedanken kämpften
gegen das unerträgliche Bild von Iris an, die nackt auf meinem
Schreibtisch lag, überragt von Corcoran, während piepsige Stimmen
Vermutungen und vorsichtige Erwartungen äußerten. Sie kamen und
gingen, ein Kind nach dem anderen, schüchtern oder keck, eifrig
oder zurückhaltend, und ich stellte fest, daß sich mir die Anfänge
einer Perspektive boten. Diese Körperteile, auf die wir uns bei
Ginger und ihren Kunden so gewissenhaft konzentriert hatten, die
Geschlechtsakte, die körperlichen Vereinigungen, die
Fortpflanzungsorgane –das alles diente einem einzigen Zweck:
Kinder. Und es sollte noch fünf Jahre dauern, bis John junior
geboren wurde.
Zwei Tage darauf kehrten wir spät in der Nacht nach Bloomington zurück. Wir waren länger geblieben als ursprünglich geplant, weil wir noch ein paar Interviews geführt hatten, die uns in letzter Minute in den Schoß gefallen waren: mit dem Hausmeister der Schule und seinem Bruder, dem die Tankstelle gehörte, sowie mit einem Pfarrer, seiner Frau und seiner siebzehnjährigen Tochter. Ich trat ein, und da saß Iris im Kimono, ihr Lyrikbuch in der Hand, und erwartete mich. »Du hättest nicht auf mich zu warten brauchen«, sagte ich, und sie kam zu mir, sah mich liebevoll an und umarmte mich, und wir standen mitten im Wohnzimmer und wiegten uns hin und her. »Mußt du morgen früh nicht zum Seminar?«
»Pst«, machte sie, »pst«, und dann gingen wir ins Bett, und ich war wie aus Holz. Wir hatten zwar Geschlechtsverkehr, kaum daß ich meine Kleider ausgezogen hatte, und es kann sein, daß sie dabei zusammenbrach, daß sie weinte, ihren Kopf an meine Brust drückte und schluchzte, aber ich war wie aus Holz und weiß es nicht genau. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war sie schon fort, und später saß ich, von Gallen umgeben, im Büro und strich langsam und nachdenklich über die Platte meines Schreibtischs, als hätte ich etwas Derartiges noch nie gesehen.
13
Ich hörte Schritte im Treppenhaus und leises Gemurmel, das lauter wurde, näher kam, und mein erster Gedanke war: Prok, der, ein paar Studenten im Schlepptau, von seinem frühen Seminar zurückkehrte. Ich hatte mich inzwischen gefangen, saß am Schreibtisch, ordnete das Material, das wir in der Fillmore School gesammelt hatten, und gab mich der vertrauten Umarmung der Routine hin. Ich hatte die Bleistifte gespitzt und die Papiere säuberlich gestapelt. Neben meinem Ellbogen stand ein Becher Kaffee und dampfte vor sich hin. Draußen ließ ein Nieselregen die Konturen von Maxwell Hall verschwimmen.
Es war Proks Stimme, kein Zweifel, eine Art klares Murmeln, das sich über die Nebengeräusche erhob und von einer anderen Stimme begleitet wurde, von einer herzlichen, unerschütterlichen Stimme, die ich sogleich erkannte, und da waren sie auch schon, Prok und Corcoran, und schoben sich durch die Tür. »Morgen, Milk«, rief Prok. »Gut geschlafen?«
»Morgen, John«, sagte auch Corcoran. Er stand vor Proks Schreibtisch, keine drei Meter von mir entfernt, die Arme in die Seiten gestemmt, und verbreitete Nonchalance: alles in Ordnung, alles in bester Ordnung. »Ich kann euch sagen, es ist schön, wieder dazu- sein. Die Fahrt war entsetzlich, absolut entsetzlich. Und wie war’s bei euch?«
Einen Augenblick lang wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Im
Verlauf der vergangenen vier Tage hatte ich eigentlich an nichts
anderes gedacht als an Corcoran und was ich zu ihm und er zu mir
sagen würde, wie ich ihm begegnen und was diese Sache für uns alle
bedeuten würde, jetzt und in Zukunft. »Tja, wir ...« stammelte ich.
»Prok kann dir bestimmt ...« Ich machte eine unbestimmte Geste und
ließ den Arm sinken, zu schmerzerfüllt, um weiterzusprechen.
Prok saß bereits an seinem Schreibtisch und blätterte in seinen
Unterlagen. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Hätte gar nicht besser sein
können. Wir haben vierzehn Geschichten von Jugendlichen, sehr
interessant, sehr bedeutsam, und das hat mich darin bestärkt, daß
wir noch mehr brauchen. Stimmt’s, Milk?«
»Ja«, sagte ich. »Es war ... äh ... eine echte Erfahrung.«
Corcoran sah mich aufmerksam an. »Ach ja?« sagte er.
»Inwiefern?«
Prok hob den Kopf und wartete auf meine Antwort.
»Ich weiß nicht«, sagte ich und griff nach dem Kaffeebecher, um
meine Unsicherheit zu verbergen. »Es war ein ... Erwachen ist wohl
das richtige Wort. Eine Art Erwachen.«
Corcoran lächelte, lächelte unaufhörlich. Er war so entspannt, daß
ich ihn hätte umbringen können, daß ich hätte aufspringen und ihn
hier, auf dem Linoleumboden, erwürgen können, ohne auch nur darüber
nachzudenken. Ich hatte den Eindruck, daß er meiner Bemerkung
nachgehen und um Erläuterung bitten wollte – das war ja doch recht
interessant. Vielleicht wollte er sagen: Wie meinst du das?
Oder es ins Witzige ziehen: Wie lange hast du denn
geschlafen?
Doch Prok kam ihm zuvor. »Gut«, sagte er. »Gut ausgedrückt. Mir
ging es ebenso, und dies ist ein neuer Ansatz, dem wir in Zukunft
sehr viel mehr Aufmerksamkeit widmen müssen, wenn auch natürlich
mit aller gebotenen Vorsicht.« Es trat eine Stille ein, in der wir
alle darüber nachdachten, was diese Vorsicht genau beinhaltete, und
dann sagte Prok mit seiner aufgeräumtesten Stimme: »Ich muß dir ein
paar Briefe diktieren, Milk – Folgebriefe, und nicht nur an die
Eltern, sondern auch an die Kinder.« Er sah mich scharf an, als
wäre ich im Begriff, Einwände zu machen. »Denn, du verstehst, wir
müssen hier absolut offen und korrekt sein, und die Eltern werden
die Briefe sehen, die Folgebriefe also, und ich kann gar nicht
genug betonen, wie wichtig das ist. Und zwar zu Recht. Ich finde,
wenn jemand Umstände auf sich nimmt, um sich als Freund der
Forschung zu erweisen, dann stehen wir, ganz gleich, wie alt oder
jung derjenige ist, in seiner Schuld, und dem sollten wir bei
erster Gelegenheit Rechnung tragen.«
Ich sollte darauf hinweisen, daß das Institut für Sexualforschung
damals noch in den Kinderschuhen steckte und wir weder eine
Vollzeitsekretärin noch ausreichenden Büroraum hatten, auch wenn
Prok, nachdem Corcoran zu uns gestoßen war, die Verwaltung hatte
überreden können, uns einen angrenzenden Seminarraum zu überlassen,
so daß wir nun über eine kleine Bürosuite verfügten. Man hatte eine
Tür in die Wand gebrochen, und in dem hinzugewonnenen Raum waren
nun sowohl Corcorans Tisch als auch die Akten untergebracht, für
die wir sonst keinen Platz mehr hatten, sowie die stetig wachsende
Fachbibliothek (darunter auch die Erotikasammlung, von der in
letzter Zeit so viel Aufhebens gemacht wird). Ja, aus bescheide-
nen Anfängen ...
