TEIL I - INSTITUT FÜR BIOLOGIE

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So großspurig ich mich in der Kneipe auch gegeben hatte – ich muß doch zugeben, daß mir vor dem Interview mulmig war. Ich weiß, das klingt lächerlich, denn nur Corcoran und Prok selbst haben mehr als ich zu diesem Projekt beigetragen. Ich habe immerhin ungefähr zweitausend Interviews selbständig geführt, aber wenn ich ehr-lich bin, hatte ich damals Angst. Oder vielleicht sollte ich lieber sagen: Ich war verschüchtert. Sie müssen sich vor Augen halten, daß über Sex und Sexualität einfach nicht gesprochen wurde – nirgendwo, ganz gleich, in welchem Kreis –, und gewiß nicht im Hörsaal irgendeiner Universität. An anderen Colleges und Universitäten im ganzen Land wurden, hauptsächlich als Reaktion auf die in den dreißiger Jahren verbreitete Angst vor Geschlechtskrankheiten, Ehevorbereitungskurse angeboten, doch diese Kurse waren nichtssagend und voller Euphemismen, und ein Durchschnittsamerikaner, der so etwas wie eine Beratung wollte, eine freimütige Erörterung sexueller Vorlieben und Abartigkeiten, mußte feststellen, daß dergleichen, abgesehen von den Banalitäten des örtlichen Pfarrers oder Priesters, nicht zu haben war. Und darum, wiederholte Dr. Kinsey in seiner letzten Vorlesung, sei er im Begriff, ein bahnbrechendes Forschungsprojekt zu beginnen: Er wolle das sexuelle Verhalten unserer Spezies beschreiben und quantifizieren, um zu enthüllen, was jahrhundertelang unter dem Schleier von Tabus, Aberglauben und religiösen Verboten verborgen gewesen sei, und die Daten denen, die ihrer bedürften, zugänglich zu machen. Und er appellierte an uns – die lüsternen, fiebernden, schwitzhändigen Studenten im Auditorium –, ihm dabei zu helfen. Er hatte soeben die Vorlesungsreihe rekapituliert und seine Bemerkungen über individuelle Abweichungen sowie über Empfängnisverhütung zusammengefaßt (wobei er, gleichsam als Nachgedanken, hinzugefügt hatte, bei der Verwendung von Kondomen könnten die natürlichen Sekrete der Cowper-Drüse des Mannes durch Speichel substituiert werden), und nun stand er vor uns, mit wachem Gesichtsausdruck, die Hände auf dem Rednerpult gefaltet.

»Ich appelliere an Sie alle«, sagte er nach einer kleinen Pause, »mich aufzusuchen und mir die Geschichte Ihres Sexuallebens zur Verfügung zu stellen, denn diese Geschichten sind für unser Verständnis der menschlichen Sexualität unentbehrlich.« Das Licht war trüb und gleichförmig, der Saal überheizt, und es hing ein leichter Geruch nach Staub und Bohnerwachs in der Luft. Draußen färbte der erste Schnee des Winters die Erde für kurze Zeit weiß, doch das nahmen wir sowenig wahr, als säßen wir in einem Bunker. Einige rutschten auf den Sitzen hin und her. Die junge Frau in der Reihe vor mir sah verstohlen auf ihre Uhr.

»Wir wissen mehr über das Sexualleben der Drosophila melanogaster –einer Fruchtfliege – als über eine der gewöhnlichsten, alltäglichsten Aktivitäten unserer eigenen Spezies«, fuhr er mit fester Stimme fort und sah uns an. »Wir wissen mehr über die Verhaltensweisen eines Insekts als über das, was in den Schlafzimmern dieses Landes – und übrigens auch auf Wohnzimmersofas und den Rücksitzen von Automobilen – vor sich geht, über die Vorgänge, denen jeder einzelne von uns es verdankt, daß er jetzt hier, m diesem Raum, sein kann. Ist das wissenschaftlich sinnvoll? Ist es auch nur ansatzweise rational oder vertretbar?«

Laura saß neben mir und hielt den Schein unserer Verlobung aufrecht, obgleich sie sich im Verlauf des Semesters ziemlich heftig in ein Mitglied der Basketballmannschaft namens Jim Willard verknallt hatte, in dessen Begleitung sie bereits zweimal von Dean Hoenig ertappt worden war, die ein feines Gespür für die Temperaturentwicklung von Romanzen besaß. Beide Male hatte Laura sich herauswinden können – Jim war ein Freund der Familie, eigentlich sogar ein Cousin, zweiten Grades natürlich, und da Basketball einen so großen Teil seiner Zeit beanspruchte, hatte sie es auf sich genommen, ihm ein bißchen zu helfen –, aber Dean Hoenig war argwöhnisch geworden. Sie war sichtlich empört, als wir gemeinsam durch die Tür traten, und machte eine, wie ich fand, vollkommen unpassende Bemerkung über Hochzeitsglocken, über die ich mich noch ärgerte, als die Vorlesung schon längst begonnen hatte. Jedenfalls saß Laura neben mir, beugte sich über ihren Block und tat weiterhin, als schriebe sie mit, während sie in Wirklichkeit bloß herumkritzelte: Sie malte lange, schlanke Frauengestalten in Kleidern, Pelzmänteln und mit spektakulären Federhüten sowie mindestens ein pochendes, von einem verirrten Pfeil durchbohrtes Herz.

Was Dr. Kinsey von uns wollte, was er sich von seinem Appell an uns erhoffte, war unsere hundertprozentige Bereitschaft zur Mitarbeit. Wir sollten Termine mit ihm vereinbaren und ihm unter vier Augen die Geschichte unseres Sexuallebens anvertrauen. Für die Wissenschaft. Alles werde verschlüsselt aufgezeichnet und streng vertraulich behandelt – er habe einen Code entwickelt, dessen Schlüssel nur er allein kenne, so daß niemand außer ihm imstande sein werde, einer bestimmten Geschichte einen Namen zuzuordnen. »Und ich muß betonen, daß diese hundertprozentige Bereitschaft unerläßlich ist«, fügte er mit einer kantigen Handbewegung hinzu, »denn alles andere würde die Verläßlichkeit der gewonnenen Statistiken in Frage stellen. Wenn wir nur die Geschichten derer sammeln, die uns aufsuchen, erhalten wir ein sehr ungenaues Bild der gesamten Gesellschaft, doch wenn wir verschiedene Gruppen zu hundert Prozent erfassen – alle Studenten in diesem Hörsaal beispielsweise, alle jungen Männer, die einer studentischen Verbindung angehören, sämtliche Mitglieder des Elks’ Club, die weiblichen Angehörigen der Streitkräfte, die Insassen des Staatsgefängnisses in Putnam –, erstellen wir ein akkurates Bild, in dem alle Gesellschaftsschichten berücksichtigt sind.« Er hielt inne und ließ den Blick über die Reihen der Zuhörer wandern, von rechts nach links, von hinten nach vorn. Eine Stille legte sich über uns. Laura hob den Kopf.

»Gut«, sagte er schließlich. »Im Dienste dieser Sache stehe ich im Anschluß an die Vorlesung zur Terminabsprache zur Verfügung.«
Infolge unseres Täuschungsmanövers erhielten Laura und ich aufeinanderfolgende Termine, denn schließlich wären wir ja demnächst verheiratet – allerdings hatte Laura inzwischen keine Verwendung mehr für mich und sah bewußt zur Seite, wenn sie in Begleitung des hünenhaften Jim Willard, der mit einer Körpergröße von eins neunundachtzig und einem Gewicht von sechsundachtzig Kilo unter dem Korb unserer Mannschaft für Stabilität sorgte, über den Campus spazierte. An einem windigen, bitterkalten Dezembernachmittag gingen wir getrennt zum Institut für Biologie – dürres Laub wirbelte über gelblich verfärbten Winterrasen, die Bäume standen kahl und verloren herum, und alle auf dem Campus hatten Schnupfen. Laura war als erste dran, und da die Interviews damals im Durchschnitt etwas über eine Stunde dauerten, hatte es eigentlich keinen Sinn, sie dorthin zu begleiten. Doch als ich sie und Jim Willard am Abend zuvor auf den Stufen zur Bibliothek getroffen hatte, bekam ich kalte Füße und plädierte dafür, den Schein zu wahren und trotzdem gemeinsam zu gehen – mir machte es nichts aus, ich würde meine Bücher mitnehmen und lernen, während sie in Kinseys Büro wäre –, doch ich hatte noch gar nicht geendet, da schüttelte sie bereits den Kopf. »Das ist sehr nett, John«, sagte sie, »und ich weiß deine Sorge zu schätzen, wirklich. Aber das Semester ist so gut wie vorbei. Was könnten sie uns schon tun?«
Jim Willard ragte im Hintergrund auf und bedachte mich mit dem Blick, den er sonst für den Tip-off reserviert hatte.
»Außerdem«, sagte sie und zeigte mit einem schmalen Lächeln ihre Zähne, »kann man sich schließlich auch entlieben, oder? Sogar Dean Hoenig muß den Realitäten ins Auge sehen – sie kann doch nicht erwarten, daßyWe Verlobung hält.«
In diesem Punkt wollte ich ihr nicht recht geben. Ich spürte etwas, was ich noch nie zuvor gespürt hatte, und ich hätte es nicht definieren können, nicht als der Mensch, der ich damals war, nicht mit den Begriffen, die mir damals zu Gebote standen, aber vielleicht kann ich sagen, daß ihr Gesicht in dem Licht, das aus den hohen Bogenfenstern drang, wie ein kleines Wunder war und daß ich mich an den Kuß in der Kneipe erinnerte und daran, wie sie sich im Hörsaal auf dem Platz neben mir bewegt hatte. Kann ich das sagen und es dabei belassen?
»Und was ist mit disziplinarischen Maßnahmen?« sagte ich.
Sie lachte kurz auf. »Disziplinarische Maßnahmen? Soll das ein Witz sein?« Sie sah zu Jim Willard und dann wieder zu mir. »Disziplinarische Maßnahmen – ganz gleich, von wem – sind mir völlig egal.«
Und so ging ich allein zum Institut für Biologie und folgte dem zarten Duft ihres Parfüms, der noch in der Luft hing. Ich hatte den Mantelkragen hochgeschlagen, und unter dem Arm trug ich einen Stapel Bücher. Wie die meisten anderen Universitätsgebäude war auch dieses aus Kalkstein, der in der Gegend gebrochen worden war. Gleich einem entweihten Tempel erhob es sich aus dem schwarzen Griff der Bäume, der Himmel im Hintergrund hatte beinahe alles Licht verloren, und ich dachte unwillkürlich, wie anders es im September ausgesehen hatte, eingebettet in buntes Laub. Als ich auf den Weg zum Eingang abbog und dürre Blätter unter meinen Füßen raschelten, war mir mit einem Mal beklommen zumute. Ich kannte Prok noch nicht – oder vielmehr kannte ich ihn nur als eine entfernte, mit einer Funktion versehene Gestalt auf dem Podium –, und ich fragte mich besorgt, was er von mir denken würde. Nicht nur die List, zu der Laura und ich gegriffen hatten, warf einen Schatten auf mich, sondern auch meine Geschichte. Ich schämte mich ihrer, ich schämte mich dessen, was ich war und was ich getan hatte. Niemals hatte ich das Thema Sex angeschnitten, nicht gegenüber meinen besten Freunden, nicht gegenüber dem Vertrauenslehrer und auch nicht gegenüber dem Onkel (Robert, dem jüngsten Bruder meines Vaters), der sein Bestes getan hatte, die Stelle meines toten Vaters auszufüllen, bis ihn die Wanderlust packte und er ebenfalls verschwand.
Ich wälzte diese Gedanken im Kopf herum und fragte mich, was Dr. Kinsey von mir würde wissen wollen und ob ich es wagen konnte, ausweichende Antworten zu geben – oder zu lügen, knallhart zu lügen –, als die Tür aufgestoßen wurde und Laura aus dem Gebäude trat. Sie trug einen dunklen Mantel mit Gürtel, weiße Söckchen und sportliche Schuhe, ihre Waden waren schutzlos der Kälte ausgesetzt, und vor dem aufragenden Gebäude und dem großen, gewichtigen Rechteck der Tür sah sie klein und zerbrechlich aus. Eine Windbö kam, ihre Hände griffen unwillkürlich nach dem Hut, und hätte sie nicht in diesem Moment aufgeblickt und mich gesehen, dann hätte ich vielleicht auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre verschwunden. Doch sie blickte auf. Und sie sah mich eigenartig an, als könnte sie sich nicht genau an mich erinnern oder als sähe sie mich zum ersten Mal außerhalb der gewohnten Umgebung. Ich hatte keine andere Wahl, als weiter auf den Eingang zuzusteuern, und da bedachte sie mich mit einem reumütigen Blick. »Jetzt bist du dran, hm?« sagte sie. Sie stand auf dem Treppenabsatz und hielt mir die Tür auf. »Was wollte er wissen?« schnaufte ich und sprang, immer zwei Stufen auf einmal, die Treppe hinauf. Der Korridor hinter ihr lag verlassen da. Ich sah das matte Glänzen des Linoleumbodens, die in Abständen montierten Lampen und die dunkle Treppe, die am anderen Ende gähnte.
»Ach, ich weiß nicht«, sagte sie, und ihr Atem dampfte in der kalten Luft. »Alles.«
»Hat er auch nach ... nach uns gefragt?«
»Mh-mh. Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß ihn das so interessiert. Er ... er ist wirklich überzeugt von dem, was er tut, und er will, daß die Leute ... sich öffnen. Ja, so muß man das wohl nennen. Es geht nur um Forschung, es geht darum, an die eigentliche Wahrheit heranzukommen, und wie er das macht... Ich meine, es ist nicht das, was du denkst. Es ist nicht peinlich, überhaupt nicht. Du wirst schon sehen. Er hat eine sehr entspannende Art.«
Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte. Sie stand neben mir, so nah, daß ich das schwache Aroma der Pfefferminzzahnpasta riechen konnte, das sich mit den Düften von Parfüm und Shampoo vermischte. Ihr Gesicht war freimütig, die Lippen waren geöffnet, doch ihre Augen blickten an mir vorbei, als erwartete sie, daß Jim Willard – oder Prok selbst – unter der Reihe von Bäumen an der Straße hervortreten würde. Sie starrte einfach in die Ferne, als wäre sie gerade erst erwacht – oder als wäre sie von einem der Scharlatane beim Landwirtschaftsfest hypnotisiert worden. Der Wind wehte mir ins Genick, und ich spürte die warme Luft, die aus dem Gebäude strömte, wie den Atem eines Tieres auf meinem Gesicht. »Er hat dich doch nicht hypnotisiert oder so?«
Sie musterte mich lange und ausgiebig. »Nein, John«, sagte sie ziemlich von oben herab, »nein, er hypnotisiert einen nicht. Aber hör zu« – sie schob eine lose Strähne unter den Hut –, »ich hab mich noch gar nicht richtig für das bedankt, was du getan hast. Viele Männer, die ich kenne, wären niemals in diese Vorlesung gegangen – das war wirklich toll von dir. Also danke. Das meine ich ganz ernst.«
»Klar«, murmelte ich, »war mir ein Vergnügen«, und dann ließ sie den Türflügel los, und ich paßte ihn mit einer Hand ab und trat ins Gebäude, während Laura die Eingangstreppe hinunterging.
Dr. Kinseys Büro befand sich am Ende des Flurs im ersten Stock. Mein Termin war der letzte an diesem Tag, und die Korridore, in denen es noch vor einer Stunde von Studenten gewimmelt hatte, waren jetzt verlassen. Auch die Angestellten und Mitarbeiter waren nach Hause gegangen – sämtliche Büros und Unterrichtsräume waren dunkel. Sogar der Hausmeister hatte offenbar anderswo zu tun. Am Trinkbrunnen blieb ich stehen – meine Kehle war plötzlich wie ausgetrocknet –, dann ging ich weiter, und meine Schritte hallten in dem leeren Gebäude wider wie Gewehrschüsse. Durch ein tristes, fensterloses kleines Vorzimmer kam man in das gedämpft beleuchtete Büro. Die Tür stand offen, und ich sah zwei vollgestopfte, bis zur Decke reichende Metallregale, dann einen Haarschopf, der wohl nur der Kinseys sein konnte. Er beugte sich im sanften gelben Licht über einen Tisch. Ich zögerte einen Augenblick und klopfte dann an den Türrahmen.
Er reckte den Kopf zur Seite, um die Tür besser zu sehen, und sprang dann auf. »Milk?« rief er, eilte mit ausgestreckter Hand auf mich zu und machte dabei ein so entzücktes Gesicht, als wäre ich von allen Menschen auf der Welt der einzige, dessen Erscheinen ihn überglücklich machte. »John Milk?«
Ich schüttelte ihm die Hand, nickte und stammelte die üblichen Begrüßungsfloskeln. Ich sagte vielleicht: »Freut mich«, allerdings so leise, daß er es wahrscheinlich gar nicht hörte.
»Gut, daß Sie gekommen sind«, sagte er und hielt noch immer meine Hand. Wir standen einen Augenblick in der Tür, und mir wurde bewußt, wie groß er war – mindest eins sechsundachtzig – und daß er eine enorme körperliche Präsenz besaß. Ich dachte, daß er es, wenn er gewollt hätte, ohne weiteres mit Jim Willard hätte aufnehmen können. »Aber kommen Sie doch herein«, sagte er, ließ meine Hand los und führte mich in sein Büro, wo er auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch zeigte. »Milk«, sagte er, während ich mich setzte und er ebenfalls wieder am Schreibtisch Platz nahm, »ist das ein deutscher Name – ursprünglich, meine ich?«
»Ja. Früher hießen wir Milch, aber mein Großvater hat das ändern lassen.«
»Zu eindeutig teutonisch, hm? Es gibt natürlich kaum etwas Robusteres als einen Amerikaner mit englisch-deutschen Vorfahren – außer einen mit schottischen Vorfahren vielleicht. Ich bin schottischer Herkunft, aber das haben Sie sicher schon aus meinem Namen geschlossen. Möchten Sie eine Zigarette?«
Zigarettenschachteln lagen, ausgebreitet wie eine Opfergabe, vor mir auf dem Tisch, vier verschiedene Marken; daneben Feuerzeug und Aschenbecher. Damals wußte ich noch nicht, wie sehr Prok das Rauchen verabscheute – er fand, es solle an allen öffentlichen und den meisten privaten Orten verboten werden – und daß er Zigaretten ebenso wie Limonade, Kaffee, Tee und, unter den entsprechenden Umständen, auch alkoholische Getränke nur anbot, um die InterviewSituation angenehmer zu gestalten. Er wollte vor allem eine intime Atmosphäre schaffen, die Vertraulichkeit ermöglichte, und hier war er wirklich ein Genie – er nahm den Leuten die Befangenheit und brachte sie dazu, aus sich herauszugehen. Wäre es nicht so gewesen, dann wäre dieses ganze Projekt nie in Gang gekommen.
Jedenfalls entschied ich mich für die Marke, die mir am besten schmeckte, die ich mir aber nicht leisten konnte, zündete eine an, nahm einen tiefen, beruhigenden Zug und überließ mich dem sanften Schwindel des Nikotins. Prok strahlte mich an. Er war der gütigste, freundlichste Mensch der Welt, und nach seinem Gesichtsausdruck hätte man meinen können, die Zigarette sei seine eigene Erfindung und er besitze die Mehrheit der Pall Mall Company. »Ich hoffe, daß die Vorlesungsreihe ›Ehe und Familie‹ Ihnen gefallen hat«, sagte er, »und daß alle Mißverständnisse, die bei Ihnen und Ihrer Verlobten möglicherweise bestanden haben – eine sehr charmante junge Frau übrigens, und schön, sehr schön –, ausgeräumt sind ...«
Ich wandte den Blick ab – ein Fehler, war es doch eine seiner Grundregeln, immer Augenkontakt zu halten. Für ihn war das der erste Indikator des Wahrheitsgehalts einer Aussage. Ich sagte irgendwas Unverbindliches. Oder vielmehr: Ich murmelte etwas sowohl Unverbindliches als auch Unverständliches.
»Keine Angst, Milk, niemand wird Sie beißen oder ein Urteil über Sie fällen, und es ist mir sehr wohl bewußt, daß zahlreiche Studentinnen und Studenten sich zu, sagen wir, geeigneten Beziehungen zusamengefunden haben, um Dean Hoenig und andere selbsternannte Hüter der Moral an der Universität und in der Stadt zufriedenzustellen.«
Ich klopfte mit der Zigarette an den Aschenbecher, betrachtete den perfekten Zylinder aus bleicher Asche, der hineinfiel, und sah Prok an. Ich spürte, daß ich rot wurde – die alte Entblößung. »Tut mir leid, Sir«, sagte ich.
Er winkte ungeduldig ab. »Es gibt nichts, was Ihnen leid tun müßte, Milk, überhaupt nichts. Ich will nur Informationen an Menschen weitergeben, die sie benötigen, und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte es keinerlei Zulassungsbeschränkungen für die Vorlesungsreihe gegeben. Aber erzählen Sie mir von sich – wie alt sind Sie?«
»Einundzwanzig.«
»Geburtsdatum?«
»2. Oktober 1918.«
»Stammen Sie aus Indiana, das heißt, sind Sie hier geboren?«
»Nein, in Michigan City.«
»Und Ihre Eltern?«
»Meine Mutter ist Grundschullehrerin in Michigan City. Mein Vater ist tot. Er starb bei einem Unfall auf dem See – das heißt, eigentlich weiß niemand genau, was damals passiert ist. Er wurde ... Der Leichnam wurde nie gefunden.«
Prok sah mich die ganze Zeit an, machte sich aber gleichzeitig Notizen auf einem Blatt Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Ich hatte es gar nicht bemerkt, aber das Interview lief bereits. Prok hielt inne, um mir sein Beileid auszusprechen. Er fragte mich, wie alt ich beim Tod meines Vaters gewesen sei – ich war damals neun, es war kurz vor den Sommerferien, und mein Vater war ein begeisterter Segler und hatte das Boot den ganzen Winter und Frühling hindurch abgeschliffen und lackiert, und nun war es zu Wasser gelassen worden, und ich konnte an nichts anderes denken als an die langen, sonnigen Tage, die vor uns lagen und an denen wir frei und ungehindert über die kleinen Wellen gleiten würden wie der Gott, der das Wasser geschaffen hat, und der Sohn, der gekommen war, um darauf zu wandeln –, und dann sagte er, auch er habe ohne väterliche Führung auskommen müssen, jedenfalls von dem Augenblick an, als er aufs College gegangen sei und sich von dem erdrückenden Einfluß seines Vaters befreit habe. Nach dem Willen seines Vaters habe er Ingenieur werden sollen – ob ich mir das vorstellen könne? –, doch ihn selbst habe es zur Biologie gezogen. Biologie sei seine Leidenschaft. Mit einer beiläufigen Geste wies er auf das beengte Büro und die aufrecht stehenden großen Kästen mit den Tabletts, auf denen Insekten mit Stecknadeln befestigt waren. »Wußten Sie«, fügte er hinzu, »daß ich sechzehn neue Spezies der Gallwespe identifiziert habe?« Er schmunzelte. »Wäre es nach meinem Vater gegangen, dann wären sie noch heute unentdeckt.« Seine Augen leuchteten. »Die armen Dinger.«
Unsere Unterhaltung – denn genau das war es – hatte ihre eigene Logik, ihren eigenen Rhythmus gefunden. Je länger wir redeten (und es war beinahe, als spräche man mit seinem inneren Selbst oder vertraute sich unter vier Augen seinem Hausarzt an), desto genauer schien er zu wissen, was ich dachte und fühlte. Und das lag nicht bloß daran, daß er das, was er tat, meisterlich beherrschte – nein, man hatte das Gefühl, daß er aufrichtig Anteil nahm, und wenn mir das Herz brach, so brach es ihm ebenfalls.
Und damit zum eigentlichen Gegenstand dieses Interviews: der Geschichte meines Sexuallebens. Wir hatten uns etwa fünfzehn Minuten lang unterhalten, als die erste diesbezügliche Frage auftauchte, so beiläufig, als ginge es lediglich um eine Einschätzung meiner Eltern oder ihrer Erziehung. Wir hatten über die Spielkameraden gesprochen, die ich als Junge hatte, und ich verlor mich in nostalgischen Erinnerungen – Gesichter, Namen, Orte trieben wie Dunst durch meine Gedanken –, als Dr. Kinsey mit seiner sanftesten, leidenschaftslosesten Stimme fragte: »Wie alt waren Sie, als Ihnen zum ersten Mal bewußt wurde, daß es zwischen Jungen und Mädchen anatomische Unterschiede gibt?«
»Ich weiß nicht. Ziemlich jung, glaube ich. Fünf? Sechs?«
»Zeigte man sich in Ihrem Elternhaus gelegentlich nackt? Ihre Eltern? Sie selbst?«
Ich dachte einen Augenblick nach und versuchte mich zu erinnern. »Nein«, sagte ich, »nein, ich glaube nicht.«
»Haben Ihre Eltern Ihnen befohlen, sich etwas anzuziehen, wenn Sie sich nackt gezeigt haben?«
»Ja. Aber das müßte dann, wie gesagt, in einem sehr frühen Alter gewesen sein, wahrscheinlich mit zwei oder drei. Oder nein, später. Es gab da eine Situation – da muß ich mindestens fünf gewesen sein, denn wir waren noch nicht in die Cherry Street gezogen. Es war ein heißer Tag, ich war mit meiner Mutter zum Baden an den See gegangen, und als ich aus dem Wasser kam, zog ich mir die nasse Badehose aus. Sie war wütend, und ich weiß noch, daß ich nicht verstand, warum.«
»Hat sie Sie bestraft?«
»Ja.«
»Körperlich?«
»Wahrscheinlich. Es war allerdings nicht das erste Mal.«
»Was war bei den anderen Malen?«
Jede Frage ergab sich logisch aus der vorangehenden, und alle Fragen kamen im Schnellfeuertempo: Sobald Prok eine Antwort erhalten und notiert hatte, stellte er die nächste Frage, und doch hatte ich nicht den Eindruck, verhört zu werden, sondern fühlte mich als Teilnehmer an einer sich immer weiter entwickelnden Unterhaltung über das faszinierendste Thema der Welt: mich selbst. Und die Fragen waren stets so formuliert, daß die Antwort möglichst präzise und unzweideutig ausfiel. Also nicht: »Haben Sie jemals masturbiert?«, sondern: »Wann haben Sie zum ersten Mal masturbiert?«, und: »Wie alt waren Sie, als Sie zum ersten Mal die unbekleideten Geschlechtsorgane Ihres eigenen Geschlechts sahen? Und die des anderen Geschlechts?« Und während sich der Befragte in Gedanken von der Kindheit ins Erwachsenenalter bewegte, richtete sich das Augenmerk mehr und mehr auf die sexuellen Praktiken – von relativ harmlosen statistischen Fragen (»Wie alt waren Sie, als Ihnen Schamhaare wuchsen?«) und Angaben zu Körpergröße, Gewicht und Rechts- oder Linkshändigkeit hin zu: »Wann haben Sie Ihren ersten Geschlechtsverkehr erlebt?«
Mir lief die Nase – auch ich war erkältet, wie alle in der Uni –, und ich war bei meiner vierten Zigarette angelangt und hatte ganz vergessen, wo und wer ich war, als die letzte Frage kam. Dr. Kinsey beobachtete meine Reaktion, mein Gesicht, seine Augen fixierten mich, die Bleistiftspitze verharrte über dem Papier. Alles in Ordnung,

schien er zu sagen, was immer esist – es ist alles in Ordnung. Du kannst mir vertrauen. Und dann: Du mußt mir vertrauen.

Ich zögerte, und in diesem Zögern war bereits meine Antwort. »Nie«, sagte ich. »Oder vielmehr ... Ich meine, noch nicht.«
Damals wußte ich es nicht, aber es gab eine Reihe Fragen – zwölf, um genau zu sein –, deren Antworten Rückschlüsse auf das sexuelle Verhalten gegenüber dem eigenen Geschlecht erlaubten, auf die H-Geschichte, wie Prok sie nannte, um niemanden zu erschrecken. An diesem Punkt setzte er sich auf dem Stuhl zurecht und räusperte sich. »Kommen wir noch einmal darauf zurück«, sagte er. »Wie alt waren Sie, als Sie zum ersten Mal die unbekleideten Geschlechtsorgane Ihres eigenen Geschlechts sahen?«
Ich sagte es ihm, und er verglich es rasch mit meiner vorherigen Antwort.
»Und wann haben Sie zum ersten Mal den erigierten Penis eines anderen Mannes gesehen?«
Ich sagte es ihm.
Und dann kamen die Fragen auf die Art, die wir später als die »Dampfwalzenmethode« bezeichneten, das heißt Schlag auf Schlag. »Wann haben Sie zum ersten Mal die Genitalien einer Person Ihres eigenen Geschlechts berührt? Wann haben Sie zum ersten Mal eine Person Ihres eigenen Geschlechts zum Orgasmus gebracht? Wann haben Sie zum ersten Mal eine Person Ihres eigenen Geschlechts durch orale Techniken zum Orgasmus gebracht?«
Ich wandte den Blick ab, und er unterbrach die Befragung für einen Augenblick. Die Turmuhr am anderen Ende des Campus schlug sechs. »Milk«, sagte er, »John – ich möchte Sie noch einmal daran erinnern, daß es nichts, aber auch gar nichts gibt, dessen Sie sich schämen müssen. Sofern beide Partner einverstanden sind, gibt es keine sexuellen Aktivitäten, die sich qualitativ in irgendeiner Weise von anderen unterscheiden, ganz gleich, was die vorherrschende Moral der jeweiligen Gesellschaft dazu sagt. Wenn es Sie interessiert: In Ihrem Alter – und auch später noch – war mein eigenes Sexualleben dem Ihren sehr ähnlich.«
Aber vielleicht wäre dies ein guter Zeitpunkt, um die von 0 bis 6 reichende Zuordnungsskala vorzustellen, die Prok entwickelt hatte, um die sexuelle Ausrichtung einer Person zu evaluieren, eine Skala, die das gesamte Spektrum der geschlechtlichen Orientierung abdecken sollte, von »ausschließlich heterosexuell« (0) bis »ausschließlich homosexuell« (6). Sie müssen wissen, Prok glaubte – ebenso wie ich selbst inzwischen –, daß der Mensch von Natur aus pansexuell ist, daß lediglich die Beschränkungen der Gesellschaft, insbesondere der jüdisch-christlich oder muslimisch geprägten Gesellschaft, die Menschen daran hindern, ihre Wünsche und Bedürfnisse offen zu äußern, und daß dies der Grund ist, warum so viele Menschen an verschiedenen sexuellen Verhaltensstörungen leiden. Doch ich greife vor.
Als ich an jenem Tag in jenem Raum saß, ein Taschentuch an die Nase drückte und mich von Proks Präsenz leiten ließ, begann ich mich von einer Seite kennenzulernen, von der ich mir nie hätte träumen lassen. Was für mich ein Grund zur Scham gewesen war, wurde zu etwas ganz Normalem – Prok hatte als Jugendlicher ähnliche Erfahrungen gemacht und ebenfalls andauernd masturbiert –, und wenn ich sagen konnte, daß ich auf der Skala von o bis 6 bei i oder vielleicht bei 2 rangierte, so war das doch immerhin etwas, etwas Bedeutsames. Und wie alle anderen hatte ich Erfahrungen machen wollen, das war alles. Bei Mädchen war ich verlegen und gehemmt gewesen: Ich hatte sie auf ein Podest gestellt und nie als sexuelle Wesen, wie ich es war, betrachtet, als Menschen, die dieselben Wünsche und Bedürfnisse hatten wie ich. Und so war es ganz natürlich gewesen, daß ich mit den einzigen Partnern experimentiert hatte, die mir zur Verfügung standen, nämlich mit anderen Jungen, denn, wie Prok sagte: Jeder braucht eine Triebbefriedigung. Vielleicht erfaßte ich das an jenem Nachmittag in Proks Büro noch nicht in allen seinen Weiterungen, doch ich dachte an Laura Feeney, die vor mir auf ebendiesem Stuhl gesessen hatte, und daran, daß Prok sie gefragt hatte, in welchem Alter sie begonnen habe zu masturbieren, wann sie zum ersten Mal die unbekleideten Genitalien des anderen Geschlechts gesehen habe, wann sie zum ersten Mal einen erigierten Penis gesehen und zum ersten Mal eine Person des anderen Geschlechts zum Orgasmus gebracht habe, und ich fühlte mich wie Kolumbus, als Land in Sicht kam.
Als wir fertig waren, schlug die Turmuhr Viertel vor sieben, und Dr. Kinsey beugte sich über den Tisch und reichte mir eine frankierte und adressierte Postkarte: Dr. Alfred C. Kinsey, Professor für Zoologie, Institut für Biologie, University of Indiana. »Und dann«, sagte er, »brauche ich noch vier Maße, bitte.«
»Ja«, sagte ich und nahm wie in Trance die Karte – nein, er hatte mich nicht hypnotisiert, jedenfalls nicht im landläufigen Sinne, doch die Wirkung war ähnlich.
»Gut. Wenn Sie zu Hause sind, messen Sie bitte den Umfang des schlaffen Penis sowie seine Länge von der Bauchdecke bis zur Spitze. Wenn Sie dann ausreichend stimuliert sind, messen Sie Umfang und Länge des erigierten Penis. Ach ja, wenn Sie bitte auch den Grad der Krümmung angeben würden ...«

Der Wind hockte in jener Nacht in den Bäumen und sammelte Kraft für einen kleinen Ausflug nach Kentucky, und gegen neun schleuderte er kompakte Eiskörner an die Fenster des Dachzimmers, das ich mir mit Paul Sehorn, einem anderen Studenten im vierten Studienjahr, in Mrs. Elsa Lorbers Studentenpension in der Kirkwood Avenue teilte. Es war ein altes Haus, das in den Fugen ächzte und keinerlei Hemmungen hatte, sich zu beklagen, besonders nachts. Es war in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts erbaut worden und noch immer recht solide, selbst nachdem eine ganze Generation von Studenten es auf eine Weise strapaziert hatte, die für eine Reihe anderer Häuser dieses Alters das Ende bedeutet hatte. Leider war es ungefähr so gut isoliert wie eine Apfelsinenkiste, und der unwillige, altmodische Kohleofen schien nicht imstande, die Temperatur spürbar über die Zone unverhohlener Ungemütlichkeit hinaus zu heben. Im vorigen Winter war ich eines Morgens erwacht und hatte festgestellt, daß sich zwischen meinen Lippen und dem Wasser in dem Glas, das ich am Vorabend auf den Nachttisch gestellt hatte, eine Eisschicht befand. Noch einen Monat später nannte Paul mich nur Nanuk.

Auf dem Tisch in einer Ecke des Zimmers thronte die gebrauchte Olympia-Schreibmaschine, die meine Mutter mir zu Beginn des Studiums geschenkt hatte, und daneben prangte ein altes Philco-Radio, das meine Großmutter hatte wegwerfen wollen. An der gegenüberliegenden Wand, neben der Tür, stand ein würdevoll nach Naphthalin riechender Schrank. Wir teilten uns den begrenzten Platz, den er bot; auf einem Dutzend abgewetzter Kleiderbügel hingen unsere Hemden, Hosen und Anzüge (jeder von uns besaß einen: meiner hatte ein zur Krawatte passendes Glencheckmuster, Pauls Anzug war ein abgelegtes Stück aus blauem Serge, dessen Ärmel gut sieben Zentimeter zu kurz waren). Die Schuhe hatten ihren Platz unter dem Bett, die Mäntel hingen im Vestibül an den dafür vorgesehenen Haken, persönliche Gegenstände legten wir auf unseren identischen Schreibtischen ab, und die Bücher standen ordentlich aufgereiht in einem billigen Regal aus Kiefernholz, das ich auf einem Flohmarkt gefunden hatte (vier Bretter, gerecht geteilt, vierzig Zentimeter für mich, vierzig Zentimeter für Paul). Das Badezimmer war auf der anderen Seite des Korridors.

An den meisten Abenden stellten Paul und ich das Radio an (wir beschränkten uns auf zwei Serien und hörten anschließend noch Swingmusik aus Cincinnati, die infolge der Entfernung so leise und verschwommen war wie ein Flüstern), legten uns, auf Kissen gestützt, ins Bett und lernten, bis unsere Finger vor Kälte steif waren. An diesem Abend jedoch hatte Paul eine Verabredung, so daß ich das Zimmer für mich allein hatte. Es ging allerdings nicht sehr still und friedlich zu: Ich hörte den Lärm und das Trampeln der anderen Studenten, die dort wohnten, und die langen Diskussionen über alles mögliche – von der Existenz Gottes bis hin zur Lebensraum-Ideologie der Nazis –, die grundsätzlich vor der Badezimmertür stattzufinden schienen. Gegen zehn war aus dem Eisregen Schnee geworden.

Ich lag unter der Bettdecke und versuchte zu lesen – wenn ich mich recht erinnere, hatte ich am nächsten Tag eine Prüfung –, doch ich kam nicht sehr weit. Die Zweige der Ulme hinter dem Haus kratzten an der Fassade, als wollte irgend etwas an der Hauswand hochklettern, um dem Schneesturm zu entkommen, und der Radioempfang war so schlecht, daß ich aufstand und den Apparat ausschaltete. Ich rieb einen Kreis in den Reif auf der Fensterscheibe und spähte hinaus. Die Welt war undurchdringlich und verschwommen, das Licht der Straßenlaternen war zu einem Nichts geschrumpft, und ich hörte nur den Wind und das unregelmäßige Scharren des Schnees an der Scheibe. Ich fühlte mich klein und eingesperrt. Rastlos. Gelangweilt.

Ich dachte an Dr. Kinsey – um ehrlich zu sein: Ich hatte den ganzen Abend, selbst beim Essen, an kaum etwas anderes gedacht – und ging wohl zum zwanzigsten Mal durch das Zimmer zu meinem Schreibtisch, um mir die Postkarte anzusehen, die er mir gegeben hatte. Ich ließ eine Hand in den Schoß sinken, wo ich einen leichten Druck verspürte, und begann gedankenverloren, mich durch eine Lage Gabardine zu massieren. Und wie sollte ich messen? Ich besaß kein Lineal. Natürlich konnte ich mir eins von Bob Hickenlooper leihen, dem Architektur-Überflieger, der ein paar Zimmer weiter wohnte – wenn es in diesem Haus ein Lineal gab, dann bei ihm –, aber ich hatte mich mit dem Gedanken noch nicht angefreundet. Es war irgendwie obszön, ja geradezu lächerlich. Den eigenen Penis messen? Aber natürlich steckte dahinter noch mehr – Sie haben es sicher bereits erraten: Was, wenn meine Maße unter dem Durchschnitt lagen? Wenn mein Penis, nun ja, kleiner war als der anderer Männer? Was dann? Würde ich ein paar Zentimeter aufschlagen, um den hervorragenden Wissenschaftler nicht zu enttäuschen, der die Ergebnisse begierig erwartete, um sie statistisch zu erfassen? Natürlich hatte ich keine Ahnung von den Durchschnittsmaßen des männlichen Glieds, aber ging es bei diesem Unternehmen nicht genau darum? Kinseys Vorlesung über individuelle Abweichungen von der Norm war doch nichts anderes als der Versuch, uns die Unsicherheit im Hinblick auf Busengröße und Penislänge und dergleichen zu nehmen.

Ja, sagte ich mir, ich werde nachmessen, und ich werde so ehrlich und gewissenhaft wie möglich sein. Und natürlich stellte ich bei dem Gedanken daran, wie ich das kalte, steife Lineal eines Architekturstudenten an meinen Schwanz drückte, fest, daß ich eine Erektion hatte. Erst da (und bitte verstehen Sie mich nicht falsch) fiel mir Mrs. Lorber ein. Sie saß jeden Abend unten im Salon, strickte und hörte dabei Radio, und ich wußte, daß sie in ihrem Nähkästchen ein weiches, geschmeidiges Maßband aus abgegriffenem gewachstem Stoff hatte, genau das, was man für die wissenschaftliche Untersuchung, die mir vorschwebte, brauchte.

Na gut. Schön. Im nächsten Augenblick sprang ich die drei Treppen mit den wackligen Stufen hinunter und ignorierte sowohl Tom Tomalins Einladung zu einer Runde Pinokel als auch den anzüg- lichen Gruß von Ben Webber, der seine hundertzehn Kilo schnaufend in sein Zimmer im ersten Stock schleppte. Außer Atem und mit mühsam beherrschter Erregung blieb ich vor der geöffneten Salontür stehen und klopfte an den Rahmen. Mrs. Lorber saß, eine Katze auf dem Schoß, in ihrem Lieblingssessel und strickte etwas Karamelfarbenes. Sie sah nicht auf, doch sie wußte, daß ich da war – sie wußte alles, was in ihrem Haus vor sich ging, keine Bewegung, kein Atemzug ihrer Schützlinge blieb unbemerkt, und sie hatte den Sessel so plaziert, daß sie einen strategischen Überblick über die Eingangshalle und die Treppe hatte und sogleich intervenieren konnte, sollte jemand so dumm sein zu versuchen, Konterbande auf sein Zimmer zu schmuggeln. (Mrs. Lorber war in den Sechzigern, eine breitschultrige, beleibte Frau mit mehreren Kinnen und dem bohrenden Blick eines Adlers: Alkoholische Getränke, Nahrungsmittel, die erhitzt werden mußten, und ganz besonders Frauen waren strengstens verboten.)

»Ah, entschuldigen Sie, Mrs. Lorber«, murmelte ich.

Sie musterte mich, und ich erwartete ein Lächeln oder wenigstens ein Nicken, doch ihr Gesicht blieb unbewegt.
»Ich dachte nur, äh ... Ich könnte mir vielleicht Ihr ... Ihr Maßband ausleihen. Nur ganz kurz. Ich bring’s gleich wieder zurück, versprochen.«
Sie stieß einen Seufzer aus, in dem alle kleinen Widrigkeiten, alle Krisen und Katastrophen enthalten waren, in die ihre Studenten sie im Lauf der Jahre gestürzt hatten, beugte sich wortlos nach rechts und kramte in ihrem Nähkästchen. »Hier«, sagte sie schließlich, und ich ging zu ihr und nahm das Maßband in Empfang, »aber bestimmt zurückbringen.«
Ich beugte mich zu ihr und roch die Salbe, mit der sie jeden Abend ihre Beine einrieb, und die warme, hef ige Luft unter ihrem Rock. Die Katze sah mich ausdruckslos an. »Ja«, sagte ich, und ihre kühlen, trockenen Finger berührten meine, als ich das Maßband nahm, »bestimmt. Ich brauche es nur kurz und bringe es gleich wieder.«
Ich war schon beinahe wieder draußen, als sie mich zurückrief. »Was wollen Sie eigentlich damit messen, John? Die Vorhänge? Ich hoffe doch sehr, daß Sie die Vorhänge nicht –«
»Nein, nein, es ist für eine Hausaufgabe. Für mein Literaturseminar.«
»Literatur? Messen Sie Gedichtzeilen? Die durchschnittliche Länge der Zeilen in ›Don Juan‹? Hm?« Sie lachte auf. »Das war ein Gedicht! Wird das eigentlich noch behandelt? Aber nein, natürlich wird es noch behandelt. Von Lord Byron, ja. Das war ein Dichter!«
»Ja«, pflichtete ich ihr bei, »aber ich muß jetzt, äh ... Ich meine, ich muß ...«
»Jaja, gehen Sie nur«, sagte sie und winkte mit beiden Händen. »Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht mit einer alten Frau, wenn Sie etwas zu messen haben.«
Ich stapfte die Treppe hinauf. Das Band brannte in meiner Tasche wie ein Stück glühende Kohle. Ich fühlte mich schuldig, schmutzig, vor allem wegen meiner Lüge und wegen des Zwecks, dem ich das makellose Zentimetermaß meiner Vermieterin zuführen wollte, und ich stellte mir vor, wie sie es in die Hand nahm und an den Schal hielt, den sie für ihre Lieblingsnichte oder –enkelin strickte. Ich konnte morgen ein eigenes Maßband kaufen – so was war praktisch, denn man wußte schließlich nie, wann man etwas zu messen hatte, die Höhe und Breite eines Bücherregals zum Beispiel. Meine Schritte waren wie Hammerschläge auf den Stufen. Der Sturm strich flüsternd über die Fensterscheiben.
In meinem Zimmer stellte ich fest, daß meine Begeisterung für Dr. Kinseys kleine statistische Übung abgeklungen war, doch ich öffnete pflichtbewußt den Gürtel, ließ die Hose hinunter, entrollte Mrs. Lorbers Maßband und wollte die Maße meines inzwischen erschlafften Penis nehmen. Doch kaum hatte ich das Band angelegt, da begann er wieder hart zu werden, und ich bekam keinen klaren Wert; bevor ich wußte, wie mir geschah, streichelte ich meinen Schwanz und dachte an Laura Feeney neben mir im Halbdunkel des Hörsaals – der Projektor klickte und klickte, und wir alle atmeten flach. Und dann sah ich ein Mädchen aus der ersten Reihe meines Literaturseminars, ein Mädchen mit vollen Lippen und blauen Augen, und ihre Waden liebkosten einander unter dem Tisch, bis ich glaubte, den Verstand zu verlieren, und schließlich war da nur noch eine namen- und gesichtslose Frau mit gereckten Brüsten und harten Brustwarzen, und ihre Möse – ja, so wollte ich es nennen, ihre Möse – sah genauso aus wie die auf der Leinwand.
Am nächsten Morgen erwachte ich früh. Das Licht, das durch das Fenster fiel, lag bebend auf der schrägen Zimmerdecke über dem Bett – es war ein bleicheres Licht als sonst, blauer, wie das wäßrige Leuchten am Grund eines Schwimmbeckens, und die Aussicht auf den ersten richtigen Schnee des Jahres erfüllte mich mit Vorfreude. Der Sturm war vorüber, doch der Himmel sah aus wie poliertes Silber, wie eine auf den Kopf gestellte gewaltige Suppenschüssel, aus der vereinzelt noch Flocken fielen. Ich ließ Paul schlafen. Er war spät heimgekommen, als ich schon längst im Bett lag, und ich wollte ihn nicht wecken – nicht so sehr aus Sorge um seinen Schönheitsschlaf, sondern weil ich nicht in Stimmung für Gesellschaft war. Ich wollte durch die Straßen stapfen, die Welt verwandelt sehen und diesen Anblick ganz für mich allein genießen, bevor ich in die Mensa ging, um zu frühstücken und vor der Prüfung noch einen letzten Blick in meine Aufzeichnungen zu werfen.
Es lag ein halber Meter Schnee, vielleicht sogar mehr – es war schwer zu sagen, denn der Wind hatte ihn an Zäunen und Gebäuden aufgetürmt. Die Bürgersteige waren noch nicht geräumt, die Autos standen zugeschneit und unter Verwehungen begraben am Straßenrand, und die Vögel flogen verwirrt aus dem Dunkel der immergrünen Büsche rechts und links der Straße über die weiß verhüllte, versiegelte Erde. Aus den Tiefen der Häuser schimmerte gedämpftes Licht. Es roch nach gebratenem Speck und Holzrauch, nach dem reinen, durchdringenden Duft der klaren Luft aus dem Norden.
Es war noch nicht sieben, und auf dem Campus war kaum ein Mensch zu sehen. Wer bereits unterwegs war, bewegte sich stumm über die verschneite Fläche, geduckte Gestalten, aus einem Traum vertrieben und hierher versetzt, wohin sie nicht gehörten, und in der Mensa saßen nur zehn Studenten – sonst waren es mindestens hundert. Sogar die Belegschaft war auf eine einzige Frau reduziert. Sie gab mit mechanischen Bewegungen das Essen aus, ging dann zur Kasse und nahm das Geld in Empfang. Ich setzte mich an einen Fenstertisch, rührte gedankenverloren Zucker in meinen Kaffee und starrte über meine Bücher hinweg auf die Bäume am Fluß. Es war einer dieser starken Augenblicke, in denen die Welt zum Stillstand kommt und ihre schlummernden Möglichkeiten offenbar werden. Magisch. Der magische Moment – hieß es nicht so in den Liebesliedern?
Sie sprach mich an, doch ich bemerkte es zunächst nicht – »Hallo, John. Hallo, hab ich gesagt« –, und als ich aufsah, erkannte ich sie nicht. Sie trug Wintermantel und Mütze, das seidige schwarze Haar hing wie ein geraffter Vorhang zu beiden Seiten ihres Gesichts herab, und ihre Augen leuchteten, als wären innen zwei winzige, von einer verborgenen Batterie gespeiste Glühbirnen. Es war sieben Uhr morgens – nein, noch nicht mal sieben Uhr morgens –, und sie hatte bereits Lidstrich aufgetragen, um die Farbe dieser Augen zu betonen, die es schafften, blau und grün zugleich zu sein – wie das Meer vor Havanna, wo das flache Küstenwasser in ozeanische Tiefen übergeht und dein weißes Boot dahingleitet und dich gemächlich von dieser Welt in eine andere trägt und alles sich in einem Traum auflöst. »Kennst du mich nicht mehr?«
Sie öffnete die Schnalle an ihrem Kragen, nahm die Mütze ab und schüttelte das Haar aus. Den Schal hatte sie zweimal um den Hals gewickelt. Plötzlich war alles wieder in Bewegung, als wäre der Film wieder in den Projektor gefädelt worden: Sie schob ihre Bücher neben meine auf den Tisch, knöpfte den Mantel auf, damit ich sah, wie gut ihr das Kleid stand, und dann zog sie – wer war sie? – den Stuhl zurück und setzte sich auf die Kante. Und da fiel es mir ein. »Du bist Iris«, sagte ich.
Sie schenkte mir ihr volles Lächeln, und das Lächeln war an derselben verborgenen Stromleitung angeschlossen wie die Augen. »Iris McAuliffe, Tommys kleine Schwester. Aber das weißt du ja.«
»Klar. Natürlich. Meine Mutter ... Ich meine, sie ... Und dann hab ich dich irgendwo hier auf dem Campus gesehen ...«
»Du bist verlobt, hab ich gehört.«
Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte – ich wollte auf keinen Fall, daß diese Nachricht auf irgendeine Weise, in irgendeiner Form zu meiner Mutter gelangte –, und so neigte ich den Kopf und trank einen Schluck Kaffee.
Iris’ Lächeln erstarb. »Sie ist sehr hübsch«, murmelte sie. »Laura Feeney, meine ich.«
»Ja«, sagte ich und ließ die Tasse nicht aus den Augen. »Aber ich bin nicht wirklich ... Wir sind nicht ...« Ich sah sie an. Am Rand meines Gesichtsfelds kassierte die Frau hinter dem Tresen einen Kaffee und einen Doughnut, mit Bewegungen, als wäre sie unter Wasser, und außerdem bemerkte ich das schüttere Haar und die schmalen Schultern meines Literaturprofessors, dessen Mantel mit Schnee bestäubt war. »Das heißt, wir haben nur so getan als ob. Für den Ehekurs.«
Es dauerte einen winzigen Augenblick, bis sie diese Information verarbeitet hatte, und dann war das Lächeln wieder da. »Du meinst, ihr habt... ? Nur um ... ? Du liebe Zeit«, sagte sie und ließ sich zurücksinken, mit unruhigen Armen und Beinen und nervösen Händen. »Ich hab gehört, das war richtig schmutzig...«

2

Ich schrieb Klausuren, ich schrieb Hausarbeiten (»Dualität in John Donnes Liebesgedichten«, »Malinowskis Melanesien«), ich fuhr in den Weihnachtsferien mit dem Bus nach Michigan City und schenkte meiner Mutter ein Sortiment Badeöle sowie Seifen in Form von Muscheln und Meerjungfrauen. Ein paar von meinen alten Highschool-Freunden kamen vorbei, ich erinnere mich besonders an Tommy McAuliffe, der jetzt stellvertretender Geschäftsführer im Lebensmittelladen war – und was für eine Überraschung, daß er seine kleine Schwester Iris mitgebracht hatte! Wußte ich eigentlich, daß sie jetzt auch an der University of Indiana studierte? Da stand sie neben ihm auf der Türschwelle, und obgleich ich sie kaum kannte, dämmerte mir, daß sie eine Frau war, die wußte, was sie wollte, und es immer, wirklich immer bekam. Ich sagte Tommy, ich hätte sie schon auf dem Campus gesehen – an dem Tag nach dem Schneesturm, stimmt’s? –, und sie stand mit ihren immer größer werdenden Meeraugen dabei, als hätte sie das ganz vergessen. Wir saßen am offenen Kamin, aßen Pfeffernüsse und tranken jedesmal, wenn meine Mutter in die Küche ging, um nach ihren Pasteten zu sehen, einen kleinen Brandy. Kurz vor Silvester spielte ich mit dem Gedanken, Iris ins Kino oder zum Schlittschuhlaufen einzuladen, mich also mit ihr zu verabreden, tat es aber schließlich doch nicht. Und dann war ich wieder in der Uni, und die Tage schleppten sich durch die dunkle Trostlosigkeit des Januars.

Eines Abends, als ich im ersten Stock der Bibliothek Bücher einordnete, sah ich Prok – Professor Kinsey –, der im angrenzenden Gang kniete und die Buchrücken auf dem untersten Bord musterte. Er war in ständiger Bewegung, zog hier und dort ein Buch heraus, schob es gleich wieder zurück und wiegte sich unablässig hin und her, wobei das Knie den Drehpunkt bildete. Es war eigenartig, ihn dort zu sehen – oder nicht so sehr eigenartig als vielmehr unerwartet –, und ich erstarrte für einen Augenblick. Ich wußte nicht, was ich tun sollte: ihn begrüßen, ihn ignorieren, eine Ladung Bücher packen und um die Ecke verschwinden? Und wenn ich ihn grüßte, würde er sich überhaupt an mich erinnern? Er hatte Hunderte von Studenten, und mit praktisch allen hatte er private Befragungen durchgeführt – wie konnte ich erwarten, daß er sich an irgendeinen von uns erinnerte? Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Er schien etwas vor sich hin zu murmeln – eine Katalognummer? –, und dann entdeckte er das gesuchte Buch, zog es aus dem Regal und sprang auf, alles in einer Bewegung. Er hob den Blick und sah mich.

Es dauerte einen Moment. In sein ausdrucksloses Gesicht trat freudiges Erkennen. Er ging auf mich zu. »Milk«, sagte er, »hallo. Schön, Sie zu sehen.«

»Hallo, Sir. Ich ... ich dachte, Sie würden sich nicht an mich erinnern, bei den vielen Studenten, die Sie ...«
»Seien Sie nicht albern. Natürlich erinnere ich mich an Sie. John Milk aus Michigan City, geboren am 2. Oktober 1918.« Er sah mich mit seinem Patentlächeln an: Die obere Zahnreihe lag frei, zwei senkrechte Lachfalten strafften die Haut an seinem Kinn, und sein ganzes Gesicht erstrahlte vor unbändiger Freude. »Eins siebenundsiebzig, einundachtzig Kilo. Sie haben doch nicht etwa abgenommen?«
»Kaum«, sagte ich. Mein Lächeln war ein blasser Abklatsch des seinen, und ich dachte an die anderen Maße, die ich auf die Postkarte geschrieben und an ihn geschickt hatte, und auch an meine Geheimnisse, meine Scham und alles, was damit zusammenhing. »Sie wissen schon: Mutters Küche. In den Ferien.«
»Ja«, sagte er, »jaja, natürlich. Es geht nichts über Mutters Küche, stimmt’s?« Er lächelte noch breiter als zuvor, wenn das überhaupt möglich war. »Oder über Mutters Liebe.«
Ich mußte ihm zustimmen. Ich nickte, und dann löste sich dieser Augenblick von allem anderen und hing da, sanft übergossen vom Leuchten der Deckenlampen. Ich wurde mir der gedämpften Geräusche der anderen Bibliotheksbesucher bewußt, ich hörte ein Buch zu Boden fallen, ein Flüstern.
»Sie arbeiten hier, nehme ich an.«
Das bejahte ich. Allerdings hatte die Leitung meine Stundenzahl reduziert, und ich verdiente kaum noch genug, um über die Runden zu kommen. »Meistens ordne ich Bücher ein. Und wenn dann geschlossen ist, fege ich, leere die Papierkörbe und räume auf.«
Er stand da, musterte mich und wiegte sich auf den Fußballen vor und zurück. Unwillkürlich warf ich einen Blick auf das Buch: Das Liebesleben der Griechen von Hans Licht. »Sie kommen spät ins Bett, was? Verträgt sich das mit Ihrem Studium?«
Ich zuckte die Schultern. »Muß es ja wohl.«
Er schwieg für einen Augenblick, als faßte er einen Entschluß, und sah mir dabei in die Augen. »Wissen Sie, Milk ... John ...« sagte er leise, beinahe träumerisch, »wir haben einen Garten, Mrs. Kinsey und ich. Clara. Im Sommer ist er der Stolz von Bloomington, ein regelrechter botanischer Garten auf zweieinhalb Morgen fruchtbaren Landes – ich züchte Taglilien, Iris, und wir wollen einen Lilienteich anlegen. Sie sollten sich das mal ansehen, wirklich.«
Ich konnte ihm nicht ganz folgen. In letzter Zeit war ich etwas übermüdet, weil ich immer erst spät ins Bett kam, und mir fiel nichts Besseres ein, als ihn mit meinem kriecherischen Studentenblick anzusehen.
»Ich meine, ich denke schon seit einiger Zeit darüber nach, ob ich nicht mal einen Studenten anheuern sollte, der mir hilft. Im Augenblick sind da natürlich nur gefrorene Erde und dürre Stengel, aber im Frühjahr werden wir alles zum Leben erwecken. Und bis dahin – und auch später, zusätzlich zu dem Gartenjob – brauchen wir jemanden für unsere Institutsbibliothek. Was sagen Sie dazu?«
Eine Woche später arbeitete ich im Institut für Biologie, mit erhöhter Stundenzahl und ohne Abendschichten. Die Institutsbibliothek umfaßte viel weniger Bände als die Unibibliothek, und entsprechend klein war die Benutzerzahl, so daß ich mehr Zeit für mich selbst hatte, Zeit, die ich mit Lernen verbringen konnte (und, um ehrlich zu sein, mit Tagträumen: Ich verbrachte in jenem Semester unverhältnismäßig viel Zeit damit, vor mich hin zu starren, als wären alle Antworten auf die Fragen des Lebens in einer krakeligen, verblaßten Schrift in die Luft geschrieben). Prok bekam ich nicht oft zu sehen, er blieb meist in seinem Büro im ersten Stock, und da das Forschungsprojekt gerade erst anlief, brauchte er noch keine Hilfe bei den Befragungen oder der Tabellierung der Antworten. Er war, wie Sie zweifellos wissen, eine der Koryphäen auf dem Gebiet der Cynipoideen – der Gallwespen – und damals noch damit beschäftigt, Eichengallen aus allen Teilen der USA zu sammeln. Drei Assistentinnen (Studentinnen im zweiten und dritten Studienjahr) waren ausschließlich damit beschäftigt, die Maße verschiedener Wespenexemplare zu verzeichnen und die Präparate in den dafür vorgesehenen Schmitt-Kästen zu befestigen. Taxonomie war seine Stärke, nicht nur als Entomologe, sondern auch als Erforscher menschlicher Sexualpraktiken.
Jedenfalls war der Job für mich ein Segen, und in den ersten ein, zwei Wochen tauchte ich aus dem Tief auf, in dem ich versackt war. Die freien Abende und das zusätzliche Geld bauten mich auf. Ich ging mit Paul und seiner Freundin Betsy zum Bowling und bestand darauf, sie zu Cheeseburgern und ich weiß nicht wie vielen Krügen Bier einzuladen, nachdem Paul mich beiseite genommen und mir gesagt hatte, er und Betsy seien übereingekommen, ich solle als erster erfahren, daß sie verlobt seien. Die Jukebox spielte immer wieder »Oh, Johnny«, und Betsy sagte immer wieder: »Du bist der nächste, John-Johnny-John, du bist der nächste.« Ich zuckte nicht mal, als Laura Feeney und Jim Willard hereinkamen und sich in eine Nische weiter hinten setzten. An diesem Abend blieben Paul und ich lange auf und tranken den Bourbon, den Paul an der wachsamen Mrs. Lorber vorbeigeschmuggelt hatte, aus Wassergläsern, und obwohl ich am nächsten Morgen verschlief, freute ich mich für Paul und schöpfte neue Hoffnung für mich selbst.
Leider hielt diese Stimmung nicht lange an. Mein Zimmergenosse, ein Mann, mit dem ich Alter und Interessen teilte, würde demnächst heiraten, und auf ihn wartete bereits eine Stelle in der Futtermittelfirma seines Vaters, während ich mir jeden Morgen vor dem Spiegel eingestehen mußte, daß ich keine Ahnung hatte, was aus mir werden sollte. Wie wohl die meisten höheren Semester war ich orientierungslos, ich sorgte mich um meine Noten und steuerte auf die Abschlußprüfung im Juni zu, ohne die leiseste Ahnung zu haben, was ich mit meinem Leben anfangen, geschweige denn, wie ich meinen Lebensunterhalt verdienen sollte. Ich wußte nur, daß ich lieber als Handlanger des Küchenhelfers in der Suppenküche auf der Teufels- insel arbeiten wollte, als noch einen Sommer bei meiner Mutter in Michigan City zu verbringen. Und als wäre das noch nicht belastend genug, drohte ein Krieg in Europa, und es gab Gerüchte über die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht.
Ich war also niedergeschlagen, das Wetter wurde schlechter und schlechter, Paul war so oft mit Betsy unterwegs, daß ich schließlich kaum noch wußte, wie er aussah, und die Bücher auf dem Bibliothekswagen wurden immer schwerer. (Ich kam mir vor wie ein bibliothekarischer Sisyphos: Die Arbeit nahm kein Ende, und die einzuordnenden Bücher wurden und wurden nicht weniger.) Und dann ereigneten sich zwei Dinge. Das erste hatte, wie Sie vielleicht schon erraten haben, mit Iris zu tun. Obgleich sie, wie ich, Englisch als Hauptfach hatte, tauchte sie eines Nachmittags in der Institutsbibliothek auf und suchte verzweifelt Informationen über den Lebenszyklus des PlasmodiumParasiten, denn sie hatte einen von Dr. Kinsey persönlich veranstalteten Einführungskurs in die Biologie belegt. »Wir müssen aus mindestens drei wissenschaftlichen Zeitschriften zitieren«, sagte sie, noch immer außer Atem, denn sie war bei starkem Gegenwind quer über den Campus gelaufen, »und morgen soll ich die Arbeit abgeben.«
Ich war dabei, Katalogkarten für die Neuerwerbungen auszufül- len, als sie an den Tisch trat und mich überraschte. Bevor ich auch nur daran denken konnte zu lächeln, fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare und schob die widerspenstige Locke zurück, die mir wie immer in die Stirn fiel. »Ich würde ... Klar«, sagte ich. »Aber da bin ich ... Eigentlich ist für so was Mr. Elster zuständig, der Bibliothekar, aber ich könnte ... Ich werde mein Bestes tun.« Endlich fand ich mein Lächeln. »Für dich mache ich das.«
Sie senkte die Stimme. »Ich will keine Umstände machen – du hast bestimmt Wichtigeres zu tun. Aber wenn du mir sagen könntest, wo ich ...«
Ich stand auf und spähte durch den Saal zu dem Tisch, an dem, teils hinter einer lackierten Trennwand verborgen, Elster saß. Er war ein kleiner, dünner, verbitterter Mann von Ende Zwanzig und hatte mich mehrfach darauf hingewiesen, daß es nicht zu meinen Pflichten gehörte, den Benutzern behilflich zu sein – das war seine Aufgabe, und er wachte eifersüchtig darüber. Im Augenblick jedoch war er ganz von irgendwelchem Papierkram in Anspruch genommen, vielleicht auch von einem der Kreuzworträtsel, die er sich ständig vornahm. Auch ich sprach jetzt leiser: Immerhin war dies ja eine Bibliothek, und es war besser, keine Aufmerksamkeit zu erregen. »Die aktuellen Ausgaben der Zeitschriften stehen in alphabetischer Reihenfolge dahinten an der Wand, aber du brauchst ja die Indizes, und die sind ... Ach was, ich hole sie dir schnell.«
Sie lächelte mich an, als hätte ich bereits passende Zitate gefunden, sie aufgeschrieben und die Arbeit abgegeben, und ihr Blick huschte auf eine Weise über mein Gesicht, die wir später als eines der unterschwelligen Signale der Bereitschaft identifizierten (das heißt der Bereitschaft zu sexuellen Aktivitäten, zu Küssen, Petting, genitaler Manipulation und Koitus), doch damals dachte ich nur, ich hätte einen Speiserest zwischen den Zähnen oder meine Haare brauchten noch eine Portion Öl. »Hast du von deiner Mutter gehört?« fragte sie und wechselte abrupt das Thema.
»Ja«, sagte ich. »Oder vielmehr nein. Ich meine, warum fragst du? Ist irgendwas –«
»Oh, nein, nein«, sagte sie, »nein. Ich wollte nur wissen, wie es ihr geht. Ich hab mich nie für den schönen Nachmittag und ihre Gastfreundschaft bedankt. Und für deine. Das war wirklich ein toller Nachmittag für Tommy und mich.«
»Die Pfeffernüsse waren lecker«, sagte ich wie ein Idiot. »Ein Rezept meiner Großmutter. Familientradition.«
Für einen Augenblick dachte ich, sie würde nichts darauf antworten. Ich stand verlegen am Tisch und suchte in Gedanken nach dem Schlüssel zur nächsten Gesprächsebene – ihre Mutter, sollte ich sie nicht nach ihrer Mutter fragen, auch wenn ich sie kaum kannte? –, doch dann sagte sie etwas, allerdings so leise, daß ich sie nicht verstand.
»Was?«
»Ich sagte: Ja, das waren sie.« Ich muß verwirrt ausgesehen haben, denn sie fügte hinzu: »Die Pfeffernüsse. Ich hab dir zugestimmt.«
Das brachte mich wieder ins Stolpern – wie gesagt, lockeres Plaudern war nicht meine Stärke, es sei denn, ich hatte ein paar Drinks intus –, und dann kicherte sie, und ich kicherte mit und sah von ihr zu Elsters Tisch und wieder zurück. »Tja«, sagte ich, »setz dich doch einfach, und ich, also ... die Indizes ...«
Sie setzte sich an einen der großen gelben Eichentische und legte Handtasche, Büchertasche, Handschuhe, Mantel und Hut darauf ab, als wäre die Bibliothek ein Flohmarkt, und ich brachte ihr die vielversprechendsten Indizes und kehrte zu meinen Katalogkarten zurück. Es war warm in der Bibliothek – eigentlich war sie überheizt –, und wie in den meisten Bibliotheken roch es nach Staub, Bohnerwachs und den verstohlenen Ausdünstungen der Benutzer. Ein Strahl der Wintersonne färbte die "Wand hinter Iris gelb. Es war sehr still. Ich versuchte, mich auf das, was ich tat, zu konzentrieren und die Einträge in meiner saubersten Blockschrift zu schreiben, doch ich blickte immer wieder zu ihr und war verwundert über die Vitalität, die sie in diese sterile Atmosphäre brachte. Sie trug einen langen Rock, dunkle Strümpfe, einen engen Pullover, der ihre Formen zur Geltung brachte und zu ihren Augen paßte, und während sie den Kopf hob und senkte – erst über die Zeitschrift, dann über ihren Block, dann wieder über die Zeitschrift –, sah ich ihr zu, als wäre sie ein exotisches, wildes Wesen in einem ländlichen Idyll, das seinen Durst an einem Strom stillt.
Dabei war sie nicht wild, ganz und gar nicht. Sie war so zahm, wie es zahmer kaum geht. Und sie war, wie sie mir später gestand, an jenem Tag nur in die Bibliothek gekommen, um mich daran zu erinnern, daß sie noch lebte und im geschlechtsreifen Alter war, daß sie Lippen hatte, die man küssen konnte, und Hände, die gehalten werden wollten. In Wirklichkeit hatte sie die Hausarbeit über die widerwärtigen, Malaria übertragenden kleinen Parasiten bereits geschrieben, sie hatte alles, was sie brauchte, und daß sie hier am Tisch saß und den Kopf mit dem schimmernden Haar hob und senkte, geschah einzig und allein, damit ich etwas zu sehen bekam. Sie hatte, wie meine Mutter lange vor mir gemerkt hatte, ein Auge auf mich geworfen und war entschlossen, mich diese Tatsache auf meine unbeholfene Art entdecken zu lassen. Bevor sie heimging, unterhielten wir uns noch ein bißchen, und irgendwie gelang es mir, sie für Samstag abend zu einer Studentenproduktion eines beliebten Broadway-Stücks einzuladen.
Bei der anderen Sache, die passierte, ging es um Prok, und sie war wohl symbolisch für das, was sich später zwischen uns entwickelte, zwischen Prok und mir einerseits und Iris und mir andererseits. Es geschah in derselben Woche, in der Iris in die Bibliothek gekommen war, vielleicht sogar am selben Tag, ich weiß es wirklich nicht mehr. Ich wollte gerade nach Hause gehen, als jemand meinen Namen rief, und als ich mich umdrehte, kam Prok die Eingangstreppe herunter auf mich zu. »Milk, warten Sie einen Augenblick«, rief er, und dann stand er vor mir und zog sich einen Handschuh aus, um mir die Hand zu schütteln. »Wie geht’s? Gefällt Ihnen Ihr neuer Job?«
»Ja«, sagte ich. »Ich bin sehr ... Es ist interessant.« Meine Worte hingen in der Luft, als hätte niemand sie je ausgesprochen. Ich tastete in meiner Jackentasche nach den Zigaretten und merkte, daß ich sie offenbar auf meinem Tisch in der Bibliothek hatte liegenlassen.
»Gehen wir ein paar Schritte«, sagte er. »Müssen Sie in meine Richtung?«
»Ich wohne drüben in Kirkwood.«
»Aha. Gut. Die falsche Richtung also. Aber tun Sie mir den Gefallen – einem jungen Burschen wie Ihnen macht ein Umweg von zwei Blocks doch wohl nichts aus, oder?«
Also gingen wir in Richtung seines Hauses in der First Street. Die Bäume auf dem Campus standen da wie Statuen, unter dem sich verdunkelnden Himmel leuchtete das Licht in den Fenstern der hohen bleichen Universitätsgebäude. Die Luft war hart vor Kälte und straff über den Abend gespannt, doch nach der Beengtheit der Bibliothek war es ein gutes Gefühl, draußen zu sein. Auf der Straße gab es vereiste Stellen. Am Bordstein standen Mülleimer. Prok war mir einen halben Schritt voraus, marschierte wie immer mit riesigen Schritten dahin (bei Prok war alles ein Wettkampf, selbst das Gehen) und sprach über die Schulter zu mir, so daß mich seine Worte in einer Hülle aus gefrorenem Kohlendioxyd erreichten.
»Ich habe zu Clara gesagt, was für ein interessanter Mensch Sie sind und wie sehr Sie mich beeindrucken, und sie sagte: ›Warum lädst du ihn dann nicht mal zum Abendessen ein?‹ Ich fand das eine gute Idee, denn sehr oft kommen Sie wohl nicht in den Genuß guter Küche, oder? Sie wissen schon – worüber wir neulich gesprochen haben: das gewisse mütterliche Etwas.«
»Nein«, sagte ich, »da haben Sie recht. Entweder Mensa oder Schnellimbiß.« Das Kompliment ließ mich innerlich erglühen – ich hatte ihn beeindruckt –, und die Worte kamen wie von selbst.
»Jede Menge Fett und Knorpel als Futter für die sich vermehrenden Gehirnzellen, hm?« Er wandte seinen großen Kopf und lächelte mir zu.
»Und natürlich dürfen wir nicht selbst kochen ...«
»Studentenpension?«
Ich nickte. Wir waren jetzt in einer Seitenstraße und ließen die Universität hinter uns. Es waren nur sehr wenige Autos unterwegs.
»Tja«, sagte er, blieb stehen und drehte sich zu mir um, »also, wie wär’s? Am Samstag um sechs?«
Ich muß gezögert haben, denn in einem ganz anderen Ton, beinahe als machte er sich bereit, Gegenargumente vorzutragen, fügte er hinzu: »Wenn Sie nichts anderes vorhaben, natürlich. Haben Sie irgendwelche Pläne? Für Samstag?«
Ich blickte die ausgestorbene Straße entlang und sah dann ihn an. »Nein«, sagte ich. »Eigentlich nicht.«

Proks Haus war nicht weit vom Campus entfernt, und doch galt die Gegend damals als irgendwie abgelegen, denn das Viertel rings um die First Street war noch nicht so entwickelt wie heute. Nach meiner Erinnerung gab es nur wenige große Häuser, eingerahmt von hohem, schwarz gezacktem Wald, und irgendwo in der Nähe murmelte ein Bach. Hier draußen waren die Straßen nicht beleuchtet, doch die Sterne und ein dreiviertel voller Mond ließen die Umrisse der hier und dort am Bordstein geparkten Automobile erkennen, und in jedem Haus, an dem ich vorbeikam, brannte Licht. Ich war ein bißchen spät dran, denn ich hatte beinahe eine Stunde lang darüber nachgedacht, was ich der Dame des Hauses mitbringen könnte: ein Gesteck aus Trockenblumen und Kiefernzapfen, das aussah, als wäre es mit weißem Zement besprüht, in den ein paar bunte Federn gesteckt waren, eine Flasche Kentucky Bourbon oder einen Käse, der im Schaufenster eines Lebensmittelgeschäfts meinen Blick auf sich gezogen hatte. Schließlich entschied ich mich für den Käse. Die Trockenblumen erschienen mir zu riskant – ich hatte keine Ahnung von Botanik und würde heute abend unter Experten sein –, und den Whiskey ließ ich stehen, denn ich wußte nicht, welche Haltung Prok gegenüber alkoholischen Getränken einnahm, vermutete aber, daß er sie ablehnte, weil sie gesundheitsschädlich waren und er das Trinken für eine Zeitverschwendung hielt.

Als ich um Viertel nach sechs außer Atem vor dem Haus stand, mußte ich mich vergewissern, daß dies die richtige Adresse war. Einladungen machten mich immer befangen – ich fürchtete, ich könnte das Datum oder die Adresse verwechselt haben, ich hatte Angst, die Gastgeber würden mich nicht erkennen oder hätten vergessen, daß sie mich eingeladen hatten. Ich weiß, das war dumm, aber schon als Kind in Michigan City war es mir so gegangen: Ich hatte mit einem Baseballhandschuh oder einem Basketball vor der Tür eines Freundes gestanden wie schon tausendmal zuvor, und mit einem Mal war ich überzeugt davon, daß er mich fortschicken würde, daß er etwas Scharfes, Verletzendes sagen und mich wie einen streunenden Hund verjagen würde. Und es half mir kein bißchen, daß ich mich unsicher fühlte in Gegenwart dieses Professors in mittleren Jahren und seiner Frau. (Wer immer sie sein mochte, ich hatte Angst vor ihr und dem, was sie über mich denken würde, und befand mich in einem Zustand zunehmender Panik bei dem Gedanken an die anderen Gäste – vielleicht war auch der Bürgermeister eingeladen oder mein Literaturprofessor oder der Rektor der Universität.) Was sollte ich zu ihnen sagen? Was sollte ich tun?

Warum hatte ich diese Einladung überhaupt angenommen? Es war wie der Augenblick mit Laura Feeney im Korridor vor dem Saal, wo die Einschreibung stattfand, ein Augenblick, der einem eine Wahl zu lassen schien, in Wirklichkeit aber das Ergebnis von Umständen war, die einen mit derselben Entschiedenheit an eine bestimmte Entwicklung banden, mit der Prok seine Cynipoideen in den Schmitt-Kästen feststeckte. Sie mögen es Schicksal nennen, aber ich will nicht den Eindruck erwecken, als wollte ich hier irgendeine Art von metaphysischer oder mystischer Verbindung herstellen; ich habe die letzten sechzehn Jahre mit Prok verbracht und keinerlei Sinn für Mystik. Ich hatte mich entschieden. Ich hatte ja gesagt, wie ich später, ob ich wollte oder nicht, zu vielen anderen von Proks Einladungen ja sagen würde. Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich, daß Prok eine Vaterfigur für den jungen Mann war, dessen eigener Vater schon lange tot war, und daß er ein starker, überzeugender Mann war – ihm schlug niemand etwas ab –, aber es ging noch darüber hinaus. Ich fühlte mich geschmeichelt. Er hatte mich erwählt – ich hatte ihn beeindruckt – , und darum hatte ich meine erste Verabredung mit Iris platzen lassen, um an diesem Samstagabend im Februar bei den Kinseys zu sein.

Doch ich mußte mich vergewissern, daß ich an der richtigen Adresse war, denn das Haus sah so – wie soll ich sagen – ungewöhnlich aus. Von der Straße aus, umschlossen von Dunkelheit, wirkte es wie ein Lebkuchenhaus, wie irgend etwas aus einem Märchen, die Behausung eines Zauberers, eines Kobolds. Der mit Ziegelsteinen gepflasterte Weg führte in Windungen zwischen Stauden und Büschen hindurch (Proks gärtnerisches Credo lautete: »Die gerade Linie erfreut den Stadtplaner, die gewundene den Gärtner«), und obgleich man merkte, daß eine Absicht dahintersteckte und der Weg tatsächlich zur Eingangstür führte, war die Wirkung überraschend natürlich. Was das Haus betraf, so waren alle Fenster erleuchtet. Das Dach hatte einen Stufengiebel und war mit Schindeln gedeckt, und die Mauern bestanden aus seltsam geformten Ziegelsteinen (Ausschußware, die Prok billig bekommen hatte), zwischen denen große Mörtelwülste hervorquollen wie Verzierungen auf einer zusammensackenden Torte. Das sollte das Haus eines Wissenschaftlers sein? Ich konnte es nicht glauben. Ich war sicher, daß ich vor dem falschen Haus stand – ich hatte mich verhört oder die Zahlen der Hausnummer vertauscht –, doch inzwischen war ich an der Tür angelangt, es war spät, und mir blieb nichts anderes übrig, als den Käse (einen Stilton, der annähernd zehn Pfund wog) unter den Arm zu klemmen, tief durchzuatmen und den Türklopfer zu heben.

Eine Frau öffnete – oder vielmehr ein weiblicher Mensch, wie Prok gesagt hätte. Sie war winzig, wirkte wie ein Kind, und ihr Haar, noch schwärzer als das von Iris, war zu einem Bubikopf geschnitten, der die Ohren frei ließ. Sie sah mich mit einem wunderschönen ungezwungenen Lächeln an, während sie mit ihrer kleinen Hand die Tür aufhielt.

»Ich bin ... Ich wollte ... Bin ich hier richtig bei Professor Kinsey?

Oder ...«
»Ich bin Clara«, sagte sie und nahm mir den Käse ab. »Und Sie müssen John sein. Aber kommen Sie doch herein. Prok hat noch irgendwas zu erledigen, aber er wird sicher gleich dasein.«
Sie führte mich ins Wohnzimmer, das so unkonventionell wie das Äußere des Hauses war. Die Wände waren schwarz gestrichen (oder vielmehr, wie ich später erfuhr, mit schwarzem Tee, der sich nach Proks Meinung dafür besser eignete als Wandfarbe), und die rustikalen selbstgebauten Möbel aus gebogenem Hickoryholz waren ebenfalls schwarz lackiert. Es gab ein Klavier (schwarz), ein paar Regale voller Schallplatten sowie ein Grammophon. Einige im Raum verteilte Lampen ließen die Ecken weicher erscheinen, und im offenen Kamin brannte ein Feuer. Von anderen Gästen war nichts zu sehen.
»Mrs. Kinsey, es tut mir sehr leid, daß ich zu spät komme. Normalerweise passiert mir das nicht, aber, äh ... Ich habe Ihr Haus nicht gleich gefunden, und ...«
»Unsinn«, sagte sie. »Wir geben hier nichts auf Förmlichkeiten, John, wir werden essen, wenn wir hungrig sind, also machen Sie sich keine Gedanken. Und bitte nennen Sie mich Clara. Oder noch besser Mac.« Ihre Stimme war belegt, und sie sprach langsam: Jede Silbe löste sich sanft von der vorangehenden, als wären die Worte Karamelbonbons, die aneinanderhafteten, Zuckerwatte, die noch ein wenig auf den Lippen verweilen wollte. Sie war einundvierzig, Mutter von drei Kindern und keine Schönheit, aber überaus faszinierend, und von diesem ersten Augenblick an hielt sie mich in ihrem Bann. Wir standen mitten im Wohnzimmer auf einem anscheinend selbstgewebten Teppich. Wahrscheinlich betrachtete ich ihn, ohne es zu merken, denn Mac (das war ihr Spitzname, eine Abkürzung ihres Mädchennamens McMillen, so wie Prok die Kurzform von Professor K. war) bemerkte: »Schön, nicht? Hat mein Mann gemacht.« Ich antwortete irgendwas Idiotisches – er sei ein Mann mit vielen Talenten oder so.
Mac lachte auf. Ich fragte mich, wo die Kinder waren, die anderen Gäste, und betete insgeheim, daß keine kommen würden. »Aber was stehe ich da und rede! Ich habe Sie noch gar nicht gefragt, ob Sie etwas trinken möchten.«
Und ob. Ich wollte einen gut bemessenen Bourbon, damit das Gefühl in Finger- und Zehenspitzen zurückkehrte und meine Zunge ein bißchen lockerer wurde. »Oh«, sagte ich, »ich weiß nicht. Irgendwas.
Vielleicht ein Glas Wasser?«
In diesem Augenblick, wie auf ein Stichwort (doch das ist ein Klischee: Er hatte bestimmt die ganze Zeit im Flur gewartet und uns beobachtet), erschien Prok mit einem Emailletablett, auf dem einige Flaschen und drei langstielige kleine Gläser standen.
»Milk«, rief er, »wie schön, daß Sie da sind! Willkommen, willkommen!« Er stellte das Tablett auf den niedrigen schwarzen Tisch vor dem Kamin und forderte mich auf, mich zu setzen. »Mac haben Sie ja schon kennengelernt. Was ist das hier? Oh, Käse! Wunderbar.
Vielleicht könnte Mac uns noch ein paar Cracker ...? Bitte, Schatz, würdest du uns Cracker bringen? Und jetzt« – er wandte sich wieder an mich – »möchten Sie vielleicht ein Gläschen?«
Er reichte mir eines der Gläser – etwa so groß wie ein Fingerhut – und begann über die verschiedenen Brände und Liköre auf dem Tablett zu dozieren: Diesen hier habe ihm ein Kollege aus Italien mitgebracht, und den da habe Professor Simmonds vom Fachbereich Geschichte in den höchsten Tönen gelobt. Ich brauchte eigentlich nicht viel zu sagen. Nachdem ich an meinem Glas genippt hatte – das Zeug roch stark nach irgendwelchen mir vage bekannten Kräutern und war so pappsüß und dickflüssig wie Melasse –, wurde mir klar, daß meine Annahme richtig gewesen war: Von alkoholischen Getränken hatte Professor Kinsey keinen blassen Dunst. Wir unterhielten uns über den Ehekurs, das heißt über meine Eindrücke davon, als Mac mit einem zweiten Tablett hereinkam, in dessen Mitte mein Stilton lag, umgeben von Salzcrackers.
»Kleine Manöverkritik des Ehekurses«, sagte er und sah sie mit einem Blick an, den ich nicht zu deuten vermochte. In diesem Moment fiel mir ein, daß er sicher auch ihre Geschichte aufgezeichnet hatte – sie war bestimmt unter den ersten gewesen –, und bei dem Gedanken daran, daß ein Mann seine Frau über ihr Sexualleben ausfragte, durchströmte mich ein eigenartiges Gefühl. Er war, das wusste ich aus eigener Erfahrung, und ich sah es in den folgenden Jahren immer wieder bestätigt, ein Meister in der Kunst der Befragung und akzeptierte nichts Ungefähres. Er war beinahe wie ein menschlicher Lügendetektor und merkte sofort, wenn der oder die Befragte auswich. Mac mußte ihm alles erzählt haben, und das bedeutete, daß er ihre Geheimnisse ebenso kannte wie meine. Plötzlich durchzuckte mich die Erkenntnis, welche Macht dieses Wissen barg. Wer seine Geschichte preisgab, gab seine Seele preis, und der Besitz dieser Seele bedeutete die größtmögliche Erhöhung der eigenen Person – wie bei den Kannibalen, wo man durch den Geist eines jeden Opfers, das man sich einverleibt, an Größe gewinnt.
Beim Essen drehte sich das Gespräch ausschließlich um Sex. Prok erzählte von seinem Projekt: Analog zu der Methode, die es ihm erlaubte, Wespen anhand der Variationen innerhalb einer Spezies zu klassifizieren, wollte er eine Taxonomie des menschlichen Sexualverhaltens entwickeln. Wir aßen eine Art Eintopf – Prok bezeichnete ihn als »Gulasch«, er hatte ihn selbst zubereitet. Zum Essen gab es weder Bier noch Wein, sondern Milch, die Prok aus einem großen Glaskrug ausschenkte, wobei er einen seiner seltenen Versuche unternahm, witzig zu sein (»Noch etwas Milch, Milk?«). Wir saßen zu dritt am Tisch. Die Kinder hatten offenbar bereits gegessen, so daß wir, wie Prok sich ausdrückte, »einander kennenlernen« konnten, »ohne unsere Aufmerksamkeit aufteilen zu müssen«. Jedesmal, wenn Prok Luft holte, was nicht oft der Fall war, sagte Mac, was sie zu sagen hatte, und ich war überrascht, denn sie war kein bißchen weniger fachkundig und gleichermaßen imstande, Worte wie Cunnilingus oder Fellatio in das Tischgespräch einzustreuen.
Was mich betraf, so genoß ich die Aufmerksamkeit, die beide mir zuteil werden ließen. Ich hatte mich immer als Durchschnittsmenschen betrachtet, selbst als ich eine Bestnote nach der anderen bekommen hatte, selbst als es mir gelungen war, ein schon verloren geglaubtes Footballspiel herumzureißen, doch hier saßen zwei lebhafte, intelligente, welterfahrene Menschen – erwachsene Menschen –, die meine Meinung hören wollten und mich als ihresgleichen behandelten. Es stieg mir ein wenig zu Kopf, und ich wollte nie mehr von diesem Tisch aufstehen oder von dem Sofa vor dem Kamin, auf das wir uns nach dem Essen setzten. Dort löffelten wir Vanille-Eiscreme, während Prok mit hoher Stimme unermüdlich dozierte und Mac perfekte Maschen strickte. Es wurde neun, es wurde zehn. Irgendwann verschwand Mac, um sich davon zu überzeugen, daß die Kinder (zwei Mädchen von vierzehn und fünfzehn und ein zwölfjähriger Junge) auch wirklich im Bett waren, und für einen Augenblick fühlte ich mich unbehaglich. Ich sagte, es sei schon spät, doch Prok tat das mit einer Handbewegung ab. Er war keineswegs müde, im Gegenteil:
Er schaltete noch einen Gang höher.
Er schürte das Feuer, setzte sich mit dem Stoffstrang, aus dem er einen Teppich knüpfte, auf den Boden (»Sehr wirtschaftlich, Milk – sollten Sie auch machen. Sie können alle abgelegten Kleider, Laken, Stoffe und so weiter verarbeiten, dazu Streifen aus Musselin, die Sie färben können, wie Sie wollen, und Sie werden staunen, wie haltbar so ein Teppich ist. Zum Beispiel der hier, auf dem ich sitze: den hab ich 1921 gemacht, da war ich Assistenzprofessor, und wir haben in einer hübschen kleinen Mietwohnung gewohnt, unserer ersten gemeinsamen Wohnung nach der Hochzeit«) und offenbarte mir in der nur vom Knistern und Knacken des Feuers unterbrochenen Stille all seine Hoffnungen und Ambitionen hinsichtlich des Projekts. Zehntausend Befragungen mindestens, das war es, was er wollte, und um Genauigkeit zu gewährleisten, mußten diese Befragungen persönlich durchgeführt werden – er wollte sich nicht, wie andere Forscher vor ihm, auf Fragebögen oder subjektive Berichte verlassen. Nur so könnten wir (darin war der junge Neophyt, der vor ihm saß, bereits eingeschlossen) die Daten zusammentragen, die wir brauchten, um die bornierten Vorurteile, die schon das Leben so vieler Menschen ruiniert hatten, zum Teufel zu jagen. Beispiel Masturbation: Wußte ich, daß hochangesehene Leute – Ärzte, Priester und dergleichen – die ungeheuerliche Theorie vertraten, Masturbation führe zu Geisteskrankheit?
Er wandte sich zu mir, und das Feuer, das gerade ein Eichenscheit verzehrte, spiegelte sich zweimal in den Brillengläsern und legte sich über seine Augen. »Dabei ist die Masturbation ein natürliches und überaus harmloses Ventil für sexuelle Spannung, das unsere Spezies entwickelt hat. Es ist etwas durch und durch Positives, ein Segen für unsere Art und die Gesellschaft insgesamt, und glauben Sie mir: Jeder Pfarrer, der sein Geld wert ist, sollte in seinen Predigten darauf hinweisen. Bedenken Sie, Milk, bedenken Sie den Schaden durch die sexuelle Unterdrückung und die Schuldgefühle, unter denen normale, gesunde Heranwachsende vollkommen sinnlos zu leiden haben ...« Hier dachte ich an unser Interview und muß wohl errötet sein, denn plötzlich änderte er die Taktik und fragte mich geradeheraus, ob ich bereit sei, zu seinem Projekt beizutragen.
»Tja, na ja, ich meine ... Natürlich würde ich ...« stammelte ich und versuchte mich zu fassen. »Aber wie könnte ich tatsächlich etwas dazu beitragen?«
»Ganz einfach«, sagte er und setzte sich bequemer hin. »Sprechen Sie mit den anderen Studenten in Ihrer Pension – vierzehn sind es, nicht wahr?«
»Stimmt«, sagte ich. »Ja. Vierzehn.«
»Sprechen Sie mit ihnen und überzeugen Sie sie, in mein Büro zu kommen und mir ihre persönliche Sexualgeschichte zu erzählen. Sie haben da eine potentielle Hundert-Prozent-Gruppe, John, ist Ihnen das eigentlich klar?«
Ich war kein besonders geselliger Typ und bei dem Gedanken daran wurde mir mulmig, doch ich stellte fest, daß ich zustimmend nickte, denn, wie gesagt, ihm schlug niemand etwas ab.
Aber noch während ich dort saß und mit ihm Pläne schmiedete wie ein Lieblingssohn, spürte ich in den hinteren Winkeln meines Geistes, im Augenblick nur undeutlich zu erkennen, ein dumpfes, aber hartnäckiges Schuldgefühl gegenüber Iris. Ich war nicht nur wegen meiner Zweifel im Hinblick auf den Käse zu spät zu dieser Einladung gekommen, sondern auch, weil ich Iris – oder besser: die Iris-Situation – bis zum letzten Augenblick aufgeschoben hatte. Warum, weiß ich auch nicht – ich bin, normalerweise jedenfalls, kein Zauderer, sonst hätte ich wohl kaum die Leistungen bringen können, die ich auf der Schule und später bei Prok gebracht habe –, aber jedesmal, wenn ich daran dachte, daß ich Iris anrufen mußte, klopfte mein Herz so heftig, als stünde ich kurz vor einem Infarkt, bis mir schließlich bewußt wurde, daß ich sie sehen mußte, und sei es nur, um alles zu erklären und wieder ins Lot zu bringen. Ich wollte ja mit ihr ausgehen, unbedingt sogar, ich dachte in den seltsamsten Augenblicken an sie, ich sah sie vor mir, wie sie in der Bibliothek ausgesehen hatte oder an jenem Nachmittag bei meiner Mutter, als sie die Beine hatte baumeln lassen wie ein kleines Mädchen, als sie gestikuliert hatte, um irgendeinen Punkt zu unterstreichen, und ihre Augen bei irgendwelchen Themen – Parasiten, Poesie, die Not der Litauer – geschimmert hatten wie die Gischt eines Wasserfalls, doch je länger ich damit wartete, unsere Verabredung zu verschieben, desto schlimmer würde es werden. Schließlich kam der Samstag, und noch immer hatte ich nicht den Mut aufgebracht, zu ihr zu gehen. Ich erwachte bei Pauls brutalem, knarrendem Geschnarche, sah die graue Eisschicht auf der Fensterscheibe und dachte: Iris. Ich würde auf der Stelle zu ihrem Wohnheim gehen und sie zum Frühstück einladen, so daß ich ihr bei Spiegelei, Muffins und Kaffee in die Augen sehen und ihr sagen könnte, ich würde am kommenden Samstag mit ihr ausgehen, hundertprozentig, und ich freute mich darauf, es gebe nichts auf der Welt, was ich lieber täte (und vielleicht wollte sie heute abend mit einer Freundin ins Theater gehen, immerhin hätte ich die Karten ja schon besorgt), aber sie müsse verstehen, und es tue mir leid, mehr als leid, ich sei geradezu verzweifelt, und ob sie mir vergeben könne. Aber ich ging nicht zum Wohnheim. Es war noch zu früh. Sieben. Es war erst sieben oder kurz nach sieben, und es würde noch Stunden dauern, bis sie aufstand, oder jedenfalls redete ich mir das ein. Also nahm ich meine Bücher, frühstückte allein in der Mensa, las die ersten sechs Stanzen von Miltons Der Nachdenkliche, bis ich es nicht mehr aushielt (»Daher die trügerischen, eitlen Freuden / Die Brut der Torheit, vaterlos geboren«, und so weiter, und so weiter), aufsprang und hinausrannte, be vor ich noch wußte, was ich tat.
Vom Uhrenturm schlug es acht, die Kälte drang durch meine Schuhsohlen. Als ich mitten durch eine Baumgruppe und quer über den verdorrten braunen Rasenstreifen auf Iris’ Wohnheim zuging, stapfte einer von Laura Feeneys abgelegten Sportlern, ein Muskelberg mit Füßen wie Schneeschuhe, an mir vorbei zur Sporthalle. In der Eingangshalle des Wohnheims hing ein künstlicher Duft, als wäre ich irgendwie zum Coty-Stand bei Marshall Field’s versetzt worden, und die Rezeptionistin – sie war zwanzig und hatte unreine Haut, blondes Haar und einen welken Pagenschnitt – sah mich an, als wäre ich gekommen, um jede einzelne Studentin in diesem Haus zu schänden. »Hallo«, sagte ich und ging entschlossen auf sie zu, bemüht, den Schwung nicht zu verlieren, denn jetzt kam es darauf an. »Ich wollte nur wissen, ob Iris McAuliffe ... äh ... zufällig da ist. Wenn sie schon auf ist, meine ich.«
Sie sah mich entsetzt an, ihre Gesichtszüge waren auf das Wesentliche reduziert.
»Ich heiße John«, sagte ich. »John Milk. Würden Sie ihr sagen, daß ich da bin? Bitte?«
»Sie ist nicht da.«
»Was heißt, sie ist nicht da? An einem Samstagmorgen? Um acht Uhr?«
Doch sie war nicht auskunftsfreudig. Nach einem tiefen Seufzer, als würde ich jeden Morgen meines Lebens in der Eingangshalle des Wohnheims stehen und ihr auf die Nerven gehen, wiederholte sie:
»Sie ist nicht da.«
Ich sah zu der Tür am Ende der Halle, dem Eingang zum geheiligten Bezirk, und in diesem Augenblick schwang sie auf, und zwei Studentinnen traten heraus, knöpften ihre Mäntel zu und setzten die Hüte auf, bevor sie sich in die eiserne Umarmung des Morgens begaben. Sie musterten mich amüsiert – welcher halbwegs normale Mann würde sich um diese Uhrzeit verabreden? – und gingen unter heftigem Gekicher hinaus. »Na gut«, sagte ich und entschied mich für den Weg des Feiglings, »kann ich ihr eine Nachricht hinterlassen?«
Doch jetzt saß ich bei Prok vor dem Kamin und erklärte mich bereit, den ersten entschlossenen Schritt in eine Karriere als Sexforscher zu tun. Wer hätte das gedacht? Wer hätte geahnt, daß es so etwas überhaupt gab? Fragen Sie einen Jungen, was er mal werden will, und er wird sagen: Cowboy, Feuerwehrmann, Polizist. Fragen Sie einen Studenten, und er wird sagen: Arzt, Rechtsanwalt, Lehrer, Betriebswirtschaftler oder Ingenieur. Keiner sagt Sexforscher.
Ich sah Prok zu, wie er an seinem Flickenteppich arbeitete und einen fünfzehn Zentimeter langen Stoffstreifen festzog und mit ande- ren verwob. Das Ding lag jetzt wie ein Rock auf seinen ausgestreckten Beinen. Er sprach über seine H-Geschichten und erzählte, wie er allein zum Gefängnis in Putnamville gefahren war und die Geschichten der Insassen aufgezeichnet hatte – »Und es waren sehr umfangreiche Geschichten, John, das kann ich Ihnen versichern« – und wie einer der Häftlinge ihm angeboten hatte, ihn in die homosexuelle Unterwelt von Chicago einzuführen. Und diese H-Geschichten waren wichtig: Für die Einschätzung des Gesamtbilds waren sie, wie mir zweifellos klar war, ebenso unerläßlich wie die heterosexuellen Geschichten. Dann hielt er einen Moment inne, um es mir zu erklären, und seine Augen suchten die meinen und hielten sie mit dem unverwandten Blick fest, den er vermutlich durch stundenlanges Anstarren des eigenen Spiegelbilds geübt hatte. Er sprach leiser, gedämpfter. »Damit will ich sagen, daß Sie, John, bestimmt ein besonderes Inter esse an diesem Thema haben ...«
Vielleicht errötete ich. Ich weiß es nicht. Aber ich erinnere mich an seine Umarmung. Wir standen an der Tür, er dankte mir für mein Kommen, den Käse sowie meine Diskussionsbeiträge und gab mir noch allerlei proktypische Ratschläge und Ermahnungen im Hinblick auf die Kälte, vereiste Straßen, schlechte Autofahrer und dergleichen mit auf den Weg. »Gute Nacht, Milk«, sagte er, nahm mich in die Arme und drückte mich an sich, und ich spürte das Spiel seiner Muskeln und die Wärme seines Körpers, ich roch sein Haaröl, seinen Duft, die heiße, verführerische Einladung seines Atems.
Er ließ mich los. Die Tür schloß sich. Ich ging hinaus in die Dunkelheit.

3

»Also, Paul, du mußt mir das noch mal erklären, denn irgendwas hab ich hier nicht verstanden. Du hast was gegen wissenschaftliche Forschung, stimmt’s? Gegen das Sammeln von Daten? Ehrlich, ich versteh’s nicht.«

Wir waren in unserem Zimmer, der Tag verabschiedete sich mit den letzten fahlen Strahlen einer trüben Sonne, und wir wollten gleich zum Abendessen in die Mensa gehen. Es war kalt. Und zwar nicht nur draußen: Mrs. Lorber schien die Heizung auf Sparflamme gestellt zu haben. Paul – mir wird gerade bewußt, daß ich ihn noch gar nicht beschrieben habe, und ich hoffe, Sie verzeihen mir das, denn auf diesem Gebiet bin ich ein Neuling –, Paul also lag diagonal auf seinem ungemachten Bett, den Kopf an die Wand gelehnt, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Er war beinahe ein Jahr älter als ich und trug einen sehr schmalen, penibel gepflegten Schnurrbart á la Ronald Colman, doch ebenso wie seine Haare war dieses Bärtchen so bleich und verwaschen, daß man es selbst aus der Nähe kaum sah. Er hatte blaue Augen, und auch sie waren blaß, fast durchscheinend. Außerdem hatte er zwei Ohren, eine Nase, einen Mund, ein Kinn und zwei dünne, farblose Lippen, die er stets zusammenzupressen schien, wahrscheinlich weil er einen Überbiß hatte. Was gibt es sonst noch über ihn zu sagen? Seine Eltern waren Engländer aus Yorkshire, und er liebte Schach, Lucky Strikes, den »Lone Ranger« und natürlich Betsy. Mit der er aufs Ganze gegangen war, obgleich sie noch gar nicht verheiratet waren – oder vielmehr: mit der er andauernd aufs Ganze ging. Woher ich das wußte? Er hatte es – den Koitus mit Betsy – so detailliert beschrieben, daß Prok hochzufrieden gewesen wäre, wenn ich Paul nur dazu hätte bringen können, sich befragen zu lassen.

Abends blieb ich lange wach und wartete auf ihn, damit wir im Dunkeln rauchend auf unseren Betten liegen und er mir mit leiser, belegter Stimme schildern konnte, wie er sie im Heizkraftwerk der Uni an die Wand gedrückt oder sich bei voll aufgedrehter Heizung auf dem Rücksitz eines geliehenen Wagens auf sie gelegt hatte und wie willig sie war, wie scharf, und daß Betsy, damit es schneller ging, nur noch Röcke trug, keine Unterwäsche, und daß sie beide es kaum erwarten konnten zu heiraten, damit sie es im Bett tun konnten, auf Laken und unter Decken, und keine Angst vor der Polizei oder dem Nachtwächter oder sonst irgend jemandem haben mußten ...

»Aber warum sollte ich?« sagte er. »Warum sollte ich eineinhalb oder gar zwei Stunden damit verplempern, mit einem Mann zu reden, den ich noch nie gesehen habe und vielleicht nicht mal mag? Was soll mir das bringen?«

»Dir vielleicht nichts, aber der Wissenschaft«, antwortete ich, »dem Fortschritt der Wissenschaft. Hast du mal darüber nachgedacht, daß du dich, wenn es mehr Menschen wie Dr. Kinsey gäbe, nicht heimlich mit deiner Verlobten ins Heizkraftwerk schleichen müßtest, weil man dann nämlich voreheliche sexuelle Beziehungen dulden, ja sogar befürworten würde?«

Er schwieg einen Augenblick. Vor dem Fenster war es grau geworden, und ich stand auf und schaltete das Licht an, wickelte mich dann in meine Decke und legte mich wieder aufs Bett. Schatten nisteten in den Ecken. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Es ist einfach zu persönlich.«

»Zu persönlich?« Ich traute meinen Ohren nicht. »Wie kannst du das ausgerechnet zu mir sagen? Immerhin erzählst du mir in allen Einzelheiten, was du und Betsy an sieben Abenden die Woche treibt, ob ich es nun hören will oder nicht.«

»Ach«, sagte er, und seine Hand hob und senkte sich unter der Bettdecke wie eine pulsierende Ader, »du bist ein trauriger Fall. Du weißt nicht mal, wie das ist, stimmt’s ? Du warst zwar in diesem Ehekurs, aber trotzdem hast du keine Ahnung, wie schön es ist, wie wild und schön, und ich schätze, ich werde dir ein bißchen helfen müssen, damit du bei – wie heißt sie noch? Iris? – zu deinem ersten Schuß kommst.«

»Ach, leck mich doch! Ich finde das unmöglich, wirklich. Nur weil du mit Betsy so ein Schwein hast, ich meine, nur weil du eine gefunden hast, die nicht –«

»Ist ja gut«, sagte er. »Jetzt komm mal nicht ins Schwitzen. Ich mach’s. Okay? Bist du jetzt zufrieden?«
Es dauerte einen Augenblick, bis ich diese Auskunft verarbeitet hatte. Der Atem verdichtete sich vor meinem Gesicht, die Decke schmiegte sich an meinen Hals. »Ja«, sagte ich schließlich und versuchte, trotz allem versöhnt zu klingen, aber er hatte mich wirklich gekränkt: Ich war unerfahren, das wußte ich ja, aber war das ein Verbrechen? Mußte er mir das unter die Nase reiben? Glaubte er etwa, daß ich mir Liebe – Liebe und Sex – nicht ebensosehr wünschte wie jeder andere?
Er dachte nach und kickte mit den Füßen das untere Ende der Bettdecke zurecht, damit es sich enger um seine bestrumpften Füße legte. Zwei Finger strichen über den Schatten seines Bärtchens. »Also, was muß ich jetzt tun? Legst du eine Liste an oder was?«
Ich stand auf, zog die Decke hinter mir her, trat an den Schreibtisch und schlug mein Notizbuch auf. »Ich habe hier seine freien Termine«, sagte ich.

Der Monat war noch nicht zu Ende, da war ich von der bibliothekarischen Hilfskraft zum persönlichen Assistenten von Dr. Alfred C. Kinsey, Professor für Zoologie, aufgestiegen, und wenn ich Elster auf dem Korridor oder der Treppe des Instituts für Biologie begegnete, sah er durch mich hindurch, als wäre ich gar nicht vorhanden. Auch unter denen, die Biologie im Hauptfach studierten, gab es vermutlich einigen Unmut – immerhin verfügte ich über keinerlei Fachkenntnisse, abgesehen von denen, die ich mir im zweiten Studienjahr in einem von Professor Eigenmann veranstalteten Grundkurs angeeignet hatte, und war dennoch mit einer Stellung belohnt worden, die wohl zu den angenehmsten im ganzen Institut zählte. Prok wollte aber vor allem jemanden, zu dem er ein gutes Verhältnis hatte und der seine Begeisterung für dieses nagelneue Projekt teilte, das schließlich zur Publikation der beiden grundlegenden Werke in der Geschichte der Sexualwissenschaft führen sollte. Und bei der Auswahl dieser Person spielte die Hierarchie keine Rolle – es hätte jeder sein können. Daß ich der erste war, der in diesen engsten Kreis von Vertrauten aufgenommen wurde, ist etwas, was mich für immer mit Dankbarkeit erfüllen wird. Und mit Stolz. Dafür stehe ich bis heute in Laura Feeneys Schuld.

Jedenfalls setzte Prok mich an einen Tisch im hinteren Teil des Büros, wo ich zwischen hohen dunkelgrauen Bücherregalen eingezwängt war und aus dem Fenster sehen konnte, auf dessen Fensterbank sich Gallen türmten, die in Stoffsäckchen steckten, damit die möglicherweise ausschlüpfenden Insekten nicht davonfliegen konnten. Diese Gallen stammten aus der Sierra Madre Oriental oder aus Prescott, Arizona, ja sogar aus dem Apennin oder den zerklüfteten Hügeln von Hokkaidō (interessierte Kollegen oder Laien in aller Welt sandten Prok ausgewählte Exemplare zu). Ein undefinierbarer, nicht unangenehmer, aber eindeutig seltsamer Geruch hing in der Luft – er ging von diesen vollgestellten und beengten Räumlichkeiten im ersten Stock des Institutsgebäudes aus und war untrennbar mit ihnen verbunden. Das hatte natürlich etwas mit den Gallwespen zu tun, denn die Gallen – diese holzigen Wucherungen an Eichen und Rosen, deren Wachstum durch die Wespenlarven, die darin leben, ausgelöst wird – verströmen tatsächlich einen recht angenehmen Geruch, vermutlich nach Borke und Tannin. (Wenn Sie einen Waldspaziergang machen, brechen Sie mal eine Galle ab und riechen Sie daran, dann wissen Sie, was ich meine.) Die Wespen selbst hatten, soweit ich feststellen konnte, keinen Geruch. Außerdem nahm man Spuren des Zigarettenrauchs wahr, den die von Prok Befragten in dicken blauen Wolken ausstießen, wenn sie ihm die Geschichte ihres Sexuallebens offenbarten, sowie den Duft, der Prok selbst umgab, den Duft rosiger geschrubbter Sauberkeit; er war ein entschiedener Verfechter der morgendlichen kalten Dusche und beinahe zwanghaft, was den Gebrauch von Seife betraf. Unterlegt war das alles mit den Parfüms der drei Assistentinnen, die sich den Schreibtisch mit mir teilten und sich mit mir abwechselten, und den üblichen Bürogerüchen von Tinte, Bleistiftspänen, Schreibmaschinenöl und (in diesem Fall) einem chemischen Mittel gegen jene winzige Käferart, die schon ganze entomologische Sammlungen vernichtet hat.

An meinem ersten Tag wies Prok mich ein und gab mir Anweisungen, wie ich seinen Geheimcode zu dechiffrieren und die Resultate zu übertragen hatte. Er war sehr genau, ein Muster an Effizienz, und wenn seine Schrift auch irgendwie künstlerisch war, voller Schnörkel und großer, geschwungener Linien, so bestand seine Druckschrift – wie meine – aus einer beinahe mechanischen Aneinanderreihung von Buchstaben, so gleichmäßig geformt, daß sie auf den ersten Blick wie maschinengeschrieben wirkten. Er sah mir, berstend vor Energie und auf den Fußballen wippend, über die Schulter, schnalzte angesichts meiner Schrift mißbilligend mit der Zunge, griff ungeduldig nach meiner Hand oder nahm das Blatt Papier, knüllte es zusammen und warf es weg, weil ich einen Fehler gemacht hatte. So ging es stundenlang. Er lief ständig zwischen seinem und meinem Tisch auf und ab, doch als er schließlich glaubte, ich hätte begriffen, worum es ging, setzte er sich auf die Kante meines Tischs und sagte: »Sie machen das sehr gut, Milk. Ich muß zugeben, daß ich zufrieden bin.«

Ich sah zu ihm auf und murmelte eine Antwort, die meine Freude über das Lob ausdrücken sollte, ohne allzu kriecherisch zu klingen. Prok gab den Kurs vor, und zwar immer, er war ein geborener Führer, aber er hielt nichts von Unterwürfigkeit, ganz gleich, was andere Ihnen erzählen mögen.

Eine Sekunde verging. Dann sagte er: »Sie haben natürlich die Gallen gesehen.«
Er rutschte von der Tischkante, trat zum Regal, nahm ein großes, knolliges, vielflächiges Objekt, das wie der konservierte Kopf eines ausgestorbenen Wesens aussah, und legte es vor mich auf die hölzerne Tischplatte. »Die größte je entdeckte Galle«, sagte er. »Zwölf Kammern, vierhundertfünfzig Gramm. Hab ich selbst gefunden, in den Appalachen.«
Wir bewunderten sie, und dann ermunterte er mich, über die rauhe, pockennarbige Oberfläche zu streichen: »Keine Angst, das ist bloß das Werk einer besonders tatkräftigen Kolonie von Cynipoideen. Aber wahrscheinlich wissen Sie so gut wie nichts über Cynipoideen, stimmt’s? Es sei denn, Professor Eigenmann hat sie in seinem Einführungskurs behandelt.« Er lächelte. Nein, er grinste. Seine letzte Bemerkung war ein kleiner Witz, mit dem er sowohl mich – wie hätte ich mir das merken sollen? – als auch seinen Kollegen durch den Kakao zog, denn Professor Eigenmann mußte in diesem Einführungskurs das gesamte Leben auf der Erde behandeln, vom Pantoffeltierchen über den Schachtelhalm und den Riesen-Mammutbaum bis hin zum Homo sapiens, und konnte im Verlauf eines Semesters wenn überhaupt, dann kaum mehr als einen Satz über die Gallwespe gesagt haben.
Ich grinste zurück und wußte nicht, was er von mir erwartete. »Ich weiß, daß es Wespen sind«, sagte ich, »und daß sie relativ klein sind im Vergleich zu denen, die hier herumfliegen würden, wenn jetzt Sommer wäre.«
»Es sind hervorragend angepaßte parasitische Insekten«, sagte er und betrachtete die Galle beinahe liebevoll. »Eine äußerst seßhafte Spezies, flugunfähig. Sie verbringen ihr gesamtes Leben in ein und derselben Galle auf ein und demselben Baum. Alle Jubeljahre vielleicht verlassen die ausgewachsenen Exemplare ihre Galle und kriechen zu einem fünfzehn, zwanzig Meter entfernten Baum – das ist ihr Aktionsradius, das Maß ihrer Unabhängigkeit, und das macht sie zu einem interessanten Studienobjekt: Ich konnte den Ursprung einer bestimmten Population bestimmen, indem ich einfach ihren geographischen Weg zurückverfolgte und die Variationen der vererbten Charakteristika notierte.«
Er begann wieder auf und ab zu gehen, blieb für einen Augenblick stehen, nahm die Brille ab und sah aus dem Fenster, bevor er erneut an den Tisch trat, die Galle vorsichtig in die Hand nahm und sie sorgsam in das Regal legte. »Aber ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten für Sie« – er grinste, offenbar bahnte sich der nächste Witz an –, »denn sie haben im allgemeinen ein sehr begrenztes Sexleben. Unglücklicherweise − für die Gallwespen − sind Männchen sehr selten, und daher pflanzen sich die meisten Gallwespenarten durch Parthenogenese fort. Ich bin sicher, Professor Eigenmann hat den Begriff der Parthenogenese erläutert.«
Wieder ein Grinsen. Sein Gesicht tauchte vor meinem auf und verschwand wieder. »Glauben Sie nicht, daß ich meine Cynipoideen nur erwähne, um mich selbst reden zu hören. Jaja, ich sehe den fragen- den Ausdruck in Ihren Augen, versuchen Sie nicht, ihn zu verbergen. Sie denken: Worauf will Kinsey jetzt eigentlich hinaus? Aber mein Wahnsinn hat Methode. Was ich sagen will, ist dies: Ihre Anwesenheit, Milk, leitet eine neue Ära ein. Ab Montag werde ich die Arbeitszeiten meiner drei Assistentinnen zu Ihren Gunsten reduzieren. Ich habe die Erforschung der Gallwespen so weit vorangetrieben, wie ich konnte, aber jetzt, da Sie mitmachen und wir mit angemessener finanzieller Unterstützung durch die Rockefeller Foundation und den National Research Council rechnen können, werden wir uns ausschließlich auf eine einzige Sache konzentrieren, und ich bin sicher, Sie wissen, wovon ich spreche ...«

In jenem Jahr kam und ging der März wie ein Lämmchen, und ich stellte fest, daß ich zwei Jobs hatte: einen in Proks Büro und einen in seinem Garten. Das milde Wetter schien ihn zu beleben (als brauchte ein Mann mit seiner geradezu übermenschlichen Energie Belebung), und an den Wochenenden und besonders sonntags verbrachte er soviel Zeit wie möglich draußen. Er hatte eine streng methodistische Erziehung genossen, die in seiner Jugendzeit in quälendem Widerspruch zu seinen natürlichen Bedürfnissen gestanden hatte, und sobald er die Wissenschaft entdeckt und begonnen hatte, das menschliche Verhalten unter phylogenetischen Aspekten zu betrachten, war er zu einem radikal unreligiösen Menschen geworden, der demonstrativ in seinem Garten arbeitete, während der Rest von Bloomington in der Kirche saß. Gegen Ende des Monats war es so warm, daß er das in Shorts und mit nacktem Oberkörper erledigen konnte, und er ermunterte mich, es ihm gleichzutun. Im Frühsommer und Sommer schließlich waren wir bei der Gartenarbeit so leicht bekleidet, wie es gerade noch vertretbar war – aber ich greife vor.

Ich weiß noch genau, daß dieser Monat eine Zeit war, in der ich mich mit mir selbst so sehr im reinen fühlte wie schon lange nicht mehr – sofern ich dieses Gefühl überhaupt kannte. Das lag an Proks ständiger Aufmerksamkeit, an seinen sanften Ermunterungen, sei- nen Instruktionen, an dem Gefühl der Verbundenheit, wenn wir uns, jeder an seinem Tisch, schweigend über die Arbeit beugten, in dem Wissen, daß wir im Begriff waren, etwas Erregendes, Revolutionäres zu tun. Wir unternahmen Wanderungen – er und Mac gingen mit den Kindern und mir zum Lake Monroe, zu den Bluesprings-Höhlen, zum Clear Creek, wir machten Spaziergänge durch die Felder und Waldstücke hinter ihrem Haus, wobei Prok die ganze Zeit über die Geologie der Landschaft dozierte, über die Gräser und Wildblumen, die auf den Lichtungen sprossen, und über die Zugvögel, die nach und nach zurückkehrten –, und ich erinnere mich an den Frieden und die Geborgenheit, wenn wir gemeinsam zu Abend aßen und vor dem Kamin saßen. Es war einfach gut dort, in ihrer Gesellschaft. Mac kochte eine Portion mehr, wenn ich im Garten arbeitete oder wir von einem unserer Ausflüge zurückkehrten, und je heftiger ich protestierte, ich wolle ihnen nicht zur Last fallen und ihre Gastfreundschaft strapazieren, desto herzlicher bemühten sich beide, mich in diesem Punkt zu beruhigen. Schließlich verbrachte ich mehr Zeit bei den Kinseys als im Haus von Mrs. Lorber, und Paul, der in den vergangenen drei Jahren mein Fels in der Brandung, mein bester Freund gewesen war, sagte im Scherz, er bekomme mich nur noch zu sehen, wenn ich schlief. Er hatte Betsy, und ich hatte Prok und Mac. Daß wir uns voneinander entfernten, war unvermeidlich.

Irgendwann in dieser Zeit tat ich etwas, worauf ich nicht besonders stolz bin, wovon ich aber hier berichten will, um Mißverständnisse aus dem Weg zu räumen beziehungsweise erst gar keine aufkommen zu lassen. Welchen Sinn hätte sonst diese Übung, diese Beschwörung vergangener Zeiten, wenn ich nicht vollkommen aufrichtig wäre? Ich habe nichts zu verbergen. Heute bin ich ein anderer Mensch als der Student, der damals an diesem Ehekurs teilnahm, und um nichts in der Welt würde ich irgend etwas von dem, was geschehen ist, ändern wollen.

Jedenfalls war ich ein gelehriger Schüler. Puzzles und Geheimschriften hatten mir schon immer Spaß gemacht, und Proks Code lernte ich in Rekordzeit. Es dauerte zwei oder drei Wochen, und ich konnte ihn auswendig. Eines Nachmittags – es war mitten in der Woche, und Prok war nach Indianapolis gefahren, um vor dem Kollegium einer Privatschule über die Möglichkeiten der Triebbefriedigung für unter Dampf stehende Jugendliche zu sprechen und, wie nicht anders zu erwarten, möglichst viele Interviews mit Lehrern und Schülern zu führen –, eines Nachmittags also war ich allein im Büro und transkribierte verschlüsselte Lebensgeschichten von Proks Notizzetteln auf größere Formate, die für die Unterlagen bestimmt waren, damit wir die Häufigkeit bestimmter Verhaltensweisen für die statistische Analyse berechnen konnten. (Ein nach Proks System verschlüsselter Bogen Papier enthielt so viele Informationen wie zwanzig Seiten Notat; diese mußten natürlich irgendwann ausgewertet werden. Anfangs geschah das per Hand, später, als wir unsere Hollerith-Maschine hatten, mit Hilfe von Lochkarten.) Zunächst erschien mir diese Arbeit faszinierend – immerhin ging es um Sex –, doch an diesem Tag hatte ich es mit Geschichten von männlichen Studienanfängern zu tun, und diese unterschieden sich nicht sonderlich von denen der Hundert-Prozent-Gruppe, die ich in meiner Studentenpension hatte mobilisieren können. Ich war einigermaßen gelangweilt. Da war die Rede von (nicht sehr weit gehenden) Experimenten mit anderen Jungen oder Farmtieren und von heimlicher Masturbation. Es gab recht wenige koitale Erfahrungen, aber eine gute Portion Petting, Zungenküsse und (ebenfalls zaghafte) Versuche oral-genitaler Befriedigung. Meine Hand, die den Stift umklammerte, schmerzte. Die Fingerspitzen waren tintenverschmiert. Ich unterdrückte ein Gähnen.

Ich weiß nicht, was über mich kam oder wie ich überhaupt auf den Gedanken verfiel, doch mit einem Mal durchstöberte ich Proks Schreibtisch nach dem Sekundärcode, der den Schlüssel zu den Identitäten von allen Befragten enthielt und den er aus Sicherheitsgründen weder mir noch irgendeinem anderen enthüllt hatte. Hätten die Befragten nicht absolut sicher sein können, daß ihre Anonymität gewahrt wurde, die überwältigende Mehrheit von ihnen hätte ihm niemals ihre Geschichte anvertraut. Diese Sicherheit war damals ebenso unabdingbar wie heute. Doch als ich den Code dann in der Hand hielt, fielen mir einige Übereinstimmungen mit dem Interviewcode auf (stellen Sie sich eine Art modifizierter Stenoschrift vor, bei der Abkürzungen, wissenschaftliche Symbole und Stenozeichen zu einer eigenen Geheimschrift verschmolzen), und sobald ich diese Übereinstimmungen entdeckt hatte, begann mein Kopf ganz von allein zu arbeiten. Kurz: Es dauerte nicht mal eine Stunde, bis ich den Sekundärcode geknackt hatte, und als ich somit den Schlüssel zu allen archivierten Unterlagen in den Händen hielt, konnte ich gar nicht anders, als ihn zu gebrauchen. Ich konnte nicht. Ich konnte nicht widerstehen.

Später, als Proks Bekanntheitsgrad in Amerika nur von dem des Präsidenten übertroffen wurde, als sein Bild auf dem Titel von Time war und die Presse gar nicht genug von ihm bekommen konnte, betraf die am häufigsten gestellte Frage sein eigenes Sexleben, und seine Antwort lautete stets, er habe, wie Tausende Menschen, seine Geschichte zu diesem Projekt beigesteuert, und sie werde ebenso anonym bleiben wie alle anderen. Das stimmte natürlich, und nur wir, die zum engsten Kreis gehörten, erfuhren aus erster Hand von den Details – wir waren zur Geheimhaltung verpflichtet, denn wenn irgend etwas davon an die Öffentlichkeit gedrungen wäre, dann hätte sich das Leben eines jeden von uns in seine Bestandteile aufgelöst –, doch an jenem schläfrigen Nachmittag, als sich die Strahlen einer hyperaktiven Sonne durch die Jalousien bohrten und große, brummende Fliegen nichtsahnend über den Kästen mit den konservierten Wespen ihre Kreise zogen, war Dr. Kinseys Geschichte die erste, die ich mir ansah, und die zweite war Claras.

Ich stand flach atmend am geöffneten Schubfach des Schranks, der Ordner lag aufgeschlagen vor mir. Alle paar Sekunden warf ich einen verstohlenen Blick über die Schulter, bereit, den Ordner beim kleinsten Geräusch aus dem vorderen Büro wieder verschwinden zu lassen. Ich war aufgeregt, ja, aber auch gespannt. Hier, in meiner Hand, war Proks Geschichte, hier zeigte sich auf elementarste Weise der Kern seines Wesens. Er kannte meine Geschichte, und nun würde ich seine kennenlernen. Sie war anders als alles, was ich erwartet hatte.

Als Junge war Prok noch schüchterner und unbeholfener gewesen als ich. Er hatte sich kein bißchen für Sport oder irgendwelche geselligen Aktivitäten interessiert, und weil er als Kind Rachitis, Typhus und rheumatisches Fieber gehabt hatte und sein Körper dementsprechend geschwächt war, wandte er sich der Natur zu und ging häufig auf ausgedehnte Wanderungen und Entdeckungstouren, bis er schließlich der durchtrainierte, kräftige Mann war, den ich kannte. (Allerdings war seine Haltung aufgrund einer doppelten Rückgratverkrümmung stets deutlich gebeugt.) Er war Pfadfinderführer. Er masturbierte zwanghaft. Sein Vater war ein religiöser Moralist. Er war schon weit über zwanzig – älter als ich –, als er seine ersten reifen und befriedigenden sexuellen Erfahrungen machte, und das auch erst, als er Clara heiratete.

Und hier wurde die Geschichte interessant. Obgleich die Hochzeitsreise aus einer langen, anspruchsvollen Wanderung durch die White Mountains bestand, bei der er und seine junge Braut mehrere Frühsommernächte aneinandergeschmiegt im Zelt schliefen, wurde die Ehe erst Monate später vollzogen. Dieser Verzug erklärte sich, wie ich später erfuhr, aus ihrer beider Unerfahrenheit sowie aus einer kleinen physiologischen Besonderheit von Claras Hymen, das nämlich ungewöhnlich dick war, und die daraus resultierenden Schwierigkeiten wurden verschärft durch die Tatsache, daß Proks Penis ein gutes Stück größer als normal war. Ich stellte mir die Verlegenheit der beiden vor, ihre Schamhaftigkeit, ihren Mangel an Wissen oder Erkenntnis, ich sah vor meinem geistigen Auge, wie sie einander küßten und streichelten, wie sie hin und her rollten, im Zelt oder auf den Feldbetten in dem Sommerlager, wo sie im Juli und August jenes Jahres als Betreuer angestellt waren. Und dann waren sie wieder in ihrer ersten gemieteten Wohnung in Bloomington und hatten nichts als Frustrationen erlebt. Drei Monate nach der Hochzeit war Sex für sie noch immer ein Mysterium. Erst als ein kleiner chirurgischer Ein- griff bei Mac diese mißliche Lage beendete, konnten sie endlich den Koitus vollziehen. Prok war achtundzwanzig.

Dieses Wissen – das ich mir aneignete wie ein Ägyptologe, der mühsam Hieroglyphen entzifferte und nach und nach allerlei über das Leben und die Gewohnheiten eines Pharaos aus längst vergange- ner Zeit erfuhr –, dieses Wissen also erfüllte mich mit widersprüchlichen Gefühlen. Einerseits erschien mir mein Mentor irgendwie kleiner als zuvor: Er predigte, jedenfalls im privaten Rahmen, die sexuelle Befreiung, und dabei war er wie ich ein Gefangener überkommener Moralvorstellungen gewesen und hatte wie ich unter Schüchternheit, Unwissenheit und der Unfähigkeit zu handeln gelitten. Und doch gab seine Geschichte mir auch die Hoffnung, auf eine gespenstische Weise sogar die Gewißheit, daß meine eigene sexuelle Verwirrung irgendwann ein Ende haben würde.

Aber da war noch mehr. Seine H-Geschichte, die wie meine mit jugendlichen Experimenten begonnen hatte, wurde zunehmend kom- plex. Der Zoologie-Professor, der hervorragende Wissenschaftler, neben dessen Namen im American Men of Science ein Stern prangte, der glücklich verheiratete Entomologe in mittleren Jahren, der Vater dreier Kinder mit dem nüchternen, sachlichen Habitus stieg auf der Skala von 0 bis 6 immer weiter auf, hatte im Verlauf langer Exkursionen Affären mit diversen Studenten und schließlich eine intensive und sehr enge Beziehung zu einem Studenten gehabt, der nicht viel älter war als ich. Was glauben Sie, wie ich mich fühlte? Und Mac, was war mit Mac?

In meinen Adern brauste das Blut, und hätte an jenem Nachmittag jemand den Kopf durch die Tür gesteckt, so hätte er mein hochrotes Gesicht bemerkt. Mit gierigem Blick und zitternden Fingern blätterte ich die Seiten durch, dann schob ich Proks Ordner zurück in die Schublade und nahm mir Macs vor. Ihre Geschichte war umfangreicher, als ich gedacht hatte, und als die Symbole mir ihren Sinn enthüllten, stellte ich mir Mac unwillkürlich nackt vor, ihre Hände, ihre Lippen, ihren Gang, dieses gaumige Etwas in ihrer Stimme. Ich gebe zu, ich war erregt, und im nächsten Augenblick wollte ich schon nach Laura Feeneys Geschichte und nach der von Paul und Kinseys Kindern suchen – doch da besann ich mich. Was tat ich da? Es war voyeuristisch, es war falsch, es war ein Bruch des Vertrauens, das Prok mir entgegenbrachte. Ich war dabei, es der schäbigsten Art von Neugier zu opfern. Es war dunkel geworden, die Lampen gaben ein weiches Licht, die Gallen waren beschattet und surreal, und plötzlich schämte ich mich, ich schämte mich wie noch nie in meinem Leben. Ich konnte erst wieder frei atmen, als ich die Ordner in den Aktenschrank zurückgelegt und den Code eingeschlossen hatte. Die ganze Zeit lauschte ich auf Schritte im Korridor. Ich schaltete das Licht aus. Schloß das Büro ab. Und als ich auf den Korridor trat, schlug ich den Kragen hoch und wandte das Gesicht zur Wand, als wäre ich ein Krimineller.

Am nächsten Tag war Prok zurück, berstend vor Energie. Er pfiff leise ein Hugo-Wolf-Lied und eilte mit raschen, abrupten Bewegungen, die sich wie eine Pantomime ausnahmen, im Büro hin und her: Er sprang vom Schreibtisch auf, setzte sich wieder, warf einen Blick in einen der Schmitt-Kästen, dann in die Aufzeichnungen, untersuchte flüchtig eine seit zwei Jahren inaktive Galle, in der plötzlich Larven geschlüpft waren, blickte durch das Mikroskop und rief: »Eine neue Art, Milk, ich glaube, ich habe hier eine ganz neue Art!« Als ich eingetreten war, hatte er mir, kaum daß ich mich gesetzt hatte, einen prallen Ordner auf den Tisch gelegt. »Achtzehn Geschichten.« Ein Grinsen. »Und sechsunddreißig weitere sind fest zugesagt. Ich war bis zwei Uhr morgens auf, um sie aufzuzeichnen.«

»Wunderbar«, sagte ich und grinste ebenfalls.
»Gab’s in meiner Abwesenheit irgendwelche Schwierigkeiten?« Ich mühte mich, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen. Nicht

wegsehen, befahl ich mir. Nicht. »Nein«, sagte ich und sah weg, »nein, es war alles in Ordnung.«

Er sah mich forschend an. Ich klappte den Ordner auf, in der Hoffnung, ihn abzulenken, doch es funktionierte nicht. Ich glaube, es hat noch nie einen Menschen gegeben, der ein so feines Gespür für die Nuancen menschlichen Verhaltens hatte wie Prok, niemanden, der noch die kleinsten Regungen der Gesichtsmuskeln und all das, was wir heute Körpersprache nennen, so genau zu deuten vermochte. Ihm entging nichts. »Alles?« fragte er.

In diesem Augenblick wollte ich ihm alles beichten, aber ich tat es nicht. Statt dessen murmelte ich eine Bestätigung und fragte, um das Thema zu wechseln: »Soll ich die hier gleich transkribieren?«

Er schien geistesabwesend und antwortete zunächst nicht. Für sein Alter wirkte er jung – damals hielt man ihn meist für fünf bis zehn Jahre jünger, als er war –, doch in diesem Augenblick sah ich die Falten in seinem Gesicht, die ersten zart skizzierten Linien des fertigen Bildes, das er mit ins Grab nehmen würde. Er war gewiß erschöpft, dachte ich, er hatte sich verausgabt, um diese Geschichten aufzuzeichnen, er hatte die weite Reise in seinem klapprigen alten Nash gemacht, war spät zu Bett gegangen und früh aufgestanden und hatte niemanden gehabt, der ihm half. »Wissen Sie«, sagte er dann, und es war, als hätte er meine Gedanken gelesen, »ich habe darüber nachgedacht, wie praktisch, nein, wie unerläßlich es wäre, einen zweiten Interviewer auszubilden, eine Vertrauensperson, die mit mir zusammen Daten sammelt, jemanden, der nicht unbedingt eine wissenschaftliche Ausbildung hat, der sich aber in die von mir entwickelte Technik einarbeiten kann und bereit ist, sie unbedingt anzuwenden. Jemanden, der eine rasche Auffassungsgabe hat, John. Jemanden wie Sie.« Er hielt inne. »Was meinen Sie?«

Ich war so überrascht und mit Schuldgefühlen wegen meiner Schnüffelei beladen, daß ich ins Schleudern kam. »Ich ... Na ja, natürlich«, stotterte ich. »Ich würde natürlich gern ... Aber ich muß doch noch meinen Abschluß machen ...«

»In Englisch«, sagte er, und das Wort klang wie etwas Unappetitliches, das er ausspucken mußte. »Ich habe nie ganz verstanden, welche Nutzanwendung das haben sollte, als Fach, meine ich.«

»Ich weiß nicht.« Ich zuckte die Schultern. Er musterte mich noch immer mit unverwandter Konzentration. »Ich dachte, ich würde vielleicht gern Lehrer werden. Irgendwann, meine ich.«

Er seufzte. Geduld gehörte nicht zu seinen zahlreichen Qualitäten. Auch Enttäuschungen steckte er nicht ohne weiteres weg. »Denken Sie mal darüber nach, John, mehr will ich gar nicht. Sie brauchen sich nicht jetzt sofort zu entscheiden. Lassen Sie uns beim Abendessen darüber sprechen. Kommen Sie heute abend zu uns, um Punkt sechs – Sie haben doch keine anderen Pläne?«

»Sexforschung? Bist du verrückt?«

Paul lag hingestreckt auf seinem Bett, als wäre er Treibgut, das die zurückweichende Flut angeschwemmt hatte. Er kaute Kaugummi und ließ träge einen Tennisball auf dem Schläger hüpfen, den er auf seine Brust gelegt hatte. Auf dem Boden stapelte sich ein halbes Dutzend aufgeschlagene Bücher, auch sie eine Art Treibgut. Ich hatte keine Lust, ihm die Sache zu erklären; er hätte mich ohnehin nicht verstanden.

»Wenigstens ist es ein Job«, sagte ich und streifte den Pullover so vorsichtig wie möglich über den Kopf, damit meine Frisur in Form blieb. Ich zog mich für meinen Besuch bei den Kinseys um (sie machten sich, wie Mac gesagt hatte, zwar nichts aus Förmlichkeiten – im Privaten mochten sie sogar als Bohemiens gelten –, doch ich hatte das Gefühl, daß Einladungen zum Abendessen, und seien sie noch so häufig und informell, Jackett und Krawatte erforderten, und dieser Meinung bin ich auch heute noch).

Paul ließ den Ball vom Schläger auf den Boden springen, wo er noch drei-, viermal hüpfte, bevor er unter meinem Tisch verschwand. »Aber was für Fragen er stellt – das ist doch peinlich. Du wirst doch wohl nicht ...?« Er hielt inne und sah die Antwort in meinem Gesicht. »Doch, du wirst, stimmt’s?«

Ich band mir vor dem Spiegel die Krawatte und musterte meine Augen und die mit Pomade zurückgekämmten Haare. »Wenn ich mich recht entsinne, hattest du damals nichts gegen die Fragen einzuwenden. Du hast sogar was von einzigartiger Erfahrung‹ gesagt. Das war doch das Wort? ›Einzigartig‹?«

»Hör mal, John, kann ja sein, daß ich total auf dem Holzweg bin, aber findest du nicht, daß man schon eine ganz besondere Sorte Mensch sein muß, um andauernd in der Unterwäsche von anderen Leuten herumzuwühlen?«

Ich betrachtete ihn mit einem Blick, der vom Spiegel durch den ganzen Raum reflektiert wurde: Da saß er auf dem Bett, ein Kleingeist, der mit jedem Augenblick kleiner wurde. Ich antwortete nicht.

»Ich will damit nicht sagen, daß der Professor ein komischer Kauz oder ein Perversling oder so ist, aber dir ist doch wohl klar, daß alle Welt dich für einen halten wird? Und was ist mit deiner Mutter? Meinst du, das wird ihr gefallen – als Karriere-Entscheidung, meine ich?«

»Ich hab dir schon tausendmal gesagt«, antwortete ich und zog mir das Jackett an, »das ist reine Wissenschaft, Forschung, wie auf irgendeinem anderen Gebiet. So wie Lister, der die Antisepsis begründet hat, oder der Kerl mit dem Schimmelpilz auf dem Brot. Warum sollten wir nicht soviel wie möglich darüber herausfinden, was die Spezies Mensch tut?« Ich stand an der Tür und war im Begriff zu gehen, blieb aber stehen, um ihm Gelegenheit zu einer Antwort zu geben.

»Die Spezies Mensch? Du hörst dich schon genauso an wie er, John, merkst du das eigentlich? Das sagt er auch immer. Aber was ist mit menschlichen Wesen, gemacht zum Ebenbilde Gottes? Was ist mit uns? Was ist mit der Seele?«

Plötzlich ärgerte ich mich über ihn. »Es gibt keinen Gott. Und auch keine Seele. Weißt du, was du bist?«
Er richtete sich nicht auf, hob nicht mal den Kopf. »Nein, aber ich nehme an, du wirst es mir gleich sagen.«
»Du bist ein Spießer, das bist du«, belehrte ich ihn und überließ es der Tür, diese Wahrheit zu unterstreichen.
Mrs. Lorber saß im Schaukelstuhl auf ihrem Posten und nickte mir zu. Ich grüßte sie mit einem verkrampften Lächeln, und dann war ich draußen, die flaumigen Weidenkätzchen an der Ecke blühten, die festen, blassen Knospen standen wie Kerzenflämmchen auf den Zweigen, und der warme Südwind brachte die Verheißung des nahenden Frühlings. Als ich die Atwater Street überquerte, fiel mein Blick auf eine schlanke, dunkelhaarige junge Frau mit aufregenden nackten Beinen; sie entfernte sich unter den Alleebäumen, und ich dachte an Iris. Ich hatte sie seit einem Monat, seit ich sie versetzt hatte, nicht gesehen, und ich hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, aber je länger ich es aufschob, mit ihr zu sprechen, desto schwieriger wurde es.
Ein Wagen fuhr langsam vorbei, so langsam, daß ich dachte, der Fahrer wolle parken. Ein alter Mann mit hartem, angespanntem Gesicht hielt das Lenkrad, als befürchtete er, man könnte es ihm entreißen. Ich blickte ihm lange genug nach, um zu sehen, wie er von zwei Radfahrern überholt wurde: Er sah weder rechts noch links und ließ nicht erkennen, ob er sie oder irgend etwas anderes überhaupt bemerkte. Ich begann davon zu träumen, daß ich eines Tages einen eigenen Wagen hätte: dann könnte ich einfach über die Hügel und davonfahren, hinaus aus der Stadt, bis sich die Landstraße vor mir entrollte und mein Ziel überall sein konnte. Studenten gingen in beiden Richtungen an mir vorbei. Zwei Hunde saßen hinter einem Gartenzaun und ließen mich nicht aus den Augen.
Als ich in die First Street abbog, sah ich vor mir ein junges Paar. Die Frau lehnte sich an den Mann, bis die beiden wie eine Einheit waren, die sich auf vier im Gleichschritt gehenden Beinen fortbewegte, und um sie nicht überholen zu müssen, wechselte ich die Straßenseite; ihr Anblick und die Art, wie sie einander zu vervollständigen schienen, ließ mich wieder an Iris denken. Was ich getan hatte, war unentschuldbar, und ich nahm mir vor, sie gleich am nächsten Tag anzurufen – ich würde mich zusammenreißen und es einfach tun –, und wenn sie mir sagte, ich solle tot umfallen, vertrocknen und verschwinden, dann wäre immerhin die Situation geklärt. Und daß ich das verdient hätte, war nicht zu leugnen.
So ging ich dahin. Sofern ich die verschiedenen Aktivitäten der Natur in dieser Jahreszeit der Erneuerung bemerkte, sofern ich den Duft der Forsythien roch oder die Vögel sah, die, Grashalme oder Zweige quer im Schnabel, auf die Bäume flogen, so drangen diese Eindrücke jedenfalls nicht in mein Bewußtsein. Es war eben Frühling, und ich war auf der First Street unterwegs zu den Kinseys. Zum Abendessen.
Prok selbst öffnete mir die Tür. Er trug seine Gartenshorts und sonst nichts. Die Beine waren schlank und muskulös, und die nackten Zehen strichen über die polierten Dielenbretter aus Amberholz. Sein Haar sah aus wie immer, als wäre er gerade beim Friseur gewesen. »Ah, Milk«, sagte er und bat mich herein, »ich hab den Iris und den Lilien eben ein bißchen Humus gegeben. Ich konnte nicht widerstehen, das Wetter ist so schön.«
Zum Abendessen zog er ein kurzärmliges Hemd an, aber weder Socken noch Schuhe. Auch Mac war legerer gekleidet als bei den früheren Einladungen zum Abendessen: Sie trug ebenfalls Shorts, dazu eine hellblaue Baumwollbluse, die ihre Kehle und die zarten Schlüsselbeine frei ließ. Auch sie schien sich die Haare geschnitten zu haben – sie waren jetzt beinahe so kurz wie die eines Mannes. In meinem Jackett und der Krawatte kam ich mir etwas fehl am Platz vor, doch sowohl Prok als auch Mac versicherten mir, sie seien einfach der Jahreszeit ein wenig vorausgeeilt, das sei alles.
Nach dem Essen gingen die Kinder auf ihre Zimmer, und Prok, Mac und ich setzten uns ins Wohnzimmer und unterhielten uns. Prok knüpfte seinen Teppich, Mac strickte. Prok hatte begeistert von der frühen Rückkehr irgendeiner Zugvogelart erzählt – ich habe vergessen, wie sie hieß – und daß das einen baldigen Sommerbeginn verhieß, doch dann unterbrach er sich abrupt und wandte sich zu mir. »Milk«, sagte er. »John. Haben Sie über meinen Vorschlag von heute nachmittag nachgedacht?«
Macs Stricknadeln blitzten. Sie betrachtete mich aus den Winkeln ihrer sanften braunen Augen, und ein mütterliches Lächeln spielte um ihren Mund.
Ich sagte ihm – ihnen –, das hätte ich. »Es wäre ... äh ...« sagte ich, »eine Ehre. Und ich möchte Ihnen sagen, wie sehr ... also ... daß Sie gegenüber einem jungen Mann wie mir, einem Studenten, so großzügig sind ...«
»Gut«, sagte Prok in seinem gewinnendsten Ton, »sehr gut. Wir werden erst mal Ihre Stundenzahl erhöhen, und sobald das Semester vorbei ist, kommen Sie als Vollzeitkraft zu mir. Ihr Gehalt läuft weiter wie bisher. Und natürlich werden wir auch in Zukunft gemeinsam im Garten arbeiten.«
In dieser Stimmung – einer Stimmung gegenseitiger Wertschätzung, einer entspannten, angenehmen Atmosphäre – verging der Abend, bis Mac sich entschuldigte und Prok und mich allein ließ. Ich hatte keine Zweifel an der Arbeit, die er mir anbot, denn es war eine wichtige, äußerst interessante, ja sogar edle Aufgabe, und ich war zutiefst dankbar, daß man mir in einer Zeit, da die weltpolitische Lage alles andere als stabil war, eine feste Anstellung in Aussicht stellte, und doch hatte ich einen Vorbehalt. Oder vielleicht sollte ich lieber sagen: einen Skrupel. Was ich hinter Proks Rücken im Büro getan hatte, erschien mir nicht richtig. Er bemühte sich so sehr, etwas aus mir zu machen und auf sehr konkrete Weise in mich und meine Zukunft zu investieren, und ich verriet ihn, betrog ihn, mißbrauchte sein Vertrauen. Er erzählte von der Schule in Indianapolis, von der Porter School, und beschrieb einige Details der interessanteren Geschichten, insbesondere denen von zwei Lehrern, die ihre extensiven H-Erfahrungen vor der Schulleitung und dem Rest ihrer Umgebung verheimlichten, als ich ihn unterbrach.
»Professor Kinsey«, sagte ich. »Prok. Ich ... äh ... ich muß Ihnen etwas sagen.«
Er hielt inne – die geschickten langen Finger lagen auf dem Rand des Teppichs – und sah mich an. »Ja?« sagte er. »Was müssen Sie mir sagen, Milk?«
Ich hatte ein Klingen in den Ohren, das Läuten irgendeiner Alarmglocke, und hob die Stimme, um es zu übertönen. »Ich muß Ihnen etwas beichten.«
Nun schwieg Prok. Er schaltete in seinen Interview-Modus und war ganz Ohr.
»Also, als Sie ... als Sie fort waren, habe ich den Code geknackt. Den Sekundärcode, meine ich. Ich ... ich war an Ihrem Schreibtisch.« Seine erste Reaktion war ungläubig. »Unmöglich«, sagte er.
Ich hielt seinen Blick aus, in meinen Ohren lärmten die Glocken, und ich sah Proks Augen mal scharf, mal unscharf, bis sie wie zwei blaue, im Äther schwebende Planeten waren. »Ich habe nur zwei Geschichten nachgelesen, mehr nicht, und ich weiß natürlich, daß das unverzeihlich ist, aber ich konnte mich nicht...«
Nur ein Wort: »Wessen?«
Etwas stieß gegen das Fenster, etwas, das in Richtung der Lampe geflogen war, eine Fledermaus wahrscheinlich oder ein Vogel, der in den nächtlichen Schatten die Orientierung verloren hatte. Man hörte den dumpfen Klang von Flügeln, die gegen das Fenster schlugen, und dann nichts mehr. »Ihre«, sagte ich mit erstickter Stimme. »Und die von Mac.«
Er ließ mich einen Augenblick zappeln. Dann sagte er: »Sie haben den Code geknackt?«
»Ja«, murmelte ich.
»Ich hätte nie gedacht, daß jemand den Code knacken könnte, selbst wenn es ihm gelingen sollte, sich Zugang zu den verschlüsselten Aufzeichnungen zu verschaffen. Ihnen ist doch klar, daß ich mir jetzt einen neuen Code ausdenken muß?«
»Ja.«
»Und daß er unendlich viel komplexer sein muß als der alte?«
Ich sagte nichts, sondern dachte an die Arbeit, die auf ihn zukam, an die vergeudete Zeit, an meine oberflächliche Neugier und die Tatsache, daß ich das Projekt zurückgeworfen hatte, noch bevor es mir gelungen war, etwas beizusteuern. Ich war wütend auf mich. Und ich schämte mich.
Prok stand auf, ging zum Kamin und richtete die Fotorahmen aus, die auf dem Sims standen. Ich betrachtete seinen Rücken, seine lange, sich nach oben verjüngende Gestalt, die schmalen Schultern, das kurze, aufrecht stehende Haar. Er trat ans Fenster und spähte hinaus in die Dunkelheit, dann setzte er sich wieder auf das Sofa und schaltete die Lampe aus. Die Schatten kamen und bemächtigten sich des Raums – das einzige Licht stammte von der Lampe in der Eingangshalle. »So«, sagte er schließlich, »dann kennen Sie also meine Geschichte. Aber« – er klopfte neben sich auf das Sofa – »setzen Sie sich doch zu mir.«
Ich gehorchte, stand von meinem Sessel auf und setzte mich neben ihn.
Er legte mir den Arm um die Schultern und zog mich zu sich heran, bis unsere Gesichter nur noch zehn Zentimeter voneinander entfernt waren. »Sie hätten nicht herumschnüffeln sollen, John«, flüsterte er. »Das hätten Sie nicht tun sollen. Aber es ist gut, daß Sie es gebeichtet haben.«
»Es tut mir leid«, sagte ich.
»Das beweist Charakter. Das wissen Sie doch, oder?« Er drückte brüderlich meine Schulter. »Sie sind ein herausragender junger Mann, und ich weiß Ihre Offenheit sehr zu schätzen, wirklich.«
Und dann geschah etwas Seltsames, das letzte, was ich unter diesen Umständen erwartet hätte: Er küßte mich. Er beugte sich zu mir, schloß die Augen und küßte mich. Es verging eine gewisse Zeit, in der keiner von uns etwas sagte, dann nahm er meine Hand und führte mich die Treppe hinauf zu dem ungenutzten Zimmer im Dachgeschoß, und ich erinnere mich, daß dort ein Tischtennistisch und Kindersachen, eine Angelrute und eine alte Nähmaschine waren – und ein Bett. An jenem Abend ging ich erst sehr spät nach Hause.