Jedenfalls ... Ich erwähne das alles nur wegen des späteren
Geschehens – damit Sie sozusagen dabei sind und eine Vorstellung
davon haben, wo jeder von uns sich aufhielt. Das Geplauder war
beendet, und Prok war der letzte, der Verzögerungen duldete – er
wollte, daß gearbeitet wurde, dafür waren wir hier. Dennoch rührte
Corcoran sich nicht vom Fleck. »John«, sagte er leiser, »hast du
nachher Zeit, nach Feierabend, meine ich? Damit wir ein bißchen
reden können.«
Prok zog eine Augenbraue hoch und musterte uns kurz. »Das wäre
ausgezeichnet, Corcoran«, sagte er, »aber ich kann Ihnen
versichern, daß ich selbst Sie sehr gern über die Einzelheiten
unserer Funde unterrichten werde, wie auch darüber, was wir uns für
die Zukunft erhoffen. Faszinierend, wirklich.«
Corcorans Lächeln verblaßte. »Nein, es geht eigentlich um etwas
anderes.«
»So?«
Ich spürte, daß mir die Röte ins Gesicht stieg, und starrte in den
Kaffeebecher.
»Eine private Angelegenheit«, sagte Corcoran.
Prok zog seine Braue noch ein wenig höher. »So?«
»Es ist eigentlich gar nichts. Bloß eine Sache zwischen Kollegen,
stimmt’s, John?«
Was sollte ich sagen? Der Schuß hatte mich zwischen den
Schulterblättern erwischt, als ich über die Hochebene galoppierte,
und nun wirbelten meine Hufe hilflos durch die Luft. Ich spürte den
Pfeilschaft unter dem Brustbein, die heiße, scharfe Spitze. »Klar«,
sagte ich. »Oder vielmehr ja. Ja, stimmt.«
Es wird Sie nicht überraschen, daß es mir schwerfiel, mich auf
meine Arbeit zu konzentrieren. Sosehr ich auch dagegen ankämpfte –
ich war meinen Gefühlen ausgeliefert. Ich weiß, das war dumm.
Falsch. Anachronistisch. Immer wieder hielt ich mir vor Augen, daß
ich Sexualwissenschaftler war, daß ich einen Beruf, eine Zukunft
und ganz neue Perspektiven hatte, daß ich mich von all den
kleinkarierten, jüdisch-christlichen Zwängen und Beschränkungen,
die im Lauf der Jahrhunderte so viel Unheil angerichtet hatten,
befreit hatte, doch es half nichts. Ich war verletzt. Ich war
eifersüchtig. Ich zeigte Prok und – jenseits der Tür, im großen
hinteren Raum – Corcoran mein normales Alltagsgesicht, doch
innerlich kochte ich, brannte ich, wild und tobend, vergiftet von
der Galle meines eigenen Unvermögens und Versagens, meiner eigenen
Sünden, und so sehr ich mich auch bemühte, dieses Bild zu
verdrängen, sah ich doch überall die gebeugte, dem Spott
preisgegebene Gestalt des Hahnreis aus der Commedia dell’arte. Wenn
Corcoran nicht hersah, starrte ich ihn an. Ich studierte die Art,
wie er sich am Kinn kratzte oder mit dem Bleistift auf die
Schreibunterlage klopfte, als schlüge er den Rhythmus einer
privaten Rhapsodie. Töte ihn! schrie eine Stimme in meinem
Kopf. Geh hin und töte ihn!
Und dann war Feierabend, und wir drei standen an der Tür zum Büro
und unterhielten uns, während Prok den Schlüssel umdrehte und wir
noch ein paar Takte über Aspekte des Sex plauderten. Prok hatte
Schirm und Galoschen dabei, allerdings keinen Mantel, denn es war
mild und er war ohnehin jemand, der alles aushielt, und er machte
eine Bemerkung darüber, daß Corcoran und ich uns besser auf die
Gegebenheiten des Wetters einstellen müßten (wir trugen nur
Sportjacketts und waren beide nicht für Regen gerüstet), und dann
wünschte er uns einen guten Abend und entfernte sich durch den
Korridor. »Tja«, sagte Corcoran leise und zögernd, »sollen wir ...
Sollen wir den Wagen nehmen?«
Ich nickte nur, und wir gingen schweigend zu seinem Cadillac. Kaum
hatten wir die Türen zugeschlagen, da startete Corcoran den Motor,
das Radio erwachte zum Leben und spielte ein beliebtes Tanzstück,
und das war es, was die Wut in mir aufsteigen ließ. Ich mußte den
Türgriff umklammern, um nicht etwas zu tun, was ich für den Rest
meines Berufslebens bereut hätte.
Corcoran legte den Gang ein, und wir fuhren langsam die Straße
hinunter, doch ich war so aufgebracht, daß ich die Bewegung kaum
registrierte. Nach einem Augenblick sagte er: »Wie wär’s mit einer
Kneipe? Was trinken. Ich lade dich ein.«
In dem Stück kam ein Klarinettensolo vor – die Band war berühmt für
ihren Klarinettisten –, und wir hörten zu, wie das Instrument
schlingernd und gleitend die Melodie spielte. »Ich hab nicht ge-
wußt, wie sehr ich Klarinetten hasse«, sagte ich. »Jedenfalls nicht
bis jetzt.«
Corcoran streckte einen manschettenknopfgeschmückten Arm aus und
schaltete das Radio ab. Er schien zu einer Entscheidung gekommen zu
sein und lenkte den Wagen scharf nach rechts an den Bordstein. »Hör
mal, John«, sagte er, »ich hoffe, du verstehst das nicht falsch,
denn das könnte für uns alle unangenehm werden, und es gibt keinen
Grund ...«
Starrte ich ihn wütend an? Ich weiß es nicht. Ganz plötzlich gab es
in memem Kopf nur noch einen einzigen Gedanken, und der war so groß
und mächtig wie ein vollentwickeltes Krebsgeschwür: Ich war
überwältigt von der Angst, mich lächerlich zu machen, mich
bloßzustellen, zu zeigen, daß ich kleinkariert war, engstirnig, ein
Hahnrei. »Nein«, sagte ich und wandte mich von ihm ab, ohne zu
wissen, welche Aussage, welche Beweisführung ich eigentlich
verneinte.