4

In diesem Semester hatte Iris ein Shakespeare-Seminar in demselben Gebäude, in dem ich Professor Ellis’ Vorlesung über britische Lyrik der Moderne hörte. Das war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewußt, denn ich hatte es noch nicht über mich gebracht, mit ihr zu sprechen, obwohl ich es mir vorgenommen hatte, und so war ich einigermaßen überrascht, als ich ihr dort eines Nachmittags auf dem Korridor begegnete. Soweit ich mich erinnere, war es ein trüber Tag, der wie Mull vor den Fenstern hing, das Linoleum war naß und rutschig, und die ganze Welt roch nach Schimmel und Gärung. Seit einer Woche regnete es ständig, und es sollte noch mehr Regen kommen. Ich dachte an nichts Besonderes, hatte Schirm, Notizblock und Lyrikanthologie unter den Arm geklemmt, hielt in der anderen Hand meinen nassen Hut und schob mich lustlos durch das Gedränge der Studenten im Korridor. Vielleicht träumte ich. Vielleicht lag es daran.

Sie stand vor mir, bevor ich mich irgendwie wappnen konnte, genau vor mir: Zwei Schulterpaare wichen auseinander, eine Studentin in einem gelben Regenmantel trat grinsend beiseite, jemand rief irgend etwas. Iris. Da war sie. Wir blieben stehen. »Hallo«, sagte sie, und ihr Lächeln war eine Erziehungsmaßnahme für sich.

»Ja«, sagte ich. »Hallo.«

Ihre Augen schienen alles verfügbare Licht im Korridor aufzusaugen, und ich konnte nichts anderes tun, als sie fasziniert anzustarren. Sie schien irgendwas mit ihren Haaren gemacht zu haben, oder vielleicht waren sie einfach nur naß. Was hatte sie an? Einen sechs Nummern zu großen Pullover, einen Wollrock, kurze Söckchen, zweifarbige Schuhe. »Bist du jetzt bei Ellis?«

»Britische Moderne«, sagte ich. »Lyrik, meine ich. Aber sag mal, ich habe nie ... Hast du meine Nachricht gekriegt?«
Sie sah mich fragend an.
»Du weißt schon, an dem Abend ... als wir uns eigentlich dieses Stück ansehen wollten. Ich hab damals die Eintrittskarten und ... na ja, eine Nachricht bei der Frau am Empfang hinterlassen. Im Wohnheim. Ich wollte nur wissen, ob du ... ob du sie gekriegt hast.«
Zwei Ströme von Studenten schoben sich an uns vorbei. Wir standen wie Pfeiler in dem feuchten Korridor. Stimmen summten, am Ende des Flurs sah ich Professor Ellis, hundert Paar Schuhe quietschten auf dem nassen Linoleum. »Bitte, John«, sagte sie, und ihr Mund wurde zu einem Nichts, zu einem Strich, einem verräterischen Sprung im Porzellan ihres glänzenden gequälten Gesichts, »nicht hier. Das ist nicht der richtige Ort.«
Ich starrte sie entsetzt an. Ein überwältigendes Gefühl von Verlust und Schuld, von gnadenloser, unentrinnbarer Schuld, begann auf mich einzuschlagen, als wäre ich ein straff gespanntes Trommelfell, und ja, mein Nacken wurde kalt, und meine Kopfhaut prickelte. »Aber hör mich wenigstens an«, sagte ich.
»Du willst reden? Na gut. Prima. Ich bin gespannt zu hören, was du zu sagen hast, sehr gespannt.« Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen, und sie stand stocksteif da. »Um vier«, sagte sie und mühte sich, den richtigen Ton zu treffen. »Bei Webster’s. Du kannst mich nicht verfehlen. Ich bin die Frau, die ganz allein am letzten Tisch sitzt.«
Ich mußte Prok bitten, an diesem Tag zu anderen Zeiten arbeiten zu dürfen, und ich kann nicht behaupten, daß er überglücklich war – alles, was die Arbeit behinderte, war gegen das Projekt und damit auch gegen ihn selbst gerichtet –, doch ich schaffte es, vor Iris in Webster’s Drugstore zu sein, und als sie durch die Tür trat, umständlich ihren Schirm ausschüttelte und sich das Haar zurückstrich, um zu verbergen, was sie empfand, war ich da. Ich sagte ihr, wie froh ich sei, daß sie gekommen sei, und dann sagte ich ihr, wie sehr ich sie mochte und wie leid es mir tat. Meine Erklärungen waren vermutlich mehrere Absätze lang, aber ich will mich hier damit begnügen zu erwähnen, daß ich zu meiner Entlastung Prok und die Notwendigkeit anführte, um meiner Zukunft und beruflichen Karriere willen die Beziehung zu ihm zu vertiefen.
Sie hörte gleichgültig zu und ließ mich reden und reden, bis schließlich an irgendeinem Punkt ein Lächeln ihr Gesicht erhellte und sie sagte: »Ich bin mit jemand anderem gegangen. Zu dem Stück, meine ich. Und es war einer der schönsten Abende, die ich seit dem Beginn meines Studiums hier erlebt habe.«
»Oh«, sagte ich. »Na ja, wenn das so ist ...«
»Willst du nicht wissen, wie er heißt?«
Wir tranken Tee und kämpften gegen den Impuls an, unsere mit Puderzucker bestäubten Doughnuts in die kleinen Steinguttassen zu tauchen, die auf Untertellern vor uns standen. Ich war kein Teetrinker. Ich mochte Tee nicht besonders. Aber ich trank Tee, weil sie ihn bestellt hatte – mit einem Blick zur Kellnerin und dann zu mir, der anzudeuten schien, daß Tee etwas Exotisches war, die raffinierte Wahl der Eingeweihten. Ich hatte gerade die Tasse an die Lippen gehoben, doch nun stellte ich sie wieder ab. Ich versuchte, meiner Frage einen beiläufigen Klang zu geben. »Wie er heißt?« sagte ich. »Warum, kenne ich ihn?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr Haar fing das Licht ein, das durch das Fenster fiel. »Ich glaube nicht. Er ist auch im letzten Studienjahr, wie du. In Architektur. Bob Hickenlooper?«
Was soll ich sagen? Hickenloopers Gesicht tauchte vor mir auf, ein langweilig gutaussehendes Gesicht, das Gesicht von einem der umschwärmtesten Männer der Uni, der in dem Ruf stand, allem nachzulaufen, was hochhackige Schuhe trug – es durften aber auch flache sein –, und obendrein war er noch intelligent und hatte eine großartige, staunenswerte Zukunft vor sich. Ich wurde von Eifersucht gepackt. Die Strähne, die nie bleiben wollte, wo sie hingehörte, fiel mir in die Stirn, und am liebsten hätte ich sie mir mit einem Ruck ausgerissen. »Er ... er wohnt in derselben Pension wie ich«, sagte ich und machte meine Stimme so kalt und klein, wie ich konnte.
Ihr gefiel die ganze Sache mittlerweile, das sah man an dem Funkeln ihrer Augen und der Art, wie sie hin und her rutschte, um mich besser mustern zu können. Sie senkte den Kopf, spitzte die Lippen und trank langsam einen großen Schluck Tee. »Aber genug von mir«, sagte sie. »Was ist mit dir? Ich hab gehört, du bist befördert worden.«
»Ja, ich –«
»Sexforschung, stimmt’s?«
Ich nickte. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, und einer der lautesten von ihnen fragte, woher sie das wissen mochte. Von Hickenlooper? Von Paul? Von ihrer Mutter? Aber wie konnte ihre Mutter es wissen, wenn meine es nicht wußte? Ich wollte das Thema wechseln und sie hier und jetzt fragen, ob sie am Samstag mit mir ins Kino gehen würde, und das tat ich auch, allerdings erst nachdem sie gesagt hatte: »Wie bist du bloß an diesen Job gekommen?«

Es wurde wärmer. Prok und ich verbrachten immer mehr Zeit im Garten. Wir setzten Steine als Kantenbefestigungen und Begrenzungen, wir gruben Beete um und schafften schubkarrenweise Mulch und Hühnermist heran, wir mähten, schnitten, pfropften. Wir teilten und verpflanzten unzählige Zwiebeln von Iris und Lilien aller Art. Iris waren seine Leidenschaft – er hatte über zweihundertfünfzig Arten gesammelt und verkaufte und tauschte die Zwiebeln landesweit per Post. Wir pflanzten auch Bäume – Obstbäume und Zierbäume, die wir irgendwo in den Hügeln ausgegraben hatten – und alle möglichen heimischen Pflanzen wie Kermesbeere, Goldrute, Schlangenwurzel, Wilde Astern und Wilde Möhren, und das hatte eine überraschende Wirkung, denn diese Pflanzen betonten die prächtigen Farben der Blumenbeete und verliehen dem ganzen Anwesen etwas Ungezügeltes, als hätte kein Mensch seine Hand im Spiel gehabt.

Bei der Gartenarbeit sprach Prok ausschließlich über Sex und insbesondere über die H-Geschichten, die er inzwischen nicht nur in Chicago und Indianapolis sammelte, sondern auch in New York. Er war beinahe zu Tränen gerührt, als er von den Interviews mit SexStraftätern berichtete, die er im Gefängnis besucht hatte. Diese Männer waren wegen irgendwelcher Handlungen, die im Widerspruch zu antiquierten Gesetzen standen, eingesperrt worden, und die Anklagen gegen sie waren beinahe willkürlich, wie zum Beispiel bei dem Mann aus South Bend, der im Knast saß, weil er sich von seiner Frau oral hatte befriedigen lassen (oder vielmehr von seiner Exfrau, die ihn ja dann auch angezeigt hatte), oder bei den vielen Homosexuellen, die von rachsüchtigen Ehefrauen, Eltern oder Kleinstadtpolizisten bloßgestellt und vor Gericht gebracht worden waren. Unehelicher Geschlechtsverkehr war überall verboten, Masturbation ebenfalls, und unnatürlicher Verkehr wurde in den meisten Bundesstaaten als Schwerverbrechen bestraft. »Weißt du«, sagte er zu mir, und zwar mehr als einmal, und ich spürte, daß er in Gedanken bereits sein nächstes Plädoyer, seinen nächsten Vortrag entwarf, »es ist einfach vollkommen absurd. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo – vorausgesetzt, alle Gesetze würden strikt angewendet – etwa fünfundachtzig Prozent der erwachsenen Bevölkerung hinter Gittern sitzen müßten.«

Ich sagte, er habe recht, vollkommen recht. Ich sagte, mein Leben wäre tausendmal besser verlaufen, wenn man mir nicht, kaum daß ich begriffen hatte, wozu das Ding zwischen meinen Beinen diente, alles, was damit zu tun hatte, verboten hätte.

Er lächelte und legte mir den Arm um die Schultern. »Ich weiß, ich weiß«, sagte er. »Ich predige dem Bekehrten.«
In dieser Zeit traf ich mich immer öfter mit Iris – ich lud sie ins Kino ein, wir machten Spaziergänge und lernten gemeinsam in der Bibliothek –, doch da die Abschlußklausuren und das Examen näher rückten und Proks Projekt (von seinem Garten ganz zu schweigen) viel Zeit beanspruchte, entwickelte unsere Beziehung sich etwas sprunghaft und holprig. Bei der Arbeit im Freien trugen Prok und ich inzwischen nur noch das Nötigste, und bald waren wir so braungebrannt, daß man uns für italienische Landarbeiter hätte halten können. Prok war kein Nudist, jedenfalls nicht offiziell (er war ein viel zu unabhängiger Geist, um sich irgendeiner Gruppe oder Bewegung anzuschließen), doch er lief oft nackt herum, oder jedenfalls so leicht bekleidet, wie es die Umstände zuließen, denn seiner Meinung nach war Nacktheit bei unserer Spezies ein Ausdruck äußerster Entspanntheit und Natürlichkeit – dieselben Kräfte sozialer Kontrolle, die bestimmte sexuelle Handlungen sanktioniert hatten, bestanden darauf, daß man Kleider trug, wogegen viele Gesellschaften außerhalb des jüdisch-christlichen Kulturkreises sehr gut ohne oder mit nur sehr wenig Kleidung auskamen. »Die Trobriand-Insulaner zum Beispiel, Milk, denk bloß an die Trobriand-Insulaner. Oder die Samoer.« Um den Nachbarn oder irgendwelchen uniformierten Passanten seinen Standpunkt zu verdeutlichen, reduzierte Prok seine Gartenkleidung schließlich auf eine Art hautfarbenes Suspensorium und den rechten Schuh, den er beim Umgraben brauchte. Selbstverständlich tat ich es ihm nach, denn das wurde von mir erwartet, und ich tat immer, was man von mir erwartete. (Es war lediglich ein Ausdruck meiner Loyalität, eines Ethos, das in meiner Erziehung und Ausbildung sehr wichtig gewesen war und wohl einen Teil meines Wesens ausmachte, doch Iris konnte in späteren Jahren bei diesem Thema sehr ausfallend werden.)
Was als nächstes geschah – es war kurz vor dem Abschlußexamen im Juni –, überraschte mich selbst, und dabei war ich der Urheber. All diese Gespräche über Sex und darüber, wie unkompliziert und natürlich er eigentlich war und sein sollte und sein könnte, wenn nur die Gesellschaft ihre Verbote lockern würde, ließen mich über meine Situation nachdenken und über die Möglichkeiten der Triebbefriedigung (Proks Ausdruck), die mir zur Verfügung standen. Ich war jung und gesund, und die Arbeit, die Sonne und der Geruch, die Textur der Erde hatten mich zum Bersten mit Verlangen erfüllt. Ich war so scharf wie noch nie, ich war frustriert und wütend. Ich wollte Iris, ich wollte Laura Feeney, ich wollte irgendeine Frau, doch ich wußte nicht, wie ich es anfangen sollte. Zugleich hatten Prok und ich unsere Begegnungen (wie er diesen Euphemismus gehaßt hätte – Sex, wir hatten Sex), dabei war meine H-Geschichte, wie gesagt, sehr begrenzt, und daß ich auf der Skala von 0 bis 6 eine 1 oder bestenfalls eine 2 war, zeigt, wie wenig mir an dieser Art von Sex lag. Daher machte ich mich, zögernd wie immer, daran, das Thema heterosexuelle Beziehungen anzuschneiden. Aber ich will etwas weiter ausholen, denn ich erinnere mich deutlich an jenen Tag und muß die Umstände schildern.
Es war Sonntag, und wir hatten früh mit der Gartenarbeit begonnen. In der Ferne läuteten Glocken, Kirchgänger spazierten vorbei, die Luft war warm und schwer, und über den Hügeln lag die Verheißung eines spätnachmittäglichen Regenschauers. Der Garten war geöffnet: Jeden Sonntag stellte Prok ein handgeschriebenes Schild auf, das die Passanten einlud, den Garten zu besichtigen und sich anzuhören, was Prok über die Arten der Blumen und Gewächse zu sagen hatte, über ihre Klassifizierung, ihre nahen Verwandten und ihre Vorlieben im Hinblick auf Erde, Licht und Feuchtigkeit. Er liebte es über alles, mit seinen gärtnerischen Leistungen zu prahlen, und das wiederum entsprang hauptsächlich seinem ausgeprägten Konkurrenzdenken (keine anderen Lilien kamen auch nur annähernd den seinen gleich). Wir knieten auf allen vieren in einem der Vorgartenbeete und arbeiteten an einem dichten Büschel Taglilien, als Prok aufsah und sagte: »Sieh mal, ist das nicht Dean Hoenig? Und wer ist das da neben ihr? Ich könnte wetten ... Ja, ich wette, das ist ihre Mutter, die den ganzen weiten Weg von Cleveland gekommen ist, um sie zu besuchen. Hat nicht irgendwer gesagt, ihre Mutter wolle zu Besuch kommen?«
Prok erhob sich auf die Knie, ein schmales Lächeln um die Lippen. Ich sah die Dekanin der Studentinnen vorbeikommen, zum Kirch- gang gekleidet und angeregt mit einer gebeugt gehenden älteren Dame plaudernd, die ein offenes Gesicht hatte und einen Hut trug, der wie ein gestürzter Hochzeitskuchen aussah. Ich hatte gehört, daß die Dekanin kürzlich in Proks Nachbarschaft gezogen war, doch darüber hinaus wußte ich nichts über das Professorenkollegium und konnte seine Frage nicht beantworten. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich hab nichts gehört.«
Sein Lächeln wurde breiter. Er beobachtete die beiden, wie ein Raubtier seine Beute beobachtet, und mir war klar, daß sie keine Chance hatten. Die alte Dame ging so langsam, daß sie beinahe nicht vorankam. »Da fällt mir ein«, sagte Prok mit einem subversiven Frohlocken, »daß der Garten geöffnet ist.«
Ich erwiderte das Lächeln nicht. Mit der Dekanin wollte ich nichts zu tun haben. Ich stand zwar unter Proks Schutz, aber jedesmal, wenn ich sie sah, sank ich innerlich in mich zusammen: schuldig, schuldig im Sinne der Anklage – und die Ironie dabei war, daß ich trotz des ganzen Theaters nie mehr als diesen einen Kuß von Laura Feeney bekommen hatte.
Prok fing sie am Gartentor ab. »Dean Hoenig, Sarah!« rief er und sprang in Suspensorium und schlappendem rechten Schuh auf den Bürgersteig. Die Dekanin sah ihn verwirrt an, und ihre Mutter, die mit Absätzen kaum größer als eins fünfzig war, zuckte sichtlich zusammen. Aber Prok ließ sich nicht beirren. Er war der gewandteste, höflichste, vollendetste Gentleman in ganz Indiana. Er hatte zufällig die Damen vorbeigehen sehen – »Auf dem Heimweg vom Gottesdienst, wie ich vermute« – und verspürte den Wunsch, ihr Herz für die Schönheiten seines Gartens zu öffnen und ihnen die seltene Ehre einer persönlichen Führung zuteil werden zu lassen. »Und wer ist Ihre charmante Begleiterin?« erkundigte er sich und wandte sich mit einer Verbeugung zu der alten Dame. »Ihre Mutter, nehme ich an?«
Die Dekanin war stämmig, großbusig und streng wie ein Kompaniefeldwebel. Sie war es gewohnt, Anweisungen zu geben, die Studentinnen zu beaufsichtigen und die Wohnheime mit eiserner Hand zu regieren, aber diese Situation war ihr bereits jetzt offensichtlich über den Kopf gewachsen. »Ja, das ist meine Mutter, Leonora. Mutter, das ist Professor Kinsey vom Lehrstuhl für Zoologie.«
Prok ergriff die Hand der alten Dame und drückte sie. Auf seiner Brust glänzte Schweiß, die Muskeln und Adern seiner Arme zeichneten sich infolge der harten Arbeit deutlich ab, und auf seinem Bauch sprossen blaßblonde ergrauende Haare. Neben der alten Frau ragte er auf wie ein Vorzeitmensch, ganz Fleisch und Präsenz, doch aus seinem Mund kam die Sprache reinster Höflichkeit und Kultiviertheit. »Ich habe gehört, Sie leben in Cleveland?«
Die Augen der alten Dame lagen tief in den Höhlen. Sie konnte kaum eine bejahende Antwort krächzen.
»Ein Juwel von einer Stadt«, sagte Prok und kratzte sich in den Achselhaaren des linken Arms. »Ein erstklassiges Museum. Absolut. Ganz zu schweigen vom Symphonieorchester. Das sind Dinge, um die ich Sie wirklich beneide, Mrs. Hoenig. Aber bitte, lassen Sie uns nicht auf der Straße stehen – kommen Sie doch herein, und ich zeige Ihnen meine Freude und meinen Stolz. Sie mögen doch Lilien?«
Die Mutter der Dekanin nickte stumpf und warf ihrer Tochter einen hilflosen Blick zu. Dean Hoenig setzte ihr schmallippiges Lächeln auf, und das war kein freundliches Lächeln, nein, ganz und gar nicht. »Ich fürchte, wir müssen weiter, Professor Kinsey, aber es war sehr nett von Ihnen, uns –«
Prok unterbrach sie. »Seien Sie nicht albern«, sagte er, nahm den Arm der alten Dame und steuerte mit ihr auf das Gartentor zu, »das macht überhaupt keine Mühe – im Gegenteil, es macht mir Freude, und wie oft bekommt Ihre Mutter schon ein solches botanisches Wunder zu sehen, und das auch noch in voller Blüte? Finden Sie nicht auch, Mrs. Hoenig?«
Die Mutter der Dekanin hatte keine Gelegenheit, ihrer Meinung Ausdruck zu geben, denn dies war der Augenblick, da sie meine fast nackte Gestalt vor den Hydrogeas erblickte. (Prok hatte mir einen Vortrag über meine, wie er fand, übertriebene Schamhaftigkeit gehalten, und ich war nach und nach zu dem Schluß gekommen, daß er recht hatte. Obgleich meine Gartenkleidung normalerweise nicht so minimalistisch wie seine war, trug ich an diesem Tag nichts weiter als einen braunen Lendenschurz, den er für mich angefertigt hatte, und erdverschmierte Tennisschuhe ohne Socken.) Sie fuhr zurück, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen, aber Prok hielt ihren Arm und führte sie den Weg entlang zu mir. Die Dekanin stapfte mißmutig hinterdrein. »Mrs. Hoenig«, sagte er, »darf ich Ihnen meinen Assistenten John Milk vorstellen? Milk, das ist Mrs. Hoenig. Die Dekanin kennst du ja wohl ...«
Als ich die Hand der alten Dame nahm und sanft schüttelte, spürte ich, daß die Dekanin mich mit Blicken durchbohrte. Sie war auf fremdem Territorium und bereits besiegt: Sie würde sich mit ihrer Mutter den Garten ansehen und Proks pausenlosen Monolog anhören müssen, und dabei würde sie etwas über den natürlichen Zustand des Menschen erfahren, ob sie nun wollte oder nicht, aber sie konnte nicht anders, sie mußte mich einfach aufs Korn nehmen. »Ja, natürlich, vom Eheseminar«, sagte sie. »Aber Sie warten mit der Hochzeit wohl noch bis nach dem Examen, nicht wahr, John?«
Ich lernte. Von Prok. Vom Meister persönlich. Und ich zuckte nicht zusammen, ich schlug nicht die Augen nieder, mein Gesicht verriet nichts. »Eigentlich nicht«, sagte ich. »Ich meine, wohl nicht.«
Die alte Dame stieß einen Ausruf der Begeisterung über die Iris aus, eine Art langgezogenes, mattes Gurren, und Prok war entzückt und ermunterte sie, näher zu treten, doch bevor die Dekanin mir noch weiter zusetzen konnte, sah er über die Schulter zurück und sagte: »Er hat eine andere kennengelernt, stimmt’s, Milk?«
Was blieb mir anderes übrig, als zu nicken?
Als die beiden Frauen, mit Schnittblumen beladen, gegangen wa- ren, beendeten wir die unterbrochene Arbeit und verbrachten dann eine gute Stunde mit Spitzhacke und Schaufel im hinteren Garten. (Prok legte damals den Lilienteich an, und es war harte Arbeit, die Steine auszugraben und die ausgehobene Erde zu verteilen.) Kurz nach Mittag kam Mac mit Sandwiches und Limonade; wir drei setzten uns auf die Erde, betrachteten die Umrisse des Lochs und redeten. Sie war barfuß und hatte die khakifarbene Bluse und Shorts an, die sie auch als Betreuerin und Zugführerin der Pfadfinderinnen trug. Ich bemerkte, daß sie ihr Haar links gescheitelt und über dem rechten Ohr mit einer Spange festgesteckt hatte, so daß es ihre Stirn fast bis zu den Brauen bedeckte. Ich weiß nicht, woran es lag, aber an jenem Nachmittag war sie fröhlicher und ausgelassener, als ich sie je erlebt hatte. Sie zog die Beine an und wiegte sich beim Essen hin und her, sie unterbrach Proks Monologe hier und da mit Einwürfen, und obwohl sie damals Anfang Vierzig war, erschien sie mir mädchenhaft und unbekümmert und ganz und gar nicht so, wie man sich eine Hausfrau und Mutter vorstellt.
Worüber sprachen wir bei diesem Mittagessen? Ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich über den Teich, über Tiefe und Durchmesser, über die Gewächse, die Prok dort pflanzen wollte: herzblättrige Pontederien, Iris natürlich, die dann mit den Füßen im Wasser stehen würden, und wie wär’s mit Sarracenia purpurea in der Übergangszone? Ich ertappte mich dabei, daß ich verstohlen Macs Beine musterte, ihre Knöchel, die Linie, wo ihre braungebrannten Oberschenkel in den Shorts verschwanden. Das war wohl der Auslöser, das war es, was mir den Mut gab, etwas zu tun, wozu ich vor wenigen Wochen noch nicht imstande gewesen wäre. Meine Bildung machte, wie gesagt, rasche Fortschritte. Also: Mac sammelte die Teller ein, und Prok und ich sahen ihr nach, als sie über den Rasen zum Hintereingang schlenderte und im Haus verschwand. »Prok, ich hoffe, du ... na ja, du verstehst das jetzt nicht falsch«, begann ich, »aber ich hab über das nachgedacht, worüber wir gestern gesprochen haben, ich meine, im Hinblick auf meine Bedürfnisse und meine Erfahrungen. Über mein Bedürfnis nach Triebbefriedigung mit einem weiblichen Partner.«
Er konnte es kaum erwarten, wieder an die Arbeit zu gehen. »Ja«, sagte er, »ja, was ist damit?«
»Tja, also, ich wollte dich fragen, wie es wäre, wenn Mac ...«
Er sah mich verwirrt an. »Mac?«
»Ja«, sagte ich und sah ihm, gelehriger Schüler, der ich war, direkt in die Augen. »Mac.«
Er brauchte einen Augenblick. »Du meinst, du willst ... mit Mac?«

Man kann über ihn sagen, was man will – und wie es scheint, hat jeder eine Meinung über ihn –, aber Prok war kein Heuchler. Er predigte die sexuelle Befreiung des Mannes und der Frau, und er lebte, was er predigte. Auf seinen Lippen erschien ein leichtes Lächeln, und seine Augen funkelten vor Vergnügen, als hätte er einen guten Witz gemacht, und dann legte er die Schaufel hin und sagte, er werde meinen Vorschlag am Abend seiner Frau unterbreiten, und wenn sie einverstanden sei, hätte ich seinen Segen.

Mac war, wie sich zeigte, nicht weniger überrascht als ihr Mann, überrascht, aber auch geschmeichelt, und als ich am nächsten Wochenende zur Arbeit im Garten erschien, stellte ich fest, daß sie allein im Haus war. Ich stand knietief in dem Krater, den Prok und ich ausgehoben hatten, und fragte mich, wo er war – hatte er etwa verschlafen? (Einfach unmöglich, selbst als sein Herz ihm mit Ende Fünfzig zu schaffen machte, schlief er nie länger als vier oder fünf Stunden pro Nacht.) Mit einem Mal hörte ich das Rascheln nackter Füße im Gras, und Mac stand vor mir, ein sanftes, schüchternes Lächeln auf den Lippen. »Hallo, John«, sagte sie, ihre Augen schimmerten, und in ihrer Stimme war dieses gaumige Etwas. »Ich wollte nur sagen, daß Prok mit den Kindern zum Lake Monroe gefahren ist. Sie wollen ein bißchen wandern und Gallen sammeln und werden erst heute abend zurückkommen. Er hat gesagt ...«

Ich hatte das Gefühl, als wären meine Herzklappen verengt. Das Atmen fiel mir schwer. Das Sonnenlicht war zu etwas Stofflichem geworden, eine Last auf meinen Schultern, die ich kaum zu tragen vermochte. Ich glaubte, das Bewußtsein zu verlieren, und vielleicht verlor ich es tatsächlich, nur für einen Augenblick; ich stand schwankend da, und unter mir drehte sich die Erde.

»Er hat gesagt, du brauchst heute nicht zu arbeiten. Nicht, wenn du nicht willst.«
Auch hier will ich offen sein. Wenn Prok mich irgend etwas gelehrt hat, dann das. Euphemismen sind die Zuflucht der Unechten, der Zaghaften und Verklemmten. Ich verwende keine Euphemismen und glaube, daß klare Worte die besten Worte sind. Oder deutliche Worte. Schlicht gesagt: Ich war von Mac berauscht. Sie würde die erste sein, die Frau, die mich aus meiner Jungfernschaft erlöste, oder, um es auf die gröbste Weise zu sagen, nur damit es endlich gesagt ist, um es mit den Worten auszudrücken, die die aus der Unterschicht stammenden Befragten in zahllosen Interviews gebraucht haben, in der Umgangssprache also, die die Dinge oft genauer auf den Punkt bringt als die erhabenste Umschreibung: Sie würde mein erster Fick sein. So, jetzt ist es heraus. Und wenn sich alles wieder etwas beruhigt hat und Iris das hier hört oder es für das Buch niederschreibt – und ein Buch soll es ja werden –, so habe ich nichts zu verbergen. Sie kennt meine Geschichte. Sie kennt sie von Anfang an, so wie ich ihre kenne.

Doch an jenem Junitag im Garten – die Blumen ein Aufruhr von Farben, die Luft so sanft und wohltuend wie ein Duftbad, hinter uns das Lebkuchenhaus, wir selbst durch die betäubende Stille des Morgens abgeschirmt von der Welt – streckte Mac die Hand nach mir aus, und ich ergriff sie. Sie sagte kein Wort. Sie zog mich ein wenig, um mir zu zeigen, was sie wollte, und ich stieg aus der Grube und ließ mich von ihr zu einer Stelle weiter hinten im Garten führen, wo wir durch Bäume vor Blicken geschützt waren. Eine Decke war auf dem Gras ausgebreitet, und dieser Anblick ließ mich innerlich jubeln. Sie hatte alles geplant, sie dachte an mich, sie begehrte mich, und hier war der Beweis.

»Da«, sagte sie, »setz dich.« Ich gehorchte, und mein Atem ging schnell und flach, als sie vor mir stand, ihre Bluse aufknöpfte, die Shorts abstreifte und mit einer langsamen, eleganten Bewegung neben mir niederkniete und ihre Hände über meine Brust und meinen Bauch flattern ließ, wobei sie mit leichtem, beruhigendem Druck über meine angespannten Schultern und Oberarme strich, bis ich mich erst auf die Ellbogen stützte und schließlich auf dem Rücken lag und spürte, daß sie sich an der Schnur des Lendenschurzes zu schaffen machte. Der Augenblick schien kein Ende zu nehmen, und dann fiel das Tuch, und sie packte mich an dem einzigen Teil meines Körpers, der von Bedeutung war. Ich wußte, was ich tat. Ich hatte die Dias gesehen, die Geschichten transkribiert. Und ich hatte an Professor Keatings Seminar über klassische Literatur teilgenommen und König

Ödipus und Ödipus auf Kolonosgelesen und wußte, daß Prok der alte König war und ich der Sohn und Mac die Mutter. Ich tat es offenen Auges. Ich war kein Opfer. Und das hier war Sex – nicht Liebe, sondern Sex –, und es fiel mir so leicht, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan.

5

Am folgenden Samstag war die Abschlußfeier.
Meine Mutter – später mehr von ihr – machte sich mit Tommy McAuliffe und meiner Tante Marjorie in Tommys Dodge auf den weiten Weg von Michigan City. (Wir hatten nie einen Wagen besessen, denn das war laut meiner Mutter ein Luxus, den wir uns nicht leisten konnten, und daher lernte ich erst fahren, als Prok es mir später in jenem Sommer beibrachte.) Das war im Juni 1940, und die Ereignisse in Europa – die Evakuierung bei Dünkirchen, die bevorstehende Kapitulation Frankreichs – überschatteten eine Abschlußfeier, die bestimmt die trübseligste in der Geschichte der Universität von Indiana war. Alle waren beunruhigt, nicht nur die Absolventen, die nun hinaus in die Welt gingen. Es war so gut wie sicher, daß die allgemeine Wehrpflicht eingeführt werden würde, und davon wären alle Studenten im Grundstudium betroffen.

Aber ich hatte meinen Abschluß gemacht, immerhin magna cum laude, und meine Mutter war – Hitler hin oder her – entschlossen, es würdig zu feiern. Um den anderen vielleicht nicht so schlauen oder weitblickenden Eltern zuvorzukommen, hatte sie ein ganzes Jahr im voraus zwei Zimmer für sich und meine Tante reserviert. Tommy würde auf einem Feldbett in dem Zimmer schlafen, das ich mir mit Paul Sehorn teilte. Das alles war bis in die Einzelheiten mit Mrs. Lorber besprochen. Nun zu meiner Mutter. Ich habe das Gefühl, daß ich hier auf sie eingehen muß, auch wenn man sagen könnte, daß sie wohl kaum eine zentrale Rolle in Proks Geschichte spielt, und dennoch finde ich es schwierig, über sie zu sprechen. (Sie lebt, es geht ihr gut, und jetzt, während ich dies schreibe, ist sie noch keine sechzig und arbeitet als Grundschullehrerin in Michigan City.) Sie hatte – hat – einen Charakter, der durch die Umstände geformt wurde, und damit meine ich vor allem die Tatsache, daß sie sich selbst und ihren Sohn in der Zeit der großen Wirtschaftskrise ganz allein durchbringen mußte, weil sie mit dreißig Witwe geworden war und ihre Eltern beinahe tausend Meilen entfernt wohnten und weder imstande noch willens waren, ihr zu helfen. Sie war genügsam und akkurat, tüchtig und berechenbar wie eine Maschine, und nichts, was irgend jemand je getan hatte oder noch tun würde, konnte vor ihren Augen Gnade finden. Das klingt streng, und dabei will ich gar nicht streng sein: Sie hat mich genährt und gekleidet und mir Möglichkeiten geboten, und wenn ihr emotionales Ich nach dem Verschwinden meines Vaters ebenfalls verschwunden ist, so steht es mir nicht zu, ihr daraus einen Vorwurf zu machen. Ebensowenig wie es anderen zusteht. Sie nahm ihren Kummer in sich auf, sie saugte ihn auf wie ein Schwamm, und dann verhärtete sie sich, bis sie erstarrt war. Aber auch das wird ihr nicht gerecht. Sie ist meine Mutter, und ich liebe sie bedingungslos, wie jeder Sohn seine Mutter liebt. Das versteht sich von selbst. Vielleicht besser eine Beschreibung ihres Äußeren, vielleicht sollte ich mich darauf beschränken.

Meine Mutter war überdurchschnittlich groß – eins siebzig –, und auf der Highschool hatte sie Basketball gespielt und Wandern, Schwimmen und Klatschgeschichten geliebt. Sie war holländischer Abstammung – ihr Mädchenname war van der Post –, und ihr rotbraunes naturgelocktes Haar färbte sich im Sommer an den Spitzen golden. Sie hatte eine spektakuläre Figur (das ist ein rückblickendes Urteil und beruht nicht so sehr auf eigener Beobachtung – man sieht die eigene Mutter nicht unter diesem Aspekt – als vielmehr auf der Tatsache, daß sie stolz darauf war und immer wieder erwähnte, Soundso habe ihr ein Kompliment über ihre Beine gemacht oder gesagt, im Pullover sehe sie wie ein Fotomodell aus und sie solle sich doch in Hollywood bewerben), aber wenn sie nach dem Tod meines Vaters irgendwelche Triebbefriedigungen hatte, so verbarg sie diese sorgfältig vor mir, und ich würde dieses Thema hier auch nicht anschneiden, wenn nicht die Sache zwischen Prok und ihr passiert wäre. Und aus Gründen der Vollständigkeit natürlich.

Jedenfalls sah ich an jenem Freitagnachmittag aus dem Fenster, als Tommys Dodge blitzend am Bordstein hielt und Mutter und Tante Marjorie ausstiegen und sich umsahen, als wären sie nicht in Bloomington, Indiana, gelandet, sondern am Amazonas. Sie rückten ihre Hüte zurecht, bevor sie die Eingangstreppe der Pension hinaufgingen. Ich hätte sie an der Tür begrüßen können, doch ich zögerte und weiß nicht mal, warum. Es war ein Tag des Feierns und der Freude – endlich würde ich mal ein bißchen verwöhnt werden; es würde bestimmt ein gutes Abendessen geben, Austern, mit Blauschimmelkäse gefüllte Selleriestangen, ein medium gebratenes Steak auf makellosen Tellern und einer Leinendecke, so weiß, als wäre sie am Morgen erst gewebt worden –, aber ich stand einfach am Fenster und setzte mich erst in Bewegung, als ich ihre Stimme in der Eingangshalle hörte. Ich weiß nicht mehr, was sie sagte – zweifellos begrüßte sie Mrs. Lorber und machte irgendeine tadelnde Bemerkung über den Zustand der Straßen, Tommys Fahrstil oder das Wetter: War es nicht furchtbar heiß? –, aber der Klang ihrer Stimme zog mich, und ich ging hinunter in ihre kalte Umarmung, der gehorsame Sohn, John, ihr Junge.

Die drei Frauen standen in der Eingangshalle, leicht der Treppe zugewandt, als posierten sie für ein Gruppenbild, das An einem Tag stiller Freude in Erwartung seiner Schritte heißen konnte oder Wer macht alles gut?. »Mutter«, sagte ich und ging, immer eine Stufe nach der anderen, gemessenen Schrittes die Treppe hinunter, ohne unreifes Gehüpfe und Gespringe, »willkommen. Und Tante Marjorie. Wie schön, daß ihr da seid. Habt ihr euch schon mit Mrs. Lorber bekannt gemacht?«

Meine Mutter umarmte mich steif und förmlich, doch ihre Augen verrieten, wie stolz sie auf mich war, wie sehr sie sich über mich freute. Sie wollte etwas in dieser Richtung sagen, jedenfalls dachte ich das, als Tommy die Eingangstreppe heraufgestürmt kam, die Tür aufriß und mich in seine Arme schloß. »Hallo, Professor!« rief er und wirbelte mich herum, als wäre ich ein überdimensionales Paket, das er bei einer Tombola verlosen wollte. »Du weißt doch: Es hat keinen Wert, wenn man nichts davon hört!« Alle lächelten, als wäre er soeben verrückt geworden. Und das war er ja auch. Als wir kurz darauf allein in meinem Zimmer waren, zeigte er mir die Ursache seines zeitweiligen Irreseins: einen Flachmann mit Whiskey, sehr praktisch, für die Innentasche eines Sportjacketts. Er reichte ihn mir, und ich trank automatisch einen großen, brennenden Schluck, doch als ich Tommy den Flachmann zurückgeben wollte, winkte er ab. »Sieh dir die Gravur an«, sagte er und sank auf Pauls Bett zusammen, als könnte er sich nicht mehr aufrecht halten.

Tatsächlich, dort stand in feinen Buchstaben J. A. M. für John Anthony Milk. »Das sind ja meine Initialen«, sagte ich wie ein Idiot.
Tommy betrachtete mich aus Augen, die am Ende zweier langer Tunnel zu liegen schienen. Er hatte stundenlang meiner Mutter und meiner Tante zuhören müssen, und wer konnte ihm einen Vorwurf machen, wenn er nicht mehr ganz nüchtern war? »Genau«, sagte er.
Beim Abendessen waren wir zu fünft: meine Mutter, meine Tante, Tommy, Iris und ich. Das Restaurant war im Erdgeschoß eines Hotels in der Innenstadt (nicht das Hotel, in dem die beiden abgestiegen waren und das sehr viel bescheidener war). Es stand in dem Ruf, das beste in Bloomington zu sein, jedenfalls in jener verschlafenen, provinziellen Vorkriegszeit. Topfpalmen schirmten die Tische gegeneinander ab, der Oberkellner trug seine beste Imitation eines Smokings und hatte es geschafft, seine Haare derart anzuklatschen, daß sie wie eine schwarze Badekappe mit Scheitel wirkten, und auf der Speisekarte standen Zwiebelsuppe au gratin, gegrillte Kalbskoteletts, Weißfisch und natürlich Rindfleisch in allen Variationen. Wir begannen mit Krabbencocktails, bei denen die Krabben hübsch auf Halbkugeln aus Eis drapiert waren, und Tommy und ich bestellten Bier, während die Damen Gin-Fizz tranken. Ich fühlte mich beschwingt. Ich stand nicht nur im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, nein, diese Feier fand zu meinen Ehren statt, und weil ich jetzt ein Erwachsener war, ein Universitätsabsolvent, der aus eigener Kraft etwas erreicht hatte, gab es hier keine Beschränkungen wie bei den Geburtstagsfeiern, die meine Mutter für mich veranstaltet hatte, bis ich schließlich auf die Universität gegangen war. Aber der Flachmann war auch nicht ganz unschuldig; sein Inhalt hatte erheblich zu meinem Hochgefühl beigetragen. War ich beschwipst? Ich weiß nicht. Doch ich sah die Dinge in einer Art blendender Klarheit, als wäre alles plötzlich hell erleuchtet, als hätte ich mein Leben bisher in einer zweidimensionalen Welt verbracht, in einem Schwarzweißfilm, und als wäre unvermittelt eine dritte Dimension hinzugekommen. Und alles in Technicolor. Iris zum Beispiel.
Sie saß mir gegenüber, in einem schulterfreien Organdykleid – es war blau, ein sanftes, kühles Hellblau, mit einem dazu passenden Hütchen, das auf dem weich fallenden Schatten ihrer Haare thronte –, und ich sah, daß sie die Augenbrauen gezupft und nachgezogen hatte, so daß sie zwei vollkommene Bogen bildeten, die den Weg zu ihren Augen wiesen. Bis dahin hatten wir nicht viel miteinander gesprochen; sie war von meiner Mutter und meiner Tante in Anspruch genommen, während Tommy und ich Erinnerungen an alte Zeiten austauschten, mit Gekicher, kleinen Schlägen auf den Oberarm und dem ganzen Sortiment spätpubertärer Verhaltensweisen, die uns noch immer in der Adoleszenz festhielten, auch wenn wir empört gewesen wären, wenn uns irgend jemand nicht wie erwachsene Männer behandelt hätte. Meine Mutter sagte: »Wir müssen eingreifen. Wir haben gar keine andere Wahl. Gott behüte, daß mein Sohn eingezogen wird – ich brauche Ihnen ja wohl nicht zu sagen, daß er das einzige ist, was mir auf dieser Welt geblieben ist –, aber wir können es uns nicht leisten, uns vom Rest der Menschheit abzusondern, nein, das können wir uns nicht mehr leisten.«
»Das ist das, was wir glauben sollen«, erwiderte Iris und legte die Gabel hin. Sie hatte Fisch bestellt, und an den Gabelzinken schimmerten weiße Stücke davon vor dem Hintergrund der goldgelben Sauce auf ihrem Teller. »Warum sollten wir uns da hineinziehen lassen? Entschuldigung, ich weiß, daß Holland besetzt worden ist – aber so was passiert schließlich nicht zum ersten Mal. Es gibt doch andauernd irgendwelche Kriege.«
Tommy war mitten in einer Geschichte über einen Streich, den er nach einem Footballmatch der gegnerischen Mannschaft gespielt hatte, und dachte irrtümlich, ich sei dabeigewesen, aber er war so eingetaucht in diese Erinnerung, daß ich ihn nicht korrigieren wollte. Nun hielt er inne und blickte seine Schwester an, als traute er seinen Ohren nicht. »Jetzt komm aber, Iris, willst du mich auf den Arm nehmen? Frankreich ist in ein, höchstens zwei Wochen am Ende, und dann kann Hitler England bombardieren, bis alles in Schutt und Asche liegt. Und glaubst du wirklich, er wird sich damit zufriedengeben? Glaubst du, er schickt Roosevelt eine Schachtel Pralinen und ein Briefchen: ›Nichts für ungut‹?«
»Genau«, sagte meine Mutter und reckte das Kinn. »Es wird vielleicht Jahre dauern, bis er hier ist, vielleicht auch ein Jahrzehnt, wer weiß? Aber die Welt ist kleiner, als Sie denken, Iris, und niemand kann sicher sein, solange es diesen Verrückten gibt. Haben Sie ihn letzte Woche in der Wochenschau gesehen? Dieser Stechschritt! Macht Sie dieser Stechschritt nicht auch krank?«
»Sie verstehen nicht. Das ist nicht unser Krieg«, sagte Iris. »Er hat nichts mit uns zu tun. Warum sollten unsere Jungs für irgendein morsches Kolonialreich sterben, für ... für ... John«, sagte sie und wandte sich an mich, »was meinst du?«
Ich meinte, daß die Feierstimmung zu wünschen übrig ließ. Ich meinte, daß Iris die hübscheste Frau war, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Ihre Augen funkelten vor Empörung, die Lippen waren gespitzt, der Weißfisch harrte seines Schicksals. Ich versuchte ein Grinsen. »Ich weiß nicht«, murmelte ich. »Ich persönlich? Ich will nicht sterben.«
Ich wollte die Stimmung ein bißchen heben, dem Gespräch eine andere Wendung geben und den stolzierenden Diktator von der festlichen Tafel vertreiben, doch niemand lachte. Sie sahen mich bloß an – sogar Tante Marjorie, die sanfteste Person, die ich kenne –, als hätte ich soeben gestanden, ich sei ein Betrüger, ein Kinderschänder oder Mörder. Krieg. Der Krieg hatte uns im Griff und ließ sich nicht abschütteln.
Iris kam mir zu Hilfe. Sie hatte die Gabel in den Mund geschoben und kaute auf einem Bissen Fisch und einem winzigen Stück grüne Bohne herum. »Das ist genau das, was ich meine«, sagte sie, noch immer kauend. »Ich will auch nicht sterben. Keiner will sterben.«
Meine Mutter winkte ab. »Sie sind noch zu jung. Sie verstehen das nicht. Das ist ein größeres Thema, es steht in einem größeren Zusammenhang –«
»Hey«, sagte Tommy, als wäre er soeben aus einem Nickerchen erwacht, »will noch einer ein Bier oder einen Cocktail?«
Wir begleiteten meine Mutter und meine Tante zu ihrem Hotel, gingen zu dritt noch etwas trinken und brachten Iris kurz vor der Sperrstunde ins Wohnheim. Im Aufenthaltsraum saßen etwa zehn Paare, die einander in die Augen sahen. Eine der Studentinnen hatte auf dem beigen, beinahe weißen Rock einen verräterischen Grasfleck, einen leuchtendgrünen Streifen, und ein Student, der mir entfernt bekannt vorkam, saß mit seiner Freundin auf dem Sofa und schmiegte sich so fest an sie, daß es aussah, als wären die beiden miteinander verklebt. Ihre Füße aber standen, wie es die Regeln verlangten, auf dem Boden. Die Rezeptionistin – die Blondine mit dem schlaffen Haar – war in ein Buch vertieft.
Tommys Tempo hatte sich im Lauf des Abends erheblich verringert, und als wir nun am Empfang vorbei- und quer durch den Aufenthaltsraum zur hinteren Wand gingen, wo wir einigermaßen ungestört waren, glich sein Gang mehr einem Taumeln. Iris hatte sich bei mir untergehackt. Wir lehnten uns an die Wand, und Tommy versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden. Zweimal ließ er die Zigarette fallen, einmal die Streichhölzer. »Hört mal«, sagte er, richtete sich auf und blickte sich um, als hätte er noch nie einen Raum voller knutschender Studentinnen und Studenten gesehen, »ich muß hier raus. Es ist wahnsinnig warm hier drinnen, findet ihr nicht? Ich schau mal, ob’s hier irgendwo ein Klo gibt.«
Wir sahen zu, wie er abwechselnd den einen und den anderen Fuß vom Teppich hob und sich dabei bewegte, als hätte sich der Boden in ein Trampolin verwandelt, und dann war er zur Tür hinaus, und mit der Nachtluft trieb ein Hauch von Blütenduft herein. »Der gute alte Tommy«, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. »Er muß ein toller Bruder sein. Du hast wirklich Glück, weißt du das ?«
Iris war still geworden und lehnte mit dem Rücken an der Wand, die Schultern hochgezogen, als wäre ihr kalt. Sie musterte mich. Die Arme – schöne Arme, entzückende Arme, die bezauberndsten, vollkommensten Arme, die ich mir vorstellen konnte – hatte sie vor der Brust verschränkt, doch nun ließ sie sie sinken, als als wollte sie sich für mich öffnen. Wir hatten uns schon zuvor hier geküßt, genau an dieser Stelle, wo man uns vom Empfang aus nicht sehen konnte, doch diese Küsse waren zurückhaltend und gesittet gewesen, oder vielmehr so gesittet, wie man es erwarten konnte angesichts der Tatsache, daß wir uns an der schummrigsten Stelle des ganzen Raums an die Wand drückten und unsere Zungen gerade erst begonnen hatten, eine neue Funktion zu entdecken. Iris wollte von Petting oder vorehelichem Sex irgendwelcher Art nichts wissen. Sie war als Katholikin erzogen worden, und das saß ihr immer im Nacken. Das, was man ihr übergestülpt hatte, schränkte sie ein, aber sie war nicht imstande, sich davon zu befreien. »Das macht dir doch nichts aus, oder?« flüsterte sie eines Abends. Ich spürte ihren heißen Atem auf dem Gesicht, ich schmeckte sie auf meinen Lippen. »Nein«, sagte ich, »es macht mir nichts aus.«
Doch jetzt – an diesem Abend, an meinem großen Abend, dem Vorabend der Abschlußfeier und all der damit verbundenen Ungewißheit – umarmte sie mich und drückte sich an mich, so daß ich ihre weichen Brüste spürte. Ihre Stimme war so leise, daß ich sie kaum verstand. »Küß mich«, flüsterte sie.

Die Feier verlief nach Plan, die Reden waren hinreichend inspirierend, das Wetter spielte mit, und als President Wells Hände schüttelte und einem nach dem anderen sein Diplom überreichte, kam aus Richtung Illinois eine leichte Brise auf, die unsere Roben bauschte und an den Frisuren der Frauen zupfte. Danach gab es bei Prok einen Empfang für geladene Gäste – er bestand darauf, er wollte von Einwänden nichts hören, es war das mindeste, was er für einen jungen Mann tun konnte, der ihm eine solche Hilfe war –, und so genossen wir die Blumen, Macs Punsch und Proks Liköre. Meine Mutter verstand sich nicht sonderlich gut mit Mac, was nicht weiter ungewöhnlich war – sie trug ihre Zurückhaltung stets wie eine Rüstung und wurde mit anderen, wenn überhaupt, dann erst beim vierten oder fünften Zusammentreffen warm –, doch hier war noch etwas Tieferes, Komplexeres im Spiel, und wahrscheinlich würde ich in diesem Zusammenhang Freud zitieren, wenn Prok mich nicht so stark gegen ihn eingenommen hätte.

Bei Prok dagegen war es ganz anders: Er schien ihr sofort sympathisch zu sein. Natürlich gab er sich auch die größte Mühe, damit meine Mutter sich wie zu Hause fühlte. Er konzentrierte sich voll auf sie, führte sie durch den Garten und fragte sie nach ihrer Meinung zu den Dahlien oder den Heliotropen oder den Azaleen, die anscheinend einen sehr sauren Boden bevorzugten – hatte sie es mal mit Kaffeesatz probiert? Das Ausbringen von Kaffeesatz war, soweit Prok hatte feststellen können, die einfachste und billigste Methode, um den pH-Wert des Bodens zu verändern. Man mußte natürlich achtgeben, daß es nicht zu einer Chlorose führte, aber die ließ sich durch den Zusatz von Eisenchelat verhindern, das selbstverständlich gut untergearbeitet werden mußte ...

Ich sah, wie sie sich langsam vom Zentrum der Party entfernten. Meine Mutter hielt in einer behandschuhten Hand ein winziges Likörglas, die Sonne schien auf ihre Hutkrone und verwandelte die einzelne lange Feder in ein durchscheinendes Leuchten, und Prok nickte und gestikulierte, während er sie den Weg entlangführte. Er war formell gekleidet und trug, was wir (Corcoran, Rutledge und ich) insgeheim seine Uniform nannten: einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine ordentlich gebundene Fliege mit zweifarbigem geometrischem Muster. Ich bemerkte, daß er ein bißchen angespannt war, weil er seine Arbeit für einen ganzen Tag vernachlässigen mußte, zuerst wegen der Abschlußfeier, an der natürlich der gesamte Lehrkörper teilnehmen mußte, und dann wegen dieser kleinen Zusammenkunft, doch für das ungeschulte Auge war er so ruhig und charmant wie ein Plantagenbesitzer in den Südstaaten, der einen Gast über seinen von Sklaven bewirtschafteten Besitz führt. Die Kinder spielten eine ausgedehnte Partie Krockett, während Iris, Tommy und ich unter einem Baum bei Tante Marjorie und Mac saßen. Mac hatte ihre Schuhe ausgezogen und ging immer wieder ins Haus, um mit einem Tablett voller Kanapees oder den Persimonentörtchen zurückzukehren, die sie mir zu Ehren am Morgen gebacken hatte.

Wir sprachen über alles, nur nicht über den Krieg, denn der Krieg fand irgendwo weit jenseits des Ozeans statt, und dieser Tag gehörte uns – Tommy, Iris und mir –, und es gab keinen Grund, düstere Gedanken zuzulassen. Meine Tante, die nie sehr gesprächig war, es sei denn, sie klatschte mit ihrer Schwägerin, saß mit gekreuzten Beinen in einem Korbstuhl und lächelte wehmütig, vielleicht dachte sie an ihren Mann, der bei Ypern gefallen war. Wenn Mac uns Gesellschaft leistete, sprach sie gewandt über alle möglichen Themen, unter anderem über Pfadfinderinnen, Stricken – hier horchte Tante Marjorie ein wenig auf – und natürlich die Sexforschung. Alles war sehr entspannt.

Als die Kinder ihre Krockettpartie beendeten und der Jubelruf eines Mädchens erklang, stand Iris vom Rasen auf und strich ihr Kleid glatt, als hätte sie seit dem Frühjahr im Gras gelegen. »Kommt, laßt uns auch ein Spiel machen«, sagte sie. »Du und ich und Tommy. Na los.«

Vielleicht zögerte ich (das ist gut möglich, denn infolge ihrer – und Macs – Anwesenheit sowie der goldfarbenen Flüssigkeit in dem mitgeführten Flachmann war mir sehr geruhsam zumute), doch sie ließ keinen Widerspruch gelten.

»Na los«, wiederholte sie. »Oder habt ihr Angst zu verlieren?« Sie trug ein ärmelloses Sommerkleid und reckte sich, brachte die Fersen zusammen und hob den angewinkelten rechten Arm, damit wir ihre Muskeln bewundern konnten. »Die hättet ihr nämlich zu Recht. Ich muß euch leider sagen, daß ich die Krockettkönigin des ganzen Viertels war.«

»Als du neun warst vielleicht«, sagte Tommy. Auch er erhob sich vom Rasen.
Wir spielten eine träge Partie. Die Sonne stand über uns, und Iris machte Jagd auf unsere Kugeln und krockettierte sie in die Blumenbeete, wann immer sich die Gelegenheit bot. Wir lachten schallend und ließen den Flachmann kreisen. Ich glaube, ich war noch nie glücklicher. Nur eines trübte das Bild: der Blick, den Prok uns zugeworfen hatte, als er mit meiner Mutter vom hinteren Teil des Gartens zurückgekehrt war. Sein Gesicht war einen Augenblick lang ganz nackt gewesen, der Mund mißbilligend verkniffen, und ich hatte mich gefragt, welcher Sünde, welcher Übertretung wir uns schuldig gemacht hatten, bis mir eingefallen war: Prok haßte alle Spiele. Spiele waren unproduktiv. Spiele waren eine Zeitverschwendung oder vielmehr ein Zeitvertreib, was auf dasselbe hinauslief. Für Prok besaß nur die Arbeit einen Wert, und er konnte nie verstehen, daß wir (wieder Corcoran, Rutledge und ich) auch nur Augenblicke mit Tätigkeiten verbrachten, die nicht direkt mit dem Projekt zu tun hatten. Wir hatten vielleicht zwölf Stunden lang Sexgeschichten aufgezeichnet und kehrten ins Hotel zurück, um uns zu entspannen, Radio zu hören oder Karten zu spielen, doch Prok bestand darauf, daß wir uns in die Fachliteratur vertieften, damit wir unsere Funktion noch besser erfüllten und die Forschung voranbrachten.
Einmal – ich greife hier acht bis zehn Jahre vor – waren Prok, Corcoran und ich auf Forschungsreise in Florida, um Geschichten zu sammeln. Wir waren den weiten Weg von Indiana dorthin gefahren, damit Prok zu einer Gruppe von Universitäts-Verwaltungsdirektoren sprechen konnte, die in Miami eine Reihe von Seminaren veranstalteten, und wir hatten fünf Tage lang vom Frühstück bis um zehn oder elf Uhr abends Geschichten aufgezeichnet. Am letzten Tag vor unserer Rückfahrt nach Indiana, in den ewigen Winter, waren wir schon um acht Uhr abends fertig, und Corcoran und ich hielten aus einer Laune heraus an einem Minigolfplatz an. Corcoran war ein überaus extravertierter Mensch: fröhlich, verbindlich, immer auf der Suche nach einem sexuellen Abenteuer. An diesem Abend saß er am Steuer, denn Prok, auf dem Beifahrersitz, blätterte, mit einer Taschenlampe fuchtelnd, in den gesammelten Interviews. »He, John«, rief Corcoran, »siehst du das, da vorne links?«
Ich saß auf dem Rücksitz, beugte mich vor und sah, was er meinte. Es war eine glitzernde Spiellandschaft, erleuchtet von bunten Lichtern, die in die Nacht über Florida sickerten, und darüber hing ein Schild: TEETERS MINIGOLF.

»Wie wär’s mit einer Pause und ein bißchen Entspannung?« fragte er und bog bereits von der Straße ab, als Prok zerstreut aufsah.
Corcoran hatte eine antiautoritäre Ader, eine jungenhafte Verspieltheit, die Prok auf eine Art tolerierte, wie er es bei keinem anderen getan hätte, und die in diesem Augenblick etwas in mir weckte. Warum nicht* dachte ich. Warum nicht mal eine Auszeit nehmen, und sei es nur für eine Stunde? »Klar«, sagte ich, »das wäre ... das wäre Klasse! Ich hab noch nie ... Und morgen fahren wir schon wieder zurück ...«
Und bevor Prok Einwände erheben konnte, waren bereits vollendete Tatsachen geschaffen. Der Wagen stand neben dem Kassenhäuschen auf dem mit Kies bestreuten Parkplatz, Corcoran und ich zahlten den Eintritt und suchten uns Schläger aus, und die ganze Zeit raschelten die Palmen in einer Brise, die so warm war wie zu Hause die Heizung. Wir müssen zwei Stunden oder länger gespielt haben. Wir waren unbeschwert und ein bißchen albern, wir fühlten uns wie Jungen, die, bei aller Banalität der Situation, doch stets in Konkurrenz zueinander standen und sich anstrengten, um zu gewinnen, ganz gleich, wie unbedeutend dieser Sieg auch sein mochte. (Ich habe ihn an jenem Abend übrigens geschlagen, wenn auch nur knapp.) Aber Prok. Prok versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber im Grunde war er außer sich. Er konnte es einfach nicht verstehen. Er begriff nicht, warum erwachsene Männer sich wie Halbwüchsige benahmen und kostbare Zeit verschwendeten, die sonst dem Projekt, der Arbeit, der Anhäufung von Wissen und dem Fortschritt der Kultur zugute gekommen wäre. Er ging auf und ab. Er rief uns von der anderen Seite des Zauns. »Corcoran. Milk.« Seine Stimme war ein klägliches Nölen. »Ihr haltet das Projekt auf!«
Doch am Tag der Examensfeier wußte ich noch nichts von Proks kompromißloser Ablehnung dessen, was er als »belangloses Treiben« bezeichnete – jedenfalls war mir das Ausmaß seiner Ablehnung nicht so klar, wie es mir später werden sollte –, und der Blick, den er uns zuwarf, uns, die wir eine harmlose Partie Krockett spielten, gab mir zu denken. Ich versuchte, ihn zu analysieren, ihn zu dechiffrieren. War die Feier vorüber? Hatte meine Mutter etwas zu ihm gesagt – oder er zu ihr –, was das Gesicht des Tages verdüstert hatte? Wußte meine Mutter über das Verhältnis zwischen Prok und mir oder Mac und mir, und hatte sie eine Bemerkung darüber gemacht?
Wie sich herausstellte, traf keine dieser Befürchtungen zu. Prok war einfach Prok. Wir brachten unser Spiel zu Ende und setzten uns dann wieder im Schatten auf den Rasen, und Prok ging ins Haus und kehrte mit einem Geschenk für meine Mutter zurück – einer besonders knotigen, aber unbewohnten Galle, die er durch einen Schellacküberzug zu einem Kunstobjekt gemacht hatte –, und als sie ihm dankte, entdeckte ich einen Anflug von Komplizenschaft zwischen den beiden und wußte nicht, was ich davon halten sollte. Es gab irgendeine Übereinkunft, und in diesem Augenblick ging mir auf, daß es nichts mit mir zu tun hatte: Prok, nahm ich an, hatte über das Projekt gesprochen und sie wie praktisch jeden anderen davon überzeugt, ihm ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte meiner Mutter. Am folgenden Tag oder noch am selben Abend würde sie ihm zwei Stunden lang gegenübersitzen und die dreihundertfünfzig Fragen beantworten: über ihre Masturbationsgewohnheiten, wie oft sie sich selbst bis zum Orgasmus stimulierte und mit welchen Männern sie seit dem Tod meines Vaters geschlafen hatte.
Danach wurde alles ein bißchen unscharf, und ich weiß nicht, ob das, was als nächstes passierte, eine direkte Folge davon war – auch um dies herauszufinden, brauchte man einen Psychiater, und Prok haßte Psychiater –, aber ich weiß noch, daß ich mich entschuldigte und die Gruppe auf dem Rasen verließ, daß ich Iris und auch meine Mutter dort sitzen ließ und auf dem gewundenen Weg zum Haus ging, wo Mac, wie sie gesagt hatte, einen kleinen Imbiß zubereitete. Ich trat ein, ohne zu klopfen, ein geehrter Gast, beinahe ein Mitglied der Familie. Die Kinder waren nirgends zu sehen. Alles war still. Die Möbel schienen sich skelettartig und umschattet in die Tiefen des Raums zurückzuziehen, die Schallplatten lehnten schräg in den Regalen, als warteten sie auf die Hand dessen, der sie zum Leben erwecken würde. Von fern, aus dem Garten, hörte man das Summen der Stimmen.
Ich fand Mac in der Küche, wo sie, mit dem Rücken zu mir, an der Theke stand. Sie war noch immer barfuß, hatte aber eine Schürze umgebunden, die Schleife saß genau über der Rundung ihrer Hüften. Muß ich Ihnen sagen, wie sehr ich sie in diesem Augenblick brauchte, ein wie gelehriger Schüler meines Meisters ich geworden war? Ich stellte mich hinter sie – und sie wußte, daß ich da war, sie hatte auf mich gewartet –, ich drückte mich an sie, so daß sie meine Härte an der Weichheit ihres Hinterns spürte, und dann umarmte ich sie und legte die Hände auf ihre Brüste. Wie wunderbar: Sie wandte den Kopf, um mich zu küssen, um mir die Erregung ihrer Zunge zu schenken und zu unterstreichen, daß die Freude auf Gegenseitigkeit beruhte. Und dann ... dann lagen wir auf dem Küchenboden und zerrten an unseren Kleidern. Keine Kinder kamen herein. Niemand überraschte uns. Und ich hatte Koitus mit ihr, in einem wilden Rausch aus Stoßen und Lecken und Beißen, der alles in allem kaum länger als drei Minuten dauerte, und danach zog ich mich wieder an und ging über den Rasen zurück zu Iris und meiner Mutter.

6

Seit Herbst 1938, als Prok sein Eheseminar abhielt, hatte es sowohl auf dem Campus als auch in der Stadt ein Geflüster gegeben, das Geflüster hatte sich zu einem mißbilligenden Grollen gesteigert und war schließlich, als der Sommer des Jahres 1940 in den Herbst überging und sich eine Koalition gegen Prok bildete, zu offener Empörung geworden. Ich hatte mich gewundert, wie viele vor allem ältere Mitglieder des Lehrkörpers an den Veranstaltungen teilgenommen hatten, doch nun begann ich zu begreifen: Sie waren Spione, Spitzel, die Nutznießer von Konvention und antiquierter Moral, denen daran gelegen war, die Welt im Hinblick auf Sex in Finsternis zu belassen. Sie waren nicht gekommen, um etwas zu lernen – sie waren gekommen, um Prok zu Fall zu bringen.

Dr. Thurman B. Rice, Professor für Medizin an der University of Indiana und leitender Beamter der Gesundheitsbehörde, tat sich besonders hervor. Rice hatte in den frühen dreißiger Jahren ebenfalls eine Vorlesungsreihe veranstaltet – er hatte sie als »Hygienekurs« bezeichnet –, die damals unter Studenten ein Dauerwitz war, ein Meisterstück der Fehlinformation, voller verschämter Andeutungen und viktorianischer Prüderie. Offenbar war er in der Vorlesung gewesen, in der Prok seine berüchtigten Dias gezeigt hatte, denn er beschwerte sich in Briefen an President Wells, das Kuratorium und Prok, diese Darstellungen seien so drastisch gewesen, daß sie selbst ihn erregt hätten, einen seit dreißig Jahren verheirateten Mann, der sich mit diesem Thema »auf sehr objektive Weise« befaßt habe, und daß er daher um die Studenten besorgt sei. Wenn nun eine unschuldige Studentin derart animiert werde, daß sie sich zum Geschlechtsverkehr hinreißen lasse, und wenn sie dann schwanger werde und nach Hause geschickt werden müsse, beschädigt sozusagen? Was dann?

Seine Kollegen vom Lehrstuhl für Medizin pflichteten ihm bei, denn sie fanden, daß Professor Kinsey sich etwas anmaßte, das ausschließlich der Medizin vorbehalten war. Wie konnte er Studenten beiderlei Geschlechts zum Thema Sexualität befragen und beraten – und zwar hinter verschlossenen Türen –, wenn er doch keinerlei medizinische Ausbildung hatte? Hinzu kamen der einstimmige Aufschrei der Geistlichkeit, eine Unmenge Briefe von besorgten Müttern aus allen Teilen des Staates, die gehört hatten, dieser Professor unterrichte ihre Töchter in verschiedenen Methoden der Empfängnisverhütung und fordere sie auf, die Länge ihrer Klitoris zu messen, sowie die Todfeindschaft von Dean Hoenig, die Prok zweierlei niemals verzeihen würde: die Szene in seinem Garten und die, wie sie fand, aufdringliche Hartnäckigkeit, mit der er einige der zurückhaltenderen Studienanfängerinnen ermuntert hatte, ihm ihre Geschichten zu erzählen. Das alles roch nach Lynchjustiz.