»Es bedeutet nichts. Überhaupt nichts. Nicht für uns.« Er hatte
sich zu mir gewandt und betrachtete mein Profil, und ich spürte
ihn, spürte die Wärme seines Atems auf der geschnitzten Maske vor
meinem Gesicht. »Bevor ich irgendwas getan habe, habe ich mit Prok
gesprochen ...«
Zunächst glaubte ich mich verhört zu haben. Prok? Was hatte Prok
damit zu tun? Doch dann begann diese eine kurze Silbe in meinem
Kopf widerzuhallen wie eine ratternde Flipperkugel. Vielleicht
bekam ich rote Ohren. Ich sah ihn noch immer nicht an, sondern
starrte aus dem Fenster und beherrschte mich mühsam.
»Natürlich habe ich mit ihm gesprochen. Du denkst doch wohl nicht,
daß ich ... Also, ich hab vielleicht eine überaktive Libido, das
gebe ich gern zu, aber ich würde so was niemals ohne Proks
Einverständnis machen. Früher vielleicht, aber jetzt nicht mehr,
so, wie die Weltpolitik aussieht. Da müßte ich ja verrückt sein,
das wäre glatter Selbstmord.«
Prok. Er hatte mit Prok gesprochen – mit Prok, nicht mit mir. Als
ob ... Doch ich konnte nicht zu Ende denken, denn Prok hatte es die
ganze Zeit gewußt, Prok hatte sein Einverständnis gegeben, grünes
Licht und seinen Segen, einer für alle und alle für einen. Und ich
hatte den ganzen Morgen stumpf dagesessen, während Prok neben mir
gestanden und Briefe diktiert hatte, und meine Finger hatten auf
die Tasten gehämmert, als wäre ich ein unterwürfiger
Kanzleischreiber in einem Dickens-Roman. Brief um Brief, und kein
Wort über Iris und mich. Erst die Briefe an die Eltern, dann die an
den Schuldirektor, den Hausmeister, den Pfarrer und den
Tankstellenbesitzer und schließlich die Briefe an die Kinder.
Liebe Suzie, Onkel Milk und ich schicken Dir einen ganz eigenen Brief, den der Briefträger nur für Dich in den Briefkastenwirft. Deiner Schwester Katie werden wir auch einen ganz eigenen Brief schikken, den der Briefträger nur für sie bringt, damit sie auch einen hat. Vor allem wollten wirDir schreiben, wie sehr wir uns gefreut haben, ein so nettes und kluges Mädchen wie Dich kennenzulernen, und daß Du stolz darauf sein kannst, uns bei unserer Forschung geholfen zu haben. Dein Onkel Kinsey »Und ich glaube, du weißt, wie Prok das mit dem engsten Kreis sieht: Wir haben keine Geheimnisse, wir sind eine verschworene Gemeinschaft. John, er hat mich dazu ermuntert – zu deinem und meinem Besten. Und zu Iris’, wir wollen Iris nicht vergessen.«
Ich hatte sie nicht vergessen, nicht für einen Augenblick. Corcorans Kopf schwebte im Wagen, als hätte er sich vom Körper gelöst. Das letzte Tageslicht überzog die Gesichtszüge am verschwommenen äußersten Rand meines Blickfelds mit einem Schimmer. Ich starrte noch immer geradeaus. Ich wollte ihn nicht ansehen. Ich konnte es nicht. Zwei Hauseingänge weiter war ein Lattenzaun: frisches, makelloses Weiß und das Kupfergrün der sprießenden Blätter der Kletterrosen, die ihre Triebe danach ausstreckten. »Und Violet. Auch Violet wollen wir nicht vergessen. Sie ist eine sehr leidenschaftliche Frau, John, das kannst du mir glauben. Und sie wird schneller hier sein, als du denkst.«
In meinem Schmerz und meiner Weigerung, ihn Corcoran, Prok, Iris oder sonst jemandem zu offenbaren, ging ich zu Mac. Ich rief sie an, um ihr zu sagen, ich wolle vorbeikommen. Es war ein Samstagmorgen, Iris saß im Supermarkt an der Kasse, Prok hielt seinen Biologiestudenten Vorträge über Gameten und Zygoten oder das Sexleben der Fruchtfliegen oder was weiß ich, Nesträuber, parasitische Wespen, Kuhstare oder Kuckucks. Mac erwartete mich in ihren Wandershorts und einem leichten Pullover an der Tür. »Ich dachte, du möchtest vielleicht einen Spaziergang machen«, sagte sie und sah mir forschend in die Augen.
Ich sagte nichts, sondern nickte nur, und wir gingen mit leeren Händen die Straße hinunter und zwischen den vertrauten Feldern hindurch zum Wald. Der Frühling in Südindiana war in vollem Gange: Die feuchten schwarzen Furchen boten sich der Sonne dar, auf den Waldlichtungen blühten die Wildblumen, unter den Bäumen roch es nach Schlamm und Gärung, und überall waren Vögel. Und Mücken. Wir schlugen im Gehen nach ihnen und wichen dem einen Schwarm aus, nur um in einen anderen zu geraten. Die Sonne wärmte, doch im Schatten war es kühl, beinahe kalt. Mac gab sich, das muß ich ihr lassen, große Mühe, ein Gespräch in Gang zu halten – wenn Prok es wußte, dann wußte sie es ebenfalls. Wie Corcoran versuchte sie, die Situation zu entschärfen: alles in Ordnung, alles normal, die Erforschung des Sex und seine freie und ungehinderte Ausübung waren unauflöslich miteinander verbunden, und gab es vielleicht irgendeinen Grund zu Beschwerden? Auf einer Lichtung beschien die Sonne einen verwitterten Felsen, und wir machten es uns auf ihm gemütlich.