An einem vollkommen windstillen, auf kleiner Flamme köcheln- den Septembermorgen ging ich auf dem Weg zur Arbeit über den Campus und dachte an nichts Schwerwiegenderes als an die Frage, was ich in der Mittagspause machen würde, als ich auf sehr direkte Weise mit alldem konfrontiert wurde: mit den Gerüchten, dem Groll, den gegen Prok gerichteten Gefühlen im überbrodelnden Kessel der Gemeinschaft. Laura Feeney, jetzt im dritten Studienjahr, schöner und mit schwellenderen Formen ausgestattet, als ich sie in Erinnerung hatte, kam mir auf dem Weg am Bach entlang entgegen. Sie drückte ein Buch an den Busen (zwischen ihren Brüsten baumelte an einer Kette ein Jahrgangsring, der vermutlich Jim Willard gehörte). Als sie aufblickte und mich erkannte, veränderte sich ihr Gesicht, und sie blieb reglos stehen, bis ich vor ihr stand. »Laura«, sagte ich, plötzlich wieder schüchtern. »Hallo.«

Sie schwieg einen Augenblick. »John«, murmelte sie dann, mit einem zögernden Unterton, als probierte sie den Namen aus, um zu sehen, ob er paßte. »Hallo. Schön, dich zu sehen.« Eine Pause. »Wie war der Sommer?«

Wir hätten dieselbe Unterhaltung führen können wie ein Jahr zuvor, nur daß ich diesmal nicht in die tödliche Langeweile von Michigan City und das Dachzimmer im Haus meiner Mutter zurückgekehrt war, denn ich stand jetzt mitten im Leben und hatte eine Vollzeitstelle, und darum blieb ich auch in den Semesterferien bei Mrs. Lorber, obgleich Paul Sehorn ausgezogen war und ich bald einen neuen Zimmergenossen bekommen würde – sofern sich irgend jemand auf Mrs. Lorbers Annonce meldete. Während wir der Konvention Genüge taten und belanglos plauderten – darin war sie eine Meisterin –, sah ich sie an, und dann faßte ich mir ein Herz und kommentierte das Kettchen an ihrem Hals. »Wie ich sehe, trägst du Jim Willards Jahrgangsring.«

»Was? Ach, das.« (Eine Gelegenheit, über ihren Busen zu streichen und den Ring auf Augenhöhe zu heben.) Sie stieß einen kleinen Lacher aus, der bescheiden sein sollte, aber nur kokett war. Mein Interesse wuchs. »Du wirst es nicht glauben, aber ich habe einen Willard gegen den anderen eingetauscht.« Wieder ein Lachen. »Kennst du Willard Polk?«

Ich zögerte.
»Stellvertretender Kapitän der Football-Mannschaft? Ich gehe mit ihm. Weihnachten wollen wir uns verloben.« Gedankenverloren ließ sie eine Fußspitze kreisen, und ich warf unwillkürlich einen Blick auf ihre Knöchel und Waden. »Jim und ich? Na ja, irgendwie kamen wir einfach nicht mehr miteinander zurecht. Aber jetzt« – sie strahlte mich mit voller Kraft an – »bin ich verliebt. Wirklich. Ganz im Ernst. Für immer.« Wieder eine Pause. Ihr Gesicht zog sich um ihren Mund zusammen. Ihre Augen wurden schmaler. »Aber was ist mit dir? Wenn ich recht gehört habe, arbeitest du jetzt für Kinsey?«
Ich nickte und versuchte zu lächeln.
»Unseren alten Professor«, sagte sie. »Dr. Sex.« Sie spielte noch immer mit dem Ring und ließ ihn unvermittelt zwischen ihre Brüste fallen. »Ich hab gehört, du machst jetzt selbst Sex-Interviews.«
Ich war ein vollkommen anderer Mensch als ein Jahr zuvor, ich war sexuell erfahren, ich stand mitten im Leben, ich war mit sämtlichen sexuellen Praktiken vertraut, und trotzdem wurde ich rot. »Nur mit Männern«, sagte ich. »Mit Studienanfängern. Weil die, na ja ... am wenigsten kompliziert sind, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Tatsächlich?« Da war er wieder, der kokette Ton. »Und was ist mit den Studentinnen? Sind die nicht noch ... unkomplizierter? All diese züchtigen Jungfrauen in den Wohnheimen? Wirst du die auch befragen, oder ist das eine von diesen Untersuchungen, die uns verraten, was für Tiere Männer in Wirklichkeit sind? Als ob wir das nicht schon längst wüßten, stimmt’s, John?«
Ich wurde also rot. Ich hatte Geschlechtsverkehr mit Mac gehabt, ich hatte Iris den ganzen Sommer über vermißt, und der Schmerz war so tief und unstillbar gewesen, als hätte man mir ein wichtiges Organ entfernt. Doch als ich da stand und versuchte, das Blut mit Willenskraft aus den Wangen zu drücken, wollte ich – warum es nicht aussprechen? – Laura Feeney vögeln, ganz gleich, wie viele Willards sie hatte. Ich sah sie nackt, ohne Kleid und Hütchen und Schuhe, sah ihre nackten Brüste und die prallen Brustwarzen. Laura Feeney, Laura Feeney, nur du allein. Das riefen meine Augen ihr zu, und sie bemerkte die Veränderung in mir und tat wirklich einen Schritt zurück, das heißt, sie verlagerte ihr Gewicht auf den hinteren Fuß und vergrößerte den Abstand zwischen uns ein wenig. »Nein«, sagte ich, und ich gebe zu, daß ich wohl ein bißchen anzüglich grinste, »nein, die Frauen werde ich auch befragen. Das hat Prok mir versprochen. Aber nicht hier. Nicht hier an der Uni.«
Hochgezogene Augenbrauen. »Prok?«
»Professor Kinsey. So nennen wir ... so nenne ich ...«
»Ich hab gehört, sie wollen ihn rausschmeißen.«
Das war der Augenblick, in dem der Vogelgesang und das Plätschern des Bachs und die Fehlzündungen eines Wagens auf dem Fakultätsparkplatz verstummten, als hätte ein Dirigent seinen Taktstock gehoben. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich hätte nicht überraschter – nein, schockierter, das ist das bessere Wort – sein können, wenn sie mir gesagt hätte, die Nazis seien im Anmarsch auf Muncie. »Das können sie nicht«, sagte ich schließlich. »Er ist ein ausgezeichneter Wissenschaftler. Er hat eine feste Professur.«
»Das Eheseminar ist vorbei. Und weißt du, wie sie es nennen? Sie nennen es ›diese Schmutzvorlesung‹. ›Diese Schmutzvorlesungs ja.« Sie beobachtete mein Gesicht. »President Wells persönlich wird ihn rausschmeißen, und zwar wegen ... was weiß ich, wegen moralischer Verworfenheit. Das hab ich jedenfalls gehört.«
Am nächsten Morgen stiegen Prok und ich noch vor Sonnenaufgang in seinen Nash (ich kann mich weder an das Modell noch an das Baujahr erinnern, aber die Karre, 1928 gebraucht gekauft, wurde meines Erachtens nur noch von Heftklammern und Rost zusammengehalten). Wir fuhren nach Lafayette, wo er zu den Studenten mehrerer Soziologieseminare der dortigen Purdue University sprechen sollte. Unterwegs wollten wir in Crawfordsville halten, um die Interviews zu machen, zu denen wir in der Woche zuvor, als Prok an der DePauw University gesprochen hatte, nicht gekommen waren. Und natürlich freuten wir uns schon darauf, die Geschichten der Personengruppe aufzuzeichnen, die abends Proks Vortrag hören würde; dafür hatten wir die nächsten drei Tage veranschlagt. Das Mittagessen würden wir auf der Fahrt einnehmen: ein paar Schlucke abgestandenes Wasser aus der Steingutflasche, die hinter dem Fahrersitz stand, und einige Handvoll Studentenfutter (Nüsse, Rosinen, Sonnenblumenkerne und ein paar Stückchen Schokolade), das Prok zeit seines Lebens jeden Mittag aß, ob er nun im Astor-Hotel am Times Square residierte, auf der Suche nach Gallen durch die Vorberge der Sierra Madre wanderte oder im Institutsgebäude an seinem Schreibtisch saß.
Der Wagen hatte kein Radio, aber das machte eigentlich nichts, denn Prok sorgte selbst für Unterhaltung. Von dem Augenblick an, als ich mich im morgendlichen Zwielicht auf den Beifahrersitz setzte, bis zu dem Augenblick, als wir in Crawfordsville ausstiegen, redete er ohne Punkt und Komma, und als wir weiterfuhren, knüpfte er nahtlos an und hörte erst auf, als wir am späten Nachmittag in Lafayette ankamen. Er sprach über Sex. Über das Projekt. Über die Notwendigkeit, mehr Geschichten aus der Unterschicht zu sammeln, aus der schwarzen Bevölkerung, von Taxifahrern, Bergleuten, Baggerfüh- rern, zum Ausgleich gewissermaßen, weil die Geschichten von Studienanfängern, so wertvoll sie auch sein mochten, nur einen Teil des Gesamtbilds wiedergäben. Wenn neben der Straße eine Kuh stand, sprach er über Milchproduktion und die schwere Zeit der Dürrejahre. Er sprach über Topographie, über die Ökologie fließender und stehender Gewässer, über das Suchen von Pilzen – hatte ich schon mal frische Morcheln probiert, leicht paniert und gebraten? Es störte mich nicht, kein bißchen. Es gehörte alles zu meiner Ausbildung.
Außerhalb von Spencer kamen wir an den White River, als hinter uns die Sonne aufging, sich über das Wasser ergoß und alles mit Kupfer überzog. Im Dunst, der von der Wasseroberfläche aufstieg, stand die Silhouette eines Graureihers, die Maisfelder fingen Feuer, Apfelund Birnbäume lösten sich, mit leuchtenden Früchten beladen, aus dem Zwielicht. Die Straße war feucht von Tau, und als die Sonne darauf schien, stieg auch hier Dampf auf. Die Reifen durchpflügten ihn, und er stob nach beiden Seiten durch die Brückengeländer wie ein sich sammelnder Sturm. Das war der Augenblick, da ich beschloß, mich von der Bürde der Information zu befreien, die Laura Feeney mir gegeben hatte und die ich seit nunmehr beinahe vierundzwanzig Stunden in meinem Kopf herumwälzte. »Prok«, sagte ich und unterbrach ihn in einer Geschichte, die ich schon zweimal gehört hatte – es ging um einen Häftling, der mitten im Interview in einem Staatsgefängnis seinen Penis hervorgeholt und zum Vermessen auf den Tisch gelegt hatte –, »stimmt es, daß ... Ich habe Gerüchte gehört, daß du mal wieder unter Druck gesetzt wirst, jedenfalls mehr, als du mir gesagt hast. Wegen des Eheseminars. Sie werden dich doch nicht ... na ja, rausschmeißen, oder?«
Ein Strahl der tiefstehenden Sonne schien in den Wagen und beleuchtete Proks Gesicht unterhalb des Mundes. Es sah aus, als trüge er einen Bart aus Licht. Er blickte mich finster an, den Kopf leicht schief gelegt. Ich sah das Weiße in seinen Augen. »Wer hat dir denn das erzählt?«
»Ich ... äh, Laura Feeney. Laura Feeney hat es mir gestern morgen erzählt. Du weißt schon, die Frau, mit der ich im Eheseminar war.«
»Deine damalige Verlobte.«
»Ah ... ja.«
Die Bohlen der Brücke rumpelten unter den Rädern, und ich sah den Reiher die Flügel ausbreiten. Proks Blick blieb auf die Straße gerichtet. Er schwieg kurz und murmelte dann: »Miss Feeney hatte wohl eine Audienz beim Rektor? Ober beim Kuratorium?«
»Du nimmst das auf die leichte Schulter, Prok, und das ist falsch. Ich mache mir nur ... Ich mache mir nur Sorgen, das ist alles, und es gibt tatsächlich Gerüchte, das kannst du nicht leugnen ...«
Er seufzte. Warf mir einen mitleidigen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße. »Wenn du es genau wissen willst«, sagte er, »ich fühle mich wie Galileo. Sie stellen mir nach, sie wollen mich mundtot machen, sie wollen mir das Grundrecht auf wissenschaftliche Forschung verweigern, und das alles nur, weil irgendein Pfaffe oder eine eingetrocknete alte Jungfer wie Dean Hoenig oder ein abgehalfterter Bürokrat wie Thurman Rice Angst vor den Tatsachen hat. Sie können der Wirklichkeit nicht ins Auge sehen, darauf läuft es hinaus.«
Mir sank das Herz. Dann stimmte es also. Ich starrte aus dem Fenster auf die strenge Geometrie der Maisfelder. Zu meinen Füßen stöhnte der Motor, die Welt zog vorbei.
»Sie wollen mir ein Ultimatum stellen: Entweder ich setze das Eheseminar ab, oder ich gebe das Forschungsprojekt auf.«
»Aber du kannst doch nicht ... Das wäre das Eingeständnis, daß Sex tatsächlich etwas Schmutziges ist und daß sie die ganze Zeit recht hatten ...«
Wieder ein Seufzer. Der verschleierte Blick. Die Hände lagen wie Klauen auf dem Lenkrad. »Verstehst du, das Problem ist: das Seminar und dann auch noch die Forschung, ganz zu schweigen von der Beratung in sexuellen Dingen, die ja oft eingebunden war in die Informationen, die wir verbreiten ...«
Er schaltete herunter. Der Wagen rumpelte durch ein Schlagloch, hob leicht ab und setzte schaukelnd wieder auf. Prok legte die Hand auf mein Knie. »Sie wollen das Forschungsprojekt abwürgen. Die Vorstellung, daß wir leicht beeinflußbare junge Menschen hinter verschlossenen Türen befragen, ist ihnen unerträglich. Schließlich weiß man ja nie, was da alles passieren kann.« Er drückte mein Knie. »Stimmt’s, John?«

Unser Zeitplan war eng, doch an diesem Tag hatten wir Glück, denn in der DePauw University erschienen alle pünktlich, lieferten ihre Informationen ab und machten sich wieder an die Arbeit, so daß wir uns an unsere machen konnten. Studentenfutter und Wasser im Wagen. Prok überholte Pickup-Trucks, überladene Lastwagen und hin und wieder eine Kuh, leuchtendgrüne Felder wechselten sich ab mit dunklen Wäldern und schattigen Senken, und dann waren wir da, wohlbehalten in Lafayette angekommen, eine Dreiviertelstunde bevor die Vorlesung beginnen sollte.

An das – Hotel kann ich mich kaum erinnern, und das ist sonderbar, denn diese Fahrt stellte einen markanten Einschnitt dar, aber die Hunderte von Kleinstädten und Hotels und Motels haben in mir anscheinend ein exemplarisches Bild entstehen lassen. Höchstwahrscheinlich war es ein Backsteinhaus aus dem vergangenen Jahrhundert, das sandgestrahlt und gestrichen werden mußte, und vermutlich stand es an der Hauptstraße, nicht weit vom Gerichtsgebäude. Schattenspendende Bäume, auf dem Bürgersteig vor dem Haus ein schlafender Hund, schräg geparkte Wagen. Das Haus hatte bestimmt drei Stockwerke und einen separaten Eingang für Restaurant und Bar. Um Geld zu sparen – Prok war ein Meister der Sparsamkeit –, teilten wir uns ein Zimmer. Das behielten wir auch in späteren Jahren bei, als zunächst Corcoran und dann Rutledge zu unserem Team stießen.

Die Vorlesung. Brauchte Prok noch irgend etwas? Nein. Er stand mit nacktem Oberkörper im Badezimmer und rasierte sich. Dann zog er ein frisches Hemd an, band seine Fliege, schlüpfte in das Jackett und ging zügig in Richtung Uni, so daß sein Gastgeber, Professor McBride vom Institut für Soziologie, Mühe hatte, Schritt zu halten. Ich folgte ihnen. Als wir eintrafen, war der Hörsaal bereits gefüllt (selbst damals, in der Frühzeit unseres Projekts, eilte uns ein gewisser Ruf voraus, und wenn sämtliche Soziologieseminare zusammen sechzig Studenten auf die Beine brachten, dann waren die übrigen dreihundert Anwesenden Neugierige, die mal vorbeischauten und auf ein wenig Stimulation hofften). Prok sprach wie immer frei, ohne schriftliches Konzept, und wie immer schlug er das Auditorium vom ersten bis zum letzten Wort in seinen Bann. (Ob das Thema vorehelicher Sex, die Psychologie der sexuellen Repression, die Funktion adoleszenter Triebbefriedigung, die Geschichte der Sexforschung oder der Vergleich der Häufigkeit von Masturbation bei Männern und Frauen einer Altersgruppe war – für Prok spielte das keine Rolle. Alle seine Vorträge waren im Grunde ein einziger Vortrag. Und ich sollte hinzufügen, daß er eine natürliche Begabung besaß und nie auf irgendwelche Tricks oder theatralischen Gesten zurückgriff. Er sprach klar und deutlich und weitgehend unmoduliert, jeder Zoll ein Mann der Wissenschaft, der sich über ein für die ganze Menschheit enorm wichtiges Thema verbreitete. Er war kein Mark Anton oder gar ein Brutus, aber er machte seine Sache besser als irgendein anderer.)

Und wie immer kamen anschließend viele, viele Studenten, die uns ihre Geschichten anvertrauen wollten, und Prok und ich saßen an einem langen Tisch hinter dem Podium und vergaben Termine. Abendessen? Ich kann mich nicht erinnern, ob wir an jenem Abend etwas gegessen haben – vielleicht ließen wir uns ein paar Sandwiches aufs Zimmer kommen –, aber wir begannen mit den Interviews, sobald sich der Hörsaal geleert hatte und wir wieder im Hotel waren. Prok führte seine Interviews in unserem Zimmer durch, und ich setzte mich in einen Nebenraum des Restaurants. Als ich fertig war, muß es schon nach Mitternacht gewesen sein (drei Soziologiestudenten, die sich freiwillig gemeldet hatten, weil sie bei Professor McBride ein paar Extrapunkte kriegen wollten; ihre Antworten waren erwartungsgemäß: nichts, was ich nicht bereits gehört hatte). Ich ließ mich mit einem verdünnten Drink in einen der Sessel in der Hotelhalle sinken und sah den Uhrzeigern zu, während Prok das letzte Interview des Abends beendete.

Danach machten wir uns bereit, zu Bett zu gehen, und verglichen unsere Termine. Dabei entdeckten wir, daß wir einen Fehler gemacht hatten: Wir hatten für den nächsten Morgen zwei Frauen um dieselbe Uhrzeit bestellt, anstatt einen Mann und eine Frau. Entweder würden wir einen dieser Termine absagen müssen, oder ich wäre gezwungen, mein erstes Interview mit einer Frau zu führen, und das war etwas, was Prok mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht zutraute. Er sah vom Terminplan auf, schüttelte langsam den Kopf, erhob sich vom Sofa und ging ins Badezimmer, um seine Dentalprophylaxe vorzunehmen (er legte großen Wert auf Zahnpflege, eine Angewohnheit, der er es verdankte, daß er, als er starb, noch sämtliche Zähne hatte). »Ich weiß nicht, Milk«, sagte er mit erhobener Stimme, um das Geplätscher des Wassers zu übertönen, »aber ich sage sehr ungern einen Termin ab. Zum einen ist es ineffizient. Zum anderen kostet es uns Daten. Nein. Es bleibt uns nichts anderes übrig – wir machen es wie geplant.«

Im nächsten Augenblick war er wieder im Zimmer, und zwar vollbekleidet, was an sich schon ungewöhnlich war, denn sobald wir unser Tagwerk vollbracht hatten, zog er sich nackt aus und ermunterte mich, es ihm nachzutun. (Ja, auf diesen Reisen waren wir oft miteinander allein und setzten unsere sexuelle Beziehung fort, aber meine Entwicklung und meine Vorlieben zogen mich in die andere Richtung. Ich verehrte Prok und verehre ihn noch heute, doch in dieser Hinsicht entfernte ich mich von ihm und bewegte mich auf Mac und Iris zu, auf die Studentinnen in ihren weiten Pullovern und engen Röcken, die über den Campus zogen wie Antilopen über die Savanne. Wie auch immer: Ich genoß es, mit Prok zusammenzusein, ich fühlte mich geehrt und freute mich auf diese Reisen, denn sie enthoben mich der langweiligen Schreibtischarbeit und den Beschränkungen des Kleinstadtlebens und ermöglichten es mir, ein bißchen mehr von der Welt zu sehen und aufzunehmen, jedenfalls von Indiana, später aber auch von Chicago, New York, San Francisco und Havanna.) »Wir werden deine Ausbildung etwas beschleunigen müssen«, sagte er, und in seiner Stimme war nicht ein Hauch von Leichtigkeit.

Ich war erschöpft. Die Reise, die übersprungenen Mahlzeiten, die Konzentration, die man aufbringen mußte, um an einem Tag fünf komplette Geschichten aufzuzeichnen – das alles hatte mich so ermüdet, als hätte ich den Tag damit verbracht, an einen Sträfling gekettet Steine zu klopfen. »Müssen wir das?« fragte ich.

»Die Interviews von Frauen erfordern ein bißchen mehr Finesse, würde ich sagen, als die von Männern, insbesondere die von Studenten etwa deines Alters, wo du wie ein Kommilitone oder ein älterer Bruder wirkst. Nein, ich weiß, wie du in dieser Hinsicht empfin- dest, in Hinsicht auf Frauen, meine ich, Mac und ich haben ausführlich darüber gesprochen« – er ließ das kurz wirken –, »und ich frage mich, ob du imstande bist, absolut professionell und neutral zu sein.«

Ich machte ein paar bestätigende Geräusche.
Er musterte mich. Er stand vor mir, in Hemd und Fliege. »Versteh mich nicht falsch, Milk, aber deine Gefühle spiegeln sich zu oft auf deinem Gesicht wider, und wenn dir eine Frau – diese Frau morgen früh – etwas erzählt, was du möglicherweise stimulierend findest ...«
Ich mühte mich, ein unbewegtes und möglichst blasses Gesicht zu machen. »Also, ich glaube, wenn du mir eine Chance geben würdest ... Ich bin sicher, daß ich das kann, das heißt ...«
In dieser Nacht drillte er mich zwei Stunden lang. Zuerst war ich die Frau, dann er, dann wieder ich, dann wieder er. Die Fragen kamen eine nach der anderen, und seine Augen waren wie Peitschen, wie Güsse mit eiskaltem Wasser am frühen Morgen, hart und erbarmungslos. Er war anspruchsvoll, fordernd, überkritisch, und wenn ich einen Fehler machte, ließ er mich Kaffee trinken, bis meine Nerven so vibrierten, daß ich für den Rest der Nacht kein Auge zutat. Im Gegensatz zu Prok. Ich lag im Dunkeln da und dachte an tausend Dinge, hauptsächlich aber an Iris, die ich den ganzen Sommer nicht gesehen hatte, auch wenn wir uns beinahe täglich geschrieben hatten. Übermorgen würde sie zurück auf dem Campus sein, und ich dachte an sie, als die Schatten weicher wurden und von der Straße die ersten leisen Geräusche der erwachenden Welt hereindrangen. Prok schnaufte und schnarchte und schlief den Schlaf des Gerechten.

Am Morgen, beim Frühstück auf unserem Zimmer, prüfte Prok mich noch einmal. Ich hob eine Gabel mit Toast und Rührei zum Mund, legte sie wieder hin, beantwortete die Frage und trank rasch einen Schluck Kaffee. Ich hätte beinahe protestiert – setzte er denn nach all der Zeit kein Vertrauen in mich? –, doch ich ließ ihm seinen Willen, obgleich es keine großen Unterschiede zwischen den Fragebögen für Männer und denen für Frauen gab. Lediglich die Art und die Abfolge der Fragen waren auf das jeweilige Geschlecht abgestimmt. Frauen mußte man beispielsweise nach dem Alter beim Einsetzen der monatlichen Periode und dem Beginn der Brustentwicklung und so weiter fragen. Doch es war nicht meine Kompetenz, die Prok in Frage stellte, sondern mein Alter und meine Erfahrung oder vielmehr mein Mangel an beidem. »Milk, ach, Milk«, sagte er immer wieder, »ich wollte, du wärst zwanzig Jahre älter. Und verheiratet. Und hättest Kinder. Wie viele Kinder willst du mal haben, John – sagen wir drei?«

Zehn Minuten vor dem bewußten Interview, das um neun Uhr beginnen sollte, saß ich unten in dem Nebenzimmer. Bevor eine Person, die wir befragten, eintraf, notierten wir die grundlegenden Daten: Tag und Uhrzeit, laufende Nummer des Interviews (für unsere Registratur), Geschlecht der/des Befragten, Quelle der Geschichte (das heißt, auf welchem Weg der/die Befragte zu uns gekommen war – in diesem Fall handelte es sich natürlich um eine direkte Folge von Proks dringender Bitte am Ende seines Vortrags). Ich wußte nicht, was mich erwartete. In den kommenden drei Tagen würden wir etwa dreißig Interviews führen, und nächste Woche, auf dem Rückweg, würden es sogar noch mehr sein. Ich hatte keine Möglichkeit, eine Verbindung zwischen einem Namen auf der Terminliste und einem bestimmten Menschen herzustellen, obgleich ich diese Namen am Abend zuvor in die Liste eingetragen hatte. Die Frau, die ich befragen sollte – aus Gründen der Diskretion werde ich ihr einen anderen Namen geben –, war die junge Frau eines Professors, fünfundzwanzig, noch kinderlos. Mrs. Foshay. Nennen wir sie Mrs. Foshay.

Es klopfte an der Tür. Ich saß in einem Sessel am feuerlosen Kamin, die Terminliste und Mrs. Foshays Fragebogen lagen ausgebreitet auf einem Couchtisch vor mir. Der andere Sessel – Mahagoni, roter Plüsch, edwardianische Standard-Hotelausstattung – stand mir genau gegenüber. »Herein«, rief ich und erhob mich, um sie zu begrüßen, als die Tür aufschwang.

Dort stand eine hübsche junge Frau und spähte in den Raum, als hätte sie sich möglicherweise in der Tür geirrt. Sie war nach der neuesten Mode gekleidet und sah aus, als wäre sie soeben, nach einem Abend mit erlesenem Essen, Tanz und Champagner, aus einem Nachtclub in der Forty-second Street getreten. Sie lächelte zögernd. »Oh, hallo«, sagte sie. »Ich war mir nicht sicher, ob ich hier ...«

Ich ging zu ihr, ergriff ihre Hand und schüttelte sie kurz und professionell. »Es ist... es ist sehr freundlich, daß Sie gekommen sind, und auch wichtig, ja, wichtig ... Weil jede Geschichte, ganz gleich, wie umfangreich oder umfangarm ... ich meine ... zu dem Gesamtbild auf eine Weise beiträgt ...«

Plötzlich ging in ihrem Gesicht ein Lächeln auf, ein strahlendes Lächeln, das in meinem Bauch ganze Vogelschwärme aufscheuchte und im Kreis fliegen ließ. »Oh, es ist mir ein Vergnügen«, sagte sie, als ich sie mit einer Geste einlud, sich zu setzen, und ihr dabei zusah. »Alles für die Wissenschaft, nicht?«

Ich bot ihr eine Zigarette an – sie wählte Lucky Strike –, gab ihr Feuer und wünschte, es wäre nicht neun Uhr morgens, sondern neun Uhr abends, so daß wir etwas trinken könnten. Ein Drink hätte meine Nerven enorm beruhigt.

»Gut«, sagte ich und beugte mich, den Bleistift in der Hand, über den Fragebogen. »Also, Mrs. Foshay, vielleicht möchten Sie mir etwas über sich selbst erzählen –«

»Alice. Nennen Sie mich Alice.«
»Gut. Alice. Leben Sie schon lange hier, in Lafayette, meine ich?« Das einleitende Geplauder, das, wie gesagt, dazu diente, den Befragten zu entspannen, dauerte etwa fünf Minuten. Dann fror mein Gehirn ein. Unwillkürlich stellte ich fest, daß Mrs. Foshays Brüste die Bluse sehr gut füllten, ja den Stoff geradezu spannten, und daß die durchsichtigen Strümpfe ihren Beinen einen seidigen Schimmer verliehen. Ein Augenblick des Schweigens kroch dahin wie ein Güterzug. »Also gut«, sagte ich, »na, dann. Bis zu welchem Alter, sagten Sie, haben Sie in Trenton gelebt?«

Während wir uns durch die allgemeinen Angaben arbeiteten (Anzahl der Brüder, der Schwestern, Zwillingsstatus, Mitgliedschaft in einer studentischen Verbindung, Häufigkeit von Kinobesuchen usw.), gelang es mir, einen Rhythmus zu entwickeln und in einem einfachen Frage-Antwort-Muster zu bleiben, und auch die ersten fortlaufenden Fragen nach dem Beginn der Pubertät machten keine Schwierigkeiten, doch als wir in sensiblere Bereiche vorstießen, knickte ich leider ein wenig ein. »Wann haben Sie begonnen zu masturbieren?« fragte ich und zündete mir eine Zigarette an.

»Das muß mit elf gewesen sein«, antwortete sie und zog an ihrer Lucky. »Oder vielleicht mit zwölf.« Sie legte den Kopf in den Nacken, stieß den Rauch aus und wirkte so entspannt, als säße sie beim Friseur oder unterhielte sich am Telefon mit einer Freundin. »Wir wohnten damals noch in Newark, und ich kann mich an die Vorhänge erinnern. Meine Mutter hatte sie genäht, als ich noch klein war, sehr bunt und bedruckt mit Figuren aus irgendwelchen Kindergeschichten, Grimms Märchen und so. Meine Schwester Jean – sie ist ein Jahr älter als ich – hat mir gezeigt, wie es geht.«

Ich legte die Zigarette in den Aschenbecher und machte eine Notiz in dem entsprechenden Kästchen. »Ja? Würden Sie die Technik beschreiben?«

Sie wollte die Augen niederschlagen, doch ich hielt sie mit meinem Blick fest. Ich blinzelte nicht. Ich rührte mich nicht.
»Na ja, Sie werden das jetzt vielleicht seltsam finden, Sie werden es vielleicht nicht glauben –«
»Nein«, sagte ich, und meine Stimme war so gepreßt, daß ich Mühe hatte, einen Ton herauszubekommen. »Nein, ganz und gar nicht. Es gibt keine Praktik, die wir nicht verzeichnet haben, und überhaupt hat Prok, hat Dr. Kinsey ja gestern in seinem Vortrag darauf hingewiesen, daß wir keine Urteile fällen ...«
Das schien sie zu ermutigen. Sie schob ihre Frisur zurecht. Ihre Haare waren toupiert und oben mit einer Spange zu einer Rolle geformt, und der Rest war zu einer ausladenden Pompadourfrisur gebürstet, die an Dolly Dawn erinnerte – die meisten werden sie aus George Halls Band kennen (»It’s a Sin to Teil a Lie« sollten Sie noch im Ohr haben, auf jeden Fall aber »Yellow Basket«). »Na ja«, sagte sie, »ich bin sehr gelenkig. Jean ebenfalls. Und mein Bruder Charlie auch.«
»Ja?« sagte ich, den Stift bereit.
»Wir – Jean und ich – setzten uns nebeneinander aufs Bett und machten eine Art Rolle rückwärts, wie Akrobaten im Zirkus. Aber wir hielten mitten in der Bewegung an, und weil wir so gelenkig waren, na ja, konnten wir uns selbst lecken.«
Das Wort, das mir durch den Kopf schoß, lautete »Autocunnilingus«. Dafür gab es noch kein Kästchen, keinen Code, also machte ich eine handschriftliche Notiz. Wahrscheinlich war ich errötet. Auf jeden Fall hatte ich eine Erektion.
Wir machten weiter.
War es ihre erste Ehe? Ja. Hatte sie vor der Ehe Erfahrungen mit Zungenküssen gemacht? Ja. Mit Petting? Ja. Hatte sie männliche Genitalien berührt, einen Penis mit dem Mund berührt, Geschlechtsverkehr gehabt? Ja, ja und ja. Wie viele Partner hatte sie gehabt, abgesehen von ihrem Mann? Ungefähr zwanzig, schätzte sie. »Zwanzig?« wiederholte ich und versuchte, meiner Stimme einen neutralen Klang zu geben. Sie wußte es wirklich nicht, vielleicht waren es ein paar we- niger gewesen, vielleicht aber auch fünfundzwanzig, und während sie zurückdachte, bekam ihr Blick etwas Verträumtes. Und nun zum Orgasmus: Wann hatte sie ihren ersten bewußten Orgasmus ? Konnte sie sich durch Masturbation, Petting oder Geschlechtsverkehr zum Orgasmus bringen? Wann hatte sie zuletzt einen Orgasmus erlebt?
Und hier verlor ich wieder den Boden unter den Füßen, denn ich stellte dieser im landläufigen Sinne hübschen und höchstwahrscheinlich verwöhnten Professorengattin, diesem eleganten blonden Juwel von einer Frau, geschmackvoll und makellos gekleidet, die nächste Frage dieser Sequenz, und die lautete: »Wie viele Orgasmen haben Sie im Durchschnitt?«
Sie war bei der fünften Zigarette, und wenn sie anfangs entspannt gewesen war, so war sie jetzt so aufgeschlossen und enthusiastisch wie irgendeiner der Studenten, die ich bisher befragt hatte. Sie sah mich an. Lächelte ein bißchen. Meine – unprofessionelle – Erektion dauerte nun schon seit Stunden an. »Ich würde sagen, so ungefähr zehn bis zwölf.«
Bestimmt war mir meine Überraschung anzusehen: Selbst unter den Interviewten mit der höchsten Orgasmusfrequenz gab es nur wenige, die an diese Zahl heranreichten. »Pro Woche?« fragte ich. Und dann, idiotischerweise: »Oder ist das eine auf den Monat bezo- gene Schätzung?«
Jetzt war sie es, die errötete – nur eine ganz zarte Verfärbung unter den Wangenknochen und entlang der Nasenflügel. »Nein«, sagte sie, »nein, ich meinte täglich.«

Wenn Iris verstimmt war, weil ich nicht gekommen war, um sie und Tommy zu begrüßen und ihren Überseekoffer in die dritte Etage des Wohnheims zu wuchten, dann ließ sie es sich nicht anmerken. Am frühen Morgen des vierten Tages kehrten Prok und ich wie geplant nach Bloomington zurück – er mußte damals ja auch noch seinen Stundenplan berücksichtigen –, und ich machte mich sogleich daran, die chiffrierten Protokolle zu transkribieren und nach und nach unseren rasch wachsenden Daten über das sexuelle Verhalten des Menschen hinzuzufügen, und ich sollte erwähnen, daß das immer erregend war: Ich fühlte mich dabei etwa so, wie sich ein Jäger fühlen muß, der von einem erfolgreichen Jagdausflug eine ganze Tasche voller Vögel mitgebracht hat, die meisten davon einheimisch, aber hier und da ist vielleicht mal ein Exot dabei. (Noch etwas zu dem eben erwähnten Interview: Glauben Sie bloß nicht, daß alle weiblichen Befragten ein so reiches, extensives Sexualleben hatten wie diese junge Professorengattin. Typischer waren Berichte von sexueller Unterdrückung, Schuldgefühlen und großer Beschränktheit im Hinblick auf die Zahl der Partner und die angewandten Praktiken. Und um die Anekdote zu Ende zu erzählen, sollte ich noch erwähnen, daß ich gar nicht anders konnte, als mich, kaum daß die Tür sich hinter ihr – Mrs. Foshay – geschlossen hatte, von dem Druck in meinen Lenden zu erlösen. Hätte Prok davon erfahren, dann hätte er mich bei lebendigem Leib gehäutet. Professionalität. Professionalität, das war das Zauberwort. Jedenfalls an der Oberfläche. Jedenfalls zu Anfang. In der verbrauchten Luft des Zimmers waren noch der Duft ihres Parfüms und ein Hauch ihrer Wärme zu spüren, und ich kam in Rekordzeit zum Orgasmus. Mir blieb gerade genug Zeit, um mich abzuwischen und alles zu verstauen, bevor es wieder klopfte und das aknezerfurchte Gesicht eines neunzehnjährigen Soziologiestudenten, der die weiblichen Geschlechtsorgane nicht einmal dann erkannt hätte, wenn man sie ihm auf dem Untersuchungstisch eines Gynäkologen präsentiert hätte, in der Tür erschien. Er sah mich unverwandt an und sagte oder vielmehr krächzte dann: »Bin ich hier richtig?«)

Aber Iris. Gleich nach der Arbeit eilte ich über den Campus zum Wohnheim. Zuvor, als Prok und ich uns ausrechnen konnten, daß wir nicht vor sieben fertig sein würden, hatte ich angerufen und bei der Rezeptionistin hinterlassen, daß ich direkt von der Arbeit kommen und sie zum Abendessen ausführen würde (Iris, nicht die Rezeptionistin, obwohl auch die attraktiv war). Sie solle sich also bitte ein wenig gedulden. Und obwohl ich nicht mit ihr persönlich sprechen und meine Gefühle daher nur andeuten konnte, fügte ich hinzu, daß ich mich sehr freute, sie wiederzusehen. Nach so langer Zeit. Sehr. Wirklich sehr.

Um Viertel nach sieben war ich im Wohnheim, doch Iris ließ mich warten. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht wollte sie mich aus Prinzip ein bißchen leiden lassen, vielleicht verwendete sie besondere Mühe auf ihr Kleid und ihr Make-up, um den Eindruck, den sie auf mich machen würde, zu verstärken, vielleicht kostete sie auch nur das Vorrecht der Frauen aus, die die Gejagten sind und daher tun und lassen können, was sie wollen. Jedenfalls sprang ich alle paar Minuten vom Sofa auf und ging in der Eingangshalle auf und ab, sehr zum Mißfallen der Rezeptionistin, die wenigstens so tat, als würde sie in dem Buch lesen, das aufgeschlagen vor ihr lag. Ich war angespannt, doch ich hätte nicht sagen können, warum. Vielleicht war es ganz natürlich, die Vorfreude eben – wir waren beinahe drei Monate getrennt gewesen, hatten uns geschrieben und Schnappschüsse geschickt und einander unsere Liebe erklärt. Ich konnte nicht behaupten, daß ich den Sommer über einsam gewesen wäre, schließlich hatte ich ja Prok und Mac gehabt und lange Stunden unterwegs oder am Schreibtisch verbracht, aber diese Briefe waren für mich wohl auch eine Gelegenheit, ihr meine Hoffnungen und Ambitionen zu zeigen (und auch meine Ängste: ich würde, wie praktisch alle anderen jungen Männer auf dem Campus, irgendwann meinen Einberufungsbescheid erhalten), und das machte den Augenblick unseres Wiedersehens um so bedeutender. Und belasteter. Ich hatte auch Liebesgedichte zitiert – »Nun, da Finsternis um unsre Liebe ist / Komm, Licht der Finsternis, Blut meines Herzens, komm!« –, und jetzt würde ich zeigen müssen, wie ernst es mir war. Und sie ebenfalls. Aber liebte sie mich überhaupt noch? Hatte sie vielleicht einen anderen kennengelernt? War ich ihrer würdig?

Es war kurz vor acht, und mindestens dreißig Frauen waren die Treppe heruntergekommen, aus der Tür zum Allerheiligsten getreten, von ihren Freunden begrüßt und umarmt worden und längst im Kino, auf der Eislauf bahn oder auf dem Rücksitz eines Wagens angekommen, als Iris endlich erschien. Ich ging auf und ab und war am anderen Ende des Aufenthaltsraums, als ich das leise Zischen des pneumatischen Türschließers hörte. Ich fuhr herum, und da stand sie. Darf ich etwas Überflüssiges sagen? Sie war sehr schön, sie war mehr als schön: Sie war etwas Besonderes, die eine unter Millionen, weil ich ihr geschrieben und den ganzen Sommer an sie gedacht hatte, weil sie Iris McAuliffe war und mir gehören würde, wenn ich wollte. Das wußte ich. Ich wußte es in dem Augenblick, in dem ich sie sah. Das war Liebe. Das war es.

Doch wie sah sie aus? Sie hatte sich das Haar legen lassen, so daß es in raffinierten Wellen über ihre Schultern fiel und das Medaillon an ihrem Hals einrahmte, das Medaillon, das ich ihr geschenkt hatte, und wessen Bild war jetzt darin? Ihr Kleid – blau, ärmellos, der Saum knieumspielend – war neu und eigens für diese Gelegenheit gekauft worden, und ihre Augen, stets das Auffallendste an ihr, schienen mich quer durch den Raum anzuspringen (ein Irrtum, den, wie ich später feststellte, geschickt aufgetragene Wimperntusche, Lidschatten und Rouge bewirkt hatten). Sie kam mir kleiner vor, dunkler und schöner, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich stand hilflos da und sah sie an, als sie auf mich zukam und sich umarmen und küssen ließ.

»Du bist wieder da«, sagte sie.
»Ja. Und du auch. Habe ich Tommy verpaßt?«
Sie nickte. »Er muß arbeiten und hatte nur einen Tag Zeit. Er war enttäuscht, aber er wußte ja, daß du in ... Wo warst du noch mal?« »An der Purdue. Und an der DePauw.«
»Er wußte jedenfalls, daß du zu tun hattest.« Die Rezeptionistin starrte uns an, als könnte sie durch unsere Kleider und unsere Haut sehen und unsere Knochen und sogar das Mark darin untersuchen. »Er läßt dich grüßen.«

Einen Augenblick lang hatte ich ein schlechtes Gewissen und verspürte einen kleinen Stich, als würde mir ein Messer ins Fleisch gestoßen und gleich darauf wieder zurückgezogen. Ich wußte, daß ich hätte kommen sollen, wegen ihr und Tommy, aber ich schob den Gedanken beiseite. Ich hatte es nicht ändern können. Proks Zeitplan stand Monate im voraus fest, und ich hatte keinerlei Einfluß darauf. »Ich wollte, ich wäre gekommen«, sagte ich und sah über die Schulter zur Rezeptionistin (es war nicht die Blonde mit dem strähnigen Haar, sondern eine neue, untersetzt, mit kalkweißem Gesicht und einer Frisur wie ein Bündel Treibholz). Sie senkte den Blick. Ich wandte mich wieder zu Iris, zu Iris, deren Hand ich hielt, und sagte: »Du mußt ja sterben vor Hunger. Wie wär’s mit einem schönen Steak?«

Jetzt, da sich mein Leben in geregelten Bahnen bewegte – so geregelt jedenfalls, wie es bei einem jungen Mann, der seinen Einberufungsbescheid erwartete, möglich war –, konnte ich mich mit Iris treffen, sooft ich wollte. Ich mußte nicht mehr an Seminaren teilnehmen, Prüfungen ablegen oder Hausarbeiten schreiben, und die Arbeitszeiten bei Prok waren ziemlich geregelt, überstiegen allerdings bei weitem die üblichen vierzig Wochenstunden. Unser einziges Problem waren die Reisen – jede zweite Woche war ich drei bis vier Tage mit Prok unterwegs, und es dauerte nicht lange, bis wir noch mehr reisten –, aber Iris und ich stellten uns darauf ein, weil es uns wichtig war. Zuvor hatten wir uns hin und wieder verabredet und uns vorsichtig, ohne Eile, Druck oder gegenseitige Verpflichtung abgetastet, doch das war nun anders, grundlegend anders. Wir machten alles mögliche gemeinsam, wir trafen uns zum Essen, hörten Konzerte, gingen tanzen, wandern, Schlittschuh laufen, wir saßen abends im Aufenthaltsraum des Wohnheims so dicht nebeneinander, daß wir im selben Rhythmus atmeten; Iris las ihre Fachbücher, und ich vertiefte mich in Hirschfeld und Robert Latou Dickinson, um mich über die Literatur meines Fachgebiets auf dem laufenden zu halten. Das ging so weit, daß ich mich leer fühlte, wenn sie nicht da war, als hätte ich kein Ich, kein eigenes inneres Wesen. Wenn sie im Seminar war oder wenn ich arbeitete oder in einem zweitklassigen Hotel einem übergewichtigen Studenten gegenübersaß, der von Rita Hayworth besessen war und zu oft masturbierte, dachte ich an Iris, nur an Iris.

Aus dem Herbst wurde Winter, und der Winter unterlegte auch die Ferien und den Jahreswechsel (wir fuhren gemeinsam mit dem Bus zu unseren Familien in Michigan City, und alles erschien uns freundlich und wie neu, trotz der Tatsache, daß Tommy eingezogen worden war und die Nazis, die Faschisten und die kaiserlich japanische Armee an allen Fronten unaufhaltsam vorrückten). Im sonnenlosen Januarzwielicht kehrten wir zurück. Der Campus war unter Schnee begraben, und es pfiff ein Wind, gegen den Mützen und Schals nichts ausrichten konnten. Wie das Gesetz es befahl, hatte ich mich wie alle anderen Männer zwischen einundzwanzig und fünfunddreißig Jahren bei der Einberufungsbehörde gemeldet, aber meine Nummer war noch nicht dran, und so machten wir weiter wie zuvor und verbrachten jede freie Minute miteinander. Alles war gut. Wir waren glücklich. Ich schrieb Paul Sehorn lange, im Plauderton gehaltene Briefe und stellte fest, daß ich vor mich hin pfiff, wenn ich jeden Abend nach der Arbeit über die Grünfläche zum Wohnheim der Studentinnen schlenderte – wo ich es nicht lassen konnte, ein wenig mit der Rezeptionistin zu scherzen, die inzwischen so harmlos und vertraut wirkte wie eine liebevolle Großmutter, obgleich sie kaum zwanzig war.

Es gab jedoch ein großes Problem – Sie ahnen wahrscheinlich, welches. Sex. Sex war das Problem. Selbst wenn Iris dazu bereit gewesen wäre – und angesichts ihrer Herkunft und der Tatsache, daß sie Jungfrau war, konnte ich mir damals in diesem Punkt nicht sicher sein –, gab es absolut keinen Ort, wo wir es hätten ausprobieren können. Als ich Laura Feeney vor einem Jahr in einem Anfall sexueller Umnachtung meinen Vorschlag gemacht hatte, war das bloß heiße Luft gewesen: Ich hätte nicht mit ihr auf mein Zimmer gehen können, es sei denn, Mrs. Lorber hätte zufällig in dem Augenblick, da ich diese Frage stellte, der Schlag getroffen. Und selbst wenn es mir gelungen wäre, Iris irgendwie mitten in der Nacht durch ein Fenster im ersten Stock ins Haus zu schmuggeln, wäre da das Problem meines neuen Zimmergenossen gewesen, eines Burschen namens Ezra Voorhees, der aus einem winzigen Dorf stammte und dessen Gefühlswelt und Körperpflegegewohnheiten, milde gesagt, rustikal waren. Es war frustrierend. Iris und ich schmusten stundenlang im Aufenthaltsraum oder in der Bibliothek, bis ich Schmerzen hatte – körperliche Schmerzen, die nach Meinung der anderen Studenten von »dicken Eiern« herrührten, laut Prok jedoch auf zuviel angestaute Samenflüssigkeit in Hoden und Samenleitern zurückzuführen waren, und dann blieb mir nichts anderes übrig, als auf mein Zimmer zu gehen und mir unter der Bettdecke Erleichterung zu verschaffen, während mein Zimmergenosse so tat, als schliefe er. Wann immer ich konnte, ging ich zu Mac, aber ich fühlte mich nicht mehr gut dabei.

Es war Prok, der die Lösung vorschlug. Er hatte mir, wie gesagt, im Sommer das Autofahren beigebracht, und als ich ihm jetzt meine Situation schilderte, bewies er wieder einmal, wie großzügig er war und wie weit seine Bereitschaft ging, mir einen Gefallen zu tun. Ich weiß noch, daß ich das Thema während einer unserer Reisen anschnitt (wir waren unterwegs nach Gary, zu einem bestimmten Negerviertel, doch davon später) und daß er sich lächelnd zu mir wandte und sagte: »Ja, und es ist ja auch an der Zeit, Milk. Du brauchst zusätzliche Triebbefriedigung, wie wir alle. Nimm doch den Wagen. Nimm den Nash. Wann immer du willst.«

»Aber ich will dir – oder Mac – keine Ungelegenheiten machen.« »Ach was – wir brauchen den Wagen abends sowieso nicht. Ich werde den Schlüssel einfach hinter den losen Ziegelstein legen, den wir im letzten Sommer nicht repariert haben – hinten im Garten, in dem Mäuerchen um den Persimonenbaum. Weißt du, welchen ich meine?«
Und so hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Automobil zur freien Verfügung. Allerdings würde ich besonders vorsichtig sein müssen, denn der Wagen stellte den größten Sachwert des Projekts dar. Was hätten wir ohne ihn anfangen sollen? Jedenfalls machte ich mich, kaum daß wir von dieser Reise zurück waren, auf die Suche nach Iris – ich traf sie auf der großen quadratischen Grünfläche, sie war unterwegs zum nächsten Seminar – und sagte ihr, daß ich sie abends stilvoll abholen würde.
»Stilvoll?« sagte sie. Sie schenkte mir ein wissendes Lächeln. Der Wind hob die Krempe ihres Huts an und ließ sie flattern wie einen Vogelflügel.
»Genau«, sagte ich. »Mit einer eigenen Limousine, zu Ihren Diensten, Mademoiselle.«
»Kinseys Wagen«, sagte sie. »Die Käferkarre. Der Wespenwagen.«
»Wir fahren ein bißchen raus aus der Stadt. Zu einem Rasthaus. Zur Feier des Tages.«
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »In Kinseys Wagen?«
»Ist doch besser als nichts.« Ich kam mir vor, als wäre ich in eine Shakespeare-Komödie versetzt worden und würde im Wald von Arden oder auf einer sonnigen Piazza in Messina geistreiche Bemerkungen mit Rosalind oder Beatrice wechseln. Doch leider waren wir in Indiana, es war Winter, und Iris ließ mich zappeln. Nur so zum Spaß.
»Kennst du denn irgendwelche Rasthäuser? Bist du schon mal in einem gewesen?«
»Klar«, log ich. »Dutzende Male.«
»Und dann?« fragte sie mit schelmischem Blick.
»Dann wollen wir essen und trinken und fröhlich sein.« »Und dann?«
»Und dann«, sagte ich und beugte mich zu ihr, während der Wind an meinem Kragen zerrte und Studenten mit blassen, frierenden Gesichtern an uns vorbeieilten, »dann suchen wir uns eine ruhige, dunkle Straße und sind mal ganz ungestört.«
Trotz allem, trotz all der Überlegungen, die ich angestellt hatte, um mit Iris allein zu sein, ganz zu schweigen von den Phantasien, denen ich mich hingab, war ich an jenem Abend sehr nervös. Das Rasthaus war alles andere als romantisch, eine verrauchte, schummrig beleuchtete Höhle voller Betrunkener mit anzüglich grinsenden Gesichtern, und das Essen war von der Art, die den schlechten Ruf der Küche von Indiana voll und ganz rechtfertigte. Ich hatte etwas, das angeblich Rindfleischeintopf war und auf dem eine mindestens einen Zentimeter dicke Fettschicht schwamm; dazu bekam ich ein paar weiche Salzcracker, die anscheinend helfen sollten, das Fett aufzusaugen. Iris schob auf ihrem Teller ein Stück Fleisch hin und her, das hierorts als »Salisbury Steak« bezeichnet wurde. Schließlich gab sie es auf, zerdrückte die Erbsen, die als Beilage serviert wurden, zu einer Art Paste, die sie auf die zerkrümelnden Cracker häufte. Wir tranken je zwei Gläser Bier.
Als sie beim zweiten angelangt war, beobachtete ich sie und versuchte, ihre Stimmung einzuschätzen. Ich hatte ein paar zarte Andeutungen darüber gemacht, was ich mir von diesem Abend erhoffte, und den Eindruck gewonnen, als wäre sie aufgeschlossen oder habe sich jedenfalls damit abgefunden. »Beeil dich«, sagte ich. »Trink aus.«
Sie sah mich mit einem glutvollen Blick an – oder vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Wahrscheinlich wollte sie mich nur auf den Arm nehmen. Sie liebte diese Art von Witzen. »Und warum? Hast du Pläne für den Rest des Abends? In der Uni trifft sich heute der Backgammon-Club. Und in der presbyterianischen Kirche ist Chorsingen. Hast du nicht Lust, ein bißchen zu singen, John? Wäre das nicht toll?«
Meine Hand fand unter dem Tisch den Weg zu ihrem Knie. »Du weißt genau, was ich will«, sagte ich.
»Nein«, sagte sie unschuldig. »Was könnte das sein?«
Die Nacht war kalt – »arktisch« wäre das passendere Wort –, und die Heizung des Nash war nicht gerade leistungsstark. Ich hatte von einem Pärchen gehört, das den Motor des Wagens in der Garage hatte laufen lassen (es handelte sich um den Wagen des Vaters der Frau, es war drei Uhr morgens, und die Eltern lagen in ihren Betten und schliefen). Die beiden waren erstickt und am nächsten Morgen gefunden worden, halbbekleidet und starr wie Eisskulpturen. Ich war mir der Gefahren also bewußt. Aber der Wagen würde nicht in einem geschlossenen Raum stehen, und der Wind – der unerbittliche, der strenge und mißbilligende Wind – würde die Abgase davonwehen, fort vom Wagen und, weit wichtiger, fort vom Rücksitz. Lange Zeit saßen wir auf den Vordersitzen, schmusten und betrachteten die Sterne, und dann schien etwas in ihr nachzugeben – ich hatte das Gefühl, als hätte eine Spannung in ihr nachgelassen, als hätten sich all die alten Beschränkungen und Verbote mit einem Mal aufgelöst. Sie ließ mich ihre Jacke und die Bluse aufknöpfen, und dann zog ich den Büstenhalter herunter, so daß ihre Brüste nackt waren und ich sie oral stimulieren konnte. Darauf reagierte sie, was mich ermutigte. Ich streichelte sie, streichelte sie wie verrückt, ich gab ihr Zungenküsse, massierte ihre nackten Brüste und strich mit den Fingerspitzen über die Brustwarzen, ich stand innerlich in Flammen und murmelte: »Sollen wir ... auf den Rücksitz ...?«
Sie sagte nichts, und das verstand ich als Zustimmung. Nach ein paar heiklen Sekunden hatten wir die Lehnen der Vordersitze überwunden und waren auf dem Rücksitz. Ich lag ausgestreckt auf ihr, der Motor bullerte, die Heizung kämpfte gegen die Kälte an. Ich dachte an Mac, an unser erstes Mal im Garten und daran, wie offen sie war, wie natürlich und angenehm und leicht alles gewesen war, als Iris plötzlich die Beine zusammenpreßte und meine Hand einklemmte.
»Was ist los ?« fragte ich.
Ihr Gesicht war schwach und geisterhaft vom Sternenlicht beleuchtet, das durch die Bäume sickerte. Ich roch ihre Erregung, ihren Atem, der sich mit meinem vermischte, das Parfüm, das sie sich hinter die Ohren getupft hatte und das beinahe ganz verflogen war. »Du glaubst doch wohl nicht, daß ich das tue.«
Ich lag ausgestreckt auf ihr. Meine Hose war bis zu den Knien hinuntergerutscht. Iris’ Hand lag auf meinem Penis, ihre Zunge war in meinem Mund. Mit einem Mal wurde ich redegewandt. »Doch, natürlich«, sagte ich. »Es ist das Natürlichste von der Welt, und nur die Mächte der Konvention – Aberglaube, Priester, Pfarrer, irgendwelche Buhmänner – hindern die Menschen daran, sich ganz zu verwirklichen. Sexuell, meine ich. Na komm, Iris. Es ist keine große Sache. Es wird dir gefallen, wirklich.«
Sie schwieg. Sie hatte sich nicht gerührt. Ihr Gesicht war Zentimeter von meinem entfernt, es schwebte im Dunkel des Wagens wie eine leere Schale auf dem mitternächtlichen Meer.
»Weißt du, was wir entdecken werden?« flüsterte ich.
»Nein«, flüsterte sie zurück. »Was?«
»Na ja, daß vorehelicher Geschlechtsverkehr in Wirklichkeit etwas Segensreiches ist und daß die Leute, die es tun – die vorehelichen Geschlechtsverkehr haben –, viel besser, äh, angepaßt sind als die anderen. Und das wirkt sich auch auf ihr eheliches Sexleben aus. Diese Menschen sind glücklicher, Iris. Glücklicher. Ich schwöre dir, darauf läuft es hinaus.«
Wieder schwieg sie. Ich spürte, wie mein Penis schrumpfte, wie das Blut ganz langsam aus ihm wich. Der Wind rüttelte am Wagen, wir spannten uns einen Augenblick lang an, und dann war die Bö vorüber. Die Stille wurde tiefer. »Vorehelich«, sagte sie schließlich. » Vor« – sie machte eine kleine Pause und fuhr dann fort – »ehelich. Das war doch das Wort, oder, John?«
»Ja«, sagte ich eifrig und verstand nicht ganz, worauf sie hinauswollte. »Vorehelich. Geschlechtsverkehr vor der, na ja, vor der Ehe eben.«
Wieder Schweigen, doch ich spürte eine Veränderung. Ihr ganzer Körper teilte sie mir mit, durch die Nervenenden in ihrer Haut, die in direktem Kontakt mit meinen standen. Obgleich es zu dunkel war, um ihr Gesicht erkennen zu können, wußte ich, daß sie grinste. »Tja«, sagte sie, »dann muß ich das wohl als Heiratsantrag verstehen.«

Schließlich stellte President Wells das Ultimatum, mit dem Prok gerechnet hatte, doch Prok überraschte sowohl ihn als auch das Kuratorium. Sie hatten angenommen, daß er die Forschung dem Eheseminar vorziehen würde, daß er der Lehre, der er sich bisher gewidmet hatte und der er seit zwanzig Jahren seinen Ruf als hervorragender Wissenschaftler verdankte, den Vorzug geben würde vor etwas, das in ihren Augen vermutlich bloß eine neue und vielleicht vorübergehende Vorliebe war, doch sie kannten ihn nicht gut genug. Es kränkte ihn, es empörte ihn und machte ihn nur um so entschlossener, die Scheinheiligkeit der Bewahrer des Status quo, die Heuchelei der Rices und Hoenigs und all der anderen zu Fall zu bringen: Er gab das Eheseminar auf und stellte seine Lehrtätigkeit schließlich vollständig ein, um sich ganz dieser neuen, großen Aufgabe zu widmen. Bald, sehr bald würde das Institute for Sex Research gegründet und der Kreis der engsten Vertrauten um drei Personen erweitert werden.

7

»So, dann ist Iris also die Glückliche.«
Prok saß an seinem Schreibtisch und beugte sich über die Papiere im Lichtkegel der Lampe. Die Fenster sahen aus, als wären sie mit Lötzinn überzogen, der Korridor lag im Dunkeln, und die dumpfe Last eines beständigen Nieselregens schien die Uni in den Winterschlaf versetzt zu haben. Es war um die Mittagszeit, und wir aßen, wie an den meisten Tagen, an unseren Schreibtischen: Prok knabberte sein übliches Studentenfutter, und ich versuchte, das Beste aus einem sich auflösenden Thunfischsandwich zu machen, das ich in der Mensa gekauft hatte. Ich hatte ihm die gute Nachricht gerade erst erzählt, obwohl ich seit dem Morgen darauf gebrannt hatte. (Sie fragen sich bestimmt, warum ich gezögert hatte. Prok war den ganzen Morgen noch mehr als sonst in seine Arbeit vertieft gewesen, und ich hatte keine Gelegenheit gefunden – er haßte es, unterbrochen zu werden. Außerdem war ich, ehrlich gesagt, nicht sicher, wie er die Neuigkeit aufnehmen würde. Ja, er wollte natürlich, daß ich heiratete, aber das war ein abstrakter Wunsch, der auf einer ganz anderen zeitlichen Ebene angesiedelt war, und diese Eheschließung würde im Hier und Jetzt stattfinden. Ich wußte, daß sein erster Gedanke dem Projekt und der Frage galt, wie mein veränderter Familienstand sich darauf auswirken würde.)

»Tja«, sagte er und wühlte, auf der Suche nach etwas, das er verlegt hatte, zerstreut in den Papieren. Das war jedoch nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver, um sich Zeit zu verschaffen und seine Gedanken zu ordnen. »Sie ist eine attraktive Frau, kein Zweifel. Und intelligent. Das auch.« Ein weiterer Augenblick schlurfte vorbei, die Rädchen in seinem Kopf drehten sich knirschend und knarzend, und dann war er fertig. »Aber wo bin ich nur mit meinen Gedanken?« rief er, sprang auf, kam mit ausgestreckter Hand zu meinem Tisch und strahlte mich mit dem Weitwinkelgrinsen an, das er einsetzte, wenn es ihm geraten schien. »Gratuliere, John. Wirklich. Das ist die beste Nachricht, die ich diese Woche gehört habe.«

Ich schüttelte seine Hand und sah ihn mit einem Lächeln an, das wohl ebenso schüchtern wie selbstzufrieden war. »Das freut mich. Ich bin wirklich ... Denn ich wußte nicht, wie du, na ja, wie du reagieren würdest ...« sagte ich, aber er unterbrach mich und war mir bereits weit voraus.

»Wann, sagtest du, soll die Hochzeit sein?«
»Also, äh ... Das hab ich noch gar nicht gesagt. Aber wir wollen, äh, so schnell wie möglich ... Im März. Iris findet, März wäre ...« Er schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Nicht im März. Im März verdient der Garten kaum die Bezeichnung Garten, wie du ja besser als jeder andere weißt. Nein, keine Frage, ihr werdet im Mai heiraten.«
»Der Garten?«
Er sah mich direkt an, er starrte mir in die Augen, doch ich glaube, er sah mich gar nicht. Er sah Sonnenschein und Blumen, er sah Iris in einem Satinkleid mit Schleppe und über alldem das tiefblaue Himmelsgewölbe. »Ja, natürlich. Ich biete ihn dir an – mein Geschenk an euch, John. Und denk mal nach: Im Mai werden die Iris in voller Blüte stehen. Iris für Iris. Was könnte schöner sein?«
Ich sagte, ich sei einverstanden – nein, eigentlich dankte ich ihm überschwenglich –, aber Iris habe bereits mit ihrer Mutter gesprochen und gewisse Kräfte in Bewegung gesetzt, so daß ich nicht sicher sei, ob ein Aufschub noch möglich sei. Er schien mich nicht zu hören.
»Wir werden Mac dazu bringen, etwas Besonderes zu machen«, sagte er. »Wie wär’s mit einem Persimonen-Hochzeitskuchen? Und ich werde das Hochzeitsessen zubereiten, kalten Braten und so weiter und Gulasch ... Und Champagner, wir werden natürlich Champa- gner trinken ...« Er ließ den Satz in der Luft hängen und schien sich meiner erst jetzt wieder bewußt zu werden; es war, als hätte ich mich aus dem Raum geschlichen, meine leere Hülle zurückgelassen und sie jetzt erst wieder in Besitz genommen. »Aber Iris«, sagte er, »deine Zukünftige ... Die sexuelle Kompatibilität war zufriedenstellend, nehme ich an?«
Ich stand, durch den Schreibtisch von ihm getrennt, im trüben Licht des Büros und nickte, ein starres Lächeln auf den Lippen.
Er grinste jetzt noch breiter, trat von einem Fuß auf den anderen, straffte die Schultern und rieb sich die Hände, als müßte er sie wärmen. »Ja«, sagte er, »ja. Was moderne Aphrodisiaka betrifft, so geht doch nichts über das Automobil. Ich habe es dir ja immer schon gesagt: Wie zufrieden könnten junge Paare in Amerika sein, all diese frustrierten Studentinnen und Studenten, die liebeskranken Highschool-Schüler, die Paare, die zu arm sind, um zu heiraten« – er wies mit einer ausladenden Armbewegung auf den Campus und die Dächer der Stadt dahinter –, »wenn sie ihre sexuellen Bedürfnisse ungestört befriedigen dürften, wann und wo sie wollten, ohne daß die öffentliche Meinung den Stab über sie bricht? Allerdings hoffe ich, John«, fuhr er fort, und sein Blick hielt mich fest, »daß du die koitale Erfahrung nicht mit der Art von Bindung verwechselst, die man braucht, um eine Ehe einzugehen und zu erhalten. Dasselbe gilt natürlich auch für Iris. Sie weiß doch, daß Sex unabhängig von der Ehe ist – oder es jedenfalls sein kann und in vielen Fällen sein sollte? Daß sie nicht erst zu heiraten braucht ...« Er unterbrach sich und ließ den Rest unausgesprochen.
Ich wollte ihn beruhigen und ihm versichern, daß wir einander liebten und, wie er ja wußte, seit geraumer Zeit zusammen waren, daß unsere sexuelle Kompatibilität sehr gut war, vielen Dank, mehr als adäquat, ganz prima sogar, und daß wir genau wußten, was wir taten, doch er kam mir zuvor.
»Was für eine wunderbare Neuigkeit! Du wirst verheiratet sein, Milk – verstehst du, was das für unser Projekt bedeutet? Du wirst nicht mehr – entschuldige bitte – so feucht hinter den Ohren sein, oder jedenfalls wirst du nicht mehr diesen Eindruck machen. Bei unseren Befragungen werden vor allem ältere Personen und Frauen zu einem verheirateten Mann mehr Vertrauen haben als zu einem Junggesellen. Meinst du nicht auch?«
Ich konnte ihm im Brustton der Überzeugung antworten, ob- gleich das gedankliche Bild von Mrs. Foshay alles andere aus meinem Kopf zu verdrängen drohte. »Selbstverständlich, Prok, und ich habe auch gut zugehört, die vielen Male, wenn du gesagt hast, daß du dir wünschst, ich wäre älter und, na ja, erfahrener, das kannst du mir glauben.«
»Gut, gut«, sagte er, »gut«, und er wollte zu seinem Schreibtisch zurückkehren, drehte sich jedoch noch einmal zu mir um. »Iris«, sagte er. »Haben wir eigentlich ihre Geschichte?«

In den nächsten zwei Monaten war Prok als Redner immer stärker gefragt, und notgedrungen reisten wir häufiger. Es hatte sich herumgesprochen. Anscheinend wollte jede Bürgervereinigung, jede Privatschule, jede Universität im Umkreis von achthundert Kilometern, daß er bei ihnen auftrat, und zu diesem Zeitpunkt lehnte er keine einzige Einladung ab. Er verlangte auch kein Honorar und ging sogar so weit, die Reisekosten aus eigener Tasche zu bezahlen. Die ersten spärlichen Fördermittel vom National Research Council und der Rockefeller Foundation waren eine gewisse Hilfe – auch ich als sein erster Vollzeit-Assistent wurde aus diesem Topf bezahlt. Die Vorträge liefen immer gleich ab: Prok betrat den Saal, in dem die Zuhörer bereits versammelt waren, und sprach mit seiner üblichen Unverblümtheit über die bis dahin tabuisierten Themen. Anschließend bat er Freiwillige – er bezeichnete sie als »Freunde der Forschung« –, vorzutreten und ihre Geschichte aufzeichnen zu lassen. Wenn wir nicht in seinem Büro saßen und an Tabellen, Kurven und Korrelationen arbeiteten, waren wir unterwegs und sammelten Daten, denn – wie er immer sagte – man konnte gar nicht genug Daten haben.

Und wie ging es mir dabei? Ich war natürlich aufgeregt und ließ mich von Proks Begeisterung anstecken – ich war (und bin auch heute noch) durch und durch von der Bedeutung des Projekts überzeugt –, doch der Zeitpunkt war, wie Sie sich vorstellen können, ein bißchen ungünstig. Iris und ich hatten uns gerade verlobt. Jeder von uns sehnte sich nach der Gesellschaft des anderen. Wir hatten begonnen, einander sexuell zu entdecken (auch wenn wir beide noch immer mit unseren Hemmungen zu kämpfen hatten und meine Erlebnisse mit ihr keineswegs so waren wie die mit Mac). Ich wollte mit ihr Zusammensein, Arm in Arm mit ihr durch Bloomington schlendern, in Gebrauchtwarenläden nach Geschirr, Teppichen und dergleichen stöbern und die Preise für Möbel vergleichen, die wir für unseren gemeinsamen Haushalt brauchen würden. Den hofften wir im Juni zu gründen, doch zuvor mußten wir eine Wohnung finden, die wir uns mit unseren bescheidenen Mitteln leisten konnten, und das kostete Zeit und Mühe. Statt dessen saß ich in zweitklassigen Hotels, blieb, obgleich total erschöpft, bis ein, zwei Uhr morgens auf und versuchte, so viele Protokolle wie möglich zu erstellen. Ich trank und rauchte zuviel. Ich hatte ein leises Pfeifen in den Ohren, mein Kopf schmerzte, meine Augen fühlten sich an wie geschmolzen, und nichts, nicht einmal Einzelheiten über die entlegensten Sexualpraktiken, konnte mich aus meiner Apathie reißen, weder Koprophilie noch Inzest oder Sex mit Tieren. Ich nickte lediglich, sah dem oder der Befragten fest in die Augen und machte meine Einträge auf dem Formular.

In dieser Zeit sammelten wir etwa zweihundert Geschichten. Wir strengten uns wirklich an, doch bislang litt unser Forschungsprojekt an einem Mangel: Die Mehrheit der von uns befragten Personen entstammte einer oberen sozialen Schicht, das heißt, es handelte sich um Studenten oder Selbständige. Wir hatten unser Spektrum, wie gesagt, erweitert und sammelten Geschichten unter den Angehörigen der homosexuellen Subkultur in Indianapolis und Chicago sowie unter den Insassen mindestens einer Strafanstalt und des Staatsgefängnisses, in dem Prok so viele wertvolle Kontakte geknüpft hatte – und aus einem Kontakt ergaben sich regelmäßig weitere, aus denen wiederum neue Kontakte entstanden, so daß wir nun entschlossen waren, möglichst viele Geschichten aus den unteren sozialen Schichten aufzuzeichnen. Vor allem fehlten uns Berichte von Schwarzen, und so unternahmen wir eine zweite Expedition nach Gary, Indiana, in das bereits erwähnte dortige Negerviertel.

An einem regnerischen Samstagmorgen Mitte April brachen wir auf. Damals mußten wir noch Rücksicht auf Proks Stundenplan nehmen: Das Eheseminar war zwar eingestellt worden, aber er hielt noch immer einige Biologiekurse ab, von denen einer samstags morgens um acht Uhr stattfand – für Studenten eine ungünstige Zeit, um sich über einen Seziertisch zu beugen oder zu bestimmen, ob eine Pflanze ein- oder zweikeimblättrig ist. Wir fuhren ohne Pause, so schnell, wie es die Straßen, der Nash und die Staatspolizei zuließen, und trafen kurz nach Einbruch der Dunkelheit ein. Wir aßen ein nicht erwähnenswertes Abendessen in einem schlechtbeleuchteten Schnellimbiß, und als wir anschließend Kaffee tranken und ein Stück Kuchen aßen, wurde aus dem Nieseln ein stetiger grauer Regen, der uns die Arbeit nicht leichter machen würde, denn wir würden draußen unterwegs sein, auf der Straße. Prok machte ein grimmiges Gesicht. Immer wieder sah er auf die Uhr, als könnte er damit dem Regen Einhalt gebieten und das Zusammentreffen mit unserem Kontaktmann beschleunigen. Er hatte guten Grund, besorgt zu sein. Unser erster, im bitterkalten Februar unternommener Ausflug nach Gary war ein Reinfall gewesen. Stundenlang waren wir um einen Block nach dem anderen gefahren und hatten jedesmal, wenn auf den menschenleeren Straßen eine Gestalt erschienen war, hoffnungsvoll durch die Windschutzscheibe gespäht, doch Proks Kontaktmann war nicht aufgetaucht, und wir hatten nicht ein einziges Interview geführt. Jetzt verlor keiner von uns ein Wort darüber. Wir tranken den Kaffee, zogen unsere Regenmäntel an und fuhren sechs Blocks nach Süden, mitten ins Negerviertel.

Prok parkte in einer Seitenstraße. Um die Ecke war eine Kneipe namens »Shorty’s Paradise«. Es gab kleine Geschäfte (Friseur – Sandwiches nach Ihren Wünschen – Metzger), in den darüberliegenden Stockwerken waren Wohnungen, die über Außentreppen erreichbar waren, und hinter den Dächern ragten die Schornsteine von Fabriken auf wie die Türme einer Burgruine. Die Straße war mit aufgeweichten Zeitungen, leeren Flaschen und weggeworfenem Einwickelpapier übersät. Das Regenwasser lief an der Windschutzscheibe herunter und ließ den Bürgersteig schimmern. Nirgends ein Lebenszeichen. Wir stiegen aus. Als wir die Türen des Wagens zuschlugen, dröhnten sie wie Kanonendonner.

Die erste Überraschung kam, als wir um die Ecke bogen: Trotz des Regens drängten sich Menschen vor »Shorty’s Paradise« – ein ganzer Pulk quoll durch die offene Tür der Kneipe, und rechts und links unter der löchrigen Markise herrschte Gedrängel. Es waren Schwarze, ausschließlich Schwarze. Ich muß gestehen, ich hatte bis dahin nicht viel Kontakt mit Negern gehabt. Hin und wieder hatte ich in dem Geschäft, in dem ich früher in den Sommerferien arbeitete, ein paar freundliche Floskeln – »Schöner Tag heute, nicht?« – mit irgendeiner Köchin oder einem Dienstmädchen gewechselt, aber das war auch alles. Von drinnen ertönten Musik und Stimmengewirr, es roch nach Alkohol, Tabak und Marihuana. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich zögerte.

Im Gegensatz zu Prok. Prok war die zweite Überraschung. Obwohl er Bars, Zigaretten und ganz besonders den »Urwaldrhythmus« der populären Musik verabscheute, schob er sich durch die Menge und ging hinein, als hätte er an keinem Samstagabend seines Lebens etwas anderes getan. Er trug wie immer einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine Fliege, darüber einen gelben Regenmantel, der auf dem Rücken stets Falten warf, als wäre er aus zwei vollkommen verschiedenen Stücken Wachstuch zusammengenäht worden. Auch ich hatte einen schwarzen Anzug und eine Krawatte an, doch mein Regenmantel – das Ding hatte meine Großmutter für mich ausgesucht – war grau mit schwarzen Sprenkeln und reichte mir bis zu den Knöcheln. Die Haare unter dem Schweißband meines Huts prickelten und schienen sich aufstellen zu wollen. Ich zog den Kopf ein und folgte ihm.