Lange Zeit saß ich einfach da, an den Felsen gelehnt, und ließ Mac reden. Sie sagte nicht viel, jedenfalls nicht viel Substantielles, und ich wußte, was sie tat (»Ist das nicht ein Hüttensänger, da drüben, auf dem Zweig über dem Baumstumpf, siehst du? Sie werden immer seltener, seit die Stare sich ausgebreitet haben. Ach, ist dieser Waldgeruch nicht herrlich, besonders um diese Jahreszeit? Ich kann gar nicht genug davon kriegen. Als ich noch ein Mädchen war, acht oder neun – hab ich dir das je erzählt?«), aber es war mir egal, es war ein Schmerzmittel in Form von Konversation, und ich ließ es über mich hinwegziehen. Dankbar. Ich weiß nicht, wie lange das so ging – zehn Minuten, zwanzig –, doch nach einer Weile verstummte sie. Ich schloß die Augen und ließ die Sonne mein Gesicht erforschen. Ich wollte mit Mac schlafen, das war der Grund, warum wir hier waren, aber ich hatte es nicht eilig. Oder vielleicht machte ich mir auch nur etwas vor, vielleicht wollte ich gar nicht mit ihr schlafen.
Ihre Stimme schien aus dem Nirgendwo zu kommen, aus irgendeinem Winkel in meinem Kopf, und meine blaugeäderten Lider, hinter denen schwebende Körper pulsierend dahintrieben, klappten auf. »John«, sagte sie, »hör zu, ich weiß, wie du dich fühlst. Ich weiß es wirklich. Aber du darfst dich dem nicht hingeben, denn diese Art zu denken – Eifersucht, Vorwürfe, es ist ganz gleich, wie du es nennst – ist falsch. Und zerstörerisch, John. Wirklich.«
Sie schloß ihre Hand um meine. Das Licht war grell und umflammte sie, als stünde sie am vorderen Rand einer Bühne. Ihre Pupillen waren zu Stecknadelköpfen geschrumpft, und neben ihren Augenwinkeln war ein Strahlenbündel von Falten, als wäre die Haut eingerissen oder mit einem scharfen Werkzeug bearbeitet worden. Sie war alt, sie wurde alt, und die sichtbaren Anzeichen und die plötzliche Erkenntnis bewirkten, daß sich etwas in mir verschob. »Für mich«, sagte sie und senkte die Stimme, »war es anfangs auch nicht leicht, das kann ich dir sagen. Du bist nicht der erste, mußt du wissen. Da war Ralph Voris – hat Prok ihn mal erwähnt?«
»Ja.«
»Und verschiedene Studenten. Kleine Affären. Sachen mit Frauen.«
Ich sagte nichts. Vielleicht wurde ich rot, denn ich dachte an den
Tag, an dem ich den Code geknackt und mir Proks Geschichte
angesehen hatte. Und Macs.
»Prok hat einen starken Sexualtrieb, und wenn man so oft und so lange unterwegs ist... Du weißt das nicht. Das war lange vor deiner Zeit – es ist über zehn Jahre her. Er fuhr für drei Monate nach Mexiko, um Gallen zu sammeln. Mit drei gesunden jungen Männern – und er war selbst ein gesunder junger Mann. War ich verletzt? Habe ich mich beklagt? War ich wütend, weil er mich praktisch verlassen hatte? Bin ich heute noch wütend?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Du?«
Sie ließ meine Hand los, hob beide Arme, strich die Haare und dann die Bluse glatt und setzte sich auf dem trockenen Laub am Fuß des Felsens zurecht. »Nein«, sagte sie, »ich glaube nicht. Jetzt nicht mehr. Du mußt wissen«, sagte sie und rückte näher heran, so daß ich die Wärme ihrer Hüfte an meiner spürte, »ich liebe ihn, ich liebe ihn mehr als irgendeinen anderen Menschen, und das ist alles, worauf es ankommt.«
Ihre Worte hingen zwischen uns und mit ihnen Prok. Wir beide versuchten, ihn in den Augenblick einzupassen und gleichzeitig auszublenden. Dann beugte ich mich vor und küßte sie, und sie legte die Hände an meine Brust, schob sie unter mein Hemd und strich über die langen Muskeln an meinen Seiten. Wir atmeten gleichzeitig. Dann ließ sie mich los. »Und ich glaube an ihn«, sagte sie, »ich glaube an seine Arbeit und an alles, was er tut – und du ebenfalls. Das weiß ich.«
Als ich Iris an jenem Abend von der Arbeit abholen wollte, war sie nicht da. Ich war pünktlich, es war genau sechs Uhr. Darin war ich inzwischen ziemlich gut – ich hatte, zusammen mit vielen anderen Dingen, Proks Pünktlichkeit übernommen. Die Frau hinter der Theke sagte, Iris sei heute eine halbe Stunde früher gegangen, wegen irgendeines wichtigen Termins. »Vielleicht beim Arzt«, sagte sie nach einem Blick auf mein Gesicht. »Ja, ich glaube, sie hat was von Arzt gesagt.« Was machte es schon, daß es in ganz Indiana keinen Arzt gab, der am Samstag um sechs Uhr Sprechstunde hatte?
Ich ging nach Hause, um zu sehen, ob ich sie irgendwie verpaßt hatte, und brütete bis um sieben vor mich hin. Als die Kirchturmuhr zwei Blocks weiter die volle Stunde schlug, raffte ich mich auf und ging die zehn Blocks bis zum Büro, und diesmal benutzte ich meinen Schlüssel. Ich schaltete das Licht an, und die Schatten flohen in die Ecken. Es war sehr still. Ich blieb einen Augenblick in der Tür stehen, dann ging ich wie unter einem Zwang zu meinem Tisch und untersuchte ihn: Ich beugte mich hinunter und roch daran, ich roch an meinem eigenen Tisch, als könnte ich auf diese Weise irgendwelche Reste vaginaler Sekrete entdecken, als wäre ich ein Spürhund, ein engstirniger, verzweifelter gehörnter Idiot, der sich so sehr erniedrigte, daß er alle landläufigen Maßstäbe der Erniedrigung sprengte, und dann nahm ich mir Corcorans Schreibtisch vor, durchstöberte seine Sachen, sah in die Schubladen, suchte nach etwas, nach irgend etwas, das mir einen Hinweis darauf geben konnte, wer er wirklich war und was er wollte. Wie ich mich fühlte, als ich im beleuchteten Büro den Schreibtisch meines Kollegen durchsuchte, während sich draußen der Himmel über dem Campus verdunkelte und Pärchen Hand in Hand vorbeigingen, zum Tanzen, zum Kino, zum Abendessen? Am Boden zerstört. Ich war am Boden zerstört, doch das war noch nicht das Schlimmste: Es war, als hätte ich Iris irgendwie verraten, als wäre ich der Schuldige. Am stärksten aber war das Gefühl der Unzulänglichkeit – es schmerzt mich heute noch, wenn ich daran zurückdenke.
Unsere Forschungen zeigten, daß etwa sechsundzwanzig Prozent der Frauen und fünfzig Prozent der Männer außerehelichen Geschlechtsverkehr haben – ich selbst habe die Kurve »Kumulatives Vorkommen: Erfahrung im außerehelichen Koitus« auf Seite 320 des Bandes über das sexuelle Verhalten der Frau gezeichnet –, und daraus hatten wir, mit Proks Worten, folgenden Schluß gezogen: »Außerehelicher Koitus hatte für einige Beteiligte eine Anziehungskraft, und zwar wegen der Abwechslung, die ihnen neue und manchmal überlegene Partner brachte.« Genau. Und doch sollte es noch zehn Jahre dauern, bis der Band über das weibliche Sexualverhalten erschien – immerhin hatten wir ja gerade erst begonnen, Daten zu sammeln –, und daher war meine Einschätzung rein intuitiv. Ich war mit Mac zusammengewesen, ihr Geruch war noch an meinen Händen. Aber das war jetzt vollkommen unwichtig. Wichtig war nur Iris. Iris und Corcoran.
Ich ging wieder nach Hause. Es war acht, und sie war noch immer nicht da. Ich schenkte mir einen Drink ein und brütete weiter vor mich hin. Als sie um halb neun nicht aufgetaucht war und nicht einmal angerufen hatte, schrieb ich ein Gedicht oder vielmehr ein paar Zeilen eines Gedichts aus ihrer Anthologie ab, legte das Blatt auf ihr Kopfkissen und machte mich auf den weiten Weg zu Corcoran, um zu sehen, ob sein Wagen vor der Tür stand, ob Licht brannte, ob hinter den Fenstern Bewegung war, eine Silhouette oder so. Es war kalt geworden, und ich sah den Atem in Wolken aus meinem Mund strömen, als ich mit hochgezogenen Schultern dahinging. All meine Gefühle – Wut, Verzweiflung, Verachtung, Rachsucht – lagen ineinander verknäult in meinem Magen wie ein Haarball. Vor dem Haus, in dem Corcoran wohnte, stand kein gelbes Cabriolet, und alle Fenster waren dunkel. Ich blieb zwei Stunden oder länger dort stehen, dann drehte ich mich um und ging besiegt nach Hause.
Muß ich eigens erwähnen, daß Iris nicht da war? Das Gedicht lag unberührt dort, wo ich es hingelegt hatte, und soviel ich weiß, blieb es auch da, die ganze Nacht und den nächsten Morgen. Ich habe keine Ahnung, wann sie in jener Nacht nach Hause kam oder ob sie überhaupt nach Hause kam, denn ich packte ein paar Sachen – Wäsche, Waschzeug, eine Decke – in einen Koffer und schleppte mich wieder ins Büro, um dort auf dem Boden zu schlafen, während das sonst menschenleere Gebäude, eines der ältesten auf dem Campus, ächzend und seufzend einen Zustand offenbarte, der mich unwillkürlich an den meinen erinnerte. Ich war noch keine vierundzwanzig, und doch war mein Leben bereits vorüber. Ich sagte mir, daß ich in den Krieg hätte ziehen sollen, um zu töten und getötet zu werden, denn alles war besser als das hier.
Das Gedicht war übrigens von Hardy, gallenbitter und grimmig wie kaum ein anderes. Heute erscheinen mir die darin ausgedrückten Gefühle und die große Geste ein bißchen halbgar, doch damals traf es genau das, was ich empfand. Es heißt »Neutrale Töne«, und der Sprecher blickt zurück auf einen trostlosen Tag, an dem am Ufer eines zugefrorenen Teichs das Lächeln auf den Lippen seiner Geliebten erstarb. Ich hatte die letzten vier Zeilen abgeschrieben:
Daß Liebe f ußt aufFalsch, daß sie der Falschheit Raub, Das hat seither Dein Antlitz mir entstellt Wie auch den Baum, die gottverlass’ne Welt Und einen Teich, umringt von fahlem, grauem Laub.
Ich verbrachte zwei Nächte im Büro und ging tagsüber nicht mal in die Nähe unserer Wohnung. Wenn Iris mich leiden lassen wollte – ich konnte sie auch leiden lassen. Sollte sie doch im eigenen Saft schmoren, dachte ich, sollte sie doch schmoren, bis ihr so übel war wie mir. Aber wo war Corcoran? Am ersten Morgen erwartete ich ihn mit trockener Kehle und einem Pochen in den Schläfen, das durch wiederholte Hormonausschüttung ausgelöst war, doch es wurde acht, es wurde zehn nach acht, und schließlich fragte ich Prok so beiläufig wie möglich: Wo isteigentlich Corcoran? Prok sah kaum auf. Er habe ganz vergessen, mir zu sagen, daß er meinem Kollegen zwei Tage freigegeben habe, damit dieser sich um eine private Angelegenheit kümmern könne. Mehr erfuhr ich nicht, und für den ganzen Rest des Tages blieb Prok in seine Arbeit versunken. Es gab keine Unterhaltungen, keine scherzhaften Bemerkungen, und die einzige Abwechslung von der täglichen Routine kam, als wir mit zwei jungen Frauen, die sich um eine Stelle als Vollzeitsekretärin bewarben, Einstellungsgespräche führten und sie anschließend einzeln nach ihrer Sexualgeschichte befragten.
Als ich am Ende des zweiten Tags noch immer nichts von Iris gehört hatte, ging ich zurück zu unserer Wohnung. Ich war vorsichtig, ich achtete auf Zeichen, ich näherte mich den Stufen der Vortreppe mit den langsamen, behutsamen Bewegungen eines Kundschafters, als wäre das Haus von abrückenden feindlichen Soldaten vermint worden. Das erste, was mir auffiel, war die Milch: Zwei Flaschen standen unberührt nebeneinander in der isolierten Kiste auf der Vorderveranda. Das Radio schwieg, es brannte kein Licht. Mir sank das Herz. Ich drehte den Schlüssel im Schloß und trat ein. Es roch nach nichts, wie in einer Grabkammer, wie in einem Raum, der leer war und vielleicht nie mehr bewohnt werden würde. Es war, als wären die Menschen, die hier gelebt hatten, dieses nette junge Paar, einfach verschwunden, als hätte man sie entführt, um ein Lösegeld zu erpressen, und als wüßte man nicht, ob das Geld je aufgebracht werden könnte.
Iris’ Kleider waren noch da, im Schrank, auch ihre Bürsten und Cremes, ihr Shampoo – es war alles da. Es dauerte etwa fünfzehn Minuten, während deren ich in einer Art stumpfer Verzweiflung herumstöberte, bis ich merkte, daß das Gedicht verschwunden und durch ein anderes ersetzt worden war (ich weiß bis heute nicht, woher sie es hatte):
Nie wieder werde ich dir sagen, was ich denke, Ich werde lieb und listig sein, sanft und verschlagen... Und eines Tages, wenn du klopfst und eintrittst, Eines schönenTages, nicht zu warm und nicht zu kalt, Werde ich fort sein, und du kannst pfeifen, wie du willst.