Der Raum wurde von einer langen Theke aus Mahagoniholz beherrscht, an der dichtgedrängt Leute saßen und sich unterhielten. Alle drehten sich um, als wir eintraten, und wandten sich dann wieder ab, als hätten sie uns nicht bemerkt. Die Jukebox spielte mit voller Lautstärke »Minnie the Moocher«, und jeder, der etwas zu sagen hatte, mußte sich anstrengen, um sich verständlich zu machen. Prok ging geradewegs zum Tresen, verschaffte sich dort ein wenig Platz und begann sofort ein Gespräch mit einem hünenhaften Mann in einem glänzenden blauen Zweireiher. Und nun kam die dritte, die eigenartigste Überraschung: Prok sprach Dialekt. Ich war verblüfft. Wie Sie vielleicht wissen, war Prok ein fanatischer Verfechter korrekter Ausdrucksweise und scheute sich nicht, grammatikalische Fehler seines Gesprächspartners zu berichtigen – mitunter war er dabei verletzend sarkastisch –, doch hier, in dieser Bar, schaltete er auf den Dialekt der Schwarzen um, als wäre er ein Bauchredner. Die Unterhaltung verlief ungefähr folgendermaßen:

»‘naamd, mein Freund«, sagte Prok und faßte den anderen in seine blauen Augen. »Ich such Rufus Morganfield. Kenn’ Sie den?«
Der Mann in dem glänzenden blauen Anzug ließ sich Zeit mit der Antwort. Er musterte Prok aus zusammengekniffenen Augen, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein nicht ganz leeres Glas. »Sind Sie ‘n Bulle?«
»Mh-mh.«
»Was dann? ‘n Bibelverkäufer?«
»Im Gegenteil. Ich bin Dr. Alfred C. Kinsey, Professor für Zoologie an der Indiana State University, und Rufus – Bruder Rufus – hat gesagt, er will sich hier mit mir treffen.«
»Das is ja ‘n Ding«, sagte der Mann leise. »Doktor, hm? Wolln Sie meine Hemmoriden abtasten?«
Prok zuckte nicht mit der Wimper. Niemand lachte. »Sie möchten nich zufällig noch ‘n Cocktail?« fragte er.
Es trat eine lange Pause ein. Prok rührte sich nicht und sah den anderen fest an, und schließlich ließ der Mann im blauen Anzug ein Lächeln aus den Falten rechts und links seines Mundes kriechen. »Crown Royal und Soda«, sagte er dann.
Der Drink wurde bestellt und gebracht. Inzwischen war Prok in ein Gespräch mit dem Mann im blauen Anzug und vier oder fünf anderen vertieft, die ihm am nächsten standen, und Rufus Morganfield, unser Kontaktmann, der bis dahin am anderen Ende der Theke gestanden und abgewartet hatte, wie sich die Dinge entwickelten, trat zu uns und stellte sich vor. Prok begrüßte ihn herzlich, und ich dachte, er würde auch ihm einen Drink spendieren, doch statt dessen verabschiedete er sich händeschüttelnd von allen, legte einen Arm um Rufus, den anderen um mich und schob uns hinaus auf die Straße. Sogleich verwandelte er sich wieder in sein gewohntes Ich, denn es war gar nicht nötig, Rufus zu hätscheln. Prok hatte ihn im Staatsgefängnis kennengelernt und seine Geschichte aufgezeichnet, und Rufus bekam fünfzig Cent für jedes von ihm vermittelte Interview mit einer der Prostituierten, die in dieser Gegend arbeiteten. (Ich sollte erwähnen, daß Prok sich, jedenfalls anfangs, sehr für Prostituierte interessierte, weil ihre Erfahrung soviel größer war als die der meisten anderen Frauen – das war, bevor wir Gelegenheit hatten, sie bei der Arbeit zu beobachten –, doch letztlich waren sie im Hinblick auf die Physiologie der verschiedenen Sexualpraktiken nicht so nützlich, wie man vielleicht annehmen könnte, und zwar wegen ihrer Neigung, gewisse Reaktionen vorzutäuschen.)
Mit Rufus als unserem Vergil waren wir jedenfalls in der Lage, die Prostituierten aufzuspüren. Wegen des Regens fanden sie an diesem Abend nur wenige Kunden und saßen in ihren Stammlokalen herum. Wir machten uns sogleich daran, ihre Geschichten aufzuzeichnen. Anfangs waren sie skeptisch – »Aber klar, Schätzchen, du zahlst einen Dollar und willst nur reden« –, aber wenn Prok eine Geschichte witterte, war er nicht aufzuhalten, und schon sehr bald hatte er sie überzeugt, daß das eine ganz saubere Sache war, rein wissenschaftlich, und daß wir sie nicht bloß als Quelle betrachteten, sondern als menschliche Wesen. Auch dies war etwas, worin sich Proks Genie offenbarte – oder vielmehr sein Mitgefühl. Er brachte den Befragten echte Sympathie entgegen. Und er hatte keinerlei Vorurteile, weder in rassischer noch in sexueller Hinsicht. Es war ihm völlig gleichgültig, ob jemand eine andere Hautfarbe hatte, ob er Italiener oder Japaner war, ob er Analverkehr bevorzugte oder auf das Hochzeitsfoto seiner Mutter masturbierte – jeder Befragte war ein Exemplar der menschlichen Spezies und eine Quelle für Daten.
Es stellte sich jedoch ein anderes Problem: In dieser Gegend gab es keine geeigneten Hotels, also keine privaten Räumlichkeiten, in denen wir die Interviews durchführen konnten. Zwar hatten wir den Wagen, doch den konnte nur einer von uns nutzen, und wir mußten die Befragungen ja gleichzeitig vornehmen. Der Regen hatte zugenommen, und wir- zwei Prostituierte, nicht älter als ich, Prok, Rufus und ich – standen an der Straßenecke, als Rufus eine Lösung einfiel. »Ich hab ein Zimmer«, sagte er, »zwei Blocks von hier. Nichts Tolles, aber es gibt elektrisches Licht, ein Bett und einen Stuhl, und wenn das reicht ...«
Schließlich entschied Prok, daß er den Nash nehmen und mir den relativen Komfort von Rufus’ Zimmer überlassen würde, denn ich war ja noch Anfänger und sollte nicht durch zusätzliche Erschwernisse wie Kälte, Regen und unzureichende Beleuchtung behindert werden. Es war eine noble Geste, vielleicht von praktischen Erwä- gungen diktiert, doch sie war letztlich zu seinem Nachteil. Ich ging mit dem Mädchen – ich spreche hier von »Mädchen«, weil sie erst achtzehn war, mit schräg stehenden, zimtfarbenen Augen und einer Haut, so braun wie die Trinkschokolade, die zu Hause von der Molkerei Bornemann verkauft wurde – in Rufus’ Zimmer am Ende eines Korridors im zweiten Stock eines frei stehenden Backsteinhauses, das einst ein Einfamilienhaus gewesen war und dessen Zimmer nun einzeln vermietet wurden. Anfangs schien sie im Zweifel zu sein und war vielleicht auch ein bißchen nervös – ich jedenfalls war ein Nervenbündel, nicht nur, weil ich zu diesem Zeitpunkt erst so wenige weibliche Geschichten aufgezeichnet hatte, sondern auch wegen ihrer Rassenzugehörigkeit und der Umgebung: bedrückende, irgendwie gelbliche Wände, ein ordentlich gemachtes Einzelbett, das ebensogut eine Gefängnispritsche hätte sein können, hartes Licht von der nackten Glühbirne, die von der Zimmerdecke baumelte. Als sie etwa eine Viertelstunde nach Beginn des Interviews erkannte, worum es ging, entspannte sie sich, und ich glaube, daß ich bei ihrer Befragung gute, professionelle Arbeit leistete (auch wenn ich, um ehrlich zu sein, ebenso peinlich erregt war wie bei Mrs. Foshay).
Ihre Geschichte war wohl typisch für eine Frau in ihrer Lage: Sie hatte in der Pubertät sexuelle Beziehungen zum Vater und einem älteren Bruder gehabt und mit vierzehn geheiratet, anschließend war sie von Mississippi nach Norden gezogen, ihr Mann hatte sie verlassen, ein Zuhälter hatte sich um sie »gekümmert«, und dann waren die Freier gekommen und die Geschlechtskrankheiten. Ich weiß noch, daß ihre schlichte, von allen Nuancen freie Aufzählung der Tatsachen, der traurigen Tatsachen, mich rührte, wie mich noch nie etwas gerührt hatte. Ich wollte mich ganz unprofessionell von meinem Stuhl erheben und sie umarmen und ihr sagen, daß alles gut war, daß alles besser werden würde, obwohl ich wußte, daß das nicht stimmte. Ich wollte sie ganz unprofessionell ausziehen und mit ihr hier, auf diesem Bett, schlafen und sehen, wie sie sich unter mir wand. Aber ich gab weder dem einen noch dem anderen Impuls nach. Ich verschloß diese Gedanken in meinem Kopf und zeichnete ihre Geschichte auf – eine von Tausenden, die in unserem Archiv landeten.
Kaum war sie gegangen, da kam die nächste Frau. Sie war älter, dreißig oder fünfunddreißig, und hatte entlang der Kinnlinie auf der rechten Seite ihres Gesichts eine weiße, schlecht verheilte Narbe. Diese Frau hatte etwas Kämpferisches an sich: die Furche der zusammengekniffenen Lippen, die Unwetterwarnung auf ihrer Stirn, die »Das-wollen-wir-doch-mal-sehen«-Haltung ihrer Beine, als sie mit in die Hüften gestemmten Händen in der Tür stand. Bevor sie eintrat, wollte sie den Dollar haben, den wir jeder Befragten versprochen hatten. Ich wühlte in meinen Taschen, doch die waren leer. Prok hatte ein Bündel knisternder neuer Ein-Dollar-Scheine in seiner Brieftasche; er hatte das Geld am Vortag von seinem Bankkonto abgehoben, es aber in dem Durcheinander bezüglich geeigneter Orte für die Interviews versäumt, mir mehr als den einen Dollar zu geben, den nun die erste Prostituierte hatte. »Ich ... äh ... Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich glaube, ich muß mal eben ...«
»Na klar, es tut dir leid«, sagte sie und zog die Brauen zusammen. »Dann tut’s mir auch leid.« Sie stieß einen Fluch aus. »Und dafür hab ich meinen Arsch den ganzen Weg durch den Regen geschleppt!«
»Nein«, sagte ich, »nein, Sie verstehen nicht.«
»Du bist bloß ein kleiner Betrüger wie alle anderen«, sagte sie. »Du willst was umsonst, stimmt’s?«
Ich mußte all meine Überredungskünste aufwenden, die damals nur sehr unvollkommen entwickelt waren, um sie dazu zu bringen, auf dem Bett Platz zu nehmen und zu warten, während ich die Treppe hinunter- und zurück zum Nash lief, wo Prok sein Interview mit einer schwarzen Prostituierten führte. Er würde von dieser Unterbrechung nicht begeistert sein. Es war eine eiserne Regel, daß die Befragungen in einer privaten, ungestörten Atmosphäre stattfinden mußten, ohne jede Ablenkung, die den Rapport zwischen Interviewer und Befragtem zerstören könnte, ohne läutende Telefone, ohne im Hintergrund anwesende Dritte, ohne Notfälle irgendwelcher Art. Ich wußte das. Und ich wußte, wie unangenehm Proks Ungeduld – oder Zorn – sein konnte. Dennoch hatte ich keine andere Wahl. Ich legte die ganze Strecke rennend zurück, denn ich hatte Angst, die Frau könnte genug haben und einfach gehen, und als ich bei »Shorty’s Paradise« um die Ecke bog, erhob sich der dunkle Umriß des Nash aus der schwarzen horizontalen Fläche der Straße wie etwas, das ein abschmelzender Gletscher zurückgelassen hatte. Von drinnen schimmerte das Licht von Proks Taschenlampe, und durch die Windschutzscheibe waren die Silhouetten zweier Köpfe zu sehen. Schnaufend kam ich auf dem nassen Bürgersteig zum Stehen, atmete einmal tief durch und klopfte leise an das Seitenfenster auf der Fahrerseite.
Genau in diesem Augenblick bog hinter mir der Polizeiwagen um die Ecke. Seine Lichter begannen zu blinken.
Ich war noch nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und hatte keinen Grund, von den beiden Polizisten, die aus ihrem Wagen stiegen, irgend etwas anderes als Höflichkeit und freundliche Unterstützung zu erwarten, ja ich dachte absurderweise, sie seien hier, um uns zu helfen, so viele Prostituierte wie möglich zu kontaktieren, damit wir unsere Interviews leichter durchführen konnten. Es kam jedoch anders. Die Situation entwickelte sich derart dynamisch, daß ich erst sehr viel später begriff, was eigentlich geschehen war. Die beiden Polizisten – klein und stämmig, mit der breiten Brust und dem o-beinigen Gang von Rugbyspielern – kamen auf mich zu. Ich stand noch immer neben dem Fenster des Nash. Der eine war etwa in Proks Alter und hatte eine breite Nase und ein gerötetes Gesicht. Er packte wortlos meine Arme, drehte sie mir auf den Rücken und legte zwei metallene Bügel um meine Handgelenke. Mit anderen Worten: Handschellen.
»Aber ... aber was machen Sie denn da?« fragte ich. Oder vielmehr: stammelte ich. Der Regen fiel auf mein Gesicht, durchnäßte die Ärmel und Schultern meines Jacketts und sickerte in mein pomadisiertes Haar, das nun wild in alle Richtungen stand und einen traurigen Anblick bot (in der Eile hatte ich Hut und Mantel im Zimmer zurückgelassen). »Nein, nein, nein, Sie machen einen Fehler. Sie müssen doch ... Sie müssen ... Verstehen Sie denn nicht ...«
Der zweite Polizist – er war blond und hatte blasse Augenbrauen und einen dünnen Schnurrbart, der wie der von Paul Sehorn verschwand, als das Einsatzlicht des Streifenwagens über sein Gesicht glitt – hatte meinen Platz neben der Fahrertür eingenommen. Er klopfte mit seinem Knüppel gegen das Fenster, und sein Klopfen war dringlicher als meins. Das Fenster wurde hinuntergekurbelt, Proks erstauntes Gesicht erschien, und dann legte der Polizist die Hand auf den Griff und riß die Tür auf. »Okay«, sagte er, »aussteigen.«
Unterwegs zur Wache, zusammengedrängt auf dem Rücksitz des Streifenwagens, die Prostituierte (Verleen Loy, 1,65 m, 58 kg, geb. 17.3.1924) zwischen uns, protestierte Prok mit klaren, zornigen Worten. Wußten sie eigentlich, wer er war? Wußten Sie, daß der National Research Council, die Rockefeller Foundation und die Indiana State University seine Forschungen unterstützten? War ihnen bewußt, daß sie den Fortschritt der Menschheit zu einem besseren Verständnis eines der bedeutendsten Verhaltensmuster der menschlichen Spezies behinderten?
Dessen waren sie sich nicht bewußt, nein. Einer der beiden – der mit dem roten Gesicht, der mir die Handschellen angelegt und mich dann ohne erkennbaren Grund an die Mauer des Hauses hinter mir gestoßen hatte – drehte sich um und wandte sich in einem Ton, den ich ebenso derb wie beleidigend fand, an die Prostituierte. »Na, Verleen«, sagte er breit grinsend, »halten wir hier den Fortschritt auf?«
Der vorbeihuschende Schein einer Straßenlaterne fiel auf ihr Gesicht. Ihre Augen sprachen von Mißhandlungen, und ihre Zähne sahen aus, als wären sie spitz gefeilt. Sie antwortete mit leiser Stimme, die über dem Zischen der Reifen auf der nassen Fahrbahn kaum zu verstehen war. »Ihr haltet gar nichts auf«, sagte sie.
Auf der Wache schien sich die Angelegenheit zum Besseren zu wenden. Der wachhabende Beamte war zwar äußerst skeptisch, aber auch beeindruckt von Proks Auftreten und Erscheinung (und ich glaube, er hatte Mitleid mit mir, weil meine Haare so zerzaust waren und ich so niedergeschlagen aussah). Nachdem er festgestellt hatte, daß Prok tatsächlich der war, der er zu sein behauptete, ließ ihn der Wachhabende mit H.T. Briscoe, dem Dekan der biologischen Fakultät an der Indiana State, telefonieren. Die Handschellen schnitten in meine Handgelenke, als ich dastand und zusah, wie Prok die Nummer aus dem Gedächtnis aufsagte und der Beamte sie an die Vermittlung weitergab.
Es war nach zwei Uhr morgens. Verleen war abgeführt worden und saß in irgendeiner Zelle, und aus dem Zellenblock für Männer an der Rückseite des Gebäudes hörte ich hin und wieder einen Schrei oder ein Wimmern. Ich schäme mich nicht zu sagen, daß ich Angst hatte. Ich war keine dreiundzwanzig und hatte wenig bis nichts von der Welt gesehen. Und nun hatte ich gegen das Gesetz verstoßen und eine komplizierte Anklage wegen eines Sittlichkeitsdelikts zu erwarten, die mir für den Rest meines Lebens anhängen würde, und ich überlegte bereits voller Panik, was ich meiner Mut- ter sagen würde – und was Iris. Förderung der Prostitution. So würde die Anklage lauten, oder? Unnatürlicher Verkehr? Unzucht? Verführung Minderjähriger? Ich sah mich schon im Staatsgefängnis, sah mich in gestreifter Häftlingskleidung hinausschlurfen, um den Hof zu harken.
Doch dann hörte ich, wie Prok Dean Briscoe, der unsanft aus seinem gemütlichen Bett in seinem gemütlichen Haus im paradiesischen Bloomington geholt worden war, mit kühler, beherrschter Stimme die Situation erklärte, und sah das Gesicht des Wachhabenden, als Prok ihm den Hörer reichte und Dekan Briscoe mit der Autorität seines Amtes die Angaben seines Kollegen bestätigte, und da erst wußte ich, daß die Krise überstanden war. Leider sah ich weder meinen Hut noch meinen Mantel jemals wieder, und leider konnten wir auf dieser Reise nur sechs Interviews durchführen, aber eines immerhin hatte uns dieser Zwischenfall gelehrt: Von da an hatte Prok stets einen von Dean Briscoe unterschriebenen Brief dabei, in dem dieser die Zielsetzung des Projekts erläuterte und erklärte, daß es die Unterstützung durch die höchsten Autoritäten der Indiana State University genieße. Der besagte Brief solle vorgelegt werden »für den Fall, daß Dr. Kinseys Forschungen ihn an Orte führen, wo der Zweck seiner Arbeit möglicherweise nicht klar erkannt wird«.

Zurück im sicheren Bloomington, erzählte ich Iris die Geschichte unseres Mißgeschicks in einer gekürzten Version und versuchte so- gar, witzig zu sein, obgleich meine seelischen Wunden noch längst nicht verheilt waren, doch Iris fand das alles keineswegs amüsant. Wir aßen in der Mensa zu Abend (Schweinebraten mit dunkler Sauce, ungleichmäßig gestampfter Kartoffelbrei und Wachsbohnen, die so zerkocht waren, daß sie wie etwas Wiedergekäutes aussahen), und sie hatte unschuldig gefragt, wie die Reise gewesen sei. Ich sagte es ihr, wobei ich einige der unschöneren Details etwas beschönigte, und schloß mit einer ausführlichen Klage über den Verlust von Hut und Mantel (für den mich Prok übrigens beim Ausstellen meines nächsten Gehaltsschecks entschädigte).

»Prostituierte, hm?« sagte sie.

Ich nickte. Die Deckenbeleuchtung ließ mein Gesicht aussehen wie das eines Wasserspeiers – ich sah es in dem langen, schmutzigen Spiegelstreifen an der Wand hinter Iris. Draußen regnete es, ein Ausläufer der ausgedehnten Regenfront, die uns in Gary erwischt hatte.

Iris war sehr blaß und preßte die Lippen zusammen. Sie legte Messer und Gabel sorgfältig auf den Teller, dabei hatte sie das Essen kaum angerührt. Als sie sprach, klang ihre Stimme belegt. »Gehst du oft zu Prostituierten?«

»Ah, nein«, sagte ich. »Natürlich nicht. Das versteht sich von selbst.«
»Hast du jemals ... Hast du schon mal mit einer geschlafen?«
Mir gefiel der darin enthaltene Vorwurf nicht, ebensowenig die Kritik oder die Herabsetzung meiner Professionalität und meiner Arbeit. Und nach dem, was ich in der vorangegangenen Nacht durchgemacht hatte, war ich besonders empfindlich. Sie hatte ja keine Ahnung. »Nein«, sagte ich barsch. »Sei nicht albern.«
»Hast du jemals mit einer geschlafen?«
»Iris, bitte. Wofür hältst du mich?«
»Hast du oder hast du nicht?«
»Nein. Und wenn du es ganz genau wissen willst: Bis gestern nacht habe ich noch nie eine Prostituierte gesehen, und ich würde sie, also Prostituierte, auch nicht anders behandeln als irgend jemand anderen. Bei den Interviews, meine ich. Du weißt genau, daß wir so viele Sexualberichte brauchen, wie wir kriegen können, wenn dieses Projekt erfolgreich sein soll. Wir brauchen ein möglichst breites Spektrum: Pfarrersfrauen, Vorsitzende von Wohltätigkeitsvereinen, Pfadfinderführerinnen« – hier schössen mir Bilder der nackten Mac durch den Kopf, sie zuckten auf wie die Flecke und Kleckse, die man auf der Leinwand sieht, bevor der eigentliche Film beginnt – »und natürlich auch Prostituierte.«
Sie wandte den Blick ab und zeigte mir ihr Profil. Ihr Haar war ein sanftes Flackern aus Licht und Schatten. »Hast du je mit einer Frau geschlafen?« Sie sprach zur Wand, flüsternd. »Außer mit mir?«
»Nein«, sagte ich, und ich weiß nicht, warum ich log, wo doch das ganze Ethos hinter unserem Projekt darauf abzielte, die menschliche Sexualität aus dem dunklen Keller zu holen, in den die Priester sie verbannt hatten, sie zu feiern, sie zu genießen, sie ohne Verbote und Hemmungen voll und ganz zu genießen. Aber ja – in diesem Augenblick, in dieser Situation, die, milde gesagt, heikel war, log ich.
»Aber warum nicht?« fragte sie, hob den Kopf und warf mir einen Seitenblick zu, den Seitenblick eines für seine drakonischen Strafen berühmten Richters, den Seitenblick eines Henkers. »Ist das – mit vielen Menschen zu schlafen, meine ich – denn nicht genau das, was Dr. Kinsey, Entschuldigung, was Prok propagiert? Gehört das nicht zum Programm? Sexuelle Experimente, meine ich.«
»Na ja«, sagte ich, und ein Stück Fleisch, weich wie ein Schwamm, schien zurück in meine Kehle gekrochen zu sein, »eigentlich nicht. Er selbst ist ja glücklich verheiratet, und er ... er will eigentlich bloß, daß wir auch ...«
Ihr Gesicht war gerötet. Das gekreuzigte Schweinefleisch, das in der erstarrten Sauce auf ihrem Teller lag, wurde kalt. Ich spürte einen Luftzug, irgendwo hatte jemand eine Tür geöffnet, und ich reckte den Kopf, um zu sehen, woher der kühle Wind kam. »Findest du auch, daß es hier zieht?« fragte ich.
»Du lügst mich an«, sagte sie. »Ich weiß, daß du mit einer anderen geschlafen hast.«
»Und mit wem?« wollte ich wissen.
Sie drehte den Ring, den ich ihr geschenkt hatte, hin und her, um ihn über das Gelenk des Fingers zu ziehen. Es war ein Diamantring, und ich hatte mir von Prok fünfundzwanzig Dollar Vorschuß geben lassen, um ihn anzuzahlen. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie etwas so Extravagantes gekauft, ich hatte nicht mal davon geträumt. Sie zerrte den Ring vom Finger, legte ihn zwischen uns auf den Tisch und griff nach ihrer Jacke. Alle Gefühle waren in den Augen und der erbitterten, klaffenden Wunde ihres Mundes konzentriert. »Mit Mac«, sagte sie. »Du hast mit Mac geschlafen.«

8

Soviel zum Thema »weibliche Intuition«, zu den unterschwelli- gen Signalen, die dieses Geschlecht irgendwie aufzufangen imstande ist, so wie ein Hund weiß, daß sein Herrchen kommt, obwohl dessen Wagen noch sechs Blocks entfernt ist, oder wie eine Katze beim leisesten Geräusch im entferntesten Winkel des Speichers die Ohren spitzt. Eine ganze Woche lang lief ich mit dem Ring in der Tasche herum und machte keinen Versuch, mit Iris zu sprechen oder sie davon zu überzeugen, daß sie falsch lag – ich hätte ihr auch nichts anderes gesagt als das, was ich ihr an jenem Abend in der Mensa gesagt hatte: daß sie verrückt sein müsse, daß Mac für mich wie eine Ersatzmutter war, verheiratet und viel zu alt, und daß ich mich sowieso nicht zu ihr hingezogen fühlte. Iris hatte mir schweigend zugehört, als wollte sie sehen, wie weit ich kam, bevor ich stolperte, und dann war sie aufgestanden und zur Tür am anderen Ende des Saals stolziert, die sie hinter sich zuknallte.

Das war unser erster Kampf, der erste Schlagabtausch in einer langen Reihe von Vor- und Meisterschaftskämpfen, und ich war unglücklich – unglücklich, aber nicht gewillt nachzugeben. Was hatte ich denn schon getan? Ein paar Prostituierte interviewt? Das war mein Job – konnte sie das nicht verstehen? Wenn eine so unbedeutende Sache sie derart aufregte, wollte ich mir lieber nicht vorstellen, was die Zukunft für mich bereithielt, denn wir würden sicherlich hundert weitere Prostituierte befragen müssen und obendrein ganze Busladungen von Sexual-Straftätern jeder Couleur. Ich wollte meine Mutter anrufen und ihr sagen, die Verlobung sei aufgelöst, aber ich hatte, wie gesagt, schon immer Probleme, mich ihr anzuvertrauen, weil sie nie für mich Partei ergriff. Ich war mir sicher, daß sie sich auf Iris’ Seite schlagen und mich zerlegen würde wie einen Weißfisch, den sie vor dem Braten filetierte. Schließlich ging ich zu Mac.

Prok hielt eine Vorlesung, und die Kinder waren in der Schule, als ich die vertraute Straße entlangtrottete. Die Sonne schien mir ins Gesicht, an den Bäumen entfalteten sich die Blätter, der Aprilregen hatte die Welt grün gemacht. Wie Prok es vorausgesagt hatte, machte sich der Garten prima, obgleich wir in diesem Frühjahr weniger Zeit dort verbrachten, weil wir immer häufiger unterwegs sein mußten. Ich blieb einen Augenblick stehen und betrachtete die Blumenbeete, doch dann nahm ich meinen Mut zusammen und ging zur Haustür. Alle meine Gedanken kreisten um Iris und die Frage, wie ich mich aus dem Gespinst von Lügen befreien konnte, das ich gewoben hatte. Einen Eheberater, ich brauchte einen Eheberater, und dabei war ich noch nicht mal verheiratet. Und auch was Mac betraf, war ich mehr als nur ein wenig beklommen. Sie hatte uns, wie Prok, ihren Segen gegeben und hätte nicht aufgeregter sein können, wenn eines ihrer eigenen Kinder geheiratet hätte. Ich fragte mich, wie ich nun umkehren und ihr sagen sollte, die Sache sei abgeblasen, und zwar wegen der Dinge, die wir getan hatten – im Garten, auf dem Bugholzsofa im Wohnzimmer, im Ehebett im ersten Stock. Da stand ich nun. Ich war mir undeutlich der Tatsache bewußt, daß rings um mich her das Leben pulsierte, daß Insekten sich auf Blüten niederließen und die Spatzen in ihren Nestern unter den Dachbalken tschilpten, und ich holte tief Luft und legte den Finger auf den Klingelknopf.

Mac öffnete. Sie trug Khakishorts, die dazugehörige Bluse mit dem auf die Brusttasche gestickten Pfadfinderabzeichen, darüber eine Strickjacke. (Im Haus war es um diese Jahreszeit kühl, denn der stets sparsame Prok schaltete jedes Jahr am i. April die Heizung aus, ganz gleich, wie das Wetter war – eine Gewohnheit, die ich übrigens übernommen habe. Warum Brennstoff verschwenden, wenn der Körper doch seine eigene Wärme erzeugt?) Sie war in der Küche gewesen und hatte Gemüsesuppe gekocht und Wurstbrote für die Kinder gemacht, und sie hatte gedacht, es sei der Briefträger, ein Nachbar oder ein Vertreter – irgend jemand eben, nur nicht ich. Ich sah das Erkennen in ihren Augen und dann das Überlegen: Wieviel Zeit blieb noch, bevor sie die Schritte der Kinder auf dem Weg zur Haustür hören würde? Genug, um mich ins Haus zu zerren und mir die Kleider vom Leib zu reißen? Genug für einen schnellen Orgasmus, bei dem die Shorts um ihre Knie hingen und die Bluse bis zum Hals hochgeschoben war?

»Hallo«, sagte ich und machte wohl ein recht bedrücktes Gesicht, denn sogleich verschwand der kokette Ausdruck in ihren Augen. »Hast du ... Darf ich kurz reinkommen?«

Sie sagte meinen Namen, als würde sie schlafwandeln, und öffnete die Tür weit, um mich einzulassen. »Stimmt was nicht?« fragte sie. »Was ist los?«

Ich stand da und schüttelte den Kopf. So verzweifelt wie in diesem Augenblick war ich wohl noch nie.
Mac wußte, was zu tun war. Sie führte mich in die Küche, schenkte mir eine Tasse Tee ein und gab mir vom Mittagessen der Kinder so viel, wie sie entbehren konnte. Ich sah ihr zu, während sie sich zwischen Herd, Arbeitsfläche und Eisschrank hin und her bewegte – ein Ballett häuslichen Friedens –, und schüttete ihr mein Herz aus. Ich weiß noch, daß von einem Haus in der Nachbarschaft, wo eine Garage gebaut wurde, Hammerschläge erklangen. Das Geräusch schien die Dringlichkeit – und die Hoffnungslosigkeit – der Situation zu unterstreichen. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte ich, und der Hammer pochte dumpf und schlug dann einen schnellen Wirbel.
Bis dahin hatte Mac, abgesehen von kurzen Einwürfen – »Und dann?«, oder: »Willst du Senf, John?« –, nicht viel gesagt, und ich hatte unvermittelt das Gefühl, daß sie irgendwie eifersüchtig war, eifersüchtig auf Iris und das, was sie mir bedeutete. Mac spielte ihre Rolle als pflichtbewußte Frau des bedeutenden Wissenschaftlers, als selbstlose Gefährtin, Köchin und Mutter perfekt, doch ich fragte mich, was sie wirklich empfand. Was sie für mich empfand, wie sie unsere Beziehung sah und wie diese Sache sich auf die Beziehung auswirken würde oder sich bereits ausgewirkt hatte.
»Sollte ich ... Ich meine, findest du, daß ich derjenige sein sollte, der ...?« Ich wollte, daß sie mir sagte, ich solle zu Iris gehen und alles wieder ins Lot bringen, daß sie mir sagte, es werde für alle Beteiligten das beste sein, wenn ich aufrichtig war und die Karten auf den Tisch legte, aber ich redete wie immer um den heißen Brei herum.
Mac setzte sich mir gegenüber an den Tisch und schenkte sich eine Tasse Tee ein. Sie beugte sich vor, blies den Dampf weg und rührte mit einem Löffel in der dunklen Flüssigkeit. »Bist du dir sicher, daß du sie liebst, John?« fragte sie.
Ja, ich liebte sie, dessen war ich mir sicher, und es würde nicht das erste Mal sein, daß ich es Mac sagte, aber dort, in der von sanftem Sonnenlicht durchfluteten Küche, wo wir auf den Linoleumfliesen vor dem Herd miteinander geschlafen hatten, war es mir unangenehm, es zuzugeben.
»Ja«, sagte ich, und der Hammer schlug zweimal zu, »ja, ich bin mir sicher.«
Sie dachte lange darüber nach, blies mit gespitzten Lippen auf ihren Tee, hob die Tasse an den Mund und musterte mich über den Rand hinweg. Ihre Hände waren schön, ebenso wie ihre Augen und die einander überlagernden Wellen ihrer Haare. Ich war auch in sie verliebt, in Mac, und hatte mir etwas vorgemacht, als ich gedacht hatte, das, was zwischen uns war, sei rein biologisch. Und was hatte Prok zu seinen Kritikern gesagt, zu den Leuten vom Schlage eines Thurman B. Rice und all den anderen, die ihm vorgeworfen hatten, er beraube das Geschlechtliche seiner spirituellen Komponente und betrachte es unter rein mechanistischen Aspekten? Sie haben drei Jahrtausende Zeit gehabt, sich über die Liebe zu verbreiten – jetzt sollen sie mal der Wissenschaft eine Chance geben. Ich hatte ihm zugestimmt, ich hatte dieses Credo übernommen und es wie ein Abzeichen getragen. Es war ein Kampf – wir gegen sie –, ein Kampf von Wissenschaft und Forschung gegen den süßlichen Quatsch, den man im Radio hörte oder auf der Leinwand sah. Aber jetzt wußte ich es nicht mehr. Ich wußte gar nichts mehr. Ich war zu aufgewühlt und verwirrt, um essen zu können, und legte das Wurstbrot beiseite.
Als wir Schritte auf der Vorderveranda hörten und kurz darauf die Haustür quietschte und mit dumpfem Knall ins Schloß fiel, lächelte Mac plötzlich. »Weißt du was?« sagte sie, und der Hammer schlug in einem langsamen, gemächlichen Rhythmus, der der eines Trauermarschs hätte sein können. »Ich glaube, ich werde mal mit ihr sprechen.«
Aber wieder habe ich das Gefühl abzuschweifen, denn hier geht es ja um Prok – jedenfalls sollte es um ihn gehen. Prok war der bedeutende Mann, nicht ich. Ich hatte bloß das Glück, ihm von Anfang an helfen und mit meinen bescheidenen Mitteln zum Fortschritt des Projekts und der Kultur insgesamt beitragen zu dürfen. Prok definierte sich vor allem über seine Arbeit, und seine Kritiker – all jene, für die die Sexualwissenschaft bloß ein Anlaß für anzügliche Witze und pubertäres Gekicher ist, als wäre sie es nicht wert, daß man sich mit ihr befaßt, als wäre sie eine Pseudowissenschaft wie die Erforschung von außerirdischem Leben oder von Ektoplasma oder dergleichen –, all sie sollen ruhig wissen, wie groß seine Hingabe war. Ich werde Ihnen ein Beispiel aus jener Zeit geben. Ich weiß nicht mehr, ob das, was ich jetzt schildere, vor oder nach dem kleinen Gespräch stattfand, das Mac und Iris miteinander führten; auf jeden Fall wirft es ein bezeichnendes Licht auf Proks Zielstrebigkeit und Engagement. Und auch aus einem anderen Grund ist es von Interesse: Es war die einzige Situation, in der unsere Rollen vertauscht waren, in der ich der Lehrer und er der Schüler war.
Aber ich hänge das schon wieder zu hoch. Jeder x-beliebige hätte Prok beibringen können, was er wissen wollte – ich war nur gerade zur Hand, das war alles. Wir saßen eines Abends gegen sechs in seinem Büro und hatten stundenlang kein Wort gewechselt, als ich hörte, daß Prok sich erhob. Ich saß gebeugt über einer Rohzeichnung von Kurven, die die Häufigkeit verschiedener Orgasmusquellen bei partnerlosen Studenten darstellten, und sah daher nicht auf, doch ich hörte, daß eine Schublade des Aktenschranks geöffnet und wieder geschlossen wurde, und anschließend wurde ein Schlüssel im Schloß gedreht. Das alles waren Anzeichen, daß Prok die Arbeit für heute beenden wollte. Einen Augenblick später stand er neben mir.
»Weißt du, John«, sagte er, »da Clara und die Mädchen bei diesem Pfadfinderinnentreffen sind und mein Sohn offenbar ganz und gar von einem Schulprojekt in Anspruch genommen ist und bei einem Freund übernachtet – bei den Casdens, sehr anständigen Leuten –, habe ich gedacht, wir könnten vielleicht den Abend zusammen verbringen ...«
Ich glaubte zu wissen, was er meinte, und hatte gewiß andere Pläne – über Iris zu grübeln stand ganz oben auf meiner Liste –, doch ich nickte. »Ja«, sagte ich, »klar.«
Er war erfreut, ja entzückt, und schenkte mir sein strahlendes Lächeln. Seltsamerweise schüttelte er mir die Hand, als hätte ich ihm soeben den Schlüssel zu einem Königreich übergeben. »Wir werden einen Happen essen, und vielleicht können wir das mit einer Ubungsstunde verbinden, und zwar auf einem Gebiet, auf dem meine Fähigkeiten leider zu wünschen übrig lassen. Das heißt, ich möchte meine Technik verbessern.«
»Deine Technik?«
»Meine Interviewtechnik.«
Ich sah ihn entgeistert an und sagte sinngemäß, er sei ein ausgezeichneter Interviewer und ich könne mir nicht vorstellen, wie er sich auf einem Gebiet verbessern sollte, wo er bereits perfekt sei.
»Sehr freundlich«, murmelte er, drückte meine Hand noch einmal und ließ sie los. »Aber es gibt niemanden, der sich nicht noch verbessern könnte, und wie du weißt, fühle ich mich unter ausschweifenden Menschen nicht so wohl, wie ich sollte.«
»Ausschweifenden Menschen?«
»Wo verbringen wir den größten Teil unserer Zeit – wenn wir Feldforschungen treiben, meine ich?«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
»In Kneipen, Milk. In Bars und Raststätten, auf Partys und ande- ren Versammlungen, wo es geradezu unabdingbar ist, zu rauchen und zu trinken, und du weißt, wie ... wie ungeschickt ich bin, oder vielleicht wäre ›ungeübt‹ im Zusammenhang mit diesen spezifischen Tätigkeiten das bessere Wort.«
Ich konnte ihm noch immer nicht folgen. »Ja? Und?«
Er lachte, ein kurzes, abgehacktes Lachen, das kehlig begann und nasal endete. »Na, liegt das nicht auf der Hand? Auf diesem Gebiet bist du der Experte, Milk. Und ich bin der Neuling.«
»Du meinst, du willst, daß ich ...«
»Ganz recht. Ich will, daß du mir Unterricht gibst.«
Als wir an jenem Abend zu dem Haus in der First Street zurückkehrten, hatten wir eine braune Papiertüte dabei, in der Schinkensandwiches, drei Schachteln Zigaretten, zwei Zigarren, ein Liter Bier, je ein Dreiviertelliter Bourbon, Scotch, Gin, Rum und Wodka sowie die gängigen Mischgetränke waren. Möglicherweise regnete es. Im Haus war es kalt. Prok machte Feuer im Kamin, und dann reihten wir unsere Einkäufe auf dem Couchtisch auf, versahen uns mit Eiswürfeln, den passenden Gläsern und Aschenbechern und fingen an.
Zuerst kamen die Zigaretten. »Du brauchst nicht zu inhalieren«, sagte ich, denn ich wußte, wie gräßlich er das Rauchen fand. »Klemm sie einfach in den Mundwinkel, so« – ich zeigte es ihm –, »beug dich beim Anzünden vor, schüttle das Streichholz mit einer Bewegung aus dem Handgelenk aus, zieh den Rauch in den Mund, so, behalt ihn für einen Augenblick dort und stoß ihn dann aus. Nein, nein, nein, behalt die Zigarette im Mundwinkel und laß den Rauch einfach aufsteigen. Genau. Kneif die Augen ein bißchen zusammen. Siehst du, jetzt hast du die Hände frei und kannst nach deinem Glas greifen oder, wenn du gerade ein Interview machst, die Antworten notieren. Ja, und jetzt kannst du sie zwischen Zeige- und Mittelfinger nehmen und dann die Asche abklopfen. Richtig. Genau. Sehr gut.«
Natürlich verabscheute er es. Er verabscheute den Geruch, den Geschmack, das ganze Konzept, er verabscheute den Rauch, der ihm in die Augen stieg, und das Gefühl des feuchten Papiers auf den Lippen. Und beim zweiten oder dritten Zug inhalierte er versehentlich, bekam einen Hustenanfall und wurde ganz blaß. Die Augen quollen so sehr vor, daß ich fürchtete, sie würden ihm aus dem Gesicht fallen. Mit den Zigarren war es noch schlimmer. Irgendwann trat er vor den Spiegel, um zu prüfen, wie er aussah, wenn er auf das aufgeweichte Mundstück einer White Owl biß, und kam dann wortlos ins Wohnzimmer zurück und warf das Ding ins Feuer. »Ich verstehe es einfach nicht«, sagte er. »Es ist mir ein Rätsel. Wie kann man behaupten, es sei ein Genuß, getrocknete Blätter unter seiner Nase oder sonstwo zu verbrennen? Und den Rauch dann auch noch einzuatmen? Und Männer mit Gesichtsbehaarung, mit Barten ? Wie machen die das ? Es ist das reinste Wunder, daß nicht sämtliche Bars in Amerika abgebrannt sind.« Er ging auf und ab. »Es ist unglaublich. Unglaublich.«
Beim Alkohol ging es besser. Ich schenkte ihm zunächst einen Bourbon ein, mein Lieblingsgetränk, und riet ihm, etwas Wasser oder Soda hinzuzufügen, aber er bestand darauf, ihn pur zu trinken, und zwar mit der Begründung, wenn er sich ein Standardgetränk aussuchen solle, etwas, das er in irgendeiner Kneipe ganz selbstverständlich bestellen könne, um einem potentiellen Probanden die Befangenheit zu nehmen, dann müsse er den unverfälschten Geschmack kennen. Ich sah zu, wie er an dem blaßbraunen Getränk roch, den Kopf zurücklegte, den Bourbon im Mund herumspülte und dann, nach kurzem Nachdenken, zurück ins Glas spuckte. »Nein«, sagte er und verzog das Gesicht, »ich fürchte, Bourbon ist untauglich.«
Mit den anderen Kandidaten war es dasselbe (Bier, sagte er, rieche wie Sumpfgas und schmecke wie ein alter Schwamm, den man im Garten vergraben und dann über einem Glas ausgedrückt habe). Bis wir es mit Rum probierten. Er schenkte sich einen Schluck ein, roch daran, ließ ihn über die Zunge gleiten und schluckte. Wieder verzog er das Gesicht, und ich hatte den Eindruck, das Experiment sei gescheitert. Doch dann beugte Prok sich vor, gab noch einen winzigen Schluck in sein Glas und trank. Er biß die Zähne zusammen und schmatzte ein-, zweimal. Seine Augen hinter den blitzenden Brillengläsern waren gerötet. »Rum«, sagte er schließlich. »Das wird gehen. Wie heißt es noch mal in dem Lied? ›Fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste, joo-hoo, und ‘ne Buddel voll Rum.‹«

Iris’ Geschichte hatten wir noch nicht. Dennoch wußte ich ziemlich genau, was darin stehen würde: Sie war verklemmt gewesen, gehemmt durch Erziehung und Religion; sie hatte schuldbewußt masturbiert und dabei an einen Jungen in ihrer Klasse oder an einen Filmschauspieler gedacht; sie hatte viele Freunde gehabt, aber keine ernsthafte Beziehung, und bis vor kurzem hatte sie nicht mehr zugelassen als Zungenküsse und vielleicht ein paar ungeschickte Manipulationen ihrer Brüste; sie hatte nur einen Sexualpartner gehabt und ihre Jungfräulichkeit mit neunzehn auf dem Rücksitz eines Nash verloren. Und mehr noch: Sie liebte diesen Partner und hatte vor, ihn zu heiraten. Jedenfalls bis vor einer Woche noch.

Obwohl er sich bemühte, es nicht zu zeigen, war Prok verärgert, daß Iris ihre Sexualgeschichte noch nicht beigesteuert hatte. Was für einen Eindruck mußte man von dem Projekt haben, wenn die zukünftige Frau seines einzigen Kollegen es bisher abgelehnt hatte, sich befragen zu lassen? Einen schlechten – und das war noch milde ausgedrückt. Daraus sprach Unvernunft, ja Heuchelei. Schlimmer noch: Es würde alle Bemühungen untergraben, unsere Offenheit im Hinblick auf Sex und unsere gleichzeitige absolute Verschwiegenheit zu dokumentieren. Was dachte Iris sich eigentlich? Würde sie das Projekt beeinträchtigen? Und wenn ja, würde mich das meinen Job kosten?

Der Druck war indirekt. Erst kam jene beiläufige Nachfrage an dem Nachmittag, als Prok mir zur Verlobung gratulierte, und dann, als die Tage und Wochen vergingen, machte er immer wieder ganz nebenbei eine Bemerkung über Iris’ sexuelle Anpassung oder über irgendeine Studentin aus seinem Biologie-Seminar, deren Geschichte er aufgezeichnet habe und die ihn zufällig an Iris erinnert habe – »dieselbe Statur, dieselben lebhaften Augen, ein richtig süßes Mädchen«. Sobald er jedoch – vermutlich von Mac – erfahren hatte, daß die Verlobung aufgelöst war, nahm er sich ein bißchen zurück und erwog seine Optionen. Er wollte zweifellos, daß ich heiratete, und selbstverständlich wollte er Iris’ Geschichte, aber da ich mich noch nicht dazu durchgerungen hatte, ihn ins Vertrauen zu ziehen, konnte er mir weder unerbetene Ratschläge geben noch direkten Druck ausüben, wie er es sonst so gern tat. Die ganze Woche, in der ich das Gewicht des Rings in meiner Tasche spürte, als trüge ich einen Amboß mit mir herum, sagte er kein Wort, obgleich ich ihm anmerkte, daß er sich kaum beherrschen konnte, einzugreifen, mich zu beraten, zu belehren, zu ermuntern und alles wieder ins Lot zu bringen.

Wie sich herausstellte, war es aber Mac, die den Schlüssel in der Hand hielt. Am Tag nach unserem Gespräch lud sie Iris zum Tee ein. Ich weiß nicht (oder wußte jedenfalls damals nicht), wieviel Mac ihr erzählte oder in welche Worte sie es kleidete, aber Iris schien besänftigt. Mac rief mich in der Studentenpension an – Rufe, trampelnde Schritte auf der Treppe, Telefon für dich, Milk! – und sagte mit ihrer sanften, sämigen Stimme, ich solle so bald wie möglich zu Iris gehen. Es war kurz nach sieben Uhr abends. Ich hatte allein in einem Schnellimbiß gegessen, wo ich, als ich von meinem Hamburger aufblickte, Elster gesehen hatte, meinen alten Widersacher aus der Bibliothek des Instituts für Biologie, der mich voller Verachtung und unverhohlener Eifersucht gemustert hatte. Danach hatte ich mich mit einer Flasche Bourbon auf dem Bett ausgestreckt und der traurigen, erschöpften, zu Herzen gehenden Stimme von Billie Holiday gelauscht, die sich ihrem Kummer hingab. War ich betrunken? Vermutlich. Ich dankte Mac überschwenglich, kämpfte vor dem Spiegel mein Haar nieder und stürzte zur Tür hinaus.

Der Campus. Das Studentinnenwohnheim. Das Quaken der Frösche am Bach. Die Rezeptionistin und ihr herzliches Lächeln. »Hallo, John«, sagte sie und zwinkerte mir zu. »Schön, daß du wieder da bist.« Der große, bleiche Mond ihres Gesichts ging auf und wieder unter. »Ich hab ihr schon Bescheid gesagt.«

Zufällig kamen zwei Studentinnen durch die Tür, die zum Treppenhaus führte, und bevor sie sich zischend wieder schloß, erhaschte ich einen Blick auf Iris, die die Treppe herunterkam, und hatte ein paar Sekunden Zeit, mich zu sammeln. Ich strich mir über die Haare, legte die Hand vor den Mund und überprüfte meinen Atem, der nicht viel anders roch als die Flasche in meinem Zimmer. Ich hätte einen Kaugummi gebraucht, aber diese Gewohnheit hatte ich aufgegeben, weil Prok es im Büro verbot und an allen anderen Orten mißbilligte. Ich tastete in der Tasche nach dem Ring, stand stocksteif da und erwartete mein Schicksal.

Sie trug ihr schönstes Kleid, zu dem ich ihr wiederholt Komplimente gemacht hatte, und hatte offenbar viel Zeit auf ihre Frisur und ihr Make-up verwendet. Und wozu das? Wollte sie mir vorführen, was mir entging, was sie zu bieten hatte, was für einen Schatz sie darstellte? Als sie auf mich zukam, versuchte ich, in ihrem Gesicht zu lesen. Wieviel hatte Mac ihr erzählt? Und meine Lüge – war sie aufgeflogen? Ich war betrunken. Ich wollte die Arme ausbreiten und Iris an mich drücken, doch ihr Lächeln hielt mich davon ab: Es war ein verkniffenes Lächeln, tapfer und gezwungen, und ihr Kinn zitterte, als würde sie gleich weinen. »Iris«, sagte ich, »bitte hör mich an. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich getan habe oder was ich tun kann, um ... um es wiedergutzumachen, aber ich ...«

Die Rezeptionistin strahlte. Auf einem Sofa in der Nähe saß ein Pärchen, das sich zum gemeinsamen Lernen verabredet hatte – davon war allerdings nicht viel zu sehen, jedenfalls lernten sie nicht aus Büchern oder Mitschriften.

»Nicht hier«, sagte Iris, nahm meine Hand und führte mich zur Tür hinaus.
Die Nacht war mild, warme Luft hing über den Rasenflächen, die sich im Dunkel verloren, und die Laternen waren in Nebel gehüllt. Die Frösche quakten. Andere Paare tauchten schemenhaft aus dem Dunst auf und verschwanden wieder. Wir gingen Hand in Hand und ohne viel zu sagen über den Campus und landeten schließlich vor dem Institut für Biologie, wo wir uns bis zur Sperrstunde auf die Treppe setzten. Eine Stunde lang hielten wir einander umarmt, küßten uns und murmelten die üblichen Klischees, von denen die Liebe lebt, bis unsere Erregung sich langsam steigerte und ich sie mit belegter Stimme fragte, ob ich Proks Wagen holen sollte.
Wir waren vollständig bekleidet, und jeder, der vorbeikam, konnte uns sehen, aber es ist gut möglich, daß meine Hand unter dem Rock auf ihrem Oberschenkel lag. Und sie ... sie preßte ihre Hand auf den Schritt meiner Flanellhose, und dieser Druck, dieses langsame, herrliche, voll und ganz beabsichtigte Reiben verriet mir alles, was ich wissen wollte. »Nein«, sagte sie, zog ihre Hand aber nicht zurück, »heute abend nicht. Es ist schon spät.«
»Dann also morgen?«
Sie küßte mich leidenschaftlicher und fuhr fort zu reiben. »Morgen«, murmelte sie.
Es dauerte einen Augenblick, bis das zu mir durchdrang. Ich schwebte in der Nachtluft, als hätte ich meinen Körper verlassen, und ich dachte weder an Mac noch an Versionen von Wahrheit oder Unwahrheit. Ich tastete in meiner Tasche nach dem Ring. »Wenn das so ist«, sagte ich und hob ihre Hand keine Sekunde länger von meinem Schoß, als ich brauchte, um den Ring wieder auf ihren Finger zu stecken, »sind wir also wieder verlobt, oder?«

Die Hochzeit war so bescheiden, wie sie angesichts meines Einkommens, der Vermögensverhältnisse von Iris’ Eltern – ihr Vater lieferte für die Molkerei Bornemann’s in Michigan City und Umgebung Milch aus – und der herrschenden Ungewißheit sein mußte. Was allerdings nicht heißen soll, daß es keine schöne, erhebende Zeremonie war, eine Feier, an die ich mich mein Leben lang erinnern werde, von Gefühlen erfüllt, die den Prunk aller Fürstenhochzeiten der Welt aufwogen. Die Braut trug ein weißes Tüllkleid, und der Schleier brachte ihr Haar und das unbezähmbare Blitzen der Augen sehr gut zur Geltung. Der Bräutigam fand sich zu seiner Überraschung in einem geliehenen Smoking wieder, dem ersten, in den er jemals seine Schultern und seine geschwellte Brust gezwängt hatte. Die Trauzeugen waren Tommy und Iris’ Zimmergenossin, ein stattliches, bebendes Pferd von einer Frau mit stecknadelgroßen Augen und einem Mund, der die ganze untere Hälfte ihres Gesichts beherrschte, und es ist eigenartig, daß ich mich heute nicht mehr an ihren Namen erinnern kann. Doch das spielt kaum eine Rolle: Sie war da, in einem schulterfreien Kleid, und tat, was sie zu tun hatte. Anfangs hatten Iris’ Eltern auf eine kirchliche Hochzeit und den Segen eines Priesters gedrängt, doch seit sie aufs College ging, hatte Iris sich vom katholischen Glauben entfernt (oder vielmehr: sie war ihm mit gesenktem Kopf und gegen den Strom davongeschwommen), und als abtrünniger Methodist verspürte ich keinerlei Neigung, irgendeiner Kirche beizutreten, und ganz sicher keiner, die derart kompromittiert war durch Mysterienkrämerei, Aberglauben und Repression. Und Prok, der die Hochzeit ausrichtete, waren alle Religionen, alle religiösen Menschen ohnehin ein Greuel.

Doch zunächst ein Wort über Iris, denn ich merke, daß ich sie hier vernachlässigt habe. Immerhin ist sie eine zentrale Figur in dieser Geschichte, in Proks Geschichte, denn an jenem Tag Ende Mai 1941 wurde sie das vierte Mitglied des engsten Kreises und nahm ihren Platz neben Prok, Mac und mir ein, und alles, was seitdem geschehen ist, betrifft sie ebensosehr wie alle anderen. Sie war ... Nun ja, sie hatte etwas Unabhängiges. Sie hatte ihren eigenen Kopf. Sie bildete sich ihre eigene Meinung. Und obgleich ich damals so stark auf das Projekt und unser gemeinsames Ziel fixiert war, daß ich ihre geistige Ungebundenheit nicht klar erkannte, würde ich sagen, daß diese im Lauf der Jahre noch zunahm, bis Iris schließlich beinahe in offenem Widerspruch zu dem stand, woran wir glaubten. Es war eine Rebellion oder kam jedenfalls einer Rebellion sehr nahe. Aber ich schweife ab. Iris. Ich will sie mit ein paar Worten beschreiben. Sie ist schön. Dickköpfig. Geistreich. (Ich kenne niemanden, der so schlagfertig ist wie sie, mit Ausnahme vielleicht von Corcoran.) Blitzgescheit. Hervorragend organisiert. Als Schülerin und auf dem College spielte sie Klarinette, und bis zu ihrem letzten Studienjahr, als wir längst verheiratet waren, zog sie jeden Samstagmorgen eine gestärkte Uniform an und marschierte mit der Kapelle über die leuchtendgrüne große Rasenfläche des Campus. Sie war eine gewissenhafte Studentin, obwohl ihre Noten nicht so gut waren wie meine (was ja eigentlich auch keine Rolle spielt), sie besaß ein verblüffendes künstlerisches Geschick und war imstande, unseren Haushalt – unseren erst noch zu gründenden Haushalt – trotz äußerst karger Mittel mit eindeutiger Eleganz zu versehen. Was noch? Ihr Lächeln. Ich wollte auf diesem Lächeln davonsegeln, und lange tat ich das auch. Und ihre sexuellen Reaktionen natürlich – in einem Bericht wie diesem kann ich sie nicht aussparen. Was ich Prok erzählt hatte, entsprach weitgehend der Wahrheit. Sie hatte sich mir geöffnet, sie liebte mich, und als wir uns besser aneinander gewöhnt hatten, als wir immer mehr Zeit auf dem Rücksitz von Proks Wagen oder, nachdem es wärmer geworden war, auf einer Decke in einem abgelegenen Winkel des Parks verbrachten, ließ sie ihrer Leidenschaft freien Lauf. Wir begannen zu experimentieren, und sie entwickelte einen zunehmenden Enthusiasmus und nahm mehrmals aus eigenem Antrieb die Stellung ein, bei der die Frau oben liegt. Und obgleich sie niemals, in keiner Situation, unanständige Wörter gebraucht hätte, gebrauchte sie sie dann doch, wenn sie die Augen verdrehte und ihre Hände an meinen Schultern zerrten, als wollte sie mich in ihre Brust hinein- und noch weiter ziehen, in die Erde und tiefer, tiefer. »Ficken«, rief sie dann. »Ficken ... Fotze ... Ficken ...«

Prok hatte einen Friedensrichter gebeten, eine schlichte Trauung unter dem Persimonenbaum hinter dem Haus vorzunehmen, und erhebliche Mühen auf sich genommen, um das Klavier in den Garten zu schaffen, so daß er mit dem Hochzeitsmarsch die Zeremonie besiegeln konnte. (Ich habe noch gar nicht erwähnt, daß er als Junge davon geträumt hatte, Konzertpianist zu werden, und diesen Traum erst aufgab, als er seine wahre Berufung, die Wissenschaft, entdeckte. Er war ein guter Pianist, so gut wie einer, der in kleinen Konzertsälen auftritt, und er erfreute uns an jenem Nachmittag nicht nur mit dem Hochzeitsmarsch, sondern auch mit einem Potpourri aus Peer Gynt, das gespenstisch gut zu der märchenhaften Szenerie paßte.) Prok am Klavier, Iris in meinen Armen, Tommy an meiner Seite: So nahe war ich dem Paradies noch nie gewesen. Und meine Mutter war selbstverständlich ebenfalls da. Sie war mit Tante Marjorie gekommen, ein schmales, entrücktes Lächeln auf dem Gesicht. Ich glaube, sie trank zuviel an diesem Tag. (Es waren Rum-Cocktails – Prok hatte eine Leidenschaft dafür entwickelt, nicht so sehr, weil ihm das Trinken gefiel, sondern weil er gern Rezepte sammelte, und so tranken wir schon am Nachmittag Zombies, und in einem Eisbett stand eine Kristallschüssel mit etwas, das sich Charleston Cup nannte.) Sie weinte allerdings nicht, nur Mac vergoß ein paar Tränen. Die Zeremonie muß meine Mutter, die in keiner Weise zur Sentimentalität neigte (sie hatte sich mir gegenüber mehr als einmal als Fatalistin bezeichnet), an ihren eigenen Hochzeitstag vor vielen Jahren zurückversetzt und sie daran erinnert haben, daß das, was später folgte, nicht die Erfüllung der Träume einer jungen Braut gewesen war, sondern eine Katastrophe. Aber sie war mit Iris einverstanden, denn sie spürte, daß Iris über Stehvermögen verfügte, und das war das einzige, was es meiner Mutter ermöglicht hatte, alles zu überleben: Um in einer Welt der Kriege und Verwüstungen und Bootsunglücke durchzuhalten, brauchte man Zähigkeit und Stehvermögen, besonders als Frau.

Irgend jemand – Tommy, die Brautjungfer oder Paul Sehorn – hatte ein Sortiment alter Töpfe und Reibeisen an die hintere Stoßstange des Nash gebunden, und Prok, der kerzengerade wie ein Chauffeur neben meiner Mutter und der kerzengeraden Mac am Steuer saß, verzog auf dem ganzen Weg zum Bahnhof das Gesicht über diesen Lärm, während Iris und ich aneinandergeschmiegt auf dem weichen Leder der breiten, vertrauten Rückbank saßen.

9

Mit unserer Hochzeitsreise folgten wir dem Beispiel, das Prok und Mac zwanzig Jahre zuvor gegeben hatten, das heißt, wir machten eine ausgedehnte Campingtour, allerdings nicht durch die White Mountains in New Hampshire, sondern durch die Adiron-dacks, eine Gegend, die mich schon als Junge, der zwischen den mit Gestrüpp bewachsenen Hügeln und Dünen am Ufer des Lake Michigan aufwuchs, fasziniert hatte. Iris hatte mit dem Zelten nicht viel Erfahrung und ich, ehrlich gesagt, auch nicht. Es erschien mir jedoch wie ein Abenteuer und hatte den zusätzlichen Vorteil, billig zu sein. Das war auch eines der Motive gewesen, die Prok damals dazu bewegt hatten; er war freilich ein Naturkundler, der sein Leben lang gezeltet hatte und sich, wenn es sein mußte, ohne weiteres von Wurzeln, Beeren und Bucheckern ernähren konnte – was ich, wie man sich denken kann, weder konnte noch wollte. Iris hielt sich tapfer, das muß ich ihr lassen, obgleich sie für eine konventionellere Hochzeitsreise nach Niagara Falls votiert hatte, und tatsächlich fuhren wir auch dorthin und verbrachten eine Nacht in einem Hotelzimmer, das soviel kostete wie der ganze Rest der Reise zusammengenommen. Ich habe schöne Erinnerungen an diese Zeit – Iris im Badeanzug und mit Gänsehaut am Rand eines gerade eben eisfreien Sees, der Duft des Nadelwalds und der betörende Geruch unseres Feuers, die Berührung ihrer Hände, unsere landstörzerischen Liebesakte in einem für eine Person konzipierten Schlafsack, eingetaucht in schwärzeste Finsternis und absolute Stille –, aber alles in allem hatte das Vergnügen auch seine Grenzen. Ich werde hier nicht auf die Details eingehen, die nichts zur Sache tun, und mich darauf beschränken zu sagen, daß die Insekten gnadenlos waren und das Zelt seiner Funktion nur knapp gerecht wurde, daß das Wetter gräßlich und der Boden hart war wie eine Eisenbahnschiene aus einem Stahlwerk in Gary, Indiana.

Nicht daß das wichtig zu sein schien (natürlich war es das, aber wir gaben uns alle Mühe, einander zu versichern, daß es nicht so war). Wichtig war, daß wir zusammen waren, nur wir beide, zum ersten Mal in unserem Leben. Wir verwandelten das große weiße Bett in dem Hotelzimmer in Niagara Falls in eine erotische Spielwiese und ergingen uns in Aktivitäten – Fellatio, Cunnilingus, Analverkehr –, für die ich bei Mac zu gehemmt, zu sehr in Eile gewesen war. Damals wußten wir es noch nicht, aber ironischerweise waren diese zwei Wochen für beinahe ein ganzes Jahr unsere letzte Gelegenheit, diese Art von Freiheit zu genießen. Soll heißen: In Bloomington kehrte Iris ins Wohnheim zurück und war, in der Hoffnung, ihr Studium zu beschleunigen, das ganze Sommersemester über eine fleißige Studentin, und ich wohnte weiter bei Mrs. Lorber. Zwar verbrachten wir jede freie Minute damit, uns Wohnungen, Zimmer, umgebaute Keller und diverse als »Mietwohnung« annoncierte Anbauten anzusehen, doch wir fanden nichts, was sowohl erschwinglich als auch erträglich war, und so mußten wir uns wieder mit einer Decke im Park oder dem Rücksitz von Proks uraltem Nash begnügen. Dabei waren wir verheiratet, und ich war erwachsen und hatte eine Vollzeitstelle. Prok hatte viel Verständnis für unsere Situation, aber Sie dürfen nicht vergessen, daß der Löwenanteil der Mittel für das Projekt damals noch aus seiner eigenen Tasche stammte, also aus seinen Bezügen als Professor und den Tantiemen seines Biologie-Lehrbuchs, und ich konnte unmöglich erwarten, daß er mein Gehalt auch nur um ein paar Dollar pro Woche erhöhte.

Wie zahllose Paare, die während der Weltwirtschaftskrise hatten getrennt leben müssen, improvisierten wir. Wir sparten und malten uns in lebhaften Bildern aus, wie unsere erste Wohnung aussehen würde, und mittlerweile ging der Sommer unmerklich in Herbst über, und die Nachrichten aus dem Ausland wurden schlecht und schlechter. Es war eine seltsame, beunruhigende Zeit, diese Zeit zwischen unserer Hochzeit und dem Kriegseintritt. Einerseits waren wir voller Hoffnung, doch andererseits stürzte uns alles, was wir taten, und sei es noch so selbstverständlich, in Zweifel: Warum sollte ich diesen Dollar sparen, meine Zähne pflegen, mir Gedanken über mei- ne Ernährung machen, warum sollte ich von meiner Frau, von einer Wohnung, von der Zukunft träumen, wenn das Beil jeden Augenblick fallen konnte? Ich kannte viele Männer, die verzweifelten. Andere verheizten ihre Energie und ihre Mittel, Tag und Nacht – carpe

diem.
Meine Krise setzte Ende Oktober ein. Prok und ich hatten frohlockt, weil wir eine Korrelation zwischen dem Bildungsstand und der Anzahl der Sexualpartner während der Adoleszenz entdeckt hatten. Es war wie eine Regel, und das war das Wunderbare: Diejenigen, die nicht aufs College gingen, machten zahlreichere und umfassendere sexuelle Erfahrungen als diejenigen, die ein Studium begannen. Ich weiß noch, wie hochgestimmt ich in Mrs. Lorbers Studentenpension zurückkehrte. Ich freute mich auf das Abendessen mit Iris, auf den Film, den wir uns danach ansehen wollten, und auf ein, zwei schöne Stunden auf dem Rücksitz des Nash, und als ich den offiziell wirkenden Briefumschlag sah, der neben einem Stoß Rundschreiben auf dem kleinen Tisch im Vestibül lag, ahnte ich zunächst nichts Böses.

Einberufungsbehörde stand da. Amtlicher Bescheid. Sie kennen diese Art von Mitteilung sicher: Die Sprache ist so klinisch wie eine Beschreibung der neuesten Methode zur Darmentleerung oder eine Anleitung zur sachgerechten Installation eines neuen Kondensators im Radioapparat, und doch ist sie geeignet, einen auf der Stelle hellwach zu machen.

Werter Mitbürger!
Nachdem Sie sich zwecks Prüfung Ihrer Verfügbarkeit für den Dienst in den Landoder Seestreitkräften der Vereinigten Staaten von Amerika einer aus Ihren Mitbürgern bestehenden Kommission vorgestellt haben, teilen wir Ihnen hierdurch mit, daß Sie aufgefordert sind ...

Es war nicht so, daß ich nicht gehen wollte. Langsam wimmelte es auf dem Campus von jungen Männern in Uniform, die Studentinnen würdigten jeden, der Zivil trug, keines Blickes mehr und hüllten sich in Rot, Weiß und Blau, und man darf nicht vergessen, daß alle nach und nach von einer Begeisterung erfaßt wurden und ich den ehrlichen Wunsch verspürte, hinauszuziehen und mein Land und die Freiheit zu verteidigen, die bedrängten Briten vor dem Terror der deutschen Luftwaffe und die Albaner vor den Italienern und so weiter zu beschützen. Dennoch, als ich an diesem friedlichen Nachmittag durch die Tür trat und den Umschlag dort vorfand, wo Mrs. Lorber ihn hingelegt hatte, nachdem sie ihn zweifellos eingehend von allen Seiten und im Licht der hellsten Lampe untersucht hatte, erschrak ich. Ich hatte gerade erst geheiratet, stand am Anfang meiner Karriere, verdiente eigenes Geld (nicht viel, aber immerhin) und hatte ein Automobil zur Verfügung – und nun sollte ich noch einmal von vorn anfangen, unter Fremden und an einem fremden Ort. Es war auch nicht so, daß ich Angst hatte. Ich war zu jung, zu gesund, um mir auch nur in schlimmen Träumen auszumalen, ich könnte verwundet, verstümmelt oder gar getötet werden. Solche Dinge passierten nicht konkreten Personen – mir –, sondern irgendwelchen gesichtslosen Mitgliedern der Allgemeinheit in der Wochenschau vor dem Hauptfilm. Das Problem war eher die Ungewißheit: Man lieferte sich der Willkür einer so vielgliedrigen Institution wie der Armee der Vereinigten Staaten aus und konnte nur auf das Beste hoffen.

Ich muß gute fünf Minuten dort im Vestibül gestanden haben, bevor Schritte auf der Eingangstreppe, dicht gefolgt vom Aufreißen und Zuschlagen der Haustür, mich aus meinen Gedanken rissen. Ezra Voorhees kehrte von einem Seminar zurück. Ezra studierte Betriebswirtschaftslehre, beziehungsweise deren Anwendung auf landwirtschaftliche Betriebe, und hatte den Ehrgeiz, die Produktion der Hühnerfarm seines Vaters, die er eines Tages übernehmen wollte, zu steigern. Er war neunzehn und ziemlich harmlos, aber auch laut und leicht erregbar. Er hatte seine Sexualgeschichte nicht preisgeben wollen (dabei hatte nicht viel gefehlt, und ich hätte ihn auf Knien darum gebeten), und er kümmerte sich nicht sonderlich darum, ob seine Kleider – oder er selbst – sauber waren. »John!« rief er und blickte mich so überrascht an, als wäre ich der letzte, den er in einem Haus, in dem wir ein Zimmer teilten, zu sehen erwartet hätte. Er riß mir den Brief aus der Hand und sagte: »Was ist das ? O Gott, o Gott. Das ist ja dein Einberufungsbescheid.«

Ich streckte, zu benommen, um verärgert zu sein, steif die Hand aus. Er gab mir den Brief zurück.
»Willst du dich freiwillig verpflichten?«
»Tja, ich ... ich weiß nicht. Ich hab nie darüber nachgedacht.« Plötzlich sah ich mich in Uniform, aufrecht und hochgemut, die Haare ganz glatt und schimmernd, über den Ohren schneidig kurz, und unter dem linken Arm hielt ich den steifkrempigen Hut, während ich mit der Rechten salutierte. Meine Mutter würde stolz auf mich sein. Iris würde toben. Und Prok ... Prok würde der Schlag treffen.
»Du solltest dich verpflichten, glaub mir. Ich hab mit Dick Martone und ein paar anderen, zum Beispiel mit Dave Frears, gesprochen, und wir überlegen, ob wir zum Marine Corps gehen, ob wir uns dafür melden, meine ich. Bevor das Gedränge losgeht.« Ezra war groß, sechs bis acht Zentimeter größer als ich, und stämmig, aber mit einem eigenartig geformten und unproportional kleinen Kopf, an dem er sich jetzt langsam und nachdenklich kratzte. »Wenn du dich freiwillig meldest«, sagte er, »bist du mitten im Geschehen, in Übersee, in Frankreich oder Belgien ... Oder in Italien, in Italien, wo es richtig knallen wird.«
Ich ging zuerst zu Iris. Wir trafen uns in der Mensa zum Essen (das Rindfleisch war so lange gegart, daß es fast weiß war, und schwamm in einer karamelfarbenen Sauce, daneben lagen ein paar verzagte Kartoffeln und ein Häufchen Erbsen, die vor der Verabschiedung des New Deal geerntet und in Dosen verpackt worden waren), und erst als wir saßen, das Brot mit Butter bestrichen und das Fleisch gepfeffert hatten, schob ich ihr den Umschlag zu. Sie beugte sich darüber und erfaßte den Inhalt des Briefs, noch bevor sie ihn auf dem Tisch glattgestrichen hatte. Ihr Kinn zitterte, und als sie den Kopf hob, war in ihren Augen ein grauenvoller Ausdruck. »Ich fasse es nicht«, sagte sie. »Du kannst doch nicht... Reicht es ihnen denn nicht, daß sie Tommy haben?«
»Ich weiß nicht.«
»Du wirst doch nicht gehen?«
Ich zuckte die Schultern. »Was bleibt mir übrig?«
»Aber du bist verheiratet.«
Abermals ein Schulterzucken. »Verheiratet sind viele – und was glaubst du, wie viele in den vergangenen sechs Monaten geheiratet haben, nur um nicht eingezogen zu werden? Denen in Washington ist das egal. Und wie es aussieht ... Tja, Wilkie hat die Wahl verloren, nicht?«
Sie streckte die Arme über den Tisch und nahm meine Hände, verschränkte ihre Finger mit meinen und drückte zu, als wollte sie sie zerquetschen. »Ich werde dich nicht gehen lassen«, sagte sie. »Nein. Das ist nicht unser Krieg. Damit haben wir nichts zu tun.«
Aber natürlich stimmte das nicht, wie das ganze Land und selbst die eingefleischtesten Isolationisten erkannten, als die Japaner kaum zwei Monate später Pearl Harbor angriffen. Aber an jenem Abend, als ein kalter Wind dürre Blätter über den Campus wirbelte und Iris nach meinen Händen griff, als ringsumher Studentinnen und Studenten auf ihrem zähen, zu lange gegarten Fleisch herumkauten, Lehrbücher oder die Witzseite einer Zeitung lasen oder einfach übermütig lachten, schien es, als würde die Kraft ihrer Worte ausreichen: »Ich werde dich nicht gehen lassen. Nein.«

Am nächsten Morgen zeigte ich Prok den Brief. Wie üblich war er früher als ich im Büro und saß, in die Arbeit vertieft, an seinem Schreibtisch. Ich wollte ihn nicht stören, doch als ich eintrat, begrüßte er mich mit einem Lächeln, und ich fand, ich könnte ihm die schlechte Nachricht ebensogut gleich mitteilen. »Guten Morgen, Prok«, sagte ich. Er senkte den Blick wieder auf das Blatt, das vor ihm lag, doch ich beharrte, wenn auch etwas unbeholfen. »Prok«, wiederholte ich, er hob wieder den Kopf, und sein Lächeln verschwand, »ich muß dir was ... Also, ich wollte dir sagen, daß ... daß ... na ja ... hier.« Ich reichte ihm den Einberufungsbescheid.