Ich bekam keine Luft. Ich mußte mir einen Drink einschenken und mich in den Sessel sinken lassen, denn ich war mit einem Mal so schwach, daß meine Beine mich nicht mehr trugen. Fort?Werde ich
fort sein? Was sollte das heißen? Ich konnte es nicht ergründen – meinte sie damit, daß sie mich verlassen würde, daß sie mich nicht mehr wollte, daß Corcoran innerhalb von ... von einer Woche meinen Platz eingenommen und alles ausgelöscht hatte, was zwischen uns gewesen war? Schön? Nein, es war nicht schön, es war verrückt! Ich liebte sie, sie liebte mich. Wie konnte sich das jemals ändern?
Wenn ich dachte, dies sei der Tiefpunkt – der Austausch bitterer Gedichte, Krieg ohne Feindberührung, der Drink, der Sessel, die leere Wohnung –, so hatte ich mich getäuscht. Denn während ich dort saß, in einer Hand das Glas, in der anderen das Blatt Papier mit Iris’ Handschrift (auch daran hatte ich gerochen, ich hatte es an die Nase gehalten und tief eingeatmet, in der Hoffnung, einen Hauch von ihrem Geruch zu erhaschen), hörte ich ihre Schritte auf der Treppe und ihren Schlüssel im Schloß, und im nächsten Augenblick mußte ich ihr ins Gesicht sehen und mir anhören, daß sie sich verliebt hatte.
Da war sie, mit gerötetem Gesicht und zerzaustem Haar, und ihre Kleider sahen aus, als hätte sie darin geschlafen (und das hatte sie ja auch, oder vielmehr nein, das hatte sie eben nicht, aber daran wollte ich jetzt nicht denken). Sie trat ein, warf Handtasche und Mantel auf einen Stuhl und sagte, es tue ihr leid, aber so sei es nun mal: Sie habe sich verliebt.
Ich werde nicht wütend. Ich unterdrücke meine Wut, ich trinke sie wie Angostura Bitter, verdaue sie, schiebe sie durch meine Gedärme und scheiße sie aus. Das hat meine Mutter mich gelehrt. Tu, was ich dir sage. Benimm dich. Lebe für mich. »Wir sind noch nicht mal ein Jahr verheiratet«, sagte ich.
Sie war zu aufgeregt, sie konnte sich nicht setzen und ging auf und ab, während ich mich an den Sessel klammerte, als wäre das Schiff untergegangen und er das einzige Wrackteil, das mir geblieben war. »Das ist mir egal«, sagte sie. »Es tut mir leid, und ich will dir nicht weh tun – ich werde dich immer lieben, und du warst meine erste Liebe, das weißt du ja –, aber ich habe etwas gefunden, was größer ist als das, und ich kann es nicht ändern. Ich kann nicht.«
»Er ist verheiratet«, sagte ich, und meine Stimme war flach und tonlos. Der Wasserhahn tropfte, ein donnernder Tropfen nach dem anderen fiel auf das fettige Porzellan der Teller, Tassen und Untertassen in der Spüle. »Er liebt dich nicht. Für ihn ist es nur Sex – das hat er mir gesagt. Es ist nur Sex, Iris. Er ist Sexforscher.«
Die ganze Intensität in ihrem Gesicht zog sich zu dem erstarrten Öhr ihres Mundes zusammen, und für eine Sekunde dachte ich, sie würde mir ins Gesicht spucken. »So nennst du das – Forschung?« Sie bebte, die Ekstase des Augenblicks ließ ihr Gesicht leuchten, und ihre Augen blickten klar und hart. »Tja, und wennschon, ich liebe ihn, und alles andere ist egal. Auch ich kann forschen, das wirst du sehen. Du wirst schon sehen.«
Früh am nächsten Morgen, als Prok noch oben im Badezimmer war und seine Zähne putzte und Mac mit Schneebesen, Rührschüssel und einem Becher Kaffee in der Küche stand, ging ich zu dem Haus in der First Street und klopfte an die Tür, bis eines der Kinder mich einließ. Ich weiß nicht mehr, welches es war, möglicherweise Bruce, der Jüngste, der damals dreizehn oder vierzehn war, aber die Tür schwang auf, das jugendliche Gesicht nahm meine Anwesenheit zur Kenntnis und verschwand, so daß ich allein und unangemeldet im Vorraum stand. Hinter mir war die Tür zur Straße weit geöffnet. Zwei Jahre zuvor wäre mir eine solche Situation unendlich peinlich gewesen, doch jetzt empfand ich, während die Geräusche des Hauses mich umrieselten – drei Kinder, die sich für die Schule fertigmachten, und aus dem ersten Stock das Klatschen von Proks Streichriemen –, nichts als Erleichterung. Ich war eingehüllt von Normalität, vom regelmäßigen Wummern der Schritte über mir und dem Murmeln der beiden Mädchen, die sich über den Flur hinweg unterhielten. Ich blieb einen Augenblick stehen und schloß leise die Tür. Es roch nach Kaffee, Butter und heißem Fett, und ich folgte dem Geruch zur Küche und versuchte, das heftige Pochen in meiner Brust zu dämpfen. Mac stand mit dem Rücken zu mir am Herd und schlug Eier in einer Schüssel. Sie trug Hauskleid und Schürze, sie war barfuß und ungekämmt, und als ich ihren Namen sagte, zuckte sie zusammen.