Er überflog ihn, erhob sich, faltete den Brief sorgfältig zusammen und gab ihn mir zurück. »Das habe ich schon seit einiger Zeit befürchtet«, sagte er. Für einen winzigen Augenblick wirkte er wie besiegt: Der Schatten der Resignation huschte über sein Gesicht, und seine Wangen waren schlaff und schwer, doch dann straffte er die Schultern und stieß scharf die Luft aus, so daß es klang, als würde ein Wasserkessel kochen. »Zum Teufel«, sagte er und kam damit dem Fluchen so nahe wie nie zuvor und später nie mehr, »wir werden das anfechten, und wenn wir bis zum Verteidigungsminister gehen müssen.« Er hielt inne und sah mich fragend an. »Wie heißt der überhaupt?«

Ich sagte ihm, ich wisse es nicht.
»Schon gut. Ist ja auch unwichtig. Wichtig ist nur unsere Forschungsarbeit, und ich frage mich, ob irgendeiner von diesen Menschen« – er machte eine ausladende Armbewegung, als wären sowohl all die Politiker mitsamt ihren Land- und Seestreitkräften als auch Hitler und seine Wehrmacht nichts als unwissende Studenten, die bei einer Biologieklausur eine zentrale Frage falsch beantwortet hatten –, »ob irgendeiner von ihnen auch nur die leiseste Ahnung hat, was es heißt, einen Interviewer auszubilden. Nein«, knurrte er als Antwort auf seine eigene Frage. »Das bezweifle ich sehr. Aber du weißt es, John, stimmt’s?«

Ich nickte. Wir hatten Hunderte Stunden auf meine Ausbildung verwendet. Prok hatte mich mit Prüfungsfragen bombardiert, war ungeduldig aufgesprungen, hatte mir den Protokollbogen aus der Hand gerissen und ihn korrigiert, er hatte mir stundenlang über die Schulter gesehen und mich Probeinterviews machen lassen – seine eigene Geschichte muß ich an die fünfzigmal aufgezeichnet haben –, und als ich meine ersten echten Befragungen durchführte, saß er hinter mir wie ein geschnitzter Indianer. Er war, wie gesagt, ein Perfektionist, und für alles gab es für ihn nur eine einzige Methode: die Kinsey-Methode. Ich kann nicht sagen, ob man diesen Charakterzug als Makel bezeichnen soll oder nicht. Seine Methode war erfolgreich, keine Frage, und das auf einem Gebiet, auf dem so viele andere – KrafftEbing, Hamilton, Moll, Freud, Havelock Ellis – zu kurz gegriffen hatten. Doch das kam nicht von ungefähr: Die Ausbildung war eine sehr ernste Angelegenheit. Und auf jeden Fall mußte man über eine ganz bestimmte Persönlichkeit verfügen – über die eines Rekruten wahrscheinlich, vielleicht auch die eines Jüngers –, um sich ihr zu unterziehen.

Prok war hinter seinem Tisch hervorgekommen und ging, die Hände auf dem Rücken gefaltet, in dem engen Büro auf und ab. »Nein«, sagte er schließlich und baute sich vor mir auf, so daß unsere Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt waren. »Nein, ich werde es einfach nicht zulassen.«

Und so begann Prok eine energische Kampagne mit dem Ziel, mich für die gesamte Kriegsdauer an seiner Seite zu behalten. Interessanterweise erkundigte er sich nie nach meiner eigenen Haltung in dieser Sache, sondern nahm einfach an, daß ich hundertprozentig mit ihm übereinstimmte, daß Sexforschung – sein Projekt und die Mehrung menschlichen Wissens – für das Wohlergehen des Landes weit bedeutsamer war als der Sieg in einem Krieg in Europa oder im Pazifik. Er setzte mich nie unter Druck. Er wußte auch nicht, daß ich stundenlang in meinem Zimmer auf der Bettkante hockte und mit Ezra, Dick Martone und ein paar anderen das Für und Wider einer freiwilligen Verpflichtung erörterte: Sollte ich meinen Teil tun und für die Sache der Freiheit alles aufgeben? Letzten Endes fügte ich mich. Das heißt, ich tat nichts und ließ den Dingen ihren Lauf.

Prok schrieb ein Gesuch und erbat sich Empfehlungsschreiben zu meinen Gunsten von President Wells, Robert M. Yerkes vom National Research Council und anderen Besitzern von Macht und Einfluß, erwog aber zugleich sehr ernsthaft eine Verstärkung durch einen zweiten Forschungsassistenten. Dieser zweite Assistent war, wie die meisten bereits wissen, Purvis Corcoran. Er war Psychologe, das habe ich schon erwähnt, jung, auf eine etwas geleckte Weise gutaussehend, kontaktfreudig, ein sexuelles Wunderkind. Er hatte zehn Jahre zuvor das Grundstudium an der University of Indiana absolviert, anschließend in Chicago seinen Abschluß gemacht und arbeitete jetzt auf eine Promotion hin. Er war verheiratet – seine Frau hieß Violet –, hatte zwei kleine Kinder, beide Mädchen. Prok lernte ihn kennen, während ich auf Hochzeitsreise war, nach einem Vortrag vor Sozialarbeitern in South Bend (»die prüdesten und in ihrer Vorstellung von Sex beschränktesten Menschen, die man sich vorstellen kann«). Corcoran hatte sich freiwillig gemeldet, um seine Geschichte beizusteuern, die, milde ausgedrückt, umfangreich war, sowohl in heterosexueller wie in homosexueller Hinsicht. Prok war beeindruckt. So beeindruckt, daß er ihn nach Bloomington einlud, damit er das Institut für Sexualforschung, wie wir unsere beengten Büroräume inzwischen offiziell nannten, besichtigen und sich um eine Stelle bei uns bewerben konnte.

Als ich Iris gegenüber erwähnte, Prok habe Corcoran in Erwartung neuer Mittel vom NRC und der Rockefeller Foundation zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen, war sie sogleich mißtrauisch. »Siehst du denn nicht, daß er dich ersetzen will?« sagte sie. »Er läßt dich fallen, er läßt uns im Stich, und ich werde hier ganz allein sein, während sie dich Gott weiß wohin schicken werden, in eine Wüste in Afrika, damit du gegen diesen Rommel kämpfen kannst oder wie der heißt, gegen irgendeinen Preußen mit Stechschritt, Gewehr und Bajonett.«

Wir fauchten eine postkoitale Zigarette im Nash, den ich an unserer Lieblingsstelle geparkt hatte, mit Aussicht auf einen Steinbruch – geisterhaft aufragende Felsformationen und das stille, dunkle Wasser eines Teichs. »Das stimmt nicht«, sagte ich. »Es hat nichts mit dem Einberufungsbescheid oder dem Krieg oder sonst irgendwas zu tun. Wir brauchen einfach mehr Mitarbeiter, das ist alles.«

Sie schwieg einen Augenblick. »Weißt du eigentlich«, sagte sie dann, »daß er mir ein Angebot gemacht hat?«
»Wer?«
»Dein Boß.«
»Prok?«
Es war sehr dunkel im Wagen, aber ich konnte erkennen, daß sie nickte. Wir waren nackt, ihr Geruch hüllte mich ein. Ich legte einen Arm um sie, zog sie an mich und streichelte ihre Brüste, doch sie wandte sich ab. »Ja, Prok«, zischte sie. »Er hat ... Als ich neulich auf dich gewartet habe. Er hat mir gesagt, daß er alle Hebel in Bewegung setzen wird, damit du zurückgestellt wirst, Briefe an die Einberufungsbehörde in Michigan City, sogar eine persönliche Eingabe will er machen, wenn es sein muß, weil dieses Forschungsprojekt, das weißt du ja, so wichtig für die nationale Sicherheit und so weiter ist, und ich habe gesagt, daß ich ihm dafür sehr dankbar bin. Mehr als das. Ich wäre beinahe auf die Knie gefallen und hätte ihm die Füße geküßt, denn du kennst ja meinen Standpunkt in dieser Sache – du wirst nicht in diesen Krieg ziehen, nicht solange ich am Leben bin, John Milk –, und er hat mich angesehen ... Ich weiß ja, daß du denkst, er ist Gott höchstpersönlich, vom Himmel herabgestiegen und umschwirrt von verzückt singenden Engeln, aber es war der kälteste Blick, den ich in meinem ganzen Leben bekommen habe. Und weißt du, was er dann gesagt hat, als wären wir dabei, ein Geschäft abzuschließen? Er hat gesagt: ›Deine Geschichte haben wir noch gar nicht, oder?‹«
»Ja«, sagte ich. »Na und?«
»Na und? Hörst du mir nicht zu?«
»Also, Iris«, sagte ich, und mir sank das Herz, »ich habe dir doch schon tausendmal gesagt, daß du deine Geschichte aufzeichnen lassen mußt, weil es ... weil es sonst einen schlechten Eindruck macht ... Weil es jetzt schon einen schlechten Eindruck macht.«
»Er ist ein Erpresser.«
»Ein Erpresser? Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«
»Red nicht solchen Unsinn, und tu nicht so, als wärst du blind.« Abermals streckte ich die Hand aus, aber sie rückte von mir ab, bis ihre Schultern das Seitenfenster berührten. Die Glut der Zigarette beleuchtete im Dunkeln ihr Gesicht. »Ich werde ihm meine Geheimnisse verraten, ich werde ihm sagen, was ich noch nie jemandem gesagt habe, nicht mal dir, und er wird dafür sorgen, daß du nicht eingezogen wirst.« Sie hielt inne, gerade lange genug, um ihre Stimme mit Bitterkeit zu durchtränken. »Und wenn ich das nicht tue – tja, dann heißt es ›Adieu, Johnny‹, nicht?«

Eine Woche später kam Corcoran, allein, ohne seine Frau. Er traf früh an einem Samstag ein, als ich – auf Proks Geheiß – mit Iris irgendwohin unterwegs war. Natürlich wollte Prok wissen, was ich von Corcoran hielt, aber an diesem ersten Tag wollte er ihn für sich allein haben, und ich weiß nicht, was, wenn überhaupt, zwischen ihnen passierte, aber ich bin sicher, Prok war wie immer die Höflichkeit in Person und veranstaltete für Corcoran eine VIP-Tour, die mit einem intimen, von Mac zubereiteten Abendessen im Lebkuchenhaus in der First Street endete. Am Tag darauf, am Sonntag also, waren Iris und ich bei Prok zu einem seiner wöchentlichen »musikalischen Abende«, wie er sie nannte, eingeladen, um in Gesellschaft ausgesuchter Freunde und Kollegen einem von Prok zusammengestellten Musikprogramm zu lauschen, und ausdrücklich auch, um Corcoran kennenzulernen.

Wir kamen ein paar Minuten zu spät. Kein Grund zur Sorge, obgleich Prok mich gebeten hatte, möglichst früh zu kommen, damit ich ein wenig Zeit für Corcoran hatte, bevor die anderen eintrafen. In diesem Fall war es Iris’ Schuld. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie sich umgezogen und geschminkt hatte – es war zum Verrücktwerden. Ich ließ die Rezeptionistin fünfmal anrufen, bis sie schließlich die Treppe herunterkam und durch die Tür trat, die ich so lange und intensiv angestarrt hatte, daß ich schon glaubte, ich könnte sie vermittels reiner Willenskraft öffnen. Ich war ungeduldig, vielleicht auch ein bißchen wütend, aber ich muß zugeben, daß sich das Warten gelohnt hatte: An jenem Abend sah Iris atemberaubend aus, ganz in Schwarz, mit einer Perlenkette (einem Familienerbstück, das ihre Mutter ihr geschenkt hatte), und sie hatte einen besonders intensiv roten Lippenstift aufgelegt, der ihrem Gesicht alle Farbe verlieh, die es brauchte. Ich weiß nicht, was es war – vielleicht die Perlen –, aber sie wirkte wie verwandelt, als wäre sie mit einem Mal fünf Jahre älter und besäße die Finesse einer Dame der Gesellschaft, und Sie werden mir nachsehen, daß ich unwillkürlich an Mrs. Foshay und ihr Savoir-faire dachte.

Als wir eintrafen, waren die meisten anderen Gäste bereits da. Es waren fünfzehn bis zwanzig – Professoren und ihre Frauen, Proks Nachbar, zwei ehrfürchtige Studienanfänger, die sich kaum trauten, die von Prok im Raum verteilten Kristallschüsseln mit Cracker, Nüssen und Schokolade auch nur anzusehen. Mac begrüßte uns an der Tür. »John«, hauchte sie mit ihrer atemlosen Stimme, zog mich an sich und gab mir einen Kuß auf die Wange, »und Iris, wie schön, daß ihr gekommen seid.« Sie ergriff Iris’ Hände und umarmte sie, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen.

Die Umarmung dauerte ein klein wenig länger, als ich für angemessen hielt, und ich begann mich unwohl zu fühlen, als wäre ich dort, in der Eingangshalle, einfach stehengelassen worden. Die Blicke der anderen Gäste richteten sich auf uns. »Aber Mac«, sagte Iris und fixierte ihr Gesicht, als wären die beiden dabei, auf telepathischem Wege Geheimnisse auszutauschen, »du weißt doch, daß ich mir das nie im Leben entgehen lassen würde.« Sie lächelte strahlend, so glücklich, wie ich sie nicht mehr erlebt hatte, seit der Einberufungsbescheid gekommen war. All ihr Ärger über Prok hatte sich in diesem Augenblick in Luft aufgelöst. Und das muß ich ihr lassen: Es war nicht gespielt. »Ihr seid einfach die Besten, wirklich, und wir –John und ich – finden es immer so schön, wenn ihr uns einladet. Das weißt du doch. Ich wollte, wir könnten uns revanchieren ...«

»Macht euch keine Sorgen«, sagte Mac, nahm uns die Mäntel ab und führte uns ins Wohnzimmer, »ihr werdet schon was finden. Prok und mir ist es nach unseren Flitterwochen genauso gegangen, und was wir dann schließlich gefunden haben ... Na ja, für euch käme das heute wahrscheinlich gar nicht mehr in Frage.«

Iris murmelte etwas Freundliches. Ich hatte noch immer nicht den Mut gefunden, mit ihr über Mac zu sprechen, aber ich glaube auch, daß jeder, der einmal in einer ähnlichen Situation gewesen ist, verstehen wird, wie groß die Versuchung ist, die schlafenden Hunde nicht zu wecken. Dann standen wir unter den anderen Gästen, und Mac entschuldigte sich und eilte in die Küche. Ich kannte nicht alle der Anwesenden, obwohl ich schon bei einigen von Proks musikalischen Abenden gewesen war. Die Gästeliste wurde von Mal zu Mal verändert, und so wußte ich nicht, wer Corcoran war. Professor Bouchon vom Lehrstuhl für Chemie und besonders seine Frau, die an Logorrhö zu leiden schien, nahmen uns in Anspruch. Wir wurden getrennt, und ich stand in eine Ecke gedrängt da und nickte in, wie mir schien, angemessenen Abständen, während Mrs. Bouchon mir in erschöpfender Detailliertheit die Defekte des deutschen Charakters und die Entbehrungen schilderte, denen sie während des Krieges, als Mädchen, in Nantes ausgesetzt gewesen war. Iris war am anderen Ende des Raums, hielt ein langstieliges Glas mit einer grünlichen Flüssigkeit (einem von Proks Kräuterlikören) in der Hand und unterhielt sich reserviert mit Professor Bouchon und einem Mann im Flanellanzug, hager und gebeugt und zu alt, um Corcoran zu sein. Erst da fiel mir auf, daß Prok gar nicht da war.

Ein Wort zu den musikalischen Abenden: Prok, der unermüdliche Sammler, besaß über tausend Schallplatten und veranstaltete seit mehr als zehn Jahren diese wöchentlichen Zusammenkünfte, um andere an seinem Reichtum teilhaben zu lassen. Das Niveau dieser Abende war hoch, der Ablauf folgte stets einem geradezu starren Schema: Prok präsidierte, und das tat er so, wie er alles tat. Die Gäste fanden sich ein und ergingen sich, wie wir jetzt, für eine Weile in Gesprächen, anschließend hielt Prok einen Vortrag über die Stücke und die Komponisten, die er ausgewählt hatte, und dann kam die Musik. Man saß im Halbkreis um das Grammophon und sah zu, wie Prok die Schall- platte abwischte, die Kaktusnadel justierte und sie sanft auf die sich drehende Scheibe setzte; darauf folgte ein Augenblick gespannter Erwartung, die Gäste lauschten steif und ausdruckslos dem ersten Knistern und Knacken, bis mit charakteristischem Getöse die Musik einsetzte und alle ihre Konzertposen einnahmen. Die Platten liefen immer auf voller Lautstärke, denn Prok war überzeugt, daß man nur so die Nuancen der Pianissimo-Passagen erfassen und die Komplexität des Zusammenspiels der verschiedenen Instrumente würdigen konnte, und für die Dauer der Symphonie oder des Quartetts oder was immer Prok ausgewählt hatte, mußte absolute Stille herrschen. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem die Frau eines erstmals eingeladenen Gastes sehr unruhig war und ständig auf ihrem Stuhl hin und her rutschte, obwohl Prok ihr einen mahnenden Blick nach dem anderen zuwarf. Der Stuhl quietschte, und sie konnte nicht stillsitzen. Als in der Pause Erfrischungen gereicht wurden, ignorierte Prok sie. Sie wurde, soviel ich weiß, nie wieder eingeladen.

Aber an diesem Abend war es, Corcoran zu Ehren, anders. Die Gespräche vor dem Konzert waren eingehender und lebhafter, als wäre dies eine Einladung zu einem formellen Abendessen und nicht zu einem musikalischen Abend. Ich wollte mich gerade entschuldigen, um Prok zu suchen, als die Tür zur Küche aufschwang und er, die Kristallschüssel von unserer Hochzeitsfeier in beiden Händen haltend, ins Zimmer trat. Hinter ihm stand Corcoran und hielt die Tür auf.

Das erste, was mir an ihm auffiel, war sein Ausdruck – nicht direkt selbstzufrieden, aber überaus entspannt und selbstsicher – und dann seine ganze Physiognomie. Wissenschaftler (nicht wir, sondern andere Erforscher dieses Gebiets) haben herausgefunden, daß wir bei beiden Geschlechtern jene Gesichter am attraktivsten finden, die perfekter Symmetrie am nächsten kommen, und das galt auf jeden Fall für Corcorans Gesicht. Er sah sehr gut aus, keine Frage. Augen, so braun wie eine Kalblederbrieftasche, sandfarbenes Haar, eine vollkommen ebenmäßige Stirn – alles an ihm war so gepflegt und elegant, daß man es als angenehm empfand, einfach nur als angenehm. Man sah ihn an und mochte ihn, und wenn er lächelte und dann etwas sagte, mochte man ihn noch mehr. Das war Corcoran: gutaussehend, charmant, gesellig. Er war etwas größer als der Durchschnitt, ungefähr eins achtzig, und wirkte nicht besonders athletisch; er war irgendwie zu entspannt, zu unbekümmert. Als hinge vor ihm stets ein unsichtbarer Klingelzug, an dem er nur zu zupfen brauchte, um einen ganzen Trupp Diener antraben zu lassen.

Die Schüssel war bis zum Rand mit einer dunkel ockerfarbenen Flüssigkeit gefüllt, auf der drei oder vier leuchtendgrüne Limonenhälften schwammen, und ich erkannte sofort, daß es sich um Proks Spezialversion von Planter’s Punch handelte (2 Teile dunkler Rum, 1 Teil Triple sec, Orangen- und Ananassaft zu gleichen Teilen, Limonensaft, ein Spritzer Grenadine, das alles gut geschüttelt, auf Eis serviert und mit einer Orangenscheibe und einer Maraschinokirsche garniert). Prok wirkte gedankenvoll, als er die Schüssel auf dem Couchtisch abstellte, und dachte offenbar über irgendeine witzige Bemerkung von Corcoran nach, doch dann nahm sein Gesicht wieder den neutralen Ausdruck an, und er konzentrierte sich darauf, die Gläser zu füllen und sie seinen Gästen zu reichen. Corcoran hatte sich mittlerweile zu Dean Briscoe und seiner Frau gesellt und unterhielt sich angeregt mit ihnen; er gestikulierte so gewandt und geschmeidig wie eine aufrecht stehende Forelle. Und dann, gerade als Mrs. Bouchon mir zum dritten Mal erzählte, daß sie sich im Herbst 1917 neun Wochen lang von Steckrüben hatte ernähren müssen, sah ich, daß er Iris bemerkte. Sie stand in einer Ecke und unterhielt sich noch immer mit Professor Bouchon und dem gebeugten Mann, der zu alt war, um Corcoran zu sein, und ich sah, wie Corcoran den Kopf wandte und seinen Blick auf sie richtete.

»Ein Trinkspruch!« rief Prok, obgleich das Glas in seiner Hand beinahe leer war und er vor einem musikalischen Abend noch nie irgendwelche alkoholischen Getränke serviert hatte, nicht einmal einen seiner Liköre. »Auf Purvis Corcoran«, sagte er und erhob das Glas, »einen hervorragenden, talentierten jungen Mann, ganz sicher nicht verklemmt, nicht im mindesten, und wenn ich ihn richtig verstanden habe, ist er willens und bereit, an unserem Projekt mitzuarbeiten ... Das heißt, sofern es uns gelingt, ihn von den kulturellen und ästhetischen Reizen von South Bend wegzulocken.«

Es gab vereinzeltes Gelächter über Proks Versuch, witzig zu sein, und dann tranken wir. Prok führte sein Glas nicht an den Mund, stellte es ab und sah sich um, als suchte er etwas. Ich tupfte meine Lippen mit einer Serviette ab und lächelte Mrs. Bouchon geistesabwesend an. Sie war natürlich eine Langweilerin, aber ich blieb sehr aufmerksam und höflich – das war mein Job, und es entsprach meinem Wesen. Doch nun winkte Prok mich zu sich, und im selben Augenblick löste Corcoran sich von den Briscoes und schlenderte mit eigentümlichen Bewegungen in Richtung meiner Frau. Es war beinahe ein Tanz, und das Wort »schleichen« drückt es nicht annähernd aus – es war ein Gleiten, ja, das war es, er glitt über den polierten Holzboden, als wäre er im Eisstadion.

»Milk«, sagte Prok, »Milk«, und ich murmelte eine Entschuldi- gung und ging zu ihm. »Und Corcoran«, rief er, worauf mein zukünftiger Kollege auf dem Absatz herumwirbelte, als wäre er ein menschlicher Kreisel, den Prok soeben in Bewegung gesetzt hatte. »Ich möchte Ihnen John Milk vorstellen.«

Das Summen der Gespräche war, befeuert durch Proks Rum, wiederaufgelebt. Auch ich spürte ihn als ein unvermitteltes Stimulans, als befände sich eine Klappe an meinem Hinterkopf und als hätte ich den Rum direkt in mein Gehirn gegossen. Im selben Augenblick fiel mein Blick durch das Fenster auf den kahlen Persimonenbaum, der hinter Corcorans großem, glattem Kopf eingerahmt dastand wie das einzige Überbleibsel einer längst vergangenen Feuersbrunst. Corcoran lächelte. Er streckte die Hand aus, der glücklichste, der bestangepaßte und entspannteste Mann der Welt, ein Kaiser in seinem Schlafzimmer. Ich ergriff sie.

»Ich freue mich sehr«, sagte er und schüttelte mir die Hand. »Seit zwei Tagen singt Dr. Kinsey nun schon Ihr Loblied. Ich habe das Gefühl, als würde ich Sie bereits kennen.«

Zwischen uns war Proks Gesicht mit den Falten und den schweren Wangen, den scharf blickenden Augen und der Habichtsnase. Er nickte, er nickte beifällig.

»Ja«, sagte ich und war mir der Berührung seiner Hand bewußt, »ich auch. Ich meine, ja, ich ... äh ... freue mich auch.«
»Er wird langsam ein erstklassiger Interviewer«, warf Prok ein. »Und das ist keine kleine Leistung, wie Sie vermutlich feststellen werden, sobald wir alles unter Dach und Fach haben.«
Ich neigte angesichts dieses Kompliments den Kopf, um anzudeuten, wie wenig ich es verdiente. Beide Männer musterten mich, als wäre ich ein seltenes Exponat in einem Museum. »Wirklich, sehr freundlich, Prok.« An Corcoran gewendet, fuhr ich fort: »Es ist alles nur eine Frage der Ausbildung. Und Prok ist, na ja ...«
»Da bin ich sicher«, erwiderte Corcoran und sah Prok mit seinem nüchternsten Blick an.
»Wenn alles unter Dach und Fach ist«, wiederholte Prok geschäftsmäßig. »Und ich hoffe sehr, daß Sie uns nicht zu lange auf Ihre Entscheidung warten lassen, Corcoran, denn das Projekt erfordert Daten, und wir haben noch ein paar andere Bewerber, lauter sehr fähige Männer, wie Sie selbst.« Wenn die Atmosphäre etwas Festliches gehabt hatte, so hatte Prok alle Spuren davon getilgt. Ich spürte, daß er ungeduldig war, daß er zum musikalischen Teil des Abends kommen und ihn hinter sich bringen wollte, obwohl er diese Abende als ein Mittel schätzte, sich seiner emotionalen Seite, die er im Arbeitsalltag immer unterdrückte, zu überlassen. Und ich spürte auch, daß er Corcoran einstellen, ausbilden und hinaus in die Welt schicken wollte, damit er Material sammelte. Er betrachtete uns, während wir uns die Hände schüttelten und uns ein erstes Bild voneinander machten, und sah nichts als Daten, Daten, deren Menge um fünfzig Prozent schneller wachsen würde.
Mac ging mit einem Tablett herum und sammelte die Gläser ein, und wir setzten uns. Prok bestand darauf, daß Iris und ich in der ersten Reihe neben Mac Platz nahmen, und angesichts dieses Arrangements überkam mich einen Augenblick lang Panik. Ich setzte mich zwischen die beiden Frauen, die sich sogleich über mich hinweg zueinander beugten und Worte, von denen ich rein gar nichts mitbekam, wie Vögel hin und her fliegen ließen. Auch Corcoran, der Ehrengast, saß in der ersten Reihe, und zwar neben Iris. Es wurde still. Professor Bouchons Frau kehrte von der Toilette zurück und nahm geduckt am Ende der zweiten Reihe Platz, und eine füllige Frau mittleren Alters, die ich nicht kannte oder jedenfalls nicht erkannte, holte ihr Strickzeug hervor und begann mit lautlosen Lippenbewegungen Maschen zu zählen. Es gab eine kurze Unterbrechung, in der Prok das Grammophon überprüfte, und ich beugte mich zu meiner Frau und stellte die beiden eilig einander vor. »Iris«, flüsterte ich, »das ist Purvis Corcoran – Corcoran, das ist meine Frau Iris ...« Und dann begann Prok mit seinem Vortrag.
»Heute abend habe ich einen besonderen Leckerbissen für Sie: zwei Versionen von Gustav Mahlers wunderbarer, kraftvoller Sym- phonie Nr. IV in G-Dur, die eine eingespielt von dem unsterblichen Leopold Stokowski, der das Philadelphia Orchestra dirigiert (einige von Ihnen werden ihn vom Beginn seiner Karriere mit dem Cincinnati Symphony Orchestra kennen), die andere von seinem Protege und Nachfolger Eugene Ormandy, einem Neuling sozusagen.« Prok fuhr in seinem Vortragsmodus mit einer kurzen Biographie Mahlers fort, zählte die bekannten, in den USA oder Europa gemachten Aufnahmen auf und verglich Stokowskis Stil mit dem von Ormandy. »Und nun«, sagte er, »werde ich Ihnen die Sätze im Wechsel vorspielen, Stokowski für den ersten und dritten Satz, Ormandy für den zweiten und vierten.« Sein zu großer Kopf wirkte wie eine reifende Frucht, aus Gründen der Balance waren seine Beine leicht gespreizt, und mit der Rechten gestikulierte er. »Den abschließenden Satz werden Sie dann aber auch in der von Stokowski dirigierten Version hören. Dieser Satz enthält das berührende Sopransolo Wir genießen die himmlischen Freuden‹, gesungen von« – er nannte zwei Sängerinnen, die mir vollkommen unbekannt waren –, »aber ich möchte, daß Sie sich nicht von den Unterschieden im Timbre der beiden Stimmen ablenken lassen, sondern sich voll und ganz auf die Tempoauffassung des jeweiligen Dirigenten konzentrieren, ja?«
Es erhob sich ein zustimmendes Gemurmel, das ihn zufriedenzustellen schien. Er faltete kurz die Hände in einer Geste des Gebets oder wohl eher der Beschwichtigung und wandte sich dann ab, um die Schallplatte aufzulegen. Mit einem Ruck, gefolgt von Rauschen und drei deutlichen Knacksern, setzte die Nadel auf, und dann erklang Mahler in voller Lautstärke.
Nach dem Konzert blieben wir noch etwa eine halbe Stunde (auch hierin unterschied sich dieser Abend von den anderen, denn sonst hatte Prok irgendwann eine Pause verkündet und das Programm mit einigen leichten Stücken beschlossen). Wir standen in kleinen Gruppen herum, tranken Kaffee und sprachen über die Musik und darüber, wie groß die Unterschiede zwischen der Auffassung der beiden Dirigenten waren – jedenfalls wenn sie durch eine Demonstration wie diese deutlich gemacht wurden. Ich hatte sehr gehofft, Iris mit dem Nash irgendwohin entführen zu können, aber es war schon spät, und ich mußte morgen zur Arbeit und sie ins Seminar, also stand ich dumm herum, in der einen Hand eine Tasse Kaffee, in der anderen ein Löffelbisquit, wieder mal in die Ecke gedrängt von Professor Bouchon und seiner Frau, die sich lobend über die soeben gehörte Musik äußerten. Da ich von klassischer Musik nur das wußte, was ich mir aus Proks Bemerkungen zusammengereimt hatte, hörte ich eigentlich bloß zu, während Professor Bouchet sich in Erinnerungen an einen Abend erging, an dem er Stokowski am Pult erlebt hatte – entweder in Philadelphia oder in New York, er wußte es nicht mehr genau –, und seine Frau darauf hinwies, daß die Deutschen zusammen mit dem Familienklavier auch all ihre Freude an der Musik zerstört hätten.
Auf der anderen Seite des Raums machten sich Iris und Corcoran miteinander bekannt. Corcoran hatte Prok irgendwie überredet, jetzt, zu angemessen vorgerückter Stunde, das Tablett mit seinen Likören hervorzuholen, und ich sah, daß er sich vorbeugte und eine urinfarbene Flüssigkeit in ihren Kaffee goß. Das Konzert hatte ihr nicht gefallen. Dessen war ich mir sicher. Sie behauptete stets, Proks Angewohnheit, die Stücke klinisch zu sezieren, beraube sie all ihres Gehalts, und im Lauf der Jahre wurden diese musikalischen Abende für sie immer mehr zu einer lästigen Pflicht. Doch an diesem Abend stand sie mit Corcoran im Halbdunkel der gegenüberliegenden Ecke, eingerahmt von den glatten schwarzen Flächen der Möbel und den dunklen Schlieren auf der Wand, und schien sich großartig zu unterhalten.
Woher ich das wußte? Ihre Körperhaltung und ihr Gesicht verrieten es mir. Ich kannte ihr Gesicht besser als mein eigenes, und daran, daß ihre Augen größer wurden und sie beim Sprechen die Lippen spitzte (was sagte er zu ihr, was war daran so faszinierend?), sah ich, daß sie ganz bei der Sache war. Und dann war da noch die Art, wie sie den Kopf beim Lachen zur Seite neigte, wie sie unbewußt an ihrem rechten Ohrring zupfte und von einem Fuß auf den anderen trat, als hätte der Boden unter ihren Füßen Feuer gefangen. Körpersprache. Ich hatte sie notwendigerweise gelernt. Ob ich eifersüchtig war? Kein bißchen, noch nicht. Warum hätte ich eifersüchtig sein sollen? Ich liebte sie, und sie liebte mich, daran gab es keinen Zweifel – und den hat es auch bis heute nie gegeben –, und der ganze Rest war, wie ich von Prok gelernt hatte, nichts weiter als eine Körperfunktion, reine Physiologie, Stimulus und Reaktion. Ich hörte Professor Bouchet und seiner Frau höflich zu, nickte und lächelte, wenn es angebracht schien, und entschuldigte mich dann, um den Raum zu durchqueren, meine Frau zu holen, mich bei den Gastgebern zu bedanken und hinaus in die Nacht zu gehen.

Der Heimweg war ... Na ja, man könnte ihn als anregend bezeichnen. Nicht im sexuellen Sinne (wie gesagt, in jener Nacht genossen wir nicht den Luxus sexueller Stimulation), sondern in emotionaler Hinsicht. Zuerst fummelten wir an unseren Mantelknöpfen herum, schlugen gegen den Wind die Kragen hoch, drückten uns aneinander und eilten die Straße entlang, ohne ein Wort zu sagen. In der Luft lag ein Geruch, der von Winter kündete, von kalten, mit Felsen übersäten kanadischen Weiten und den steifgefrorenen Fellen Hunderttausender von Tieren, die sich da über die Tundra schoben, und der Himmel über uns war offen, das Sternengesprenkel von Horizont zu Horizont war wie das weiße Blut der Nacht. Ich hatte Lust, noch irgendwo etwas zu trinken, wußte aber, daß Iris dem nicht zustimmen würde – absurderweise galt für sie, obwohl verheiratet, noch immer die Hausordnung des Wohnheims, wo die Rezeptionistin die Sperrstunde überwachte –, und so sagte ich statt dessen das erste, was mir durch den Kopf schoß. »Und Corcoran? Was hältst du von ihm?«

Sie hatte den Kopf gesenkt, die Schultern nach vorn gezogen, eine Hand am Kragen, und sie ging mit raschen Schritten. »Ach, ich weiß nicht«, sagte sie. »Er scheint ganz in Ordnung zu sein.«

»In Ordnung? Ist das alles?«
Meine Hände waren kalt. Ich hatte nicht daran gedacht, Handschuhe mitzunehmen, denn der Winter hatte ja noch gar nicht richtig begonnen. Ich hakte mich bei ihr unter und zwängte die rechte Hand in meine Manteltasche. Die Linke steckte ich in die Hosentasche, auch wenn es sich seltsam anfühlte, so unausgewogen zu laufen. Vor uns raschelte dürres Laub im Wind. Hinter uns hörten wir die Fehlzündung eines Motors, die anderen Gäste brachen ebenfalls auf. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Überzeugend vielleicht.«

»Überzeugend? Wie meinst du das?«

»Er kann gut reden. Sehr gewandt. Er wird bestimmt mal ein umwerfender Interviewer.«
»Höre ich da einen leisen Anklang von Sarkasmus?«
Sie wandte mir ihr Gesicht zu, ein kaltes, blasses Oval aus reflektiertem Licht, dann sah sie wieder auf ihre Füße. »Nein, gar nicht«, sagte sie. »Ich denke nur praktisch. Er ist ideal. Er wird dich ersetzen, ohne daß es auch nur –«
»Er wird mich nicht ersetzen.«
»Ist dir aufgefallen, wie Kinsey ihn angesehen hat?«
Ich zitterte. Der Mantel war zu dünn, und der Wind stach durch meine Hose. Ein Schauer überlief mich. Ich sah Corcorans Gesicht, sah Prok, der sich den ganzen Abend nie weit von ihm entfernt hatte, so stolz, als hätte er ihn persönlich zur Welt gebracht, und im selben Augenblick wußte ich, daß zwischen ihnen etwas war, nämlich dasselbe wie zwischen Prok und mir. Es kam über mich: Mit einem Mal war ich wütend. Eifersüchtig. »Na und?« sagte ich. »Was geht mich das an? Ich sage dir doch, wir brauchen mehr Mitarbeiter.«
Iris erwiderte nichts. Unter unseren Füßen knisterten die Blätter. Dann sagte sie: »Aber er ist wirklich überzeugend.«
»Tatsächlich«, sagte ich, und ich dachte an nichts, an gar nichts. »Wovon hat er dich denn überzeugt? Das würde ich gern wissen. Wirklich.«
Wir waren am Ende des Blocks angekommen und bogen nach rechts in Richtung Campus ab. Der Wind fegte ungehemmt um die Ecke. Zwei Autos fuhren vorbei, so dicht hintereinander, als würde das zweite abgeschleppt. Sie überrollten einen Ast, den der Wind auf die Straße geweht hatte – ein Krachen wie von mehreren kleinen Explosionen. »Meine Geschichte beizusteuern«, sagte Iris. Ich dachte, ich hätte sie nicht richtig verstanden, und fragte: »Was?«
»Meine Geschichte beizusteuern. Bei Kinsey.«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Seit Monaten hatte ich ihr in den Ohren gelegen, und nun hatte sie dieser Neue – dieser überzeugende Mensch, dieser Corcoran – in wie viel ... ? in zehn Minuten rumgekriegt? »Gut«, sagte ich wie betäubt. »Das ist gut. Aber wie ... Ich meine, warum hörst du auf ihn, wenn dein eigener, na ja, dein eigener Mann dich nicht überzeugen kann? Und nach so langer Zeit?«
Die Rücklichter der beiden Wagen vor uns entfernten sich. Am Campus bogen sie beide nach rechts in die Atwater Street ein und waren verschwunden. »Aus seinem Mund klang alles ganz vernünftig«, sagte sie. »Für den Erfolg des Projekts, wie du immer gesagt hast. Seine Frau hat schon einen Termin für ein Interview – also, wenn du das nächste Mal nach South Bend fährst... Wer weiß, vielleicht machst du ja ihre Befragung. Wäre das nicht toll? Dann bleibt es in der Familie.«
»Worauf willst du hinaus? Das ist doch nichts Schlimmes ...«
»Kinsey hat gesagt, er verschafft ihm eine Zurückstellung.«
Wir gingen schweigend weiter. Natürlich würde Prok ihm eine Zurückstellung verschaffen. Mir ebenfalls, aber das diente dem Projekt und hatte nichts damit zu tun, ob unsere Frauen ihre Geschichte beisteuerten oder nicht. Ich hätte hocherfreut sein sollen. Es war Corcorans erster Tag bei uns, und er hatte Iris überzeugt, um des Teamgeists willen mitzumachen, und das war wunderbar, das war großartig, lobet den Herrn, doch ich war nicht hocherfreut, sondern sauer. »Das hat nichts damit zu tun«, sagte ich.
Vor uns ragten die Universitätsgebäude auf. Hier und da brannte noch Licht, und in der Schwärze der Nacht bildeten diese beleuchteten Fenster ein unregelmäßiges Muster. Der erfrorene Rasen und dürres Laub knirschten unter unseren Schritten. »Was ist mit Mac?« sagte sie dann.
»Mac?« wiederholte ich. Ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte. »Wie meinst du das? War Mac auch dabei? Hat sie dich auch überzeugt – oder dabei geholfen? Meinst du das?«
»Nein. Mac als Ehefrau. Als eine aus dem engsten Kreis. Jetzt wird der engste Kreis aus drei Männern und ihren Ehefrauen bestehen – wenn ich Prok meine Geschichte erzähle und wenn er dir eine Zurückstellung verschafft.«
»Das wird er«, sagte ich, nur um etwas zu sagen, um das Gespräch in Gang zu halten. »Ich meine, er hat schon Briefe geschrieben. Er tut sein Bestes.«
»Aber was ist mit Mac?« wiederholte sie. Wir steuerten auf das Studentinnenwohnheim zu. Unter dem Bogen des Eingangs standen Gestalten, Pärchen drückten sich in die Schatten, und aus den Fenstern der Zimmer in den oberen Etagen strahlte Licht, als wäre alles Leben auf dem Campus hier konzentriert. Und so war es ja auch. Jedenfalls um diese Uhrzeit.
»Was soll mit ihr sein?«
Plötzlich riß Iris sich los und beschleunigte ihre Schritte. »Du hast mit ihr geschlafen«, sagte sie. »Sie hat mir alles erzählt.« Das Licht aus der Reihe der Fenster über uns lag auf ihrem Gesicht und ihrem Haar, es versilberte die Schultern des Mantels und die dunkle gewellte Hutkrempe. »Sie hat’s mir gesagt«, sagte sie, und es war etwas in ihrer Stimme, eine Mischung aus Wut und Verzweiflung, die ihr die Kehle zuschnürte, »und du hast mich angelogen.« Sie fuhr herum und baute sich vor dem Eingang auf. »Du«, sagte sie. »Du, John Milk. Mein Ehemann.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich hätte eine Rede halten müssen, ich hätte stunden-, tagelang Zeit haben müssen, ich hätte ein ganzes Gebäude aus philosophischen Versatzstücken errichten und Punkt für Punkt erläutern müssen, doch bis zur Sperrstunde blieben uns nur mickrige zehn Minuten. »Ich wollte dich nicht... nicht überraschen«, sagte ich. Das war das Beste, was mir einfiel. »Oder ... oder dich verletzen, ich meine, wenn –«
»Lügner.« Sie spuckte mir das Wort vor die Füße. Köpfe wandten sich zu uns um. Für einen kurzen, harten Augenblick lösten sich die Pärchen in den Schatten aus ihren Umarmungen. »Du bist ein Lügner«, sagte sie, drehte sich um, ging die Treppe hinauf und trat ins Licht, und ich stand da und sah zu, wie sie die Tür aufriß und hinter sich zuknallen ließ.

Eine Woche später vereinbarte Iris einen Termin bei Prok und gab ihm ihre Geschichte. Wenn ich mich recht entsinne, regnete es in jenem Herbst ungewöhnlich viel, und der Winter setzte früh ein. Alles war wie erstarrt, die Wochen verschmolzen miteinander, und dann schrieb Corcoran, er nehme Proks Angebot an, und die Japaner stiegen eine Stunde vor Sonnenaufgang in ihre Maschinen und fielen über Pearl Harbor her. Und dann war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war.

10

Nach dem, was ich bereits über mich selbst enthüllt habe, wird es Sie kaum überraschen, daß ich bei der ersten Gelegenheit (Prok war allein weggefahren, um vor einer Bürgervereinigung in Elkhart zu sprechen und im benachbarten South Bend Violet Corco-rans Sexualgeschichte aufzuzeichnen) an den Aktenschrank ging und zwei Geschichten heraussuchte, die für mich von besonderem Interesse waren: Corcorans und die meiner Frau. Darf ich Ihnen auch anvertrauen, daß ich nicht die leisesten Skrupel oder Schuldgefühle hatte? Nein, diesmal nicht. Nicht mehr. Prok war nicht da, und nur er hätte mich davon abhalten können, sonst niemand. Innerhalb einer Stunde hatte ich Proks neuen, wasserdichten Code geknackt. Ich nahm die Unterlagen aus dem Schrank und legte sie nebeneinander vor mich auf den Schreibtisch.

Es war kurz vor den Weihnachtsferien, das ganze Land steigerte sich in eine Kriegshysterie hinein. Prok war bereits besorgt, weil Benzin, Reifen und alles mögliche andere, wie es hieß, bald rationiert sein würden, und kündigte an, daß wir in Zukunft öfter mit dem Zug fahren müßten, mit dem Zug und dem Bus. Alle waren so abgelenkt, so schockiert und empört über die Ereignisse des 7. Dezember, daß Weihnachten unwichtig geworden zu sein schien – wer konnte schon an den Weihnachtsmann denken, solange Tojo und Hitler die Welt unsicher machten? Wenn ich mich recht erinnere, herrschte eine Kältewelle, die Stadt hatte die Farbe von Muschelschalen, für den Nachmittag waren Schneeschauer vorausgesagt, und ich war früh ins Büro gegangen und hatte einiges zu erledigen: Ich mußte zahllose Daten tabellieren, Kurven und Grafiken zeichnen und die Korrespondenz erledigen, auch wenn diese damals nichts war im Vergleich zu der Flut von Briefen, die wir – eigentlich hauptsächlich Prok – beantworten mußten, nachdem wir 1948 unsere Forschungsergebnisse veröffentlicht hatten. Von da an erhielt Prok jährlich unzählige Briefe von wildfremden Menschen, die Rat suchten, sich Hilfe bei sexuellen Problemen erhofften, ihre Dienste als Hilfswillige anboten und freizügige Fotos und Tagebücher, erotische Kunstwerke, Godemiches, Handschellen, Peitschen und dergleichen schickten. Ich erinnere mich an einen Brief von einem Anwalt, dessen Mandant angeklagt war, »widernatürliche Unzucht mit einem Schwein (Analverkehr)« getrieben zu haben, und der von Prok ein Gutachten über die statistische Häufigkeit solcher Akte mit Tieren erbat (6 Prozent der Gesamtbevölkerung, 17 Prozent der männlichen alleinstehenden Landbevölkerung). Prok lehnte ab. Höflich.

Jedenfalls beugte ich mich über den Schreibtisch, während in einem hinteren Winkel meines Kopfes ein Weihnachtslied herumspukte (Iris und ich waren am Abend zuvor in einem Chorkonzert gewesen), auf dem Korridor einer von Proks Kollegen sich räusperte oder die Nase putzte und Sekretärinnen in hochhackigen Schuhen vorbeiklackerten, daß es sich anhörte, als würden kleine Lokomotiven über die Schienen einer Modelleisenbahn rattern. Ich nahm mir zuerst Iris’ Geschichte vor, und wie ich vermutet hatte, gab es hier keine Überraschungen. Erst mit siebzehn, als sie bereits auf dem College war, fand sie heraus, was das Wort »masturbieren« überhaupt bedeutete, und dann war sie so gehemmt, daß sie es nur zwei- oder dreimal ausprobierte, ohne zum Orgasmus zu kommen. Sie hatte sowohl manuelle als auch orale Stimulation der Brüste durch andere Männer – Jun- gen – erfahren, aber bis zu ihrer Verlobung und Heirat weder Petting noch Koitus. Sie verfügte über begrenzte sexuelle Erfahrungen mit dem eigenen Geschlecht, und die lagen weit zurück, in ihrer Kindheit, sie hatte keinerlei sexuelle Kontakte mit Tieren und nur wenige Phantasien. Sie hatte niemals irgendwelche Objekte benutzt und (bis jetzt) niemals das männliche Glied in den Mund genommen.

Es gab in ihrer Geschichte nichts, was ich nicht schon hundertmal gehört hatte, und ich fragte mich, warum sie sich gesträubt hatte, ihre Geschichte beizusteuern – wirklich, sie war ganz und gar nicht ungewöhnlich –, und dann fragte ich mich, ob es vielleicht genau daran lag, daß sie sich schämte, so wenig vorweisen zu können. Als wäre uns nur an den extremen Fällen gelegen, an den Sexathleten, den Promiskuitiven und Verwöhnten, an denen, deren Werte weitab vom statistischen Mittel lagen. War das möglich? Oder lag die Ursache tiefer, in einem Widerstand gegen die Idee des Forschens an sich? In einem Widerstand gegen Prok? Gegen mich? Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, als würde mein Herz brechen: Es war ihr nicht leichtgefallen, und sie hatte es für mich getan, nur für mich – wenn sie mich nicht lieben würde, hätte sie ihre Geschichte niemals preisgegeben. Es entsprach einfach nicht ihrem Wesen. Vielleicht starrte ich eine Zeitlang aus dem Fenster auf die verschlossene graue Krypta des Himmels, vielleicht sprach ich ihren Namen laut aus: Iris. Nur dieses eine Wort: Iris.

An dem Tag, als sie in unser Büro kam, war sie so nervös, so angespannt, so schüchtern und verletzlich und schön. »Hallo, Dr. Kinsey«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Und hallo, John.« Ich wußte, daß sie kommen würde, und war selbst sehr aufgeregt, den ganzen Tag schon. Stunden vor dem vereinbarten Termin war ich jedesmal, wenn ich Schritte auf dem Korridor gehört hatte, unwillkürlich auf meinem Stuhl hin und her gerutscht und hatte zur Tür gesehen. Ich dachte, ich sei bereit dafür, bereit, diese Sache hinter uns zu bringen wie ein letztes Hochzeitsritual, wie eine Impfung oder den für die Heiratserlaubnis erforderlichen Test auf Geschlechtskrankheiten, doch obwohl ich andauernd auf die Uhr sah und mein Magen sich anfühlte, als hätte ich seit einer Woche nichts gegessen, war ich, als sie dann kam, beinahe überrascht, sie zu sehen. Ich hatte an einer für meine Verhältnisse reichlich komplizierten Berechnung gearbeitet (Standardabweichung vom Durchschnitt bei stichprobenartig ausgewählten Männern, die von nächtlichen Samenergüssen berichtet hatten), und sie war lautlos wie eine Katze eingetreten. Ich sah auf, und da war sie, mit hängenden Schultern, elfenhaft, in ihrem Mantel versunken wie ein Kind, Handschuhe, Hut, ein flüchtiges, blasses, aufgeregtes Lächeln auf den Lippen. Prok und ich erhoben uns gleichzeitig, um sie zu begrüßen.

»Iris, kommen Sie, kommen Sie.« Proks Stimme troff vom süßen Schmelz seines gewinnendsten Interviewertons. »Warten Sie, lassen Sie mich Ihren Mantel nehmen – furchtbar kalt draußen, nicht?«

Iris bestätigte es. Sie lächelte mir zu, als sie den Mantel ablegte und Prok um sie herumwuselte, begierig, eine neue Geschichte aufzuzeichnen. Ob sie unschlüssig wirkte, vielleicht sogar ein bißchen benommen? Ich glaube schon. Doch mir blieb gar keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Prok wandte sich sogleich an mich und sagte: »Ich könnte mir vorstellen, daß du heute etwas früher gehen möchtest, Milk. Oder besser noch: Vielleicht möchtest du unten, in der Bibliothek, weiterarbeiten.«

Und dann Corcoran.
Doch Corcorans Geschichte – und sie war, wie gesagt, sehr umfangreich, er war der sexuell aktivste Proband, der uns bisher begegnet war – ist an diesem Punkt vielleicht nicht so wichtig wie der Fortgang der Szene mit Iris auf der Treppe vor dem Wohnheim, denn die war von großer Bedeutung für dies und alles, was noch kommen sollte. Sie nannte mich einen Lügner. Ließ die Tür zuknallen und mich in der Kälte stehen. Die anderen Studentenpärchen schlichen an mir vorbei wie Phantome. Ich war mit zwei Tatsachen konfrontiert: Mac hatte ihr alles erzählt, und sie hatte es höchstwahrscheinlich die ganze Zeit gewußt – bei unserer Versöhnung, bei unserer Hochzeit, während der Flitterwochen, an den intimen, verbummelten Sonntagnachmittagen im Sommer, im Herbst – und dennoch nie ein Wort darüber verloren. Sie hatte mich beobachtet wie eine Spinne und auf ihre Gelegenheit gewartet. Und die hatte sich nun geboten. Die Tür knallte hinter ihr zu, das Haus verschluckte sie, und ich stolperte wie ein Invalide über den Campus, bis ich ein Münztelefon fand und im Wohnheim anrief.
Es meldete sich die Rezeptionistin. »Bridget?« sagte ich. »Hier ist John Milk. Kannst du Iris an den Apparat holen?«
»Klar«, sagte sie, doch ihre Stimme war kalt und distanziert, und ich fragte mich, wieviel sie wußte. Der Hörer wurde mit einem Klatschen, das wie Fleisch auf Fleisch klang, abgelegt, und dann hörte ich nur noch Rauschen. Nach einigen Sekunden vernahm ich vertraute Geräusche: entfernte Schritte, ein Kichern, die Stimme eines Mannes. »Gute Nacht«, sagte ein anderer, und eine weibliche Stimme bat: »Noch einen Kuß.«
Als Iris schließlich den Hörer aufnahm – nach zwei Minuten oder zehn, ich hätte es nicht sagen können –, klang sie, als spräche sie mit einem Fremden, einem unerwünschten Anrufer, mit jemandem, der ihr etwas verkaufen wollte. »Was willst du?« fuhr sie mich an.
»Ich will bloß ... also ... ich will bloß reden ... das heißt, wenn du ...«
»Was hast du dir dabei eigentlich gedacht?« sagte sie, und jetzt klang sie schon besser, jetzt klang sie wieder wie Iris – wütend zwar, aber irgendwie auch ergeben. »Hast du gedacht, ich bin blöd oder was? Oder blind? Hast du das gedacht?«
»Nein, hab ich nicht. Es war nur so, daß ich ... Na ja, ich fand eigentlich nicht, daß ich irgendwas falsch gemacht hatte, und ich wollte nicht, daß du dich aufregst, das war alles. Es war das Projekt. Das menschliche Säugetier. Es gibt nichts, wofür man sich schämen müßte, gar nichts.«
Sie schwieg. Ich lauschte dem Blitzkrieg der statischen Elektrizität. Iris befand sich auf der anderen Seite des Rasengevierts, doch sie hätte ebensogut tausend Meilen entfernt sein können.
»Hör zu, Iris«, sagte ich, »du mußt versuchen, diese antiquierten Vorstellungen über ... na ja, über freiwillige Beziehungen zwischen erwachsenen Menschen abzulegen. Wir leben in modernen Zeiten, und wir sind Wissenschaftler oder wollen es jedenfalls sein, und all dieser Aberglaube, diese Ängste und Schuldzuweisungen, all diese gesellschaftliche Ächtung hemmt uns, als Gesellschaft, meine ich. Verstehst du das nicht?«
Ihre Stimme klang, als hätte sie gar nicht zugehört. Es war eine kleine Stimme, die an den Rändern bebte. »Und Prok?«
»Was soll mit Prok sein?« fragte ich.
»Du und Prok?«
Ich stand in einer Telefonzelle, in gelbes Licht getaucht. Es war kalt. Der Wind rüttelte an der Falttür und drang durch die Ritzen. Ich bin sicher, daß ich zitterte, aber ich sprach mit Iris, mit meiner Frau, und ich mußte alles auf den Tisch legen, ich mußte von nun an offen und ehrlich sein, sonst war diese Ehe zum Scheitern verurteilt, das war mir jetzt klar. »Ja«, sagte ich.
Ihre Reaktion überraschte mich. Sie fiel nicht über mich her, sie rief nicht: »Wie konntest du nur?«, sie wollte nicht wissen, wann und wie oft, sie fragte mich nicht, ob ich ihn liebte oder er mich oder wie sie und Mac da hineinpaßten, und sie benutzte keines jener ekelhaften Wörter, mit denen andere so schnell bei der Hand sind: Schwuchtel, Tunte, Perverser. Sie sagte nur: »Ich verstehe.«
Was empfand ich? Scham? Ein wenig. Erleichterung? Ja, sicher, aber sie war so schwächlich wie der Draht, der unsere Stimmen durch die Nacht transportierte. »Ich liebe dich«, sagte ich. »Dich und niemand sonst. Der Rest ist bloß –«
»Eine Körperfunktion?«
»Iris, hör mir zu. Ich liebe dich. Ich will dir ins Gesicht sehen, denn das hier ist nicht... Wir sollten nicht am Telefon ...«
»Mac«, sagte sie, und ich war mir nicht ganz sicher – die Verbindung war schlecht –, aber in ihrer Stimme war ein Kummer, dessen Schärfe etwas vom Augenblick abschnitt und mir das Gefühl gab, sie werde gleich in Tränen ausbrechen. »Mac und ich haben geredet. Sie ist wie eine Mutter, aber das weißt du ja, nicht? Sie hat mir dasselbe gesagt wie du: daß es nichts bedeutet, überhaupt nichts. Es sind bloß Tiere, die sich aneinanderreihen.«
»Iris«, sagte ich, »ich liebe dich.«
Es trat eine lange Stille ein. Als sie schließlich sprach, war ihre Stimme beinahe unhörbar. »Und Prok und ich?« flüsterte sie. »Ist es das, was du willst?«
Ich hätte aus Zellulose sein können, aus Holz, ein Bildnis von John Milk, das jemand an einem stürmischen Herbstabend in einer Telefonzelle am Rand des Rasengevierts aufgestellt hatte. Man hätte Nägel in mich schlagen können, man hätte mich versengen und mit allen möglichen Werkzeugen an mir herumschnitzen können – ich spürte nichts. »Nein«, sagte ich. »Nein, das will ich nicht. Das ist nicht das ... Du sollst nichts tun, was du nicht willst.«
»Aber ich gebe ihm meine Geschichte, oder nicht? Warum nicht auch den Rest von mir?« Eine Pause. Der Wind schüttelte die Telefonzelle. »Es bedeutet doch nichts, oder?«
Ich war aus Holz. Ich konnte nicht sprechen.
»John? John, bist du noch da?«
»Ja.«
»Dein ... wie soll ich ihn nennen? Dein Kollege Corcoran ...« Ein neuer Ton hatte sich in ihre Stimme geschlichen, ein Ton, der mir gar nicht gefiel. »Er schien sehr interessiert. Hast du ihn gesehen heute abend? Ja? Er hat wie eine Klette an mir gehangen.«
Und so machte ich mich über Corcorans Geschichte her. Das heißt, nachdem sich alles wieder ein bißchen beruhigt hatte, nachdem Iris und ich hundertmal darüber gesprochen hatten, nachdem wir das Gelübde, das wir vor dem Friedensrichter abgelegt hatten, noch einmal bestätigt und auf dem Rücksitz des Nash miteinander geschlafen und all unser Geld zusammengekratzt hatten, um eine Anzahlung auf eine erste gemeinsame Wohnung zu leisten, denn das alles war unerträglich, diese Trennung, diese Sehnsucht, diese Mißverständnisse. Jetzt war alles in Ordnung, und das würde es auch bleiben – soweit ich das an diesem wie ausgehöhlten Dezembermorgen sagen konnte, an dem Prok nicht da war und ich mir die Unterlagen vornahm, um zu sehen, was für ein Mensch Corcoran war. Was soll ich sagen? Ich saß im Licht der Lampe da und fuhr mit dem Finger über den Interviewbogen, registrierte Akte, Alter, Häufigkeiten und rekonstruierte ein sich ständig erweiterndes Szenario voll Experimentierlust und sexuellem Draufgängertum. Was die sexuelle Erfahrung betraf, war Corcoran tatsächlich das Gegenteil von mir. Er war früh gereift und hatte sich das zunutze gemacht, er war genau die Art von Person, die wir später als »hochaktiv« bezeichneten und die zeit ihres Lebens mehr sexuelle Kontakte mit mehr Partnern haben als der Durchschnitt – und weit mehr als die »minderaktiven« am anderen Ende der Skala.
Corcoran war in Lake Forest aufgewachsen, als Sohn eines Professors, der später, als Corcoran vierzehn war, mit der ganzen Familie nach South Bend zog, um einen Ruf an die Notre Dame University anzunehmen. Corcorans Vater war katholisch, ging aber kaum zur Kirche, und seine Mutter war Unitarierin und eine Art Freigeist. Man war zu Hause nackt herumgelaufen, denn beide Eltern waren eine Zeitlang Nudisten gewesen, was der Vater sorgfältig vor seinen Vorgesetzten verbarg, ebenso wie Prok sein Privatleben vor den Blicken seiner Kollegen schützen mußte. Corcoran konnte sich erinnern, als kleines Kind Erektionen gehabt zu haben, und seine Mutter hatte ihm versichert, die habe er schon als Säugling gehabt – sie habe darüber immer Witze gemacht und gesagt, er sei wie ein kleiner Zinnsoldat gewesen, der immer in Habtachtstellung gegangen sei, wenn sie ihm die Windeln gewechselt habe –, und obgleich das ungewöhnlich ist, hat unsere Erforschung der kindlichen Sexualität ergeben, daß ein solches Verhalten – insbesondere bei hochaktiven Menschen – keineswegs anormal ist. Mit elf hatte er seinen ersten Orgasmus, danach beteiligte er sich mit Begeisterung an Aktivitäten, die man umgangssprachlich als »Rudelwichsen« bezeichnen würde. Die anderen Teilnehmer waren Jungen aus der Nachbarschaft, und das alles fand zuerst in Lake Forest und dann in South Bend statt, wo Corcoran anscheinend Initiator diverser sexueller Aktivitäten mit Mädchen und anderen Jungen war.
Den ersten Koitus hatte er mit vierzehn, in einem Sommerhäuschen an einem der Seen auf der Michigan-Halbinsel. Offenbar waren in dieser Gegend eine ganze Reihe von Häusern an Gleichgesinnte – das heißt Nudisten – vermietet, und Corcoran und seine beiden Schwestern liefen den ganzen Sommer hindurch unbekleidet herum, »braungebrannt«, wie er später sagte, »bis in die letzte Ritze«. Seine Tante, die Schwester seiner Mutter, führte ihn ein, und dann machte er mit der sechzehnjährigen Tochter eines anderen Sommergasts weiter und probierte jede Form von Triebbefriedigung aus, die ihm einfiel. Er stellte fest, daß er, wie er gern sagte, ein Talent für Sex besaß und diese Aktivitäten mehr genoß als alle anderen, die er kannte, und so dauerte es nicht lange, und er verlor alles Interesse an jungenhaften Vergnügen wie Baseball, Forellenfischen, Kinofilmen und Abenteuerromanen; er widmete sich beinahe ganz und gar der Befriedigung seiner Triebe, und zwar auf so viele verschiedene Arten und mit so vielen verschiedenen Partnern wie möglich. Violet, seine spätere Frau, lernte er auf dem College kennen. Wie er war sie von Anfang an geradezu begeistert von Sex. (Zu diesem Zeitpunkt existierte sie für mich nur als Vorstellung, und ich muß gestehen, daß der Gedanke, ihr Interview zu transkribieren, mich erregte.) Sie hatten zwei Kinder, sieben und neun Jahre alt, beides Mädchen. Gelegentlich luden sie andere Paare ein, und dann hatte Corcoran Sex sowohl mit den Männern als auch mit den Frauen (auf Proks Skala von 0 bis 6 stufte er sich mit 3 ein und hielt sich für ganz und gar bisexuell). Und schließlich – das machte ihn für Prok so wertvoll und bescherte uns eine wachsende Zahl von Daten – besaß er ein schwarzes Büchlein, in dem er seine Eroberungen, die zu diesem Zeitpunkt bereits in die Hunderte gingen, verzeichnet hatte.
Natürlich entspringt vieles von dem, was ich hier über ihn erzähle, meinen eigenen Erfahrungen mit Corcoran – schließlich sind wir jetzt seit vierzehn Jahren Kollegen und haben gewiß keine Geheimnisse voreinander –, und doch waren die grundlegenden Informationen bereits da, in unseren Unterlagen, als ich an jenem Dezembermorgen vor dem Ungewissen Weihnachtsfest des Jahres 1941 zum zweiten (aber nicht zum letzten) Mal gegen Proks Anweisung verstieß. Ich weiß noch, wie ich zwischen all den getrockneten Gallen saß und mein Herz raste, während ich das verschlüsselte Protokoll meines zukünftigen Kollegen las, ich weiß, daß mir die ganze Zeit »Engel auf den Feldern singen« im Kopf herumging und auf dem Korridor die Schritte einer Gruppe Studenten verklangen. Wie konnte ich ihm je auch nur annähernd gleichkommen? Das war es, was ich dachte. Ich war plötzlich sicher, daß ich mir die ganze Zeit etwas vorgemacht hatte und Iris recht hatte: Corcoran sollte mich tatsächlich ersetzen, er sollte meinen Schreibtisch, mein Gehalt und meine Interviews übernehmen und mich aus der Hierarchie eines Projekts entfernen, bei dem ich der erste Mitarbeiter gewesen war. Eine Art Panik überkam mich, und ich mußte aufstehen und auf und ab gehen, um mich zu beruhigen. Ich zählte im Geist meine Vorzüge auf – ich war loyal, ich besaß ein freundliches Wesen und einen Kenntnisstand, der nur von Prok selbst übertroffen wurde, und ich war schon länger dort –, doch wie ich es auch drehte und wendete, ich mußte zugeben, daß Corcoran mich, zumindest auf dem Papier, in allen Belangen übertraf: Er war acht Jahre älter, Vater zweier Kinder, Inhaber eines höheren akademischen Titels, und seine Werte lagen in all unseren Tabellen und Grafiken im oberen Bereich. Jetzt bekam ich Schuldgefühle, ich machte mir Vorwürfe und schämte mich plötzlich. Ich legte den Protokollbogen wieder in den Schrank und drehte den Schlüssel im Schloß.

Am Neujahrstag zogen wir in unsere neue Wohnung. Sie war keineswegs ideal, zehn ermüdende Blocks vom Campus entfernt, in dem vermutlich heruntergekommensten Viertel von Bloomington, feucht wie eine Gruft, denn das Haus lag am Fuß eines Hügels in ehemaligem Marschland. Drei Zimmer, ein Bad und der unauslöschliche Geruch der alten Dame, die darin gestorben war – Mrs. Lorbers ältere Schwester, falls Sie sich fragen, woher wir die Wohnung hatten –, aber es war wirklich unsere, und dank Iris’ Talent für Einrichtung war sie bald nicht wiederzuerkennen. Iris hängte zwischen Küche und Wohnbereich einen Perlenvorhang auf, löste die ausgebleichte viktorianische Tapete ab, klebte eine neue an, mit einem beinahe spartanisch anmutenden Muster aus ineinander verschränkten grauen und weißen Rechtecken auf beigem Grund, und dirigierte mich, nachdem sie einen Nachmittag bis in den Abend und zu meiner Rückkehr darüber nachgedacht hatte, beim Aufhängen der vier gerahmten Holzschnitte mit Szenen aus Sturmhöhe, die sie in einer der hinteren Ecken eines Trödelladens entdeckt hatte. Sofa und Sessel hatten wir über Kleinanzeigen gefunden. Prok hatte uns den Nash freundlicherweise als Umzugswagen geliehen, und Ezra half mir, die Sachen durch die schmale Eingangstür zu manövrieren. Wir besaßen ein Bett, ein Doppelbett aus lackiertem Eisen, zu einem Sonder-Sonderpreis beim Trödelhändler gekauft, dazu eine Matratze (»neuwertig«), ein Regal, das die Wand gegenüber dem Sofa etwas imposanter machen sollte, mein Radio sowie eine Reihe blauer Glasvasen mit verschiedenen Trockenblumensträußen und Schildblumen, die Mac uns zusammen mit einem Sortiment Töpfe und Pfannen zur Hochzeit geschenkt hatte. Auch Prok war mehr als großzügig gewesen und hatte mir gerade zur rechten Zeit ein Weihnachtsgeld gegeben und außerdem das Versprechen, mein Gehalt ab Anfang des Jahres um fünf Dollar auf fünfzig pro Woche zu erhöhen.

An jenem Abend aßen wir Sandwiches aus einer braunen Papiertüte und saßen mit untergeschlagenen Beinen auf der Matratze, die noch auf dem Boden lag, weil wir zu erschöpft waren, um das Bett aufzubauen. Wir teilten uns eine Flasche Bier, und dann machten wir noch eine auf. Ich hatte das Radio eingeschaltet – Benny Goodman spielte »Don’t Be That Way« oder vielleicht auch etwas Sanfteres, Süßeres –, lehnte an der demnächst nackten Wand und hielt Iris in den Armen. Der Duft ihres Haars, frisch gewaschen in unserem eigenen Waschbecken im Badezimmer, war der Duft eines neuen Anfangs, des Beginns eines selbständigen, erwachsenen Lebens, gemeinsam und unzertrennlich. Ich kann nicht beschreiben, welchen Frieden ich an diesem Abend empfand. Wir saßen auf unserer neuen Matratze und bewunderten bis lange nach Mitternacht unsere neuen Wände, unsere neue Wohnungstür, unseren neuen Perlenvorhang; das Bier ließ uns sanft dahinschweben, und die Musik wogte sacht auf ihrem eigenen Strom dahin. Mrs. Lorber und die diversen Rezeptionistinnen waren nicht mehr Teil unseres Universums. Ezra konnte sich waschen oder es lassen – es kümmerte mich nicht mehr. Der Rücksitz des Nash war Vergangenheit. Wir hatten unsere eigene Wohnung, ein eigenes Heim, und konnten jederzeit, ob Tag oder Nacht, tun, was immer wir wollten, ohne einen Gedanken an die Scheinwerfer eines anderen Wagens, an tödliche Abgase oder an die Nacht, die uns umgab wie ein feindliches Territorium.

Als ich am nächsten Tag von der Arbeit nach Hause kam, hatte Iris sich ein Kopftuch und eine Schürze umgebunden. Es roch stark nach etwas ganz anderem als Mrs. Lorbers verstorbener Schwester und den schwarzen Streifen, die die Konturen der von ihr übernommenen Küchenmöbel nachzeichneten. »Was ist das, Iris?« fragte ich und schob mich rasselnd durch den Perlenvorhang. »Das riecht, na ja, gutoder anders.«

Der wacklige, mit uralten dunkelgrünen Lackschichten überzogene Küchentisch war ein Katastrophengebiet. Jeder Teller, den wir besaßen – es waren lauter gebrauchte, mit angeschlagenen Rändern, die wir meiner Mutter und einer Truhe im Keller ihres Hauses in Michigan City verdankten –, war entweder verkrustet oder in irgendeinem Schmier gebadet. Mehl und Zucker waren verstreut, Eierschalen lagen herum, Haufen von Kartoffel- und Apfelschalen, etwas, das aussah wie eine Gemisch aus Ketchup und Worcestersauce, und natürlich Gewürze, wobei Majoran, wenn ich mich nicht irre, besonders stark vertreten war.

Sie lächelte, schlang mir die Arme um den Hals und küßte mich. »Hackbraten«, sagte sie, »mit gratinierten Kartoffeln und grünen Bohnen. Und als Nachtisch gibt’s Apfelauflauf. Das Rezept für den Hackbraten und die Kartoffeln hab ich von meiner Mutter – schließlich hab ich all die Jahre, als ich auf der Highschool war, neben ihr in der Küche gestanden und gelernt, wie man eine gute kleine Hausfrau ist, herzlichen Dank.« Sie grinste und war sehr zufrieden mit sich selbst, und was machte es schon, daß die Küche ein Tohuwabohu war – wir waren gerade eingezogen, und sie hatte für mich gekocht. »Und das Rezept für den Apfelauflauf hab ich in einer Zeitschrift in der Bibliothek gefunden, und weil ich nichts zum Schreiben dabeihatte, hab ich es einfach rausgerissen.« Ein Viereck aus Hochglanzpapier war mit Klebeband an dem Hängeschrank über dem Herd befestigt.

Ich sah sie wohl streng an (sie wußte ganz genau, daß ich als ehemalige Bibliothekshilfskraft jede Beschädigung von Bibliotheksmaterial, und sei es etwas Nebensächliches wie eine Zeitschrift, mißbilligte), denn sie fügte hinzu: »Sei nicht böse, John. Die Bibliothek der University of Indiana wird das Rezept nicht vermissen. Oder denkst du, daß schluchzende Studentinnen am Ausgabetisch stehen und traurig sein werden, weil sie jetzt keinen Apfelauflauf mehr machen können?«

In der Innentasche meines Mantels, den ich noch nicht ausgezogen hatte, steckte eine Flasche Bourbon. Ich fand, jetzt sei der rechte Augenblick, um sie hervorzuholen und inmitten des Durcheinanders auf den Tisch zu stellen. »Zur Feier«, sagte ich, nahm zwei Gläser vom Bord und schenkte ein. »Auf dich«, sagte ich. Wir stießen an, und sie korrigierte mich: »Auf uns!«

Darf ich sagen, daß es das leckerste Essen war, das ich je gegessen hatte? Denn ein großartiges Essen kommt nicht nur durch erstklassige Zutaten, die Könnerschaft bei der Zubereitung oder die Eleganz der Umgebung zustande, sondern auch durch die Stimmung des Speisenden – die infolge der Situation, des Bourbons, der Liebe stark gehoben war –, denn sie kann bewirken, daß jeder Bissen so sinnlich ist wie ein Kuß. Apfelauflauf. Hackbraten. Ich aß wie ein Mann, der einen Monat schiffbrüchig gewesen war, ich aß, bis ich nicht mehr konnte. Dann nahmen wir uns die Bourbonflasche vor – es war ein Dreiviertelliter, und wir waren, fürchte ich, ziemlich beschwipst –, und anschließend fiel ich wie dieser schiffbrüchige Matrose oder vielleicht sein Admiral über meine Frau her.