Verwundert drehte sie sich zu mir um. »John?« sagte sie, als könnte sie sich nicht genau erinnern, wer ich war. »Was machst du denn hier, um diese Uhrzeit? Wollt ihr irgendwohin, Prok und du? Ich dachte, ihr fahrt erst nächste Woche wieder nach Indianapolis.«
»Nein«, sagte ich und suchte nach den richtigen Worten. »Ich
wollte nur, äh ... Ich muß mit Prok reden. Ist er da? Es ist
wirklich dringend.«
Ihr Blick war bestürzt. Sie spürte Gefahr und großen Kummer, und
ich war völlig fertig, das sah sie sofort. »Hast du schon was
gegessen?« fragte sie unvermittelt. »Ich kann ein paar Eier mehr
machen. Und Toast – willst du Toast?«
»Ist er oben?«
Vielleicht nickte sie, vielleicht sagte sie auch: »Geh nur rauf«,
auf jeden Fall war die Erlaubnis nur eine Formsache, denn ich
gehörte dazu, ich war ein Teil dieses Haushalts, dieser Familie,
und im nächsten Augenblick sprang ich die Treppe hinauf, wo mir
Joan und An-ne, die beiden Mädchen, entgegenkamen, fertig angezogen
für die Schule. Vermutlich warfen sie mir einen fragenden Blick zu,
möglicherweise kicherten sie auch (sie waren vielleicht siebzehn
und sechzehn), aber im Grunde war es etwas ganz Normales: Ich ging
die Treppe hinauf, wie ich es schon zuvor getan hatte, John Milk,
der gutaussehende junge Mann mit dem widerspenstigen Haar, Daddys
Freund, Daddys Assistent, sein Kollege und Reisebegleiter. Ich fand
Prok im Badezimmer, er stand vor dem Spiegel und rasierte sich. Die
Tür war offen. Er trug Unterwäsche und hatte gerade den letzten
Rest Rasierschaum vom Kinn geschabt, als er mich in der Tür
bemerkte. »Prok«, sagte ich, »ich hoffe, du ... Ich wußte nicht,
mit wem ich reden sollte.«
Ich konnte nichts essen, ich war viel zu aufgewühlt, doch beide,
sowohl Prok als auch Mac, bestanden darauf, daß ich Platz nahm, und
Mac setzte mir Rührei und Toast vor. Während des ganzen Frühstücks
musterte Prok mich mit dem forschenden Blick, den er manchmal
hatte, als wollte er mich für eine physiologische Studie über die
verschiedenen Reaktionen des Körpers auf Belastung in meine
Bestandteile zerlegen, doch was er sagte, galt ausschließlich dem
Projekt. »Die Kinder waren wirklich großartig, nicht, Milk? Du
hättest sie sehen sollen, Mac: mit vier, fünf Jahren bereits ganz
eingebettet in ihre Geschlechterrolle, und mit sieben oder acht
hatten etliche von ihnen schon die Geschlechtsorgane des anderen
Geschlechts gesehen. Und ein Mädchen war da – erinnerst du dich,
Milk? Die Kleine mit den Zöpfen? Sie hatte ihre Eltern nackt
gesehen, beide, und zwar regelmäßig.« Als wir fertig waren – ich
hatte kaum etwas angerührt –, erhob er sich dynamisch wie immer,
zog vor dem Spiegel in der Eingangshalle die Fliege zurecht und
sagte, wenn wir pünktlich mit der Arbeit beginnen wollten, müßten
wir uns beeilen.
Kaum waren wir aus dem Haus, da fragte er mich, was los sei.
»Es geht um Iris«, sagte ich und mühte mich, mit ihm Schritt zu
halten, als wir durch das Gartentor auf die Straße traten. Es fiel
mir schwer, die Worte herauszubringen, sie stießen in meinem Kopf
zusammen, ebenso wie die Gefühle, die mich auf eine untergründige,
drüsengesteuerte Weise im Griff hatten. Prok warf mir einen
ungeduldigen Blick zu. »Sie sagt, sie hat sich in Corcoran verliebt
und daß« – hier ging ich innerlich in die Knie –, »daß sie zu ihm
ziehen will, daß sie mit ihm leben will. Daß sie ...«
Er hielt den Kopf gesenkt, hatte die Schultern hochgezogen und war
bereits in seinen energischen Schritt verfallen: Er hatte keine
Zeit, und es war reine Zeitverschwendung, auf der Straße
herumzustehen und zu plaudern, wenn die Arbeit rief. Er sagte nur:
»Das geht nicht.«
Nein, dachte ich, nein, natürlich geht das nicht.
»Aber du warst einverstanden«, sagte ich, »das ist jedenfalls das,
was Corcoran mir erzählt hat. Du hast ihm deinen Segen gegeben. Für
diese ganze Sache, meine ich.«
Der Seitenblick über die hochgezogene Schulter, mit dem er mich
bedachte, war nicht im mindesten mitfühlend. Es war der wilde,
gereizte Blick, den er hatte, wenn man ihn herausforderte, wenn die
Rices oder Hoenigs dieser Welt aufstanden, um ihn zu kritisieren,
sei es aus methodologischen oder aus moralischen Gründen. »Wir sind
allesamt erwachsen, Milk«, sagte er kurz angebunden. »Wir sind
erwachsen und handeln aus freien Stücken. Niemand braucht meine
Erlaubnis für irgend etwas.«
Ich lief jetzt neben ihm, und ich war noch nie so nahe daran
gewesen, die Beherrschung zu verlieren: Mir lagen Anschuldigungen
auf der Zunge, das weiß ich, und ich wollte ihm seine eigenen Worte
ins Gesicht schleudern, doch was ich herausbrachte, war nur ein
weiterer Beweis meiner Unzulänglichkeit, ein gequältes Jammern wie
das eines Kindes. »Es frißt mich auf«, sagte ich, und obwohl ich
mich immer fit hielt, hatte ich das Gefühl, als bekäme ich nicht
genug Luft. Meine Beine pumpten automatisch, einatmen, ausatmen.
»Ich liebe sie. Ich will sie zurückhaben.«
Wir gingen schweigend weiter, und ich kann Ihnen nicht sagen, ob
die Sonne schien und die Eichhörnchen an den Bäumen emporkletterten
oder ob ein Sturm tobte, denn ich war am kritischen Punkt
angelangt, und nichts in der Welt der Erscheinungen konnte mich
noch interessieren, es war alles nur ein Hintergrund für die Szene,
die ich spielte: der verzweifelte Liebende, der gehörnte Ehemann,
der Dummkopf im Narrengewand. »Sie will zu ihm ziehen, sagst du?«
fragte Prok und sah mich mit diesem zupackenden Blick an.
Ich nickte. Wir gingen so schnell, daß ich beinahe traben mußte.
»Die letzten drei Nächte hat sie bei ihm verbracht, und sie ... sie
ist gestern nacht nur nach Hause gekommen, um ein paar Sachen zu
holen, und sie hat gesagt« – es war lächerlich, es zu wiederholen,
aber ich konnte nicht an mich halten –, »daß sie auch forschen
will.«
Mit einem Mal standen wir still, mitten auf dem Bürgersteig. Ein
Hand in Hand spazierendes Studentenpärchen ließ einander los, um
rechts und links von uns vorbeizugehen, die Bäume über uns
schwankten, und bis auf Proks Gesicht, seiner Brille, seinen Augen
schien alles ringsumher in verschwommener Bewegung
vorüberzurauschen. »Forschen?« sagte er. »Aber das ist absurd. Es
ist falsch. Und das weißt du, John, besser als jeder andere. Habe
ich nicht immer wieder betont, wie sehr unsere Arbeit von ihrer
Wahrnehmung in der Öffentlichkeit abhängt?«
»Natürlich. Das hab ich ihr ja auch gesagt.«
Er reckte das Kinn. Der Wind, sofern es einen gab, ließ vielleicht
die steife Welle seines Haars erzittern. »Wir können es uns nicht
leisten, ihnen Munition zu liefern.«
»Nein, natürlich nicht.« Ich wollte den Blick abwenden. In meinen
Augen war etwas Flüssiges – Tränen, meine ich –, und ich wollte
mich nicht bloßstellen.
»Du und Mac, zum Beispiel – wohltuend für beide Seiten, wie ich es
immer gesagt habe. Ein Geben und Nehmen von Freude und Lust. So
sollte es sein. Wir müssen unsere Hemmungen überwinden und uns
selbst so vollständig wie möglich ausdrücken. Davon bin ich
felsenfest überzeugt. Aber es muß streng vertraulich bleiben, und
jeder von uns – nicht nur die Männer, sondern auch ihre Frauen –
muß sich darüber im klaren sein, daß wir hier ein Teil von etwas
viel, viel Größerem sind. Und daß wir unter Beobachtung stehen, daß
man uns durch ein Mikroskop beobachtet, John. Das weißt du doch,
oder?« Er hielt inne. Wir standen noch immer wie angewurzelt da,
und Prok machte eine Bewegung, als wollte er den Weg fortsetzen,
verharrte jedoch abermals. »Hat irgend jemand sie mit ihm gesehen?
Hat jemand gesehen, wie sie in seine Wohnung gegangen ist?«
»Das weiß ich nicht«, sagte ich unglücklich. Ich betrachtete das
Muster der Platten auf dem Bürgersteig. Ich konnte Prok nicht in
die Augen sehen. »Aber ich glaube nicht, daß sich so was in einer
Stadt, die so klein ist wie die hier ... Jedenfalls nicht für
lange.«
Prok fluchte nicht. Er gebrauchte keine Kraftausdrücke und erzählte
keine schmutzigen Witze – auch wenn er in späteren Jahren damit
bombardiert wurde –, doch in diesem Augenblick, als wir dort auf
der Straße standen, kam er dem Fluchen sehr nahe. Er spuckte etwas
aus, irgendeinen lateinischen Ausdruck, und dann gingen wir weiter,
und er murmelte etwas über Corcoran und machte sich Vorwürfe, daß
er die Situation »nicht absolut klar dargelegt« habe, »so klar, daß
jeder Idiot diese Wahrheit und die Notwendigkeit zur Diskretion
versteht«. Wir überquerten die Atwater Street, dann die Third
Street, bogen in den Fußweg ein und gingen auf die aufragenden
Universitätsgebäude zu. »Tut mir leid, John«, sagte er und
durchbohrte mich mit einem Blick, als wäre ich derjenige, der seine
Forschungsarbeit in Gefahr brachte, »aber das geht einfach
nicht.«
Obwohl ihre Töchter noch keine Ferien hatten und daher eineinhalb Monate Unterricht versäumen würden, kam Violet Corcoran zwei Wochen später aus South Bend nach Bloomington und zog in die beengte Wohnung ihres Mannes in der College Avenue. Sogleich nahm sie die Dinge in die Hand: Sie eröffnete ein Konto beim Lebensmittelhändler, stellte einen Privatlehrer ein und setzte Lloyd Wheeler, den besten Makler der Stadt, auf ein passendes Haus an, mit einem Garten für die Mädchen, einer Garage für den Cadillac und schattenspendenden Bäumen, die die Sommerhitze linderten. Prok hatte mit Corcoran gesprochen – an jenem Morgen war er die Treppe im Institut für Biologie hinaufgegangen und energischen Schritts in das hintere Bürozimmer gestürmt, und dann hatte er sich Corcoran vorgeknöpft. Und fünf Minuten später hatte Corcoran mit Iris gesprochen, hatte sie in seiner Wohnung angerufen. Die ganze Zeit saß ich an meinem Schreibtisch und trank Kaffee, als wollte ich damit mein Blut ersetzen.
Wenn ich heute an die ganze Sache denke, muß ich Iris’ Unreife die Schuld geben. Sie war erst zwanzig, als wir heirateten, und hatte, wie gesagt, keine anderen Erfahrungen mit Männern gemacht. Vielleicht war das ungerecht, ja, ganz sicher war es das, insbesondere angesichts des Projekts, an dem wir alle arbeiteten, und der außerehelichen Beziehungen, die ich gehabt hatte. Sie war nicht imstande einzuschätzen, was sie tat, ihre Gefühle im Zaum zu halten und Prioritäten zu setzen – sie war verknallt, das war alles, so verknallt wie viele der jungen Mädchen, die wir über ihre ersten Verliebtheiten befragten. Vor allem aber war sie dickköpfig. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie schwer wieder davon abzubringen, und als sie eine Stunde später blaß und mit geröteten, verweinten Augen ins Büro trat, war ich nicht überrascht, sondern sank innerlich in mich zusammen. Prok stand gerade neben mir und verglich eine seiner Tabellen mit einer von meinen, und Corcoran, von dessen Gesicht das selbstzufriedene Lächeln endlich einmal verschwunden war, saß über seinen Tisch gebeugt im hinteren Zimmer. »Das können Sie nicht machen«, sagte sie.
Ich war im Nu auf den Beinen, noch bevor ich merkte, daß sie gar nicht zu mir gesprochen hatte. Corcoran drehte sich auf seinem Stuhl um, seine Augen lagen tief in den Höhlen. Er trug seine zweifarbigen Schuhe, das weiß ich noch, und begann eine Fußspitze auf dem Boden hin und her zu drehen, als träte er eine Zigarette aus. Prok legte mir eine Hand auf die Schulter, und ich spürte, daß eine Welle von Scham über mir zusammenschlug.
Iris rührte sich nicht. »Ich bin nicht Ihr Eigentum – und John
und Purvis auch nicht.«
»Bring deine Frau bitte hinaus, Milk«, sagte Prok. »Bring sie nach
Hause.«
»Nein«, sagte sie mit erhobener Stimme. »Nicht bevor Sie mir gesagt
haben, wer Sie zu Gott gemacht hat.«
»Corcoran«, rief Prok über die Schulter, »würden Sie bitte mal
kommen?«, und wir sahen zu, wie Corcoran sich erhob und mit steifen
Schritten zu uns kam. Er stellte sich mit unsicherem Gesicht neben
uns. Iris stand noch immer in der Tür.
»Also, Corcoran«, sagte Prok. Ich war nicht zu meiner Frau
gegangen, ich hatte sie nicht berührt. Wir standen da wie drei
Abwehrspieler, die den Ball erwarteten. »Sagen Sie mir bitte, ob
Sie Mrs. Milk die Situation erklärt haben.«
Corcoran beugte den Kopf. »Ja, das habe ich«, sagte er.
»Entschuldigung, ich habe Sie nicht verstanden.«
Corcoran sah erst Iris und dann mich an. »Ja, das habe ich«,
wiederholte er.
»Gut«, sagte Prok, »sehr gut. Wenn das so ist« – er trat auf Iris
zu, nahm ihren Arm und führte sie in das hintere Zimmer –, »dann
würde ich gern unter vier Augen mit Ihnen sprechen, Iris.«
Die Tür schloß sich, und ich setzte meine Arbeit fort.