So war es am Anfang, so war unser Leben tagein, tagaus. Man nennt es Glück, und wir hatten es, wie man sagt, kübelweise. Der Krieg hing in diesen Wochen und Monaten nach Pearl Harbor drohend über uns wie über allen anderen, aber Prok hielt Wort, und es gelang ihm schließlich, mir eine berufsbedingte Zurückstellung zu verschaffen, indem er all seinen Einfluß geltend machte, all sein rhetorisches Geschick aufwandte und die Einberufungsbehörde davon überzeugte, daß unsere Forschung kriegswichtig war. Iris war entschlossen, ihr letztes Semester zu beenden und den Abschluß als Grundschullehrerin zu machen, nahm aber eine Teilzeitstelle beim Supermarkt an, und das Geld, das sie dort verdiente, dazu meine Gehaltserhöhung, bescherten uns soviel materielle Sicherheit, wie unter diesen Umständen zu haben war. Allerdings mußten wir sehr genau rechnen. Ich schränkte das Rauchen ein, wir gingen nicht mehr in Kneipen oder Bars und beschränkten uns auf einen Kinobesuch pro Woche.

War es ein Idyll? Nein, natürlich nicht. Die Art unserer Beziehung zu Prok und Mac war noch immer ungeklärt. Sie luden uns regelmäßig zum Essen oder zu einem musikalischen Abend ein, und natürlich war ich sehr viel öfter mit Prok unterwegs, als Iris lieb war, eine wunde Stelle, die mit den Jahren immer quälender zu werden schien. Außerdem war Iris von dem Projekt selbst immer weniger begeistert. »Wir sind im Krieg«, sagte sie. »Die ganze Welt ist bedroht, und ihr fahrt irgendwo in den Hinterwäldern herum und meßt Orgasmen. Ich meine, findest du das nicht auch ein bißchen trivial?«

»Aber du wolltest doch, daß ich bleibe«, konterte ich. »Du hast doch darauf bestanden. Du warst so unerbittlich wie Lindberghs Redenschreiberin. ›Ich werde dich nicht gehen lassen‹, hast du gesagt. ›Das ist nicht unser Krieg.‹ Weißt du noch?«

Sie hatte eine Art, die Unterlippe einzuziehen, als wäre sie gerade vergiftet worden, als hätte sie soeben das Glas abgesetzt und würde sich gleich mit letzter wilder Kraft auf den Schurken – also mich – stürzen. »Komm mir nicht damit, John. Mag sein, daß ich gegen den Krieg war, aber das war, bevor die Japaner uns überfallen haben. Jetzt ist es beinahe so, als ob du ... Nein, ich will es nicht sagen. Aber Orgasmen. Ich meine, gibt es was Lächerlicheres?«
Ich erinnere mich an einen Abend in jener Zeit, irgendwann im Winter oder Vorfrühling. Ezra und Dick Martone, die ihr Studium abbrachen, um sich freiwillig zu melden, kamen mit zwei Freundinnen und drei großen, bauchigen Einkaufstüten voller Bier- und Ginflaschen. Das war Dicks Lieblingsdrink: Gin aus einer silbernen Flasche, gemischt mit Tonicwater aus einem Siphon. Die Frauen waren unscheinbar, hatten Aknenarben und Haar, das wie tot wirkte – ich glaube, es waren Schwestern, vielleicht sogar Zwillinge –, und abgesehen von den üppigen Rundungen war schamlose Lüsternheit ihr augenfälligster Reiz. Sie benutzten schmutzige Wörter, tranken wie die Bürstenbinder und hatten der Hälfte der männlichen Studentenschaft »einen geblasen«. Da sie patriotische Mädels waren, gefielen ihnen Uniformen besonders.

Jedenfalls feierten wir eine Abschiedsparty, und Iris machte Lammkeule mit Bratkartoffeln, Karotten und süßem Mais, Biskuits frisch aus dem Ofen und zum Nachtisch Pfirsichkuchen. Ich verbrachte den Nachmittag – es war ein Samstag – damit, die Teppichkehrmaschine durch die Wohnung zu schieben, Gemüse zu putzen und zum Laden zu gehen und Minzsauce, Knoblauch, ein Pfund Margarine oder sonst irgend etwas zu kaufen, das Iris in letzter Minute brauchte. Ich sagte ihr, es sei keine große Sache, bloß Dick und Ezra und ihre Freundinnen, zwei Frauen, die wir nie wiedersehen würden und die nur zu einem einzigem Zweck dabei waren, aber Iris war nicht zu bremsen. »Das ist unser erstes Abendessen mit Gästen, John«, sagte sie und hantierte, den Rücken zu mir gekehrt, am Spülbecken. »Das erste Mal, daß wir Gäste in unserer eigenen Wohnung haben.«

Das Wasser lief, Dampf stieg auf, der köstliche Geruch der Lammkeule erfüllte alle Winkel unserer Drei-Zimmer-Küche-Bad-Wohnung mit einem Flair von Reichtum und Opulenz, so daß ich mir vorkam wie ein Raubritter, wie ein Sultan, der auf bunten Teppichen ruht, während von unten, aus der Palastküche, die exotischen Düfte der zubereiteten Speisen heraufziehen. Ich legte meine Hände auf ihre Hüften und küßte sie hinter dem Ohr. »Ich kenne dich«, sagte ich und lehnte mich an sie, drückte mit dem Unterleib gegen die Rundung ihres Hinterns, »du willst nur angeben.«

Sie machte sich steif und straffte die Schultern, und die Teller tauchten aus dem Seifenschaum auf, versanken im Becken mit klarem Wasser und landeten auf dem Abtropfgestell, in einem Tempo, als wäre Iris ein Roboter. »Du könntest mir helfen«, sagte sie, ohne sich umzusehen. »Du könntest abtrocknen. Wir brauchen die Teller für den Tisch, und unsere Gäste werden in weniger als einer Stunde hier sein.«

»Klar«, sagte ich, »klar«, und ich nahm das Geschirrtuch und stellte mich neben sie. »Aber du brauchst wirklich nicht so viel Aufwand zu treiben, nicht für Dick und Ezra –«

Sie wandte mir ihr Halbprofil zu, und ich sah ihre Unterlippe und den pfeilschnellen Seitenblick. »Und wenn ich nun angeben will mit meiner Wohnung – und mit meinem Mann? Ich bin stolz darauf. Du nicht?«

Ich sagte ihr, natürlich sei ich ebenfalls stolz, und versuchte sie zu umarmen, in der Hand eine nasse Vorlegeplatte, und vielleicht war ich ein bißchen ungeschickt – noch keineswegs betrunken, ganz und gar nicht, aber ich gestehe, daß ich zur Einstimmung schon einen Schluck getrunken hatte. Jedenfalls fiel die Platte zu Boden und zerbrach. In tausend Stücke. Wir standen stocksteif da und starrten entsetzt auf die Trümmer. Es war unsere einzige Vorlegeplatte, die Platte, auf der die Lammkeule serviert werden sollte, und diese Krisis war zuviel für Iris. Sie warf mir einen wilden Blick zu, durchpflügte den Perlenvorhang und stapfte ins Schlafzimmer, dessen Tür sie hinter sich zuknallte. Ich wollte zu ihr gehen und mich entschuldigen – oder nein, ich war mit einem Mal wütend und wollte gegen die Tür treten, am Griff rütteln und sie anschreien, denn es war doch schließlich nicht das Ende der Welt, bloß ein kleiner Unfall, und warum sollte ich das nun ausbaden?

Warum reißt du das verdammte Dingnicht gleich aus den Angeln, hm? Das wollte ich sagen, das wollte ich brüllen. Aber ich tat es nicht. Ich ging zur Tür, doch sie war abgeschlossen. »Iris«, sagte ich. »Ach, komm schon, Iris.« Ich lauschte – weinte sie? – und ging dann wieder in die Küche, wo ich mir noch einen Bourbon einschenkte und auf den Knien herumrutschte, um die Scherben aufzusammeln.

Trotzdem verlief die Party so gut, wie wir gehofft hatten. Oder vielmehr noch besser. Dick und Ezra und die beiden Frauen – nennen wir sie Mary Jane und Mary Ellen – waren bei ihrem Eintreffen bereits reichlich beschicken, und hätten wir ihnen die Lammkeule am Spieß serviert, dann hätten sie es gar nicht mitgekriegt, und wenn, dann wäre es ihnen egal gewesen. Ich schnitt das Fleisch auf dem Herd und legte die Scheiben auf einen normalen Teller, allerdings erst nachdem Iris jedem ausgiebig Gelegenheit gegeben hatte, die Lammkeule in der Pfanne zu bewundern, und als wir bei Kaffee und Pfirsichkuchen angekommen waren, lachten wir über die zerbrochene Vorlegeplatte und den tölpelhaften Ehemann, der in der Küche zu nichts zu gebrauchen war. Mary Ellen, die rechts von mir saß, gab mir einen spielerischen Knuff auf die Schulter und nannte mich »Zitterfinger«. »Du bist ja ein richtiger Zitterfinger«, sagte sie, und beide Schwestern brachen in brüllendes Gelächter aus.

Ich brachte den Bourbon, damit wir unseren Kaffee veredeln konnten, und Ezra schenkte seine Tasse randvoll und stürzte sie hinunter, obgleich der Kaffee so heiß war, daß die anderen nicht mal nippen konnten. Dann bat er um mehr. Danach hatte er einen etwas abwesenden Blick, doch er saß glücklich und zufrieden da, einen Arm entspannt um Mary Janes Schultern gelegt, und schob mit der Gabel in seiner anderen Hand ein zweites Stück Kuchen auf dem Teller herum. Er und Dick, der im Herbst sein Graduiertenstudium begonnen und als Assistent am Lehrstuhl für Ingenieurwesen gearbeitet hatte, würden am nächsten Morgen zur Grundausbildung einrücken. Dies war ihr letzter Abend in Freiheit, ihre letzte Gelegenheit, und ich wollte – Iris und ich wollten –, daß es ein denkwürdiger Abend wurde. Es war noch Bier da, und als wir uns vom Tisch erhoben und ins Wohnzimmer gingen, schenkte Dick eine neue Runde Gin Tonic für sich und die Schwestern ein.

Schon am nächsten Morgen konnte ich mich an nicht mehr viel erinnern, und heute ist mir der ganze Ablauf noch viel unklarer, aber an irgendeinem Punkt drehte sich das Gespräch nicht mehr darum, wie Dick und Ezra die Wende herbeiführen, Hitler mit links erledigen und im nächsten Herbst als strahlende Helden zurück nach Amerika dampfen würden, sondern um mich und meine Situation. Dick saß zusammengesunken auf dem Sofa und hatte den Arm um Mary Ellen gelegt, so daß seine Hand leicht auf ihrem Busen ruhte. Das Radio war eingeschaltet, aber aus Rücksicht auf die Nachbarn leise gestellt. Aus dem Äther sickerte irgend etwas Bluesig-Stimmungsvolles. »Dann hat Kinsey dir also tatsächlich eine Zurückstellung verschafft, was?« sagte er.

»Kinsey?« fragte Mary Ellen. »Du meinst Professor Kinsey? Dr. Sex?«
Mary Jane, die engumschlungen mit Ezra auf dem Schaukelstuhl saß, hob kurz den Kopf und kicherte.
»Ja«, sagte ich. »Ja, Dr. Kinsey. Ich arbeite für ihn.«
»Forschung«, warf Iris ein. »Er ist phantastisch, wenn es um Statistiken geht, er zeichnet all die Kurven –«
Ezra schnaubte. »Das kann ich mir vorstellen. Ich sehe geradezu, wie er all diese Kurven zeichnet ...« Er und Dick lachten schmutzig.
Mary Ellen hatte gewisse Schwierigkeiten, ihren nächsten Gedanken zu formulieren. Ich sah, wie sie mit dem Satz kämpfte, bis sie ihn heraus hatte. »Du meinst ... du ... du bist so was wie ein Sexforscher?«
Ich saß auf einem der harten Küchenstühle, die ich ins Wohnzimmer getragen hatte, damit alle sitzen konnten. Ich hatte, wie gesagt, keinerlei Bedenken wegen meiner Arbeit, ich war Proks rechte Hand und in allem sein Schüler, aber ich hatte keine Lust, mich dafür zu rechtfertigen, nicht in gemischter Gesellschaft, nicht in meinem eigenen Wohnzimmer. Ich sah Mary Ellen in die Augen – ihre hübschen Augen waren, abgesehen von der verführerischen Figur, ihr größtes Kapital – und nickte nur.
Sie machte ein gurrendes Geräusch, wandte sich zu Dick und küßte ihn voll auf den Mund. Als sie absetzte, um Luft zu holen, lächelte sie kokett und sagte, Sex sei für sie das faszinierendste Thema überhaupt. »Ich liebe Sex«, sagte sie, noch immer mit diesem Gurren, »und ich liebe Männer. Tut mir leid, aber so bin ich nun mal.« Eine Pause. »Kannst du auch zusehen? Ich meine, wenn die Leute ... wenn sie« – sie blickte zu Iris, war sich nicht sicher, wie weit sie gehen konnte –, »wenn sie, na ja, wenn sie es machen?«
Die Zeiten, da ich bei solchen Fragen errötete, waren längst vorbei, doch ich spürte, wie warm es in dem Raum war und daß die Augen meiner Frau und auch die von Dick und Ezra auf mir ruhten. »Nein«, sagte ich und hob die Hand, um meine Haare zurückzustreichen. »Nein, wir stellen nur –«
»Sie stellen nur Fragen«, antwortete Iris für mich. Sie sah mich mit einem Blick an, den ich nicht zu deuten vermochte. »Stimmt’s, John?« Mary Jane war wieder bei Bewußtsein. Sie saß auf Ezras Schoß, und ihr Lippenstift war in den Mundwinkeln zu großen Ovalen verschmiert. Der viele Alkohol und die späte Stunde gaben ihrem Blick etwas Stumpfes. Aus dem Radio ertönte das leise Klagen eines Saxophons wie der Schrei eines Erdrosselten und verklang. »Fragen?« sagte sie. »Was für Fragen?«
»Wie oft masturbierst du?« sagte Iris, ohne den Blick von mir zu wenden. »Mit wie vielen Männern warst du zusammen, wie viele Orgasmen hast du, wie oft hast du Oralverkehr mit deinem Freund? Solche Sachen eben.«
Schweigen. Dick hob den Kopf, als hätte er nichts von dem gehört, was wir in den vergangenen fünf Minuten gesagt hatten. »Ich weiß nicht«, sagte er, »aber immerhin bist du verheiratet und so weiter, und ich finde, man kann dir nicht vorwerfen, daß du dich hast zurückstellen lassen.«
Wieder Schweigen. Die Bemerkung hing über dem Abend wie etwas, das niemand berühren wollte, am wenigsten ich. Der Radiosprecher teilte uns mit, das Programm des Senders sei nun beendet, und wir alle starrten den Apparat an, bis nur noch statisches Rauschen zu hören war und ich fand, es sei langsam Zeit, zu Bett zu gehen. Schließlich kam Mary Jane lange genug hoch, um zu fragen: »Was ist Oralverkehr?«
Iris und ich hatten uns vorher darauf geeinigt, daß wir uns früh in unser Schlafzimmer zurückziehen würden, damit die beiden Paare von Sofa, Schaukelstuhl und der von der Heizung erzeugten angenehmen Zimmertemperatur profitieren konnten und nicht in irgendeinem zugigen Korridor herumstehen oder mit dem Rücksitz eines geliehenen Wagens vorliebnehmen mußten, und so zogen wir uns bald darauf zurück und überließen unseren Gästen das Wohnzimmer. Ich war, wie Iris, ziemlich erledigt, und ich glaube, ich ließ sogar das Zähneputzen ausfallen, bevor ich ins Bett fiel, als stürzte ich von einem hohen Sprungbrett ins Wasser. Ich schlief auf der Stelle ein.
Irgendwann wachte ich auf, weil meine Kehle vollkommen ausgetrocknet war. Das passiert mir oft, wenn ich getrunken habe. Ich hatte geträumt, ich sei in einen Drugstore gegangen und hätte ein Schokoladensoda bestellt, das sich wunderbarerweise in eine eiskalte, mit Wassertropfen beperlte Flasche Coca-Cola verwandelte, die sich in meiner Hand wie eine kalte Kompresse anfühlte, und im nächsten Augenblick stand ich auf und tappte barfuß zum Badezimmer. Meine Füße waren übrigens nicht das einzige Nackte an mir. Ich habe immer nackt geschlafen, jedenfalls seit meiner Pubertät, als meine Mutter nachts nicht mehr in mein Zimmer kam, um nach mir zu sehen. Vom Schlaf umfangen, hatte ich ganz vergessen, daß wir Gäste hatten. Im Grunde war ich noch immer betrunken. Trotzdem rief irgend etwas mir die Situation ins Bewußtsein: ein Duft, eine verstohlene Bewegung, das schwache Flackern der Kerze, die Iris im Wohnzimmer hatte brennen lassen.
Ich tastete mich mit unsicheren Schritten durch den Flur und merkte, daß ich nicht allein war. Da war noch jemand, ein schwärzerer Schatten, der sich in der Dunkelheit an der Wand direkt vor mir zu verdichten schien. Ich streckte die Hand aus und fühlte einen Körper, einen weiblichen Körper, strich über die beiden dazugehörigen Brüste, spürte die Wärme der Haut und der Zunge, hörte ein Flüstern: »Ich suche das Badezimmer ...«
Was hätte ein guter Gastgeber getan? Sie zum Badezimmer geführt. Ihr ein frisches Handtuch, ein Stück Seife, einen Tupfer Eau de Cologne gegeben. Ich tat nichts dergleichen. Ich hatte nicht mal Zeit, darüber nachzudenken. Eben noch hatte ich geschlafen, und nun stand ich hier, im Flur meiner Wohnung, und sammelte taktile Eindrücke von der glatten, erglühenden Haut einer fremden nackten Frau, während ich zugleich ein leises Schnarchen und das Ticken einer Uhr vernahm. Ihre Brustwarzen waren hart, ihre Vagina war feucht. Im nächsten Augenblick waren wir vereint, und ich habe deswegen nicht den Hauch eines schlechten Gewissens, denn es war der dem Augenblick entsprechende natürliche Impuls, unkompliziert, gesund, Forschung im Vorübergehen sozusagen.
Ich fand nie heraus, ob Mary Ellen oder Mary Jane in jener Nacht die Förderin der Forschung war, aber das spielt ja auch keine Rolle.

11

Obgleich Benzin rationiert war und die Automobilfabriken auf Kriegsproduktion umstellten, dachte ich in jenem Winter viel über Autos nach. Im Dezember, kurz vor dem Angriff der Japaner, hatte Prok seine erheblichen investigativen Energien aufgewendet, um einen zweiten Wagen aufzutreiben, denn er fand es ungerecht, daß Mac und die Kinder, wenn wir so lange unterwegs waren, um Vorträge zu halten und Geschichten zu sammeln, kein Transportmittel hatten. Nachdem er ein gutes Dutzend Autos, die in der Stadt zum Verkauf angeboten wurden, untersucht hatte, entschied er sich für einen ziemlich neuen Buick mit fast neuen Reifen und makellosem Lack in einem Blau, so dunkel, daß es beinahe schwarz wirkte. Er hatte einem seiner Kollegen an der University of Indiana gehört, einem älteren Musikprofessor, der im vergangenen Jahr gestorben war und den Wagen seiner Frau hinterlassen hatte, die aber nicht Auto fahren konnte und ihn in der Garage stehenließ. Prok suchte die Witwe eines Nachmittags auf, trank Tee mit ihr und bekam nicht nur den Wagen (zu einem Spottpreis), sondern auch ihre Sexgeschichte. Ich war mit Iris, Mac und den Kindern in dem Haus in der First Street, und wir waren allesamt gespannt, ob er es tatsächlich geschafft hatte. Ich erinnere mich deutlich an das festliche Aufblitzen der Sonne auf der Windschutzscheibe, als er in die Einfahrt bog, und an den unverhüllten Triumph in seinem Gesicht. Angeblich sollte das also Macs Wagen sein, während wir für unsere Fahrten weiterhin den altersschwachen, unzuverlässigen Nash nehmen würden, doch von dem Augenblick an, in dem Prok damit in die Einfahrt rollte, gehörte der Buick de facto uns.

Da Iris und ich ein paar Wochen später unseren Hausstand gründeten, war unser Bedürfnis nach einem Wagen natürlich nicht mehr so groß wie zuvor, doch ich wünschte mir damals sehnlich einen eigenen Wagen. An Sonntagnachmittagen liefen Iris und ich durch die ganze Stadt – und manchmal auch hinaus in jenes Niemandsland, wo die dichtere Bebauung in Farmland übergeht –, um uns diese oder jene alte Rostlaube anzusehen, die wir uns ohnehin nicht leisten konnten. Aber wir sahen sie uns an – man konnte ja nie wissen. Jedesmal wenn ich eine Annonce las (Modell A, 1929, gute Reifen, rep.bed.,

gegen Höchstgebot; 34er Chevy, sauber), entstand vor meinem geistigen Auge ein Bild, und jedesmal, wirklich jedesmal, wurde ich enttäuscht. Ich war kein Mechaniker. Genaugenommen hatte ich keinen blassen Dunst von Zündkerzen, Schwungrädern oder Getriebe- öl. Doch ich war voller Hoffnung. Ich suchte nach einem zuverlässigen Wagen, billig in Anschaffung und Unterhalt, mit einem guten Motor und einer rostfreien Karosserie. Marke, Modell und Baujahr waren mir egal. Wie gesagt: Die Straße, die aus der Stadt hinausführte, war für mich eine ständige Verlockung, und als Student wie als verheirateter Mann hatte ich manchmal das Gefühl, als wäre ich in Bloomington gestrandet, als wäre ich umzingelt, als hätte man mich für tot erklärt. Natürlich gab es Busse und Züge und meine Reisen mit Prok, aber wenn ich meine eigenen vier Räder unter mir hätte, wäre ich mein eigener Herr und könnte fahren, wann ich wollte und wohin ich wollte.

Es muß gegen Ende Februar gewesen sein, und ich weiß wirklich nicht mehr, ob es vor oder nach unserer kleinen Abschiedsfeier für Dick und Ezra war: Corcoran zog nach Bloomington. Es hatte einen Wetterumschwung gegeben – blauer Himmel und Tagestemperaturen zwischen fünf und zehn Grad –, und ich verließ gerade das Institutsgebäude, um etwas für Prok zu erledigen, als eine Hupe ertönte und ein Wagen am Randstein vor mir hielt. Es war ein gelbes Cadillac La Salle Cabriolet mit makellosen Weiß wandreifen und verchromten Radkappen, und das Verdeck war aufgeklappt. Am Steuer saß Corcoran in einem Tweedjackett, die Pfeife in den Mundwinkel geklemmt. Er riß die Arme hoch und schwenkte sie wie ein Schiffbrüchiger auf hoher See. »John«, rief er, »he, John! Ich bin da!«

Ich weiß nicht, was ich antwortete. Wahrscheinlich war es irgendeine Bemerkung über den Wagen. Es war ein Schlitten wie aus einer Zeitschrift, mit Abstand das sportlichste Fahrzeug, das Bloomington je gesehen hatte.
»Gefällt er dir?« krähte er, stieg mit einer geschmeidigen Bewe- gung aus und schüttelte mir die Hand. »Hab ihn erst vor einer Woche gekauft. Und du hättest erleben sollen, wie ich damit hergefahren bin, mit der Hand auf dem Hupring, denn: Paßt auf, ihr Kühe, ihr Farmer mit euren Heuwagen – jetzt komm ich!«

Ich gab ein paar bewundernde Laute von mir, auf der Straße fuhren Autos vorbei, Studenten blieben stehen und glotzten, die kahlen Bäume staken entlang der Straße im Boden wie Galgen. Auf dem Beifahrersitz des Wagens lagen ein Koffer und ein breitkrempiger hellbrauner Hut. Ich fragte mich, wie Corcoran sich mit seinem Sozialarbeitergehalt einen solchen Wagen leisten konnte (die Familie seiner Frau war vermögend, erfuhr ich später) und wieviel Prok ihm angeboten hatte, damit er zu uns kam – mehr als mir jedenfalls, das war sicher –, als sein Blick zwischen mir und dem Koffer hin- und herwanderte und er sagte: »Meinst du, das geht? Mit dem Koffer, meine ich. Nur für ein paar Minuten?«

»Tja, äh ...« sagte ich. »Na ja, ich glaube ...«
»Könntest du kurz ein Auge darauf haben? Ich will nur eben raufgehen und Prok sagen, daß ich da bin. Die Wohnung finde ich dann schon, das wird ja kein Problem sein ... Ach ja, ich wollte mich bei dir und wohl auch bei Prok bedanken, daß ihr was für mich gefunden habt.«

Das hörte ich zum ersten Mal, und anscheinend war mir meine Verwirrung anzusehen, denn er fügte hinzu: »Oder wer auch immer es war. Das war sehr nett. Wirklich. In den nächsten Monaten werde ich improvisieren und etwas Passendes für Violet und die Kinder finden müssen, aber daß ich jetzt schon eine Bleibe habe, das ist wirklich ... Ich weiß ja, wie schwierig es ist, mitten im Semesters was aufzutreiben.«

Ich stand schließlich eine halbe Stunde dort am Bordstein, während Studentengrüppchen, Einheimische und hin und wieder ein Professor vorbeigingen. Ich hatte ein Auge auf den Wagen, und vielleicht tat ich sogar so, als gehörte er mir. Ich sah ihn mir jedenfalls sehr genau an, klappte auch die Motorhaube und den Kofferraum auf (ein Tennisschläger, ein Satz Golfschläger, ein Paar zweifarbige Schuhe und noch ein Koffer), und gegen Ende meiner Wachtätigkeit setzte ich mich ans Steuer, nur um zu sehen, was das für ein Gefühl war. Dann wurde ich ein wenig unruhig – Prok würde sich fragen, wo ich blieb –, doch da sah ich die beiden aus dem Institutsgebäude treten und auf mich zukommen, Prok wie immer in zügigem Tempo, und neben ihm, mit lässigen, langen Schritten, Corcoran. Sie lächelten, gestikulierten und waren in ein angeregtes Gespräch vertieft. Schuldbewußt (obgleich ich nicht weiß, warum ich ein schlechtes Gewissen hatte – immerhin hatte er mich ja gebeten, auf den Wagen und den Koffer und so weiter aufzupassen) stieg ich aus und schloß leise die Tür. Als sie vor dem Wagen – das heißt, vor mir – standen, starrten sie mich an, als wären sie verwundert, mich dort zu sehen, und Prok trat sogleich an die Beifahrerseite, hob den Koffer hoch und reichte ihn mir. Dann stieg er ein, schloß die Tür, sah zu mir auf und sagte: »Stell ihn bitte irgendwo hinter die Sitze, Milk.« Und dann zu Corcoran: »Ich muß sagen, sehr beeindruckend, Corcoran. Aber auch ein bißchen auffällig, nicht?«

Ich merkte, daß die Nadel von Proks Protzometer heftig ausschlug, ganz zu schweigen davon, daß er fürchtete, einer seiner Mitarbeiter könnte ungebührliche Aufmerksamkeit erregen. Sein Gesichtsausdruck sagte alles: Ein gelbes Cabriolet. Und was kommt als nächstes? Und zweifellos überlegte er, daß ein Teil der Aufwendungen für Corcorans Umzug in unserem Projekt weit mehr Nutzen gebracht hätte, obgleich das unfair gewesen wäre, aber trotzdem ...

Corcoran merkte, wie so oft, nichts davon. Das war eines seiner Talente. Er glitt auf gesalbten Schwingen durchs Leben, er nahm und gab, was er wollte. Wenn eine Situation bedrückend oder in irgendeiner Weise unangenehm wurde – und als das Projekt richtig in Gang gekommen war und die Öffentlichkeit sich auf uns stürzte, gab es Augenblicke, die ich, milde gesagt, qualvoll fand –, dann ignorierte er das einfach. Ich glaube nicht, daß er unsensibel war, ganz im Gegenteil. Es kümmerte ihn eben nicht. Er war unbekümmert. Er war sorglos. Er war Corcoran – und der Rest der Welt sollte sich lieber vorsehen. Zu Prok sagte er bloß: »V-8-Motor, Prok, schnurrt wie ein Kätzchen. Und hat jede Menge Schubkraft.«

Ich zwängte den Koffer hinter Proks Sitz, und Prok tätschelte meine Hand und sagte: »Geh schon mal rauf, Milk – ich will Corcoran nur schnell seine Wohnung zeigen, damit wir das erledigt haben. In spätestens einer Stunde sind wir wieder da, und dann« – ein Seitenblick zu Corcoran – »beginnt die eigentliche Arbeit.«

Corcoran startete den Motor, ließ ihn aufheulen und jagte mit quietschenden Reifen davon. Prok gestikulierte und hielt ihm vermutlich bereits den ersten von unzähligen Vorträgen über richtiges Autofahren. Ich stand da und sah ihnen nach, dann drehte ich mich um und ging wieder hinauf in unser Büro im Institutsgebäude. Proks Auftrag hatte ich vergessen.

Am nächsten Samstag gab es eine Einladung zum Abendessen, am folgenden Sonntag einen musikalischen Abend für eine ausgesuchte Gruppe von Proks Kollegen, darunter die Briscoes und President Wells (Prok gab, wie nicht anders zu erwarten, mit seiner neuesten Erwerbung an, mit diesem gutaussehenden, strahlenden, zuversichtlichen jungen Mann), und dann gingen wir in dem stromlinienförmigen Buick auf unsere erste gemeinsame Reise. Prok saß am Steuer, Corcoran auf dem Beifahrersitz, und ich hatte es mir hinten bequem gemacht und sah hinaus auf die Landschaft. Wie immer redete Prok ohne Punkt und Komma, von dem Augenblick an, als er und Corcoran mich von unserer Wohnung abgeholt hatten, bis zu unserer Ankunft, und Corcoran, unser neuer Mann, gab sich alle Mühe, einige von Proks hingeworfenen Bemerkungen durch eigene Gedanken zu akzentuieren. Ich lehnte mich mit halbgeschlossenen Augen zurück und ließ das alles vorbeiziehen. War ich desillusioniert, weil ich so plötzlich und uneingeschränkt von meinem Platz verdrängt worden war? Ja, natürlich, jedenfalls zunächst. Doch ich begriff rasch, welcher Vorteil darin lag: Es gab jetzt jemanden, der Proks Aufmerksamkeit ablenkte, der einen Teil nicht nur seiner überschüssigen Energie, sondern auch seiner Kritik, seines Starrsinns und nicht zuletzt seines sexuellen Begehrens auffangen würde. Und so lehnte ich mich in dem relativen Luxus des Buick zurück, hörte dem Gespräch auf den Vordersitzen mit halbem Ohr zu, antwortete, wenn man mich direkt ansprach, mit einem Nicken oder Grunzen und hatte das Gefühl, daß es unverkennbar aufwärts ging und daß der Druck, un- ter dem ich stand, um einiges nachlassen würde.
Denn ich war tatsächlich angespannt gewesen. In den Wochen vor Corcorans Ankunft hatten Prok und ich an unseren Anträgen für Forschungsstipendien gearbeitet und waren viel herumgereist, um so viele Geschichten wie möglich zu sammeln, bevor alles rationiert wurde, und mit dem wachsenden Druck, der auf ihm lastete, wurde Prok immer fordernder. Vielleicht lag es an der allgemeinen Ungewißheit (er sagte nie ein Wort über den Krieg und verfolgte weder die allgemeine Entwicklung noch äußerte er sich zu weltpolitischen Ereignissen, es sei denn, sie hatten irgendwelche Auswirkungen auf unsere Forschungen, doch es war klar, daß er sich zunehmend Sorgen machte, unser Projekt könnte Schaden leiden), vielleicht merkte er aber auch, daß ich mich emotional von ihm entfernte, seit Iris und ich eine gemeinsame Wohnung hatten. Er wollte eine sexuelle Beziehung, und ich fügte mich, doch es steckte keine Freude darin, und das muß er gespürt haben. Ich erinnere mich an eine Nacht in einem Motel am Stadtrand von Carbondale – wir hatten eine lange Fahrt und viele Interviews hinter uns –, wo er nackt und mit erigiertem Penis an mein Bett trat. Ich wollte nur noch schlafen, und das sagte ich ihm auch. »Was ist los?« fragte er und setzte sich auf die Bettkante. »Du wirst mir doch nicht etwa verklemmt werden?«

»Nein«, sagte ich, »nein, ich bin bloß müde«, aber ich tat dann doch, was er wollte, und dachte dabei die ganze Zeit an Iris, die zu Hause auf mich wartete.

Auf dieser Reise – der ersten von mehr als hundert, die wir drei im Lauf der Jahre machten – waren wir unterwegs nach Indianapolis, wo wir Prostituierte und, wenn möglich, ihre Kunden befragen wollten. Corcoran sollte in der Rolle des Lehrlings anwesend sein und die nötigen Kenntnisse sammeln, damit er bald seine eigenen Interviews führen konnte. Prok war in bester Stimmung und noch gesprächiger als sonst, und obgleich er wie immer schlecht fuhr und, um Benzin zu sparen, versuchte, eine gleichmäßige Geschwindigkeit beizubehalten, kamen wir gut voran und trafen so früh im Hotel ein, daß wir noch gemeinsam essen konnten, bevor wir uns auf den Weg machten. Ich hätte vor dem Essen gern einen Cocktail getrunken, ebenso wie Corcoran, aber davon wollte Prok nichts wissen. Wir würden bis in die frühen Morgenstunden die verschiedensten Bars aufsuchen, und da das unvermeidlich mit dem Genuß eines gewissen Quantums Alkohol verbunden sein würde, bestand kein Grund, bereits jetzt damit anzufangen – ein betrunkener Interviewer war das letzte, was er brauchen konnte. Das sahen wir doch sicher genauso, oder? Ja, natürlich sahen wir das genauso, wenn auch widerwillig, und als der Kellner unsere Speisekarten mitnahm, wechselten Corcoran und ich über unsere Gläser mit jungfräulichem Sodawasser hinweg einen Blick, und ich hatte das Gefühl, einen Verbündeten gefunden zu haben. Wir waren Proks Gefolgsleute – und zwar immer und freiwillig –, aber wir konnten auf unsere eigene verschwörerische Art rebellieren, und das gab mir das Gefühl, ein klein wenig aufsässig zu sein. Es war, als hätte ich einen großen Bruder gefunden, den ich unter dem Tisch anstoßen konnte, wenn unser Vater nicht hinsah.

Wir nippten also an unserem Sodawasser, während Prok eine CocaCola trank (»Ich mag dieses Zeug eigentlich gar nicht«, behauptete er, obgleich sein Appetit auf Süßes legendär war, »aber das Koffein ist gut, das hält mich wach«) und unseren Schlachtplan für den Abend entwarf. »Ich glaube«, sagte er und sah sich in dem beinahe leeren Speisesaal des Hotels um, »daß wir heute abend einige exzellente Daten sammeln werden, die Art von Geschichten hochaktiver Menschen aus den unteren Schichten, die wir als statistischen Ausgleich brauchen – du erinnerst dich sicher an Gary, Milk, und was wir dort für Funde gemacht haben –, aber das ist noch nicht genug.«

Das Hotel gehörte zur mittleren bis unteren Kategorie, und das dazugehörige Restaurant war wirklich nichts Besonderes, denn auch in diesem Punkt war Prok der Meinung, es sei unnötig, Projektmittel für flüchtigen Luxus aufzuwenden. Er legte Messer und Gabel sorgfältig neben dem Salatteller ab, auf dem drei Scheiben eingelegte rote Bete neben einem bräunlichen Salatblatt in einer unappetitlichen Pfütze schwammen.

»Was meinen Sie damit?« fragte Corcoran. »Die Daten, die Sie mir gezeigt haben – Sie und John natürlich –, sind genauer und umfassender als alle, die irgendwelche anderen Forscher gesammelt haben.«

Prok sah sich abermals um und vergewisserte sich, daß uns nie- mand belauschte. Dann beugte er sich vor. »Mein Gedankengang war folgender: Es ist ja ganz gut und schön, mündliche Schilderungen sexueller Aktivitäten aufzuzeichnen, es ist unerläßlich, es ist das Fundament dessen, was wir erreichen wollen – aber trotzdem könnten wir viel, viel mehr tun.«

Corcorans Blick schoß zu mir, aber ich zuckte nur ganz leicht die Schultern. Ich konnte mir nicht vorstellen, worauf Prok hinauswollte.
»Ich habe für heute abend eine kleine Änderung arrangiert«, sagte Prok, nahm seine Gabel, betrachtete sie, als hätte er ein solches Utensil noch nie gesehen, und legte sie wieder hin, als wäre ihre Funktion ihm ein Rätsel. »Ich will es mal so sagen«, fuhr er fort. »Unserer Spezies ist es gelungen, Tiere zu domestizieren und in den verschiedensten Rassen zu züchten, ihre sexuellen Aktivitäten also zu beobachten und in die gewünschten Bahnen zu lenken. Nur bei Menschen ist uns das nicht gelungen. Die sexuellen Aktivitäten zu beobachten, meine ich.«
»Ja, natürlich.« Corcoran erwärmte sich für den Gedanken. »Wir ergehen uns zwar in sexuellen Aktivitäten, aber wir beobachten uns dabei nicht. Wir sind dabei nicht gerade Wissenschaftler, stimmt’s, John?«
»Tja«, sagte ich, »na ja, stimmt schon«, und grinste. »Im Eifer des Gefechts denkt man nicht in wissenschaftlichen Kategorien, das tut niemand –«
»Richtig. Wo ist da deine Objektivität?« Corcoran strahlte. Er war einem Gedanken auf der Spur. Der Augenblick gehörte ihm. »Wenn du mit einer Frau zusammen bist, in den Fängen der Leidenschaft, ist alles andere, jede andere Überlegung vergessen, und an einem gewissen Punkt ist es sogar ganz egal, wie sie aussieht, solange sie nur –«
»Genau.« Prok sah uns zufrieden an. Seine blauen Augen ließen uns nicht los, als er verstummte, weil der Kellner an den Tisch trat und wir uns schweigend das dampfende Essen servieren ließen. Der Mann blieb hoffnungsvoll stehen – konnte er uns noch etwas bringen? –, doch Prok winkte ab. Als der Kellner zu seinem Platz am anderen Ende des Saals zurückgekehrt war, stocherte Prok ein wenig in seiner Vorspeise herum: Corned beef und Kohl, ohne Kartoffeln – er aß nie welche. »Heute abend werden wir etwas tun, was noch nie ein Forscher gewagt hat, jedenfalls nicht daß ich wüßte: Wir werden den Akt selbst beobachten, seine Ausübung. Es ist alles vorbereitet.«
Mit klopfenden Herzen schwiegen wir, bis er hinzufügte: »Bei einer der jungen Frauen. Wir werden in ihrem Zimmer – eigentlich in ihrem Wandschrank – versteckt sein, wenn sie ihre Freier bedient.«
»Du meinst«, entfuhr es mir, »wir werden sie belauschen, als ... als wären wir ... na ja ... Spanner?«
»Voyeure«, korrigierte mich Corcoran mit einem leisen Lächeln.
Prok sah uns an. »Ja«, sagte er. »Genau so.«

Jean Sibelius, einer von Proks erklärten Favoriten, hatte im Mittelpunkt des vorigen musikalischen Abends gestanden. Ich war ohne große Begeisterung hingegangen, aber angenehm überrascht worden. Swing war, wie gesagt, mehr nach meinem Geschmack als klassische Musik, aber die Stücke, die Prok für den Abend ausgewählt hatte, waren melodisch und warm, beinahe verträumt, und bevor ich wußte, wie mir geschah, rückte alles ringsumher von mir ab, und ich überließ mich der Musik wie einer Naturgewalt. Etwas Ähnliches geschah wahrscheinlich, wenn man Jitterbug tanzte – Iris und ich, direkt vor der Bühne –, doch da wurde es vom Rausch des Augenblicks und dem herzschlagähnlichen Wummern der Baßtrommel bewirkt. Das hier war anders. Kaum hatte die Nadel auf der Platte aufgesetzt, da versank ich ganz ruhig und entspannt in träumerischen Betrachtungen, und meine Gedanken glitten ohne Logik und Zusammenhang von einem Gegenstand zum anderen. Zum ersten Mal begriff ich, was die Musik für Prok war und warum er sich so dafür begeisterte.

Iris und ich waren ausnahmsweise pünktlich, und ich setzte mich, wie Prok es von mir erwartete, auf einen Stuhl in der ersten Reihe. Iris saß zwischen Corcoran und mir, die Präliminarien beschränkten sich diesmal auf weiche Cracker, Obstpunch ohne Rum und ein bißchen Geplauder mit President Wells, und ich weiß noch, daß ich über Wells nachdachte, als er neben mir Platz nahm. Er war ein kleiner, rundlicher, energischer Mann, der Prok gegen den Sturm von Kritik, Beschimpfungen und zweideutigen Anspielungen, der uns ständig entgegenwehte, in Schutz nahm, und dennoch war er über vierzig und unverheiratet, und das war zu jener Zeit, an jenem Ort eigenartig, sehr eigenartig. Ich nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit einen Blick in seine Geschichte zu werfen.
Es war kühl im Raum. Prok hatte den Thermostaten heruntergeschaltet, in der Annahme, daß die Körperwärme seiner Gäste den Raum ausreichend heizen würde – sie und die Klangfarbe der Musik. Im Kamin brannte ein kleines Feuer, doch es erstarb, denn Prok hatte keine Lust, sich darum zu kümmern, wenn eine Platte spielte, und wer konnte ihm das verdenken? Also froren wir, und mir taten die Gäste ein wenig leid, die zum ersten Mal da waren und sich, im Gegensatz zu Iris, Corcoran und mir, nicht wie für ein Freiluftkonzert gekleidet hatten. Dennoch war Prok so liebenswürdig und herzlich wie immer und machte uns kurz mit dem Leben des Komponisten und dem Stück, das wir hören würden, bekannt. Er sprach über Sibelius’ Liebe zu seiner Heimat Finnland, über den Zauber der Wälder, die er in seinen Klangbildern heraufbeschwor, und darüber, daß die Mehrzahl seines emotionsreichen Schaffens auf dem finnischen Nationalepos Kalevala beruhte. Es wurde still, als er zum Grammophon ging, die Nadel prüfte und sie auf die Platte setzte. Wir hörten den »Schwan von Tuonela« und eine Auswahl aus »Pohjolas Tochter«, und ich schloß, wie gesagt, einfach die Augen und ließ mich von der Musik davontragen. Es gab eine Pause, in der Mac alkoholfreie Erfrischungen anbot und die Gäste sich erhoben und ein wenig plauderten, und danach hörten wir noch einige Lieder – ich erinnere mich ganz deutlich an »War es ein Traum?« und »Das Mägdlein war beim Stelldichein«, denn ich kaufte mir bei nächster Gelegenheit eine Platte mit diesen Stücken, und ich liebe sie noch heute. Danach brach man auf. Ich erwähne das alles nur, weil in der Pause etwas geschah – oder auch nur vielleicht geschah, denn ich bin nicht sicher, ob es der Beginn von etwas war, habe aber einen gewissen Verdacht.

Jedenfalls gab ich mir mit einer Handvoll ledriger Cracker und einem Becher voll abgestandenem Punsch alle Mühe, eine gute Figur zu machen, während Prok mich und Wells in einer Ecke festnagelte und sich über die soeben gehörte Musik (und unsere Forschungen natürlich) verbreitete, als ich bemerkte, daß Iris allein mit Corcoran am anderen Ende des Raums stand, genau wie beim letzten Mal, im Herbst, als wir alle drei bei einem solchen musikalischen Abend gewesen waren. Ich hätte nicht weiter darauf geachtet, wenn sie mir damals am Telefon, während ich im Glashäuschen der Telefonzelle unglücklich in mich zusammengesunken war, nicht gesagt hätte: Er

hat an mirgehangen wie eine Klette. Prok erzählte President Wells und mir (obwohl ich das schon oft genug gehört hatte), daß er während einer musikalischen Darbietung gern in den Gesichtern der Zuhörer nach Zeichen sinnlicher Erregung suche – ein über siebzigjähriger emeritierter Professor sei bei Mahlers Lied von der Erde tatsächlich sexuell erregt gewesen –, doch ich beobachtete Iris und ihr Gesicht, ich beobachtete Corcoran und sah, daß er jede ihrer Bewegungen vorauszuahnen schien, als tanzten die beiden zur Musik eines imaginären Orchesters. »Prok«, unterbrach ich ihn, »President Wells, würden Sie mich bitte, äh, entschuldigen ... Ich bin gleich wieder da ...«

Prok sah mich verwundert an, hielt in seinem Redestrom jedoch nicht inne. Als ich in Richtung Toilette davonging, hörte ich ihn sagen: »Natürlich würde ich den Namen dieses Herrn niemals preisgeben, denn es könnte ihm peinlich sein. Obgleich daran eigentlich gar nichts Peinliches ist.«

Ich hatte, für den Fall, daß Prok und Wells mir nachsahen, einen Umweg über die Toilette gemacht und trat nun von hinten zu Corcoran und meiner Frau, und das schien sie zu erschrecken. Was auch immer es gewesen war, worüber sie eben noch so angeregt geplaudert hatten – es fiel über die Klippe, und die beiden blickten mich verwirrt an. Ich wollte irgend etwas Unbekümmertes sagen wie: »Ich störe doch nicht etwa?«, doch als ich ihre Gesichter sah, blieben mir die Worte im Hals stecken, und ich brachte nur ein »Hallo« heraus.

Corcoran lächelte mich an. »Oh, hallo, John. Wir haben gerade darüber gesprochen, wie Prok unseren Rektor mit Beschlag belegt hat.« Er sah verstohlen zu den beiden, die noch immer in der Ecke standen. Prok hielt einen Vortrag, Wells unterdrückte ein Gähnen.

Iris sagte: »Er läßt keine Gelegenheit aus, nicht?«
Ich war mit einem Mal wütend oder gereizt – gereizt ist wohl das bessere Wort. »Da hat er auch recht«, sagte ich und starrte in ihr Gesicht, und jetzt lächelte ich nicht, jetzt war ich nicht leicht und unbekümmert. »Du würdest dich wundern, wie sehr die Institute um Finanzmittel kämpfen müssen. Wir haben Aussichten auf weitere Forschungsstipendien, und das wiederum könnte Wells, oder vielmehr die Universität, überzeugen, uns mehr Mittel für Gehälter, Material, Reisekosten und so weiter zu geben.«
Iris setzte ein kleines amüsiertes Lächeln auf. »Also?« sagte sie.
»Also wirf Prok nicht vor, daß er sich ... daß er sich einschleimt oder wie immer du das nennen willst, denn wenn er nicht wäre, dann wären wir –«
»In den Arsch gekniffen«, sagte Corcoran, und sein Lächeln wurde noch breiter. Er hatte ein Glas mit malvenfarbenem Punsch in der Hand und drehte es mit der anderen Handfläche hin und her, als wollte er gleich drei oder vier weitere nehmen und damit jonglieren, um ein bißchen Schwung in die Party zu bringen, ohne Rücksicht auf Prok und Wells und die kultivierte Atmosphäre des Abends. Doch dann legte er mir eine Hand auf den Arm. »Schon gut, John«, sagte er, und auch Iris wärmte ihr Lächeln auf, »wir sind auf deiner Seite. Wir sitzen doch alle im selben Boot, oder nicht?«

Ich glaube, das war der Zeitpunkt, an dem sich mein Verdacht regte – Corcoran, der sexuelle Olympier auf der Pirsch, und Iris, die Frau meines Lebens, die noch immer unter dem litt, was ich mit Mac und Prok im Bett getrieben hatte –, doch ich war wie gelähmt. Ich wollte einfach glauben, daß da nichts weiter war als ein gutes Einvernehmen zwischen meinem Kollegen und meiner Frau, und ich fürchtete mich vor einer Konfrontation mit Iris, denn ich wußte, daß sie mir alles, was ich gesagt hatte, an den Kopf werfen würde, jeden Satz, jede Ausrede, jede Rationalisierung, alles, was ich über unser animalisches Wesen ausgeführt hatte, über Sex als reine Körperfunktion, die unabhängig war von irgendwelchen Gefühlen, nicht anders als Hunger oder Durst. Natürlich machte ich Andeutungen. Ich stellte ihr kleine Fallen. Ich kam von der Arbeit nach Hause, machte ein Kompliment über den Duft des Essens auf dem Herd, schenkte mir einen Drink ein, setzte mich mit ihr hin und erzählte, wie mein Tag gewesen war, und dazu gehörte natürlich auch Corcoran. Ich ließ seinen Namen so oft wie möglich fallen und beobachtete ihr Gesicht. Sie zeigte nie eine Reaktion. Ich fragte sie, was sie von ihm hielt. Ach, sagte sie, er sei ganz nett. Netter, als sie gedacht habe. Inzwischen sei sie überzeugt, daß er sich sehr gut machen werde, und es tue ihr leid, daß sie ihn anfangs so negativ beurteilt habe. »Ja«, meinte ich, »ich hab’s dir ja gesagt.« Und dann, mit einem Lächeln, als wäre das alles bloß ein Scherz: »Und wie ist er so als Klette?«

Sie hatte plötzlich zu tun: Auf dem Herd kochte ein Topf über, oder es mußte sofort eine Zwiebel geschält werden. Es war ein Scherz, natürlich war es das, und sie lachte nur. »Er ist bei allen Frauen so«, sagte sie. »Und bei Männern auch. Aber das weißt du besser als ich.«

Wäre ich eine Schildkröte gewesen, eine von Darwins Galapagosschildkröten, die Prok oft erwähnte, dann hätte ich meine freiliegenden Körperteile unter meinen schützenden Panzer ziehen können, und auf eine metaphorische Art war es genau das, was ich tat. Wir fuhren nach Indianapolis, drei Kollegen auf einer gemeinsamen Mission, und Corcoran und ich saßen einander gegenüber am Tisch, als Prok uns eröffnete, daß wir entgegen dem Inhalt der Empfehlungsschreiben von Dean Briscoe, President Henry B. Wells und Robert M. Yerkes etwas Illegales, wenn nicht Unmoralisches tun würden: Heute nacht zumindest würden wir Spanner sein.

Ich muß zugeben, daß der Gedanke daran mein Herz schneller klopfen ließ. Ich bin überzeugt, daß jeder von uns ein Voyeur ist, daß jeder darauf brennt, andere Menschen in ihren privatesten Augenblicken zu sehen, damit er diese mit seinen eigenen vergleichen und das erregende Gefühl der Überlegenheit genießen kann oder vielleicht, am anderen Ende des Spektrums, mit der harten, ernüchternden Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert wird. So

also macht man das, denkt man dann. Das könnte ich auch. Oder etwa nicht?Na klar könnte ich, und zwar noch besser. Am liebsten jetzt gleich – sieh doch, wie sie sichan ihn klammert, wie sie sich ihm entgegenkrümmt, wie sie –

Doch wir waren natürlich Wissenschaftler und überzeugt, daß unsere Verpflichtung zur Forschung Vorrang vor allen anderen Erwägungen haben sollte. Wie andere Wissenschaftler mußten wir Feldforschung betreiben und sexuelle Akte in allen Variationen beobachten – wie hätten wir uns sonst Experten nennen dürfen? Wie konnten unsere Daten die angestrebte Gültigkeit besitzen, wenn sie nur auf dem Papier standen? Wenn man es recht bedenkt, dann hätte alles, was wir taten, jede genaue Beobachtung, jeder Meßwert, angesichts von hundert bereits vorliegenden Studien eigentlich überflüssig sein müssen. Aber es gab keine hundert bereits vorliegenden Studien, es gab keine fünfzig – es gab nicht mal eine einzige. Wir hatten unsere Kultur geschaffen, wir hatten Kriege geführt und noch die kleinsten Dinge, die Mikroben und Atome, ergründet, und dennoch wollten die Moralapostel und Heuchler uns niederbrüllen. Sex ist schmutzig, sagten sie. Sex ist etwas Anstößiges, Privates, Obszönes, als Forschungsgegenstand ungeeignet. Nun denn. Wir standen auf, bezahlten und gingen hinaus in die Nacht, um ihnen zu beweisen, daß sie unrecht hatten.

Diesmal regnete es nicht, ja für die Jahreszeit war es nicht einmal besonders kühl. Prok hatte keinen Mantel an, obgleich die Straßen hier und da noch Pfützen aufwiesen von einigen Wolkenbrüchen, die in der vergangenen Woche hier niedergegangen waren, doch er hatte Gummigaloschen über seine Schuhe gezogen. Corcoran trug seinen braunen Hut und einen hellbraunen Trenchcoat und sah aus, als wäre er soeben aus einem Film über feindliche Agenten und kriegsentscheidende Missionen getreten. Ich dagegen sah aus wie immer: Anzug, Krawatte, kein Hut, und meine Füße steckten in frisch geputzten Schuhen aus Pferdeleder und würden, wenn ich nicht scharf auf Pfützen achtete, eben naß werden. »Also gut«, sagte Prok und blieb an einer Straßenecke stehen, »ich glaube, wir müssen hier entlang, die Straße hinunter und dann einen Block nach links. Unsere Kontaktperson ist übrigens eine junge Frau. Sie hat rotes Haar und heißt Ginger.«

Wir fanden Ginger ohne große Mühe. Sie trug ein billiges Pelzimitat, saß auf einer Bank im hinteren Teil einer Billardkneipe und trank irgendeine Limonade durch einen Strohhalm. Neben ihr fläzte sich ein Mann, sehr modisch gekleidet, mit greller Krawatte und einer Hose mit extrem weit geschnittenen Beinen, die seine dünnen Beinchen verbargen, jedenfalls so lange, bis er sich zurücklehnte, um sich eine Zigarette anzuzünden, und dabei die Knöchel kreuzte. Es war Gerald, Gingers Zuhälter, und er beäugte uns mißtrauisch, bis Prok mit einer kurzen Ansprache in breitem Slang, einer Spende von drei Dollar für den Unterhalt seiner Mitarbeiterinnen und dem Versprechen, einen Dollar für jede Geschichte, einschließlich der eigenen, zu bezahlen, sein Herz eroberte. Ginger war üppig gebaut und mindestens eins siebzig. Sie war zweiundzwanzig, von einer stämmigen Fleischigkeit, die sie mit spätestens dreißig verfetten lassen würde, und hatte den milchigen Teint einer echten Rothaarigen. Sie rührte sich nicht. Sie saugte mit ihrem roten Kußmund an dem Strohhalm und sah zu, wie ihr Zuhälter Proks Geldscheine zusammenfaltete und in den Tiefen seiner Hosentasche verschwinden ließ. »Okay«, sagte Gerald dann, »okay.« Lächelnd entblößte er hoffnungslos ruinierte Zähne in diversen Stadien der Verfärbung. Er sah zu Ginger, und das Lächeln verschwand. »Also, worauf wartest du? Setz deinen Arsch in Bewegung, und nimm diese Herren gleich mit.«

Dann waren wir draußen und wichen den Pfützen aus. Prok ging an Gingers Seite, als führte er sie zu einem Debütantinnenball, der, in reines weißes Licht getaucht, wunderbarerweise gleich hin- ter der nächsten Ecke stattfinden würde. Corcoran und ich folgten ihnen. Es war ein unbehaglicher Moment, und keiner von uns, nicht einmal Prok, sagte etwas. Ginger ging mit hypnotisierend rollen- den, wiegenden Hüften, und im Dunkel erschienen Gesichter und verschwanden wieder, mißtrauische Augen versuchten herauszufinden, ob wir Freier oder potentielle Überfallopfer waren. Ginger hatte ein günstig gelegenes Zimmer im Erdgeschoß eines viktorianischen Hauses, das dringend hätte renoviert werden müssen, und sie schwenkte wortlos zur Seite und öffnete die unverschlossene Tür, ohne uns hereinzubitten oder sich auch nur umzusehen, ob wir noch da waren.

Im Zimmer herrschte ein heilloses Durcheinander, aber das ist auch alles, woran ich mich erinnere. Außer, daß es recht hoch war und über einen begehbaren Schrank verfügte, der früher wohl eine Art Vorzimmer gewesen war. Man hatte über der Türöffnung einen Draht gespannt, an dem ein vom vielen Anfassen speckig gewordener Flickenvorhang hing. Im vorderen Teil baumelten an Drahtbügeln Gingers Kleider – es waren etwa ein Dutzend, und sie rochen nach ihren Achselhöhlen und dem Parfüm, mit dem sie vor den Freiern die Gerüche ihrer Vorgänger verbarg –, und Schuhe und Unterwäsche lagen auf dem Boden. »Da wären wir«, sagte sie mit hoher, flötender Stimme, die zu einer halb so großen Frau oder einem Kind gepasst hätte, und sie hielt die Hand auf, damit Prok seinen versprochenen Dollar hineinlegte.

»Klasse«, sagte Prok. »Einfach Spitze.« Er zog den Vorhang zurück, um die Örtlichkeit in Augenschein zu nehmen, und das Grinsen, mit dem er Ginger ansah, war beinahe dämonisch. Das Licht, schummrig und gelblich, stammte von einer Nachttischlampe, über die Ginger ein orangerotes Tuch gelegt hatte, und in diesem Licht wirkte sein Gesicht schwer von Zufriedenheit. Ich warf Corcoran einen Blick zu. Auch er sah aus wie ein Dämon. Ich fragte mich, was auf meinem eigenen Gesicht stand. »Das paßt«, sagte Prok und legte den Dollarschein in Gingers Hand, während wir die beiden anstarrten, als hätten wir noch nie gesehen, wie Geld den Besitzer wechselte. »Aber vielleicht könntest du mir noch einen Gefallen tun. Nur einen kleinen.«

Sie hatte sich umgedreht, um das Geld irgendwo an ihrem Körper zu verstauen, und fuhr nun argwöhnisch herum. »Kommt drauf an.«
»Wie wär’s« – Prok ging zur Nachttischlampe und entfernte das Tuch –, »wenn du das heute mal weglassen würdest? Außer es hängt dein Herz dran ...«
Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Okay«, sagte sie, »klar. Wer zahlt, sagt an.«
Während sie loszog, um ihren ersten Freier einzufangen (und ich weiß nicht, ob ich es schon erwähnt habe, aber »Freier« war der Ausdruck, mit dem Prostituierte damals ihre Kunden bezeichneten – heute ist er weiter verbreitet, aber damals kannten ihn nur Personen aus den unteren Schichten), machten wir es uns, so gut es ging, im Wandschrank gemütlich. Wir räumten Gingers Unterwäsche beiseite, stellten den einzigen Stuhl, den es in dem Zimmer gab, hinein und vereinbarten, ihn reihum zu benutzen, um die Anstrengung durch das lange Stehen zu mindern – es würde eine lange Nacht werden, und wir durften uns nicht durch Recken und Strecken, geschweige denn durch ein Husten oder Niesen verraten. Wir sprachen nur noch im Flüsterton und waren in aufgeregter Erwartung. Wie es war? Etwa so wie die Erregung, die man als Kind beim Versteckspiel empfunden hat, nur daß noch dieser herrliche Erwachsenenkitzel des Verbotenen dabei war. Echter Sex. In Kürze würden wir echten Sex sehen.
Es dauerte nicht lange. Vor der Tür erklangen Schritte, wir hörten leises Gemurmel und das Klicken der Klinke und erstarrten. Prok hatte den Vorhang zugezogen – wir waren nacheinander in Gingers Zimmer gegangen und hatten uns davon überzeugt, daß wir dahinter vollkommen verborgen waren –, und zwar so, daß wir das Geschehen aus zwei Blickwinkeln verfolgen konnten. Corcoran spähte durch den Schlitz am einen Ende, Prok und ich waren am anderen Ende. Er saß reglos wie ein Fakir auf der Stuhlkante, und ich beugte mich so dicht über ihn, daß wir praktisch vereint waren. Bewegungen, Stimmen. Ich spürte Proks Anspannung und wagte kaum zu atmen. Wir konnten das nun hellbeleuchtete Bett sehen, nicht aber die Tür und das, was dort geschah: Offenbar umarmten sich Ginger und ihr Freier. Wir hörten das Rascheln von Kleidern, Schritte auf den Dielen und dann den unvermittelten, überraschenden Baß eines Mannes. »Scheiße, das ist deine Bude?« sagte er, und beim Klang seiner Stimme schwang mein ganzer Körper mit, von der Hirnrinde, die das akustische Signal registrierte, bis zu den Fußsohlen. »Scheiße«, sagte er wieder. Bewegung, und da waren sie – da war er, keine zwei Meter von uns entfernt. Ich würde gern schreiben, er sei eine Art Schläger gewesen, ein tätowierter Seemann, der hier gestrandet war, ein Prachtexemplar, doch so war es nicht. Er war eher schmächtig, mittelgroß, in jeder Hinsicht durchschnittlich, und seine Haut wirkte in dem grellen Licht körnig. Ginger war auch da, ihr fülliger Körper, ihre üppigen Brüste. »Also bläst du mir einen oder was?« fragte er.
»Was immer du willst, Schätzchen«, sagte sie, beugte sich vor und strich mit der Hand über den Schritt seiner Hose. »Wer zahlt, sagt an.«
Sie trug keinen Slip – Strümpfe, ja, an der schwellenden Mitte der Oberschenkel gehalten von schwarzen Strumpfbändern – und zog sich später nur widerwillig ganz aus; dies aber war es, was wir wollten, wie Prok zuvor noch einmal klargestellt hatte. (Für sie war es lästig und reine Zeitverschwendung, das Kleid und den Büstenhalter auszuziehen, denn das hinderte sie daran, den jeweiligen Kunden so schnell wie möglich abzufertigen, damit sie sich den nächsten vornehmen konnte, doch für uns war es unerläßlich, denn wir wollten sehen, wie der weibliche Körper auf sexuelle Stimulation reagiert.) Der Mann – der Kunde, der Freier – ließ sie seinen Hosenschlitz öffnen, obgleich sie noch ganz bekleidet war, und während sie ihn oral befriedigte, massierte er ihre Kopfhaut und drückte an ihrem Kopf herum, als wäre er eine Bowlingkugel, die er gleich aufnehmen und auf die Bahn werfen wollte. Ihre Lippen glänzten von den Sekreten der Cowper-Drüse, die als natürliches Gleitmittel abgesondert werden, und sie nahm ihn ganz in den Mund. Das war sehr erstaunlich. Sie nahm seinen ganzen Phallus in den Mund, bis zur Wurzel, als wäre sie eine Schwertschluckerin auf dem Jahrmarkt. Später fanden wir übrigens heraus, daß zu den zahlreichen physiologischen Modifikationen, die mit sexuellen Aktivitäten einhergehen, auch die Aufhebung des Würgereflexes gehört, die bei einem hohen Prozentsatz von Männern und Frauen auftritt, womit die Anpassungsfähigkeit der Oralhöhle an sexuelle Bedürfnisse hinreichend demonstriert wäre. Doch lassen wir das. Soll ich Ihnen sagen, wie verwundert ich war? Wie – ganz und gar unprofessionell – erregt?
Er zog sich aus ihr zurück, bevor er zum Orgasmus kam, und erst jetzt ließ er die Hose herunter. »Aufs Bett, Schwester«, sagte er. »Wenn du denkst, du kommst so leicht davon, hast du dich geschnitten. Ich hab schließlich für ‘ne komplette Nummer bezahlt.«
Ginger streckte sich gehorsam auf dem Bett aus, zog das Kleid hoch und stellte ihre Nacktheit aus, doch dann schien sie sich an ihre Aufgabe zu erinnern: Wir waren im Wandschrank, ihre Hilfsfreier, und auch wir hatten für unsere komplette Nummer bezahlt. Sie setzte sich auf, nahm seinen Penis in die Hand und streichelte ihn ein bißchen; dann zog sie das Kleid über den Kopf, öffnete den Verschluß ihres Büstenhalters und ließ ihre Brüste frei schwingen. Sofort warf er sich auf sie und stimulierte ihre Brustwarzen mit der Zunge und den Fingern, während sie seinen Penis in sich einführte, doch mit einem Mal hielt er mitten im Stoß inne. »Das Licht«, sagte er. »Was soll das Scheißlicht? Hast du denn gar keinen Sinn für Romantik?«
Doch, das hatte sie. Jedenfalls sah es so aus. Denn bis zu dem Augenblick, als er seinen Penis wieder rauszog und die Hand nach dem Lichtschalter ausstreckte, hatte sie gestöhnt und gewimmert, als gäbe es auf der ganzen Welt keinen besseren Mann als ihn, als wäre kein Augenblick je so reich und bedeutsam gewesen wie dieser. »Laß es an, Schatz«, sagte sie. Eine dramatische Pause, sie hatte den Zeigefinger in den Mund gesteckt. »Ich will jeden Zentimeter von dir sehen.«

12

Das erste, was ich tat, als wir wieder in Bloomington waren: Ich ging zu Iris. Es war zwei Uhr morgens, ich war schmutzig, erschöpft, hungrig – geradezu ausgehungert, denn wir hatten unterwegs nicht angehalten, um etwas zu essen –, in meinem Hinterkopf summte das Motorengeräusch des Buick noch immer wie eine Dauerstörung. Ich hatte persönlich acht Geschichten aufgezeichnet (darunter auch die von Gerald und Ginger) und im Verlauf der drei Nächte, die wir in Gingers Gesellschaft verbracht hatten, zusammen mit Prok und Corcoran zugesehen, wie sie mit sechzehn verschiedenen Männern Geschlechtsverkehr hatte. Erstaunlicherweise war die Variationsbreite recht klein, und obgleich ich zugeben muß, die ganze Zeit über in einem Zustand sexueller Erregung gewesen zu sein, setzte nach einer Weile eine gewisse Gewöhnung ein. Die Männer waren behaart oder unbehaart, groß oder klein, dick oder dünn, sie trugen lange Unterhosen oder Boxershorts, Sportjacketts oder Flanellhemden, Galoschen, Stiefel oder Tennisschuhe. Sie hatten Leberflecken, Muttermale und Tätowierungen, sie waren beschnitten oder unbeschnitten, ihre Penisse zeigten nach rechts oder links oder senkrecht nach oben, sie legten ihre Kleider ordentlich gefaltet auf den Schreibtisch oder warfen sie in einem Haufen auf den Boden. Was den Sex betraf, so war er ganz und gar konventionell: Etwa in der Hälfte der Fälle begann er mit einer kurzen Fellatio, sonst lediglich mit etwas Tasten, Lecken und Drücken, gefolgt von der Penetration, dem Pumpen der nackten weißen Pobacken mit schlaffen oder straffen Glutäalmuskeln, Gingers zunehmend theatralischer Simulation orgastischer Ekstase und schließlich dem abrupten Ende, der absoluten Gleichgültigkeit gegenüber der Nacktheit der Frau, ihren entblößten Genitalien oder auch nur ihrem Gesicht, während die Kleider schweigend aufgehoben und angezogen wurden, und dann wurde die Tür geöffnet und wieder geschlossen.

Aber ich ging zu Iris. Ich stieg aus Proks Wagen und ging sofort in die Wohnung, in der es ganz still und dunkel war – das einzige Licht kam vom matten Schein einer Straßenlaterne und vom Mond, der mit all seinem symbolischen Gewicht über der Stadt hing. Ich ging ins Schlafzimmer. Iris schlief. Sie hatte sich vor der Kälte unter die Decke verkrochen, ihr Haar lag ausgebreitet auf dem Kissen, sie blinzelte mit einem Auge, als ich die Nachttischlampe einschaltete, das Zifferblatt des Weckers leuchtete, und in der bodenlosen Höhle der Nacht war es ganz still. Ich zog mich aus, Jackett, Hemd, Hose, und das Licht war an. Ich wollte, daß sie mich sah, daß sie mich und das Souvenir bewunderte, das ich im Wandschrank einer Hure in Indianapolis drei schreckliche Nächte lang für sie festgehalten hatte. »John?« murmelte sie. »John? Wieviel Uhr ist es?«

Ich roch sie, einen Geruch, den ich nicht beschreiben kann, ihren ganz persönlichen Geruch, der wie kein anderer war, zusammengesetzt aus Körperwärme, ihrer Hand- und Gesichtscreme, den Duftspuren ihres Shampoos, ihres Parfüms und ihres natürlichen Haarfetts. »Schhh«, machte ich und wartete darauf, daß sie mich würdigte, daß sie sah, was ich ihr mitgebracht hatte, und obwohl ich aus unseren publizierten Forschungsergebnissen weiß, daß die Mehrheit der Frauen auf den Anblick eines erigierten Penis mit Gleichgültigkeit reagiert, daß ein Teil sogar davon abgestoßen ist, spielte das in dieser Nacht überhaupt keine Rolle. Ich war so erregt, daß ich zu platzen glaubte, und ich wollte, daß sie es sah, daß sie es wußte und spürte. »Schhh«, wiederholte ich und warf die Decke zurück: all die Wärme, der Anblick ihrer nackten Füße und Knöchel, ihr Gesicht, das jetzt mir zugewendet war, die weit ausgebreiteten Arme. Ich schlüpfte ins Bett und schob ihr Nachthemd hoch. Wir löschten das Licht erst, als es hell wurde.

Eine von tausend, von fünftausend Nächten. Ein Mann und seine Frau – ein Sexforscher und seine Frau – stillen ihr Begehren. Es war die normalste Sache der Welt – oder vielmehr nein, es war ein Fest, denn wir hatten eine eigene Wohnung und mußten keine Rücksichten auf John junior oder sonst jemanden nehmen. Wir hatten sechs- oder siebenmal pro Woche Verkehr. Wir experimentierten mit ausgedehntem Vorspiel, aufreizenden Posen und Gesten, Strip-Poker und allen Stellungen, die uns einfielen. Und die ganze Zeit schritt das Projekt fort und nahm Fahrt auf, und Corcoran und ich kamen uns als Freunde, als Kollegen immer näher, obgleich wir beide um Proks Gunst buhlten.

Eines Abends bot Corcoran mir nach der Arbeit an, mich nach Hause zu fahren. Unterwegs hielten wir an einer Kneipe, um noch etwas zu trinken. Ich überlegte, ob ich Iris anrufen und ihr sagen sollte, daß ich später kommen würde, aber das war eigentlich nicht nötig. Bei Prok gab es keinen pünktlichen Feierabend. Ich wußte nie, wann ich zu Hause sein würde, aber es war selten vor sieben Uhr. Die Kneipe war die, in der ich in meinem letzten Studienjahr oft gesessen hatte, wo ich nach Proks Diashow atemlos und aufgeregt mit Laura Feeney und ihren Freunden eingekehrt war. Als ich daran dachte, mußte ich lächeln. Es kam mir vor, als wäre es hundert Jahre her – und angesichts dessen, was ich seitdem gelernt und erfahren hatte, war es das auch. Corcoran legte einen Geldschein auf die Theke und fragte mich, was so amüsant sei.

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich glaube, es liegt an dieser Kneipe. Hier bin ich als Student oft gewesen.«
In diesem Augenblick drehten wir beide uns um, als würden wir von einer größeren Kraft dazu gezwungen, und sahen eine Studentin in langen Hosen in Begleitung eines gerade mal achtzehnjährigen Jungen vorbeigehen. »Perlen vor die Säue«, sagte Corcoran.
Ich grinste. »Ja«, sagte ich, »allerdings.«
Er starrte ins Leere und klopfte geistesabwesend mit einem Fingerknöchel auf die Theke. »Mit der wüßte ich was anzufangen«, sagte er. »Du auch?«
Ich sagte, mir gehe es ebenso, und dann kam der Barmann, und wir bestellten zwei große Martinis mit Extraschuß, obwohl ich mir eigentlich gar nicht viel aus Gin machte. Es war einfach so, daß Corcoran zuerst bestellte, und die Bestellung klang gut, also sagte ich: »Dasselbe.«
Worüber sprachen wir an diesem Abend, in dessen Verlauf wir drei Martinis tranken und ich schließlich einen Rausch hatte und mein Kopf sich anfühlte, als wäre er ein Topf, in dem Wasser hin und her schwappte? Über Sex natürlich. Über das Projekt. Über Prok. Über die unmittelbare Zukunft, nämlich unsere nächste Reise, die zwei Tage später stattfinden sollte. Irgendwann gab es eine Pause, und Corcoran beugte sich vor und zündete eine Zigarette an. »Wie geht’s dir eigentlich damit, mit diesen Reisen, meine ich?« fragte er und löschte mit einer wedelnden Handbewegung das Streichholz. »Macht das – wie soll ich sagen? – irgendwelche Schwierigkeiten? Mit Iris?«
Ich sah durch den Raum. Mein Blick kreuzte sich mit dem der Studentin, die zuvor an uns vorbeigegangen war, und sofort schlug ich die Augen nieder. »Na ja, klar.« Der dritte Martini war warm geworden. Mein Gaumen fühlte sich so taub an, als hätte mir der Zahnarzt ein Betäubungsmittel gespritzt. Das war der Gin. Ich mochte keinen Gin und wußte nicht, warum ich ihn überhaupt trank. »Aber das gehört nun mal zu unserer Arbeit. Sie versteht das. Wir beide verstehen das.« Ich hob das Glas mit dem dünnen Stiel an den Mund und war mir mit einem Mal seiner Zerbrechlichkeit bewußt. »Und wie ist es bei euch? Ihr habt... na ja ... Wie ist es mit deiner Frau?«
Corcoran sah mich ausdruckslos an. Auf seinem Haar schimmerten goldene Lichtflecken. Sein Schulterzucken begann in den Oberarmen, wanderte über die Schultern zum Hals und lief in einer Drehung des Kopfes aus. »Es ist schwierig, aber die Kinder gehen noch bis zum Juni in die Schule – wir konnten sie nicht mitten im Schuljahr da rausreißen. Und wenn ich es schaffe, hinzufahren – du weißt ja, vorletztes Wochenende war ich dort –, und wenn wir dann zusammen sind ... Ich kann dir sagen, es ist einfach unbeschreiblich, die wilde Leidenschaft, das kannst du mir glauben.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Bis dahin war ich Violet Corcoran nur einmal begegnet, als sie mit dem Bus gekommen war, um sich ein wenig umzusehen und ihren Mann zu motivieren, eine passende Wohnung für die ganze Familie zu finden. Sicher, sie war attraktiv – italienischer Abstammung, mit einem Teint von der Farbe von Olivenöl, sehr dunklen Augen und einem Mund, der, auch wenn er ganz entspannt war, immer leicht schmollte –, aber sie war nichts im Vergleich zu Iris. Vielleicht war ich voreingenommen, natürlich war ich das, doch in meinen Augen war Iris eine natürliche Schönheit und spielte in einer ganz anderen Liga als Violet Corcoran. Ich versuchte, mir Violet nackt vorstellen, im Bett mit Corcoran, aber das Bild flackerte und verschwand, bevor ich es festhalten konnte. Schließlich sagte ich etwas wie: »Aber die Situation hat ja auch ihre Vorteile, oder?« und versuchte ein verschwörerisches Lächeln.
Gäste kamen und gingen, ich hörte ein hohes, wieherndes Lachen, das Knarzen und Scharren von Männerschuhen. Die Jukebox spielte ein Stück, das ich nicht kannte. Corcoran sah mit zusammengekniffenen Augen dem Rauch seiner Zigarette nach, und ich dachte, daß eigentlich er derjenige sein sollte, der Prok Unterricht in Savoir-faire gab. »Ja«, sagte er schließlich, »aber das sind nicht die einzigen, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Nein«, sagte ich. »Was meinst du?«
Er zog an der Zigarette, blies den Rauch aus, legte sie sorgsam auf dem Rand des Aschenbechers ab, nahm ein hartgekochtes Ei und klopfte damit sacht auf die Theke. Ich sah zu, wie er die Schale und das Häutchen darunter abzog, das glänzende weiße Ei salzte und es in den Mund steckte. »Na ja, du weißt schon«, sagte er kauend, »das Leben eines Junggesellen. Dauernd eröffnen sich Möglichkeiten. Nicht daß es zu Hause in South Bend nicht so wäre, und du weißt ja, daß ich von Konventionen nicht viel halte, aber so, wie es ist, ist es eben ... na ja, einfacher. Wenn man ganz allein ist. Weniger kompliziert, verstehst du?«
Ich dachte kurz darüber nach, über ihn und Iris an jenem musikalischen Abend, als sie so vertraulich geplaudert hatten. Ich hatte nichts hinzuzufügen.
»Und was ist mit dir?« fragte er und blickte mich an, mit diesem Gesicht, das so nichtssagend und gnadenlos gut aussah wie das eines Filmstars. »Hast du auch mal was nebenbei?«
Über das Erröten war ich hinaus – diese Art von emotionaler Offenbarung war etwas für pubertierende Jünglinge –, aber mein Herz schlug unregelmäßig, als ich die Lüge aussprach. »Nein«, sagte ich und dachte an die tastende Begegnung im dunklen Flur meiner Wohnung. »Nein, eigentlich nicht.«

Dann kam ein Abend, an dem ich früh – kurz nach sechs – heimkam und Iris nicht da war. Den ganzen Nachmittag hatte ich in einem hinteren Winkel der Bibliothek des Instituts für Biologie verbracht und an verschiedenen Tabellen gearbeitet (Kumulative Verbreitung:

Kindliche T riebbefriedigung aus beliebigen QuelleninBeziehung zum Bildungsgrad; Beziehung zwischen Lebensalter, Häufigkeit und Bedeutung des Liebesspielsbis zum Orgasmus), die unserem Antrag auf Forschungsmittel der Rockefeller Foundation beigelegt werden sollten. Ich hatte über meine Arbeit gebeugt dagesessen und mich um nichts anderes gekümmert, während Elster auf und ab marschierte und mich wütend anstarrte, als würde die bibliographische Stille dieses Ortes gestört, wenn mein Bleistift über das Papier kratzte oder ich Lineal und Dreieck beiseite legte. Ich versuchte, so gut es ging, ihn zu ignorieren, doch jedesmal, wenn er mit einem Armvoll Papier oder einer Wagenladung Bücher in mein Blickfeld kam, ertappte ich mich bei der Frage, warum man ihn nicht aufgerufen hatte, in Europa, Afrika oder im Pazifik gegen unsere Feinde zu kämpfen. Doch als er an seinem Schreibtisch stand und ich ihn ein wenig genauer betrachtete – die zusammengesunkene Haltung, die kraftlosen Arme und Beine, die leuchtende kahle Stelle auf seinem Schädel, die wie der Stempel früher Greisenschaft war –, fand ich die Antwort auf meine Frage: Er war IV-F, untauglich, völlig klar.

Und was hatte ich überhaupt in der Bibliothek zu suchen? Ganz einfach: Prok hatte mich für den Nachmittag vor die Tür gesetzt, damit er und Corcoran gemeinsam Interviews mit einer Gruppe von Psychologen aus Südindiana durchführen konnten, die an einer Konferenz in der Universität teilnahmen. Ich hatte am Morgen und am frühen Nachmittag bereits zwei von ihnen befragt, und jetzt wollte Prok sehen, wie gut Corcoran eingearbeitet war, und die Protokolle vergleichen, sobald der Befragte gegangen war. So kam ich früher als sonst nach Hause, und Iris war nicht da.

Ich sah, daß sie Makkaroniauflauf mit Thunfisch und Käse gemacht hatte und daß das abgewaschene Frühstücksgeschirr noch auf dem Abtropfgestell stand. Das war in Ordnung, nichts Ungewöhnliches, aber wo war Iris? Hatte sie beim Einkaufen etwas vergessen, das man unbedingt im Haus haben mußte – Kaffee, Margarine, eine Kuchenmischung für den Nachtisch? Vielleicht war sie nur schnell um die Ecke zum Lebensmittelladen gegangen. Vielleicht hatte es auch einen Unfall gegeben. Vielleicht hatte sie sich geschnitten oder war gestürzt. Oder eine der Nachbarinnen. Ich dachte an die alte Dame, die über uns wohnte, früher die beste Freundin von Mrs. Lorbers Schwester, Mrs. Valentine. Sie war so zerbrechlich, so ausgezehrt und eingeschrumpft, daß es niemanden gewundert hätte, wenn sie einfach gestorben wäre. Aber es hatte keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sofern irgend etwas passiert war, konnte ich nichts daran ändern. Zu gegebener Zeit würde ich davon erfahren, also warum sollte ich mir Sorgen machen? Der Auflauf war im Ofen, der Bourbon stand auf dem Regal. Ich schenkte mir ein Glas ein und schaltete das Radio an.

Ich war bei meinem dritten Glas angelangt, und die Oberfläche des Auflaufs hatte eine Farbe und Beschaffenheit, wie ich sie bei einem Ofengericht noch nie gesehen hatte – ich bin allerdings auch kein großer Koch –, als ich begann, mir Sorgen zu machen, Sorgen um Iris. Der Auflauf konnte von mir aus in der Mülltonne landen, dann würde das Abendessen eben aus Sandwiches und einem ordentlichen Bourbon bestehen. Im Radio kamen Vic and Sade, dann die neuesten Kriegsberichte und schließlich Kate Smith, die God Bless America sang, und schließlich begann ich, auf und ab zu gehen und durch den Vorhangspalt zu spähen, wenn ich glaubte, jemanden kommen zu hören. War sie vielleicht zum Büro gegangen, um mich zu überraschen? Hatten wir Karten für das Universitätsorchester? Waren wir zum Essen verabredet? Nein, da stand ja der Auflauf, ein unwiderleglicher Beweis. Ich beschloß, zurück zum Campus zu gehen, um zu sehen, ob sie dort war und ich irgendeine Verabredung vergessen hatte. Ich zog den Mantel an, setzte meinen Hut auf und ging hinaus.

Das Tageslicht war geschwunden, die Straßen waren leer. Der Bourbon befeuerte mich, und ich hielt mich, wie gesagt, stets gewissenhaft in Form; so schaffte ich die zehn Blocks bis zum Campus in Rekordzeit. Ich rannte zwar nicht, schritt aber zügig aus. Ich ging die vertrauten Stufen zum Eingang des Institutsgebäudes hinauf, durch die unverschlossene Tür und in den ersten Stock. Es war ganz still, nirgends brannte Licht. Vielleicht rüttelte ich am Türknopf – ich hätte natürlich aufschließen können, aber wozu? –, dann drehte ich mich um und ging wieder hinunter. Ich überlegte kurz, ob ich unterwegs noch irgendwo etwas trinken sollte, tat es jedoch nicht.

Auf dem Rückweg dachte ich daran, wie eigenartig das war. Es sah Iris ganz und gar nicht ähnlich. Natürlich hatte sie noch Vorlesungen und Seminare belegt – es war ihr letztes Semester – und mußte Arbeiten schreiben, in der Bibliothek bibliographieren und so weiter, doch all das hatte sie immer tagsüber erledigt, damit wir abends Zeit füreinander hatten. Auch den Rückweg legte ich in zügigem Tempo zurück, denn jetzt war ich besorgt, ich war auf ganz ähnliche Weise frustriert wie wenn ich, was selten vorkam, etwas verlegt hatte und meinen Weg zurückverfolgte und so lange im Kreis ging, bis ich es gefunden hatte oder die Suche aufgab. Meinen Füller zum Beispiel. Ich hatte einen schlanken silbernen Parker, den Iris mir zum Geburtstag geschenkt hatte, und eines Tages konnte ich ihn nach dem Mittagessen nicht mehr finden. Ich stand immer wieder vom Schreibtisch auf und ging zu den Aktenschränken, den Regalen, dem Vorzimmer und wieder zurück, bis Prok schließlich von seiner Arbeit aufblickte und mich mit gereizter Stimme fragte, was ich da eigentlich täte. Ich sagte es ihm, und er musterte mich lange mit verwundert gerunzelter Stirn und beugte sich wieder über seine Protokolle, doch ich suchte den ganzen Nachmittag weiter, bis ich den Füller schließlich beim fünften oder sechsten Versuch in der Herrentoilette fand, auf der Metallablage über dem Waschbecken, wo ich mir vor dem Händewaschen eine Notiz gemacht hatte. Es war wahrscheinlich ein bißchen neurotisch, aber wenn ich das Gefühl hatte, die Dinge seien außer Kontrolle geraten, etwas sei nicht in Ordnung oder ich hätte etwas verpatzt, dann hatte ich Atembeschwerden, und ich bin sicher, daß mein Blutdruck in die Höhe schoß. Flattrig. Ich fühlte mich flattrig, als hätte ich zuviel Kaffee getrunken. Und so fühlte ich mich auch jetzt, als ich im Dunkeln am letzten Block entlangging, während ich doch mit meiner Frau bei einem Makkaroniauflauf zu Hause hätte sitzen sollen.

Weiter vorn wurde eine Wagentür zugeschlagen. Ich sah die roten Rücklichter wie Brandlöcher im schwarzen Stoff der Nacht aufleuchten, der Wagen, ein heller Wagen, fuhr an der Straßenlaterne vorbei und verschwand am Ende des Blocks. War da eine Gestalt, ein Schatten in den Schatten, der sich zu einem der Häuser auf unserer Straßenseite bewegte? Es war dunkel. Ich war mir nicht sicher. Als ich zwei Minuten später in unsere Wohnung trat, beugte Iris sich gerade zum Ofen.

»Du liebe Zeit, Iris«, sagte ich, »wo warst du denn? Ich war ... äh ... Ich war hier und hab den Ofen ausgestellt...«
Ihre Haut war gerötet, als wäre sie gerannt oder hätte in der Sporthalle auf dem Trampolin geturnt – ein Gerät übrigens, das sie liebte; ich hatte ihr dabei zugesehen: ihre zielgerichtete Konzentration, die auf und ab schwingenden Arme, als wäre sie im Begriff davonzufliegen, ihr Haar, das senkrecht in der Luft stand, als trotzte es der Schwerkraft. Sie hielt die Auflaufform in den Händen, die roten Topflappen waren über die Griffe gelegt. Sie stellte die Form auf der Arbeitsplatte ab und sah mich mit einem Lächeln an, das sogleich erstarb. »Das war gut«, sagte sie. »Sonst wäre er nämlich verbrannt.«
Ich war jetzt in der Küche, der Perlenvorhang hinter mir rasselte wie ein Schwarm wütender Insekten. »Aber wo warst du? Ich hab mir Sorgen gemacht. Ich ... ich bin den ganzen Weg zurück zum Büro gegangen, um zu sehen, ob ... ob du vielleicht da bist.«
»Tut mir leid, John. Ich hab dich nicht so früh erwartet.« Sie machte eine Dose Erbsen auf und kehrte mir den Rücken zu, so daß ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Rasche Bewegungen, der Topf, die Flamme, und dann zum Tisch, um ihn zu decken. »Willst du Milch zum Essen, oder kann’s auch Wasser sein? Oder Saft?«
»Was hast du gemacht?« fragte ich. »Gelernt? War die Klausur nicht erst letzte Woche?«
Sie war in Bewegung, ging an mir vorbei, zum Tisch und wieder zurück, und die Perlen rasselten. Sie sah mich nicht an, ihr Blick war auf alles mögliche gerichtet, nur nicht auf mich – auf den Tisch, den Kühlschrank, den Boden. »Gelernt«, sagte sie, »das stimmt. Ich hab gelernt.«
»Wo? In der Bibliothek? Ich war den ganzen Nachmittag dort, da hätte ich dich doch... Aber du brauchtest die Hauptbibliothek, nicht? Für das Seminar bei Huntley?«
Die Auflaufform stand auf dem Untersetzer in der Mitte des Tischs, und Iris schenkte mir ein Glas Milch ein. Solide und weiß stand es neben meinem Teller wie in einem Stilleben der Normalität. Sie sah gehetzt aus. Unglücklich.
»Was ist los?« fragte ich. »Was ist passiert?«
Sie hielt mitten in der Bewegung inne, die Erbsen auf der Schöpfkelle, den heißen Topf auf der Tischkante balancierend. »Oh, John, ich kann das nicht. Ich kann das einfach nicht.«
Das war das Fieber, jetzt kam es, jetzt kam der Augenblick, der mein Herz klopfen ließ. Ich sagte kein Wort.
Zwei Kellen Erbsen, eine auf jeden Teller. »Ich sag’s dir lieber gleich: Ich war mit Purvis zusammen. Ich ... ich bin zum Büro gegangen, um dich zu überraschen, und er war gerade dabei abzuschließen ...«
»War das sein Wagen? Vorhin, als ich gekommen bin?«
Sie nickte.
»Tja«, sagte ich. »Und dann? Hat er dich nach Hause gebracht, habt ihr unterwegs noch irgendwo was getrunken oder was?«
»Nein«, sagte sie, und ihr Blick wich dem meinen aus. »Oder vielmehr ja, er hat mich nach Hause gebracht.«
Ich zuckte die Schultern. Er hatte sie nach Hause gebracht. Fall erledigt.
Sie hatte noch immer den Topf mit den Erbsen in der Hand, stand noch immer neben dem Tisch. »Aber ich werde dich nicht anlügen, John, keiner von uns wird das tun. So bin ich nicht, und ich glaube, das weißt du auch.« Schweigen, und ich schätze, irgendwo auf der Welt begegneten sich Schiffe in der Nacht, gingen Frachter unter, machte Eis die schmale Durchfahrt noch schmaler. »Wir ... wir hatten eine Beziehung.«
Ich starrte sie nur an.
»Im Büro. Auf dem Schreibtisch.«
»Im Büro«, wiederholte ich.
»Purvis und ich.« Ihre Augen blickten mit einem Mal kalt. »Nichts, worüber man sich Sorgen machen müßte.« Der Topf stand endlich auf dem Tisch, und sie wischte sich die zitternden Hände an der Schürze ab. »Du weißt ja, John«, sagte sie, »das menschliche Säugetier.«

Etwa zu dieser Zeit führten wir unsere ersten Interviews mit Kindern durch, womit wir, wie viele zweifellos wissen, nicht nur ein lange bestehendes Tabu durchbrachen, sondern auch den Grundstein für die zahlreichen späteren Studien zur kindlichen Sexualität legten.

Eigentlich bin ich, wenn ich die Ereignisse gedanklich rekonstruiere, beinahe sicher, daß unser erster Vorstoß in diesen Bereich gleich nach dieser beunruhigenden Szene mit Iris stattgefunden hat, gleich am nächsten Morgen, denn ich erinnere mich deutlich, wie aufgewühlt ich war und daß ich die ganze Situation im Geiste immer wieder hin und her wälzte, als wäre sie ein scharfkantiges Objekt, das ich abschleifen mußte, bis es so glatt war wie gebrannter Ton. Es war eigenartig. Als ich, unterwegs zur Fillmore School in Indianapolis, neben Prok auf dem Beifahrersitz des Buick saß und er mir einen Vortrag über frühkindliche Sexualität und das vorpubertäre Erwachen des Begehrens hielt, konnte ich nicht umhin zu denken, daß meine Gefühle sich auf Kollisionskurs mit meiner Objektivität befanden. Immer wieder sagte ich mir, ich sei Forscher, und Gefühle hätten in der Welt der Wissenschaft nichts zu suchen, da sie keinen quantifizierbaren Wert besäßen. Es war etwas Negatives, etwas, das mich disqualifizierte, eine Schwäche, die ich überwinden mußte. Prok hatte mich gut indoktriniert, und beinahe schaffte ich es über diese Hürde, doch jedesmal fiel ich wieder zurück. Ich konnte nicht anders.

»Alles in Ordnung?« fragte Prok und musterte mich mit einem seiner bohrenden Blicke.
Ich war wohl hin und her gerutscht, hatte mit dem Knie gewippt und im Flackern der Lichter rechts und links der Straße das Kinn gereckt, als wäre ich unterwegs zu einem qualvollen Märtyrertod, aber wenigstens hatte ich nicht mit Corcoran zu tun, noch nicht. Prok hatte ihm drei Tage freigegeben, damit er sich um seine Angelegenheiten kümmern und nach South Bend fahren konnte, wo seine Tochter am Osterumzug teilnahm.
»Milk?« sagte Prok. »Hast du mich gehört? Ich habe dich gefragt, ob alles in Ordnung ist.«
»Ja«, sagte ich. »Mir geht’s gut.«
Der Motor summte. Die Landschaft zog vorbei. Prok legte den Kopf schräg und musterte mich erneut. »Kriegst du genug Schlaf? Ehrlich gesagt, Milk, siehst du nämlich aus wie ein lebender Toter.«
»Nein, ich ... äh ... letzte Nacht nicht.«
Er begann einen kleinen Vortrag darüber, wie unerläßlich die drei wichtigsten Faktoren – Ernährung, Körperertüchtigung und Schlaffür die Gesundheit seien, und war mitten in einem seiner langen, kunstvoll verschränkten Sätze, als er plötzlich innehielt. »Aber John«, sagte er, »was ist denn? Ist dir etwas ins Auge geflogen?«
Ich sagte, es sei bloß eine Allergie. »Heuschnupfen.«
Er schwieg einen Augenblick, wandte mir sein Gesicht zu und betrachtete mich forschend, bevor er wieder auf die Straße sah. »Ein bißchen früh dafür, nicht?«
Ich hatte Iris nicht zur Rede gestellt – wie denn auch? Wie hätte ich irgend etwas sagen können, ohne wie ein Heuchler zu erscheinen? Wir aßen schweigend, das Radio lief. Iris legte einen Text – Moderne britische Lyrik, mein altes Exemplar mit Anmerkungen – neben ihren Teller und starrte darauf, aber ich sah sie nicht umblättern, nicht ein einziges Mal. Als wir fertig waren, wollte ich abräumen, aber sie ließ mich nicht. »Nein, nein«, sagte sie und nahm mir den schmutzigen Teller aus der Hand – ich hatte so gut wie nichts gegessen, die Makkaroni waren wie durchweichte Pappe, obwohl ich gekaut hatte, daß ich glaubte, mir würde der Kiefer brechen –, »laß mich das machen. Du bist bestimmt müde.«
Sie war bleich, ihr Haar hing schlaff herunter, und ich wollte nicht daran denken, was mit den Locken geschehen war, auf die sie abends so viel Zeit verwendete und die sie morgens mit viel Mühe in perfekte Form brachte. Ich war tatsächlich müde. So müde, daß ich kaum die Arme vom Tisch heben konnte. »Gut«, sagte ich. »Okay.«
Ich schaffte es bis zum Sofa, und da lag ich dann, eine Hand flach auf der Stirn, während das Radio knackte und knisterte und das Wasser in die Spüle lief. Iris machte sich in der Küche zu schaffen; ich hörte ihr lange zu, dem Offnen und Schließen der Schränke, dem Zischen des Wassers, dem Klirren von Glas und Geschirr, und dann zündete ich mir eine Zigarette an und starrte an die Decke. Von irgendwo ertönte Band-Musik, eine Varieteshow, der Chiquita-Banana-Jingle – ich muß ihn an die zehnmal gehört haben. Schließlich kam sie zu mir. Ich spürte, daß sie neben dem Sofa stand, doch ich wandte nicht den Kopf. »John«, sagte sie, »John, bitte«, und ich hörte, wie sehr ihre Stimme von Gefühlen durchdrungen war, wie sie mich um Absolution bat, aber das ließ mich nur noch steifer und härter werden: Ich versteinerte wie ein Stück Holz, das äonenlang in den tiefsten Sedimentschichten gelegen hat. Ich sagte nichts. Sie hielt eine Ansprache, eine tränenvolle, von Schluchzern unterbrochene Ansprache – sie habe es nicht gewollt, es habe nichts zu bedeuten, die Leichtfertigkeit eines Augenblicks, und irgendwie habe sie ihm, Purvis, einfach nicht widerstehen können, er sei so überzeugend –, doch ich rührte mich nicht. Nach einer Weile ging sie ins Schlafzimmer und schloß die Tür.
Darf ich Ihnen sagen, daß ich mich fühlte, als hätte man mir einen Pflock durchs Herz getrieben? Ich wußte, warum sie es getan hatte – dazu brauchte man kein Psychiater zu sein. Sie hatte in ihrem Leben einen Mann gehabt, einen einzigen, und ich hatte Mac und Prok gehabt und außerdem andere, über die sie nur Vermutungen anstellen konnte. Das Projekt und unsere ganze Vorgehensweise erforderten geradezu, daß sie Erfahrungen machte – wir schätzten doch die »Hochaktiven«, ganz gleich, wie unvoreingenommen wir uns gaben, oder nicht? Ich wußte, wo die Schuldgefühle lauerten. Ich wußte, wer unrecht hatte. Aber wenn ich glaubte, was ich predigte, wenn ich an meine Arbeit glaubte – und das tat ich, das tue ich noch heute, aus tiefstem Herzen –, dann hatte ich kein Recht zu einem J’accuse.
In jener Nacht ging ich spät zu Bett, so spät, daß in den Büschen vor den Fenstern bereits die Vögel sangen und graues Licht durch die Vorhänge sickerte. Sie war noch wach. Ich sah sie im Bett liegen, und alle Traurigkeit der Welt ließ sich in meiner Kehle nieder, säuerlich, unbarmherzig, bis ich mich zusammennahm und sie hinunterschluckte. In diesem Augenblick wollte ich Iris haben, mehr als alles andere, ich wollte die Decke zurückschlagen, ihr das Nachthemd ausziehen und mich in sie hineinstürzen.
Vielleicht sagte sie meinen Namen. Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich nur daran: Wir kamen ohne Eröffnung, ohne Worte zur Sache, ich warf mich in befreiender Ekstase auf sie, und sie blieb mir nichts schuldig, sie wehrte sich, sie schlug nach mir, wütend, getrieben vom Stachel ihrer Schuld und ihrer Lust, und die ganze Zeit dachte ich daran, daß sie nicht gebadet hatte, daß sie Corcoran nicht ausgespült hatte und daß er hier dabei war, grinsend wie ein Schauspieler.
Ja, und ich fand es eigenartig, nach Indianapolis zurückzukehren, um diesmal mit Kindern aus einer Grundschule zu sprechen anstatt mit einer abgetakelten Nutte und ihrer endlosen Reihe gesichtsloser Kunden, im klaren, hellen Licht des Tages anstatt in nächtlichen Schatten. Prok hatte mit dem Schuldirektor und einer Vorschullehrerin, beide Freunde der Forschung, alles besprochen, und wir hatten das normale Prozedere verändert und dem kindlichen Auffassungsvermögen angepaßt. Außerdem hatten wir uns im voraus die Einwilligung – und die Geschichten – der jeweiligen Eltern geben lassen, und wir führten die Interviews zu zweit und in Anwesenheit mindestens eines Elternteils, damit nicht einmal der Anschein von Ungebührlichkeit entstehen konnte.
Wir trafen früh ein, die Kinder waren noch in den Klassenzim- mern, der borstige gemähte Sportplatzrasen leuchtete nur an den Rändern grün, und die Sonne schien hell auf den Spielplatz mit seinen unbenutzten Schaukeln und Wippen und dem starren Skelett des Klettergerüsts. Der Schuldirektor – ein Mr. McGuiniss, dessen angenehm unspektakuläre Geschichte wir bei unserem letzten Aufenthalt aufgezeichnet hatten, tagsüber, als Ginger nicht gearbeitet hatte – begrüßte uns an der Tür und führte uns in sein Büro. Dort gab es eine Fahne, eine ausgestopfte Eule, die ungelenken, seltsam dynamischen abstrakten Bilder sehr kleiner Kinder sowie ein Fenster mit Blick auf den Spielplatz. »Dr. Kinsey«, sagte McGuiniss – er war klein, kahlköpfig, und seine Fingerspitzen waren von Nikotin verfärbt – »und Mr. Milk, herzlich willkommen. Schön, daß Sie da sind. Wie Sie wissen, haben sich einige Schülerinnen und Schüler freiwillig gemeldet, und ihre Mütter sind ebenfalls hier. Alle sind schon ganz aufgeregt.«
Wir begannen mit zwei Schwestern, fünf und sieben Jahre alt. Der Direktor stellte uns sein Büro zur Verfügung – er hatte auch für ein paar Spielsachen und Bilderbücher gesorgt, um den Kindern die Befangenheit zu nehmen –, und dann trat die Mutter mit den beiden Mädchen ein. Sie war groß, brünett, nicht unattraktiv, mit ausgeprägten Wangenknochen und vollem, kräftig wirkendem Haar, das zu einer Welle frisiert war und von zwei Perlmuttspangen gehalten wurde. Ich wußte, wie alt sie war – neunundzwanzig –, denn ich hatte ihre Geschichte bei unserem vorigen Aufenthalt selbst notiert. (Sie war monogam und seit acht Jahren verheiratet, sie wollte gern mit verschiedenen koitalen Stellungen und oral-genitalen Kontakten experimentieren, war in diesen Dingen jedoch sehr unerfahren und hatte zudem mit dem Widerstand ihres Mannes zu kämpfen. Er war gläubiger Katholik mit typisch unterdrückter Sexualität, er war auch der einzige in dieser Gruppe, der sich nicht hatte befragen lassen.)
Prok und ich erhoben uns und begrüßten sie, während McGuiniss, einen Stoß Papier unter dem Arm, sich mit einer Verbeugung verabschiedete. »Mrs. Perrault«, rief Prok, schüttelte ihr die Hand und lächelte strahlend, »wie nett, daß Sie gekommen sind. Mr. Milk, meinen Assistenten, kennen Sie ja schon. Und« – er wandte sich zu den Mädchen und begrüßte sie mit einer Verbeugung, die sie für ihn einnehmen sollte – »wer sind diese schönen jungen Damen?«
Die Mädchen – Suzie war die Jüngere, Katie die Ältere – hatten den Teint und die großen, feuchten Augen ihrer Mutter. Sie lächelten gezwungen und freuten sich, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, schienen aber auch ein wenig nervös, weil sie nicht wußten, was von ihnen erwartet wurde. »Ich bin Katie«, sagte die Siebenjährige. »Und das ist meine Schwester.«
»Suzie«, sagte die Schwester und drehte sich auf einem Fuß hin und her. »Ich heiße Suzie.«
»Aha«, sagte Prok, der sich noch immer hinunterbeugte, so daß sein Gesicht auf ihrer Kopfhöhe war, »dann seid ihr gar keine Prinzessinnen? Ich war mir sicher, daß ihr Prinzessinnen seid.«
Kichern. Noch mehr Hin-und-her-Drehen. »Nein«, sagte die Kleinere, und beide brachen in Gelächter aus.
»Und wie findet ihr es, das Zimmer des Direktors ganz für euch zu haben? Das ist schon was Besonderes, nicht? Na ja, es ist ja auch ein besonderer Nachmittag für zwei sehr besondere kleine Mädchen. Ich bin Onkel Kinsey, und das« – er wies auf mich, und ich lächelte so aufrichtig wie möglich, um allen Beteiligten zu zeigen, wie vollkommen harmlos ich war – »ist Onkel Milk.«
Die beiden Mädchen musterten mich kurz, und ihr Lächeln wurde etwas unsicher und lebte erst wieder auf, als Prok in seinem fröhlichsten Ton fortfuhr: »Und wen haben wir denn da? Herrn Eule. Seht ihr ihn, da oben? Der ist heute auch dabei. Ich habe mir nämlich ein Spiel ausgedacht, und zwar ein Camping-Spiel. Wart ihr mal mit euren Eltern zelten?«
Oh, ja, ja. Und wo? Ein Seitenblick zur Mutter. »Im Wald«, sagte Katie.
»Gut, sehr gut.« Prok hatte sich im Schneidersitz auf den Boden gesetzt, als wäre er ein Indianerhäuptling, der im Begriff war, die Friedenspfeife zu rauchen. »Also gut«, sagte er, »dann setzt euch mal hin, genauso, kreuzt die Beine wie ich, denn wir spielen jetzt, daß wir im tiefen Wald sind und um ein Lagerfeuer sitzen und Marshmallows rösten. Mögt ihr Marshmallows? Ja? Gut. Sehr gut. Natürlich mögt ihr Marshmallows.« Und er zauberte zwei weiße Marshmallows aus der Manteltasche.
Ich möchte hier darauf hinweisen, daß Prok entgegen dem, was Sie möglicherweise gehört haben – und ich kenne einige der bösartigen und ekelhaften Gerüchte, die von Gegnern des Projekts in die Welt gesetzt wurden, von Menschen, die in allem nur Schmutz sehen –, mit unseren minderjährigen Befragten denkbar einfühlsam, respektvoll und korrekt umging. Wir alle lernten von ihm und versuchten, seine Methoden anzuwenden, doch keiner von uns konnte den Rapport mit Kindern so rasch und mühelos herstellen wie Prok. Es war eine seiner großen Begabungen als Interviewer und als Mensch. Er konnte an das Urinal in der Penn Station treten und sofort das Vertrauen eines Strichjungen auf der Suche nach Kundschaft gewinnen, er konnte durch die Negerviertel von Gary oder Chicago spazieren und sich authentisch ausdrücken, und er konnte auf die offenste, unschuldigste Weise mit Kindern umgehen. Und die sexuellen Geschichten der Kinder waren für unsere Forschung bedeutsam, denn beinahe alle Erwachsenen, die wir nach dem Erwachen ihrer Sexualität befragten, konnten sich nur verschwommen daran erinnern, und wir glaubten, die Mängel der Erinnerung unserer erwachsenen Befragten durch die Erfassung der Daten von Kindern, die ja noch mitten im Erleben steckten, ausgleichen zu können. Es erschien uns sinnvoll. Dennoch gab es natürlich Kritik: Wir besudelten den Geist dieser Kinder, wir brachten sie vom rechten Weg ab und so weiter. Ich kann Ihnen jedoch versichern, daß das absolut nicht der Wahrheit entspricht.
An diesem Tag führte Prok die beiden schönen Kinder mit den großen Augen durch einen imaginären Wald, saß mit ihnen an einem gemütlichen Lagerfeuer und stellte sehr einfühlsam und ganz nebenbei seine Fragen, erst Suzie, während ihre Schwester in einer Ecke spielte, und dann Katie. Ich muß zugeben, daß ich eine Menge lernte. Die Fragen waren vollkommen unschuldig, und dennoch waren die Antworten aufschlußreich. Spielst du öfter mit Mädchen oder mit Jungen? Magst du Jungen? Aber zwischen Jungen und Mädchen gibt es Unterschiede, nicht? Ja? Und welche? Woher weißt du das? Ich saß auf dem Sessel des Direktors, grinste in mich hinein und wechselte, während ich die Antworten notierte, hin und wieder einen Blick mit der Mutter. Ich spürte, wie sich mir neue Möglichkeiten eröffneten. Kinder. Ich hatte nie besonders viel über Kinder nachgedacht. Eigentlich machten sie mich immer unsicher und nervös, ich wußte nichts mit ihnen anzufangen, hatte keinen Zugang zu ihnen, und hier war Prok, einer der hervorragendsten Männer seiner Generation, ein mehrfach ausgezeichneter Wissenschaftler, und führte es mir vor. »Man muß nur mit ihnen reden«, sagte er. »Man muß mit ihnen reden und ihnen zuhören.«
All dieser Sex, und wofür? Für das hier. Für Kinder. An jenem Nachmittag war es wie eine Offenbarung. Meine Gedanken kämpften gegen das unerträgliche Bild von Iris an, die nackt auf meinem Schreibtisch lag, überragt von Corcoran, während piepsige Stimmen Vermutungen und vorsichtige Erwartungen äußerten. Sie kamen und gingen, ein Kind nach dem anderen, schüchtern oder keck, eifrig oder zurückhaltend, und ich stellte fest, daß sich mir die Anfänge einer Perspektive boten. Diese Körperteile, auf die wir uns bei Ginger und ihren Kunden so gewissenhaft konzentriert hatten, die Geschlechtsakte, die körperlichen Vereinigungen, die Fortpflanzungsorgane –das alles diente einem einzigen Zweck: Kinder. Und es sollte noch fünf Jahre dauern, bis John junior geboren wurde.

Zwei Tage darauf kehrten wir spät in der Nacht nach Bloomington zurück. Wir waren länger geblieben als ursprünglich geplant, weil wir noch ein paar Interviews geführt hatten, die uns in letzter Minute in den Schoß gefallen waren: mit dem Hausmeister der Schule und seinem Bruder, dem die Tankstelle gehörte, sowie mit einem Pfarrer, seiner Frau und seiner siebzehnjährigen Tochter. Ich trat ein, und da saß Iris im Kimono, ihr Lyrikbuch in der Hand, und erwartete mich. »Du hättest nicht auf mich zu warten brauchen«, sagte ich, und sie kam zu mir, sah mich liebevoll an und umarmte mich, und wir standen mitten im Wohnzimmer und wiegten uns hin und her. »Mußt du morgen früh nicht zum Seminar?«

»Pst«, machte sie, »pst«, und dann gingen wir ins Bett, und ich war wie aus Holz. Wir hatten zwar Geschlechtsverkehr, kaum daß ich meine Kleider ausgezogen hatte, und es kann sein, daß sie dabei zusammenbrach, daß sie weinte, ihren Kopf an meine Brust drückte und schluchzte, aber ich war wie aus Holz und weiß es nicht genau. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war sie schon fort, und später saß ich, von Gallen umgeben, im Büro und strich langsam und nachdenklich über die Platte meines Schreibtischs, als hätte ich etwas Derartiges noch nie gesehen.

13

Ich hörte Schritte im Treppenhaus und leises Gemurmel, das lauter wurde, näher kam, und mein erster Gedanke war: Prok, der, ein paar Studenten im Schlepptau, von seinem frühen Seminar zurückkehrte. Ich hatte mich inzwischen gefangen, saß am Schreibtisch, ordnete das Material, das wir in der Fillmore School gesammelt hatten, und gab mich der vertrauten Umarmung der Routine hin. Ich hatte die Bleistifte gespitzt und die Papiere säuberlich gestapelt. Neben meinem Ellbogen stand ein Becher Kaffee und dampfte vor sich hin. Draußen ließ ein Nieselregen die Konturen von Maxwell Hall verschwimmen.

Es war Proks Stimme, kein Zweifel, eine Art klares Murmeln, das sich über die Nebengeräusche erhob und von einer anderen Stimme begleitet wurde, von einer herzlichen, unerschütterlichen Stimme, die ich sogleich erkannte, und da waren sie auch schon, Prok und Corcoran, und schoben sich durch die Tür. »Morgen, Milk«, rief Prok. »Gut geschlafen?«

»Morgen, John«, sagte auch Corcoran. Er stand vor Proks Schreibtisch, keine drei Meter von mir entfernt, die Arme in die Seiten gestemmt, und verbreitete Nonchalance: alles in Ordnung, alles in bester Ordnung. »Ich kann euch sagen, es ist schön, wieder dazu- sein. Die Fahrt war entsetzlich, absolut entsetzlich. Und wie war’s bei euch?«

Einen Augenblick lang wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Im Verlauf der vergangenen vier Tage hatte ich eigentlich an nichts anderes gedacht als an Corcoran und was ich zu ihm und er zu mir sagen würde, wie ich ihm begegnen und was diese Sache für uns alle bedeuten würde, jetzt und in Zukunft. »Tja, wir ...« stammelte ich. »Prok kann dir bestimmt ...« Ich machte eine unbestimmte Geste und ließ den Arm sinken, zu schmerzerfüllt, um weiterzusprechen.
Prok saß bereits an seinem Schreibtisch und blätterte in seinen Unterlagen. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Hätte gar nicht besser sein können. Wir haben vierzehn Geschichten von Jugendlichen, sehr interessant, sehr bedeutsam, und das hat mich darin bestärkt, daß wir noch mehr brauchen. Stimmt’s, Milk?«

»Ja«, sagte ich. »Es war ... äh ... eine echte Erfahrung.«

Corcoran sah mich aufmerksam an. »Ach ja?« sagte er. »Inwiefern?«
Prok hob den Kopf und wartete auf meine Antwort.
»Ich weiß nicht«, sagte ich und griff nach dem Kaffeebecher, um meine Unsicherheit zu verbergen. »Es war ein ... Erwachen ist wohl das richtige Wort. Eine Art Erwachen.«
Corcoran lächelte, lächelte unaufhörlich. Er war so entspannt, daß ich ihn hätte umbringen können, daß ich hätte aufspringen und ihn hier, auf dem Linoleumboden, erwürgen können, ohne auch nur darüber nachzudenken. Ich hatte den Eindruck, daß er meiner Bemerkung nachgehen und um Erläuterung bitten wollte – das war ja doch recht interessant. Vielleicht wollte er sagen: Wie meinst du das? Oder es ins Witzige ziehen: Wie lange hast du denn geschlafen?
Doch Prok kam ihm zuvor. »Gut«, sagte er. »Gut ausgedrückt. Mir ging es ebenso, und dies ist ein neuer Ansatz, dem wir in Zukunft sehr viel mehr Aufmerksamkeit widmen müssen, wenn auch natürlich mit aller gebotenen Vorsicht.« Es trat eine Stille ein, in der wir alle darüber nachdachten, was diese Vorsicht genau beinhaltete, und dann sagte Prok mit seiner aufgeräumtesten Stimme: »Ich muß dir ein paar Briefe diktieren, Milk – Folgebriefe, und nicht nur an die Eltern, sondern auch an die Kinder.« Er sah mich scharf an, als wäre ich im Begriff, Einwände zu machen. »Denn, du verstehst, wir müssen hier absolut offen und korrekt sein, und die Eltern werden die Briefe sehen, die Folgebriefe also, und ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig das ist. Und zwar zu Recht. Ich finde, wenn jemand Umstände auf sich nimmt, um sich als Freund der Forschung zu erweisen, dann stehen wir, ganz gleich, wie alt oder jung derjenige ist, in seiner Schuld, und dem sollten wir bei erster Gelegenheit Rechnung tragen.«
Ich sollte darauf hinweisen, daß das Institut für Sexualforschung damals noch in den Kinderschuhen steckte und wir weder eine Vollzeitsekretärin noch ausreichenden Büroraum hatten, auch wenn Prok, nachdem Corcoran zu uns gestoßen war, die Verwaltung hatte überreden können, uns einen angrenzenden Seminarraum zu überlassen, so daß wir nun über eine kleine Bürosuite verfügten. Man hatte eine Tür in die Wand gebrochen, und in dem hinzugewonnenen Raum waren nun sowohl Corcorans Tisch als auch die Akten untergebracht, für die wir sonst keinen Platz mehr hatten, sowie die stetig wachsende Fachbibliothek (darunter auch die Erotikasammlung, von der in letzter Zeit so viel Aufhebens gemacht wird). Ja, aus bescheide- nen Anfängen ...
Jedenfalls ... Ich erwähne das alles nur wegen des späteren Geschehens – damit Sie sozusagen dabei sind und eine Vorstellung davon haben, wo jeder von uns sich aufhielt. Das Geplauder war beendet, und Prok war der letzte, der Verzögerungen duldete – er wollte, daß gearbeitet wurde, dafür waren wir hier. Dennoch rührte Corcoran sich nicht vom Fleck. »John«, sagte er leiser, »hast du nachher Zeit, nach Feierabend, meine ich? Damit wir ein bißchen reden können.«
Prok zog eine Augenbraue hoch und musterte uns kurz. »Das wäre ausgezeichnet, Corcoran«, sagte er, »aber ich kann Ihnen versichern, daß ich selbst Sie sehr gern über die Einzelheiten unserer Funde unterrichten werde, wie auch darüber, was wir uns für die Zukunft erhoffen. Faszinierend, wirklich.«
Corcorans Lächeln verblaßte. »Nein, es geht eigentlich um etwas anderes.«
»So?«
Ich spürte, daß mir die Röte ins Gesicht stieg, und starrte in den Kaffeebecher.
»Eine private Angelegenheit«, sagte Corcoran.
Prok zog seine Braue noch ein wenig höher. »So?«
»Es ist eigentlich gar nichts. Bloß eine Sache zwischen Kollegen, stimmt’s, John?«
Was sollte ich sagen? Der Schuß hatte mich zwischen den Schulterblättern erwischt, als ich über die Hochebene galoppierte, und nun wirbelten meine Hufe hilflos durch die Luft. Ich spürte den Pfeilschaft unter dem Brustbein, die heiße, scharfe Spitze. »Klar«, sagte ich. »Oder vielmehr ja. Ja, stimmt.«
Es wird Sie nicht überraschen, daß es mir schwerfiel, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Sosehr ich auch dagegen ankämpfte – ich war meinen Gefühlen ausgeliefert. Ich weiß, das war dumm. Falsch. Anachronistisch. Immer wieder hielt ich mir vor Augen, daß ich Sexualwissenschaftler war, daß ich einen Beruf, eine Zukunft und ganz neue Perspektiven hatte, daß ich mich von all den kleinkarierten, jüdisch-christlichen Zwängen und Beschränkungen, die im Lauf der Jahrhunderte so viel Unheil angerichtet hatten, befreit hatte, doch es half nichts. Ich war verletzt. Ich war eifersüchtig. Ich zeigte Prok und – jenseits der Tür, im großen hinteren Raum – Corcoran mein normales Alltagsgesicht, doch innerlich kochte ich, brannte ich, wild und tobend, vergiftet von der Galle meines eigenen Unvermögens und Versagens, meiner eigenen Sünden, und so sehr ich mich auch bemühte, dieses Bild zu verdrängen, sah ich doch überall die gebeugte, dem Spott preisgegebene Gestalt des Hahnreis aus der Commedia dell’arte. Wenn Corcoran nicht hersah, starrte ich ihn an. Ich studierte die Art, wie er sich am Kinn kratzte oder mit dem Bleistift auf die Schreibunterlage klopfte, als schlüge er den Rhythmus einer privaten Rhapsodie. Töte ihn! schrie eine Stimme in meinem Kopf. Geh hin und töte ihn!
Und dann war Feierabend, und wir drei standen an der Tür zum Büro und unterhielten uns, während Prok den Schlüssel umdrehte und wir noch ein paar Takte über Aspekte des Sex plauderten. Prok hatte Schirm und Galoschen dabei, allerdings keinen Mantel, denn es war mild und er war ohnehin jemand, der alles aushielt, und er machte eine Bemerkung darüber, daß Corcoran und ich uns besser auf die Gegebenheiten des Wetters einstellen müßten (wir trugen nur Sportjacketts und waren beide nicht für Regen gerüstet), und dann wünschte er uns einen guten Abend und entfernte sich durch den Korridor. »Tja«, sagte Corcoran leise und zögernd, »sollen wir ... Sollen wir den Wagen nehmen?«
Ich nickte nur, und wir gingen schweigend zu seinem Cadillac. Kaum hatten wir die Türen zugeschlagen, da startete Corcoran den Motor, das Radio erwachte zum Leben und spielte ein beliebtes Tanzstück, und das war es, was die Wut in mir aufsteigen ließ. Ich mußte den Türgriff umklammern, um nicht etwas zu tun, was ich für den Rest meines Berufslebens bereut hätte.
Corcoran legte den Gang ein, und wir fuhren langsam die Straße hinunter, doch ich war so aufgebracht, daß ich die Bewegung kaum registrierte. Nach einem Augenblick sagte er: »Wie wär’s mit einer Kneipe? Was trinken. Ich lade dich ein.«
In dem Stück kam ein Klarinettensolo vor – die Band war berühmt für ihren Klarinettisten –, und wir hörten zu, wie das Instrument schlingernd und gleitend die Melodie spielte. »Ich hab nicht ge- wußt, wie sehr ich Klarinetten hasse«, sagte ich. »Jedenfalls nicht bis jetzt.«
Corcoran streckte einen manschettenknopfgeschmückten Arm aus und schaltete das Radio ab. Er schien zu einer Entscheidung gekommen zu sein und lenkte den Wagen scharf nach rechts an den Bordstein. »Hör mal, John«, sagte er, »ich hoffe, du verstehst das nicht falsch, denn das könnte für uns alle unangenehm werden, und es gibt keinen Grund ...«
Starrte ich ihn wütend an? Ich weiß es nicht. Ganz plötzlich gab es in memem Kopf nur noch einen einzigen Gedanken, und der war so groß und mächtig wie ein vollentwickeltes Krebsgeschwür: Ich war überwältigt von der Angst, mich lächerlich zu machen, mich bloßzustellen, zu zeigen, daß ich kleinkariert war, engstirnig, ein Hahnrei. »Nein«, sagte ich und wandte mich von ihm ab, ohne zu wissen, welche Aussage, welche Beweisführung ich eigentlich verneinte.
»Es bedeutet nichts. Überhaupt nichts. Nicht für uns.« Er hatte sich zu mir gewandt und betrachtete mein Profil, und ich spürte ihn, spürte die Wärme seines Atems auf der geschnitzten Maske vor meinem Gesicht. »Bevor ich irgendwas getan habe, habe ich mit Prok gesprochen ...«
Zunächst glaubte ich mich verhört zu haben. Prok? Was hatte Prok damit zu tun? Doch dann begann diese eine kurze Silbe in meinem Kopf widerzuhallen wie eine ratternde Flipperkugel. Vielleicht bekam ich rote Ohren. Ich sah ihn noch immer nicht an, sondern starrte aus dem Fenster und beherrschte mich mühsam.
»Natürlich habe ich mit ihm gesprochen. Du denkst doch wohl nicht, daß ich ... Also, ich hab vielleicht eine überaktive Libido, das gebe ich gern zu, aber ich würde so was niemals ohne Proks Einverständnis machen. Früher vielleicht, aber jetzt nicht mehr, so, wie die Weltpolitik aussieht. Da müßte ich ja verrückt sein, das wäre glatter Selbstmord.«
Prok. Er hatte mit Prok gesprochen – mit Prok, nicht mit mir. Als ob ... Doch ich konnte nicht zu Ende denken, denn Prok hatte es die ganze Zeit gewußt, Prok hatte sein Einverständnis gegeben, grünes Licht und seinen Segen, einer für alle und alle für einen. Und ich hatte den ganzen Morgen stumpf dagesessen, während Prok neben mir gestanden und Briefe diktiert hatte, und meine Finger hatten auf die Tasten gehämmert, als wäre ich ein unterwürfiger Kanzleischreiber in einem Dickens-Roman. Brief um Brief, und kein Wort über Iris und mich. Erst die Briefe an die Eltern, dann die an den Schuldirektor, den Hausmeister, den Pfarrer und den Tankstellenbesitzer und schließlich die Briefe an die Kinder.

Liebe Suzie, Onkel Milk und ich schicken Dir einen ganz eigenen Brief, den der Briefträger nur für Dich in den Briefkastenwirft. Deiner Schwester Katie werden wir auch einen ganz eigenen Brief schikken, den der Briefträger nur für sie bringt, damit sie auch einen hat. Vor allem wollten wirDir schreiben, wie sehr wir uns gefreut haben, ein so nettes und kluges Mädchen wie Dich kennenzulernen, und daß Du stolz darauf sein kannst, uns bei unserer Forschung geholfen zu haben. Dein Onkel Kinsey »Und ich glaube, du weißt, wie Prok das mit dem engsten Kreis sieht: Wir haben keine Geheimnisse, wir sind eine verschworene Gemeinschaft. John, er hat mich dazu ermuntert – zu deinem und meinem Besten. Und zu Iris’, wir wollen Iris nicht vergessen.«

Ich hatte sie nicht vergessen, nicht für einen Augenblick. Corcorans Kopf schwebte im Wagen, als hätte er sich vom Körper gelöst. Das letzte Tageslicht überzog die Gesichtszüge am verschwommenen äußersten Rand meines Blickfelds mit einem Schimmer. Ich starrte noch immer geradeaus. Ich wollte ihn nicht ansehen. Ich konnte es nicht. Zwei Hauseingänge weiter war ein Lattenzaun: frisches, makelloses Weiß und das Kupfergrün der sprießenden Blätter der Kletterrosen, die ihre Triebe danach ausstreckten. »Und Violet. Auch Violet wollen wir nicht vergessen. Sie ist eine sehr leidenschaftliche Frau, John, das kannst du mir glauben. Und sie wird schneller hier sein, als du denkst.«

In meinem Schmerz und meiner Weigerung, ihn Corcoran, Prok, Iris oder sonst jemandem zu offenbaren, ging ich zu Mac. Ich rief sie an, um ihr zu sagen, ich wolle vorbeikommen. Es war ein Samstagmorgen, Iris saß im Supermarkt an der Kasse, Prok hielt seinen Biologiestudenten Vorträge über Gameten und Zygoten oder das Sexleben der Fruchtfliegen oder was weiß ich, Nesträuber, parasitische Wespen, Kuhstare oder Kuckucks. Mac erwartete mich in ihren Wandershorts und einem leichten Pullover an der Tür. »Ich dachte, du möchtest vielleicht einen Spaziergang machen«, sagte sie und sah mir forschend in die Augen.

Ich sagte nichts, sondern nickte nur, und wir gingen mit leeren Händen die Straße hinunter und zwischen den vertrauten Feldern hindurch zum Wald. Der Frühling in Südindiana war in vollem Gange: Die feuchten schwarzen Furchen boten sich der Sonne dar, auf den Waldlichtungen blühten die Wildblumen, unter den Bäumen roch es nach Schlamm und Gärung, und überall waren Vögel. Und Mücken. Wir schlugen im Gehen nach ihnen und wichen dem einen Schwarm aus, nur um in einen anderen zu geraten. Die Sonne wärmte, doch im Schatten war es kühl, beinahe kalt. Mac gab sich, das muß ich ihr lassen, große Mühe, ein Gespräch in Gang zu halten – wenn Prok es wußte, dann wußte sie es ebenfalls. Wie Corcoran versuchte sie, die Situation zu entschärfen: alles in Ordnung, alles normal, die Erforschung des Sex und seine freie und ungehinderte Ausübung waren unauflöslich miteinander verbunden, und gab es vielleicht irgendeinen Grund zu Beschwerden? Auf einer Lichtung beschien die Sonne einen verwitterten Felsen, und wir machten es uns auf ihm gemütlich.

Lange Zeit saß ich einfach da, an den Felsen gelehnt, und ließ Mac reden. Sie sagte nicht viel, jedenfalls nicht viel Substantielles, und ich wußte, was sie tat (»Ist das nicht ein Hüttensänger, da drüben, auf dem Zweig über dem Baumstumpf, siehst du? Sie werden immer seltener, seit die Stare sich ausgebreitet haben. Ach, ist dieser Waldgeruch nicht herrlich, besonders um diese Jahreszeit? Ich kann gar nicht genug davon kriegen. Als ich noch ein Mädchen war, acht oder neun – hab ich dir das je erzählt?«), aber es war mir egal, es war ein Schmerzmittel in Form von Konversation, und ich ließ es über mich hinwegziehen. Dankbar. Ich weiß nicht, wie lange das so ging – zehn Minuten, zwanzig –, doch nach einer Weile verstummte sie. Ich schloß die Augen und ließ die Sonne mein Gesicht erforschen. Ich wollte mit Mac schlafen, das war der Grund, warum wir hier waren, aber ich hatte es nicht eilig. Oder vielleicht machte ich mir auch nur etwas vor, vielleicht wollte ich gar nicht mit ihr schlafen.

Ihre Stimme schien aus dem Nirgendwo zu kommen, aus irgendeinem Winkel in meinem Kopf, und meine blaugeäderten Lider, hinter denen schwebende Körper pulsierend dahintrieben, klappten auf. »John«, sagte sie, »hör zu, ich weiß, wie du dich fühlst. Ich weiß es wirklich. Aber du darfst dich dem nicht hingeben, denn diese Art zu denken – Eifersucht, Vorwürfe, es ist ganz gleich, wie du es nennst – ist falsch. Und zerstörerisch, John. Wirklich.«

Sie schloß ihre Hand um meine. Das Licht war grell und umflammte sie, als stünde sie am vorderen Rand einer Bühne. Ihre Pupillen waren zu Stecknadelköpfen geschrumpft, und neben ihren Augenwinkeln war ein Strahlenbündel von Falten, als wäre die Haut eingerissen oder mit einem scharfen Werkzeug bearbeitet worden. Sie war alt, sie wurde alt, und die sichtbaren Anzeichen und die plötzliche Erkenntnis bewirkten, daß sich etwas in mir verschob. »Für mich«, sagte sie und senkte die Stimme, »war es anfangs auch nicht leicht, das kann ich dir sagen. Du bist nicht der erste, mußt du wissen. Da war Ralph Voris – hat Prok ihn mal erwähnt?«

»Ja.«
»Und verschiedene Studenten. Kleine Affären. Sachen mit Frauen.« Ich sagte nichts. Vielleicht wurde ich rot, denn ich dachte an den Tag, an dem ich den Code geknackt und mir Proks Geschichte angesehen hatte. Und Macs.

»Prok hat einen starken Sexualtrieb, und wenn man so oft und so lange unterwegs ist... Du weißt das nicht. Das war lange vor deiner Zeit – es ist über zehn Jahre her. Er fuhr für drei Monate nach Mexiko, um Gallen zu sammeln. Mit drei gesunden jungen Männern – und er war selbst ein gesunder junger Mann. War ich verletzt? Habe ich mich beklagt? War ich wütend, weil er mich praktisch verlassen hatte? Bin ich heute noch wütend?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Du?«

Sie ließ meine Hand los, hob beide Arme, strich die Haare und dann die Bluse glatt und setzte sich auf dem trockenen Laub am Fuß des Felsens zurecht. »Nein«, sagte sie, »ich glaube nicht. Jetzt nicht mehr. Du mußt wissen«, sagte sie und rückte näher heran, so daß ich die Wärme ihrer Hüfte an meiner spürte, »ich liebe ihn, ich liebe ihn mehr als irgendeinen anderen Menschen, und das ist alles, worauf es ankommt.«

Ihre Worte hingen zwischen uns und mit ihnen Prok. Wir beide versuchten, ihn in den Augenblick einzupassen und gleichzeitig auszublenden. Dann beugte ich mich vor und küßte sie, und sie legte die Hände an meine Brust, schob sie unter mein Hemd und strich über die langen Muskeln an meinen Seiten. Wir atmeten gleichzeitig. Dann ließ sie mich los. »Und ich glaube an ihn«, sagte sie, »ich glaube an seine Arbeit und an alles, was er tut – und du ebenfalls. Das weiß ich.«

Als ich Iris an jenem Abend von der Arbeit abholen wollte, war sie nicht da. Ich war pünktlich, es war genau sechs Uhr. Darin war ich inzwischen ziemlich gut – ich hatte, zusammen mit vielen anderen Dingen, Proks Pünktlichkeit übernommen. Die Frau hinter der Theke sagte, Iris sei heute eine halbe Stunde früher gegangen, wegen irgendeines wichtigen Termins. »Vielleicht beim Arzt«, sagte sie nach einem Blick auf mein Gesicht. »Ja, ich glaube, sie hat was von Arzt gesagt.« Was machte es schon, daß es in ganz Indiana keinen Arzt gab, der am Samstag um sechs Uhr Sprechstunde hatte?

Ich ging nach Hause, um zu sehen, ob ich sie irgendwie verpaßt hatte, und brütete bis um sieben vor mich hin. Als die Kirchturmuhr zwei Blocks weiter die volle Stunde schlug, raffte ich mich auf und ging die zehn Blocks bis zum Büro, und diesmal benutzte ich meinen Schlüssel. Ich schaltete das Licht an, und die Schatten flohen in die Ecken. Es war sehr still. Ich blieb einen Augenblick in der Tür stehen, dann ging ich wie unter einem Zwang zu meinem Tisch und untersuchte ihn: Ich beugte mich hinunter und roch daran, ich roch an meinem eigenen Tisch, als könnte ich auf diese Weise irgendwelche Reste vaginaler Sekrete entdecken, als wäre ich ein Spürhund, ein engstirniger, verzweifelter gehörnter Idiot, der sich so sehr erniedrigte, daß er alle landläufigen Maßstäbe der Erniedrigung sprengte, und dann nahm ich mir Corcorans Schreibtisch vor, durchstöberte seine Sachen, sah in die Schubladen, suchte nach etwas, nach irgend etwas, das mir einen Hinweis darauf geben konnte, wer er wirklich war und was er wollte. Wie ich mich fühlte, als ich im beleuchteten Büro den Schreibtisch meines Kollegen durchsuchte, während sich draußen der Himmel über dem Campus verdunkelte und Pärchen Hand in Hand vorbeigingen, zum Tanzen, zum Kino, zum Abendessen? Am Boden zerstört. Ich war am Boden zerstört, doch das war noch nicht das Schlimmste: Es war, als hätte ich Iris irgendwie verraten, als wäre ich der Schuldige. Am stärksten aber war das Gefühl der Unzulänglichkeit – es schmerzt mich heute noch, wenn ich daran zurückdenke.

Unsere Forschungen zeigten, daß etwa sechsundzwanzig Prozent der Frauen und fünfzig Prozent der Männer außerehelichen Geschlechtsverkehr haben – ich selbst habe die Kurve »Kumulatives Vorkommen: Erfahrung im außerehelichen Koitus« auf Seite 320 des Bandes über das sexuelle Verhalten der Frau gezeichnet –, und daraus hatten wir, mit Proks Worten, folgenden Schluß gezogen: »Außerehelicher Koitus hatte für einige Beteiligte eine Anziehungskraft, und zwar wegen der Abwechslung, die ihnen neue und manchmal überlegene Partner brachte.« Genau. Und doch sollte es noch zehn Jahre dauern, bis der Band über das weibliche Sexualverhalten erschien – immerhin hatten wir ja gerade erst begonnen, Daten zu sammeln –, und daher war meine Einschätzung rein intuitiv. Ich war mit Mac zusammengewesen, ihr Geruch war noch an meinen Händen. Aber das war jetzt vollkommen unwichtig. Wichtig war nur Iris. Iris und Corcoran.

Ich ging wieder nach Hause. Es war acht, und sie war noch immer nicht da. Ich schenkte mir einen Drink ein und brütete weiter vor mich hin. Als sie um halb neun nicht aufgetaucht war und nicht einmal angerufen hatte, schrieb ich ein Gedicht oder vielmehr ein paar Zeilen eines Gedichts aus ihrer Anthologie ab, legte das Blatt auf ihr Kopfkissen und machte mich auf den weiten Weg zu Corcoran, um zu sehen, ob sein Wagen vor der Tür stand, ob Licht brannte, ob hinter den Fenstern Bewegung war, eine Silhouette oder so. Es war kalt geworden, und ich sah den Atem in Wolken aus meinem Mund strömen, als ich mit hochgezogenen Schultern dahinging. All meine Gefühle – Wut, Verzweiflung, Verachtung, Rachsucht – lagen ineinander verknäult in meinem Magen wie ein Haarball. Vor dem Haus, in dem Corcoran wohnte, stand kein gelbes Cabriolet, und alle Fenster waren dunkel. Ich blieb zwei Stunden oder länger dort stehen, dann drehte ich mich um und ging besiegt nach Hause.

Muß ich eigens erwähnen, daß Iris nicht da war? Das Gedicht lag unberührt dort, wo ich es hingelegt hatte, und soviel ich weiß, blieb es auch da, die ganze Nacht und den nächsten Morgen. Ich habe keine Ahnung, wann sie in jener Nacht nach Hause kam oder ob sie überhaupt nach Hause kam, denn ich packte ein paar Sachen – Wäsche, Waschzeug, eine Decke – in einen Koffer und schleppte mich wieder ins Büro, um dort auf dem Boden zu schlafen, während das sonst menschenleere Gebäude, eines der ältesten auf dem Campus, ächzend und seufzend einen Zustand offenbarte, der mich unwillkürlich an den meinen erinnerte. Ich war noch keine vierundzwanzig, und doch war mein Leben bereits vorüber. Ich sagte mir, daß ich in den Krieg hätte ziehen sollen, um zu töten und getötet zu werden, denn alles war besser als das hier.

Das Gedicht war übrigens von Hardy, gallenbitter und grimmig wie kaum ein anderes. Heute erscheinen mir die darin ausgedrückten Gefühle und die große Geste ein bißchen halbgar, doch damals traf es genau das, was ich empfand. Es heißt »Neutrale Töne«, und der Sprecher blickt zurück auf einen trostlosen Tag, an dem am Ufer eines zugefrorenen Teichs das Lächeln auf den Lippen seiner Geliebten erstarb. Ich hatte die letzten vier Zeilen abgeschrieben:

Daß Liebe f ußt aufFalsch, daß sie der Falschheit Raub, Das hat seither Dein Antlitz mir entstellt Wie auch den Baum, die gottverlass’ne Welt Und einen Teich, umringt von fahlem, grauem Laub.

Ich verbrachte zwei Nächte im Büro und ging tagsüber nicht mal in die Nähe unserer Wohnung. Wenn Iris mich leiden lassen wollte – ich konnte sie auch leiden lassen. Sollte sie doch im eigenen Saft schmoren, dachte ich, sollte sie doch schmoren, bis ihr so übel war wie mir. Aber wo war Corcoran? Am ersten Morgen erwartete ich ihn mit trockener Kehle und einem Pochen in den Schläfen, das durch wiederholte Hormonausschüttung ausgelöst war, doch es wurde acht, es wurde zehn nach acht, und schließlich fragte ich Prok so beiläufig wie möglich: Wo isteigentlich Corcoran? Prok sah kaum auf. Er habe ganz vergessen, mir zu sagen, daß er meinem Kollegen zwei Tage freigegeben habe, damit dieser sich um eine private Angelegenheit kümmern könne. Mehr erfuhr ich nicht, und für den ganzen Rest des Tages blieb Prok in seine Arbeit versunken. Es gab keine Unterhaltungen, keine scherzhaften Bemerkungen, und die einzige Abwechslung von der täglichen Routine kam, als wir mit zwei jungen Frauen, die sich um eine Stelle als Vollzeitsekretärin bewarben, Einstellungsgespräche führten und sie anschließend einzeln nach ihrer Sexualgeschichte befragten.

Als ich am Ende des zweiten Tags noch immer nichts von Iris gehört hatte, ging ich zurück zu unserer Wohnung. Ich war vorsichtig, ich achtete auf Zeichen, ich näherte mich den Stufen der Vortreppe mit den langsamen, behutsamen Bewegungen eines Kundschafters, als wäre das Haus von abrückenden feindlichen Soldaten vermint worden. Das erste, was mir auffiel, war die Milch: Zwei Flaschen standen unberührt nebeneinander in der isolierten Kiste auf der Vorderveranda. Das Radio schwieg, es brannte kein Licht. Mir sank das Herz. Ich drehte den Schlüssel im Schloß und trat ein. Es roch nach nichts, wie in einer Grabkammer, wie in einem Raum, der leer war und vielleicht nie mehr bewohnt werden würde. Es war, als wären die Menschen, die hier gelebt hatten, dieses nette junge Paar, einfach verschwunden, als hätte man sie entführt, um ein Lösegeld zu erpressen, und als wüßte man nicht, ob das Geld je aufgebracht werden könnte.

Iris’ Kleider waren noch da, im Schrank, auch ihre Bürsten und Cremes, ihr Shampoo – es war alles da. Es dauerte etwa fünfzehn Minuten, während deren ich in einer Art stumpfer Verzweiflung herumstöberte, bis ich merkte, daß das Gedicht verschwunden und durch ein anderes ersetzt worden war (ich weiß bis heute nicht, woher sie es hatte):

Nie wieder werde ich dir sagen, was ich denke, Ich werde lieb und listig sein, sanft und verschlagen... Und eines Tages, wenn du klopfst und eintrittst, Eines schönenTages, nicht zu warm und nicht zu kalt, Werde ich fort sein, und du kannst pfeifen, wie du willst.

Ich bekam keine Luft. Ich mußte mir einen Drink einschenken und mich in den Sessel sinken lassen, denn ich war mit einem Mal so schwach, daß meine Beine mich nicht mehr trugen. Fort?Werde ich

fort sein? Was sollte das heißen? Ich konnte es nicht ergründen – meinte sie damit, daß sie mich verlassen würde, daß sie mich nicht mehr wollte, daß Corcoran innerhalb von ... von einer Woche meinen Platz eingenommen und alles ausgelöscht hatte, was zwischen uns gewesen war? Schön? Nein, es war nicht schön, es war verrückt! Ich liebte sie, sie liebte mich. Wie konnte sich das jemals ändern?

Wenn ich dachte, dies sei der Tiefpunkt – der Austausch bitterer Gedichte, Krieg ohne Feindberührung, der Drink, der Sessel, die leere Wohnung –, so hatte ich mich getäuscht. Denn während ich dort saß, in einer Hand das Glas, in der anderen das Blatt Papier mit Iris’ Handschrift (auch daran hatte ich gerochen, ich hatte es an die Nase gehalten und tief eingeatmet, in der Hoffnung, einen Hauch von ihrem Geruch zu erhaschen), hörte ich ihre Schritte auf der Treppe und ihren Schlüssel im Schloß, und im nächsten Augenblick mußte ich ihr ins Gesicht sehen und mir anhören, daß sie sich verliebt hatte.

Da war sie, mit gerötetem Gesicht und zerzaustem Haar, und ihre Kleider sahen aus, als hätte sie darin geschlafen (und das hatte sie ja auch, oder vielmehr nein, das hatte sie eben nicht, aber daran wollte ich jetzt nicht denken). Sie trat ein, warf Handtasche und Mantel auf einen Stuhl und sagte, es tue ihr leid, aber so sei es nun mal: Sie habe sich verliebt.

Ich werde nicht wütend. Ich unterdrücke meine Wut, ich trinke sie wie Angostura Bitter, verdaue sie, schiebe sie durch meine Gedärme und scheiße sie aus. Das hat meine Mutter mich gelehrt. Tu, was ich dir sage. Benimm dich. Lebe für mich. »Wir sind noch nicht mal ein Jahr verheiratet«, sagte ich.

Sie war zu aufgeregt, sie konnte sich nicht setzen und ging auf und ab, während ich mich an den Sessel klammerte, als wäre das Schiff untergegangen und er das einzige Wrackteil, das mir geblieben war. »Das ist mir egal«, sagte sie. »Es tut mir leid, und ich will dir nicht weh tun – ich werde dich immer lieben, und du warst meine erste Liebe, das weißt du ja –, aber ich habe etwas gefunden, was größer ist als das, und ich kann es nicht ändern. Ich kann nicht.«

»Er ist verheiratet«, sagte ich, und meine Stimme war flach und tonlos. Der Wasserhahn tropfte, ein donnernder Tropfen nach dem anderen fiel auf das fettige Porzellan der Teller, Tassen und Untertassen in der Spüle. »Er liebt dich nicht. Für ihn ist es nur Sex – das hat er mir gesagt. Es ist nur Sex, Iris. Er ist Sexforscher.«

Die ganze Intensität in ihrem Gesicht zog sich zu dem erstarrten Öhr ihres Mundes zusammen, und für eine Sekunde dachte ich, sie würde mir ins Gesicht spucken. »So nennst du das – Forschung?« Sie bebte, die Ekstase des Augenblicks ließ ihr Gesicht leuchten, und ihre Augen blickten klar und hart. »Tja, und wennschon, ich liebe ihn, und alles andere ist egal. Auch ich kann forschen, das wirst du sehen. Du wirst schon sehen.«

Früh am nächsten Morgen, als Prok noch oben im Badezimmer war und seine Zähne putzte und Mac mit Schneebesen, Rührschüssel und einem Becher Kaffee in der Küche stand, ging ich zu dem Haus in der First Street und klopfte an die Tür, bis eines der Kinder mich einließ. Ich weiß nicht mehr, welches es war, möglicherweise Bruce, der Jüngste, der damals dreizehn oder vierzehn war, aber die Tür schwang auf, das jugendliche Gesicht nahm meine Anwesenheit zur Kenntnis und verschwand, so daß ich allein und unangemeldet im Vorraum stand. Hinter mir war die Tür zur Straße weit geöffnet. Zwei Jahre zuvor wäre mir eine solche Situation unendlich peinlich gewesen, doch jetzt empfand ich, während die Geräusche des Hauses mich umrieselten – drei Kinder, die sich für die Schule fertigmachten, und aus dem ersten Stock das Klatschen von Proks Streichriemen –, nichts als Erleichterung. Ich war eingehüllt von Normalität, vom regelmäßigen Wummern der Schritte über mir und dem Murmeln der beiden Mädchen, die sich über den Flur hinweg unterhielten. Ich blieb einen Augenblick stehen und schloß leise die Tür. Es roch nach Kaffee, Butter und heißem Fett, und ich folgte dem Geruch zur Küche und versuchte, das heftige Pochen in meiner Brust zu dämpfen. Mac stand mit dem Rücken zu mir am Herd und schlug Eier in einer Schüssel. Sie trug Hauskleid und Schürze, sie war barfuß und ungekämmt, und als ich ihren Namen sagte, zuckte sie zusammen.

Verwundert drehte sie sich zu mir um. »John?« sagte sie, als könnte sie sich nicht genau erinnern, wer ich war. »Was machst du denn hier, um diese Uhrzeit? Wollt ihr irgendwohin, Prok und du? Ich dachte, ihr fahrt erst nächste Woche wieder nach Indianapolis.«

»Nein«, sagte ich und suchte nach den richtigen Worten. »Ich wollte nur, äh ... Ich muß mit Prok reden. Ist er da? Es ist wirklich dringend.«
Ihr Blick war bestürzt. Sie spürte Gefahr und großen Kummer, und ich war völlig fertig, das sah sie sofort. »Hast du schon was gegessen?« fragte sie unvermittelt. »Ich kann ein paar Eier mehr machen. Und Toast – willst du Toast?«
»Ist er oben?«
Vielleicht nickte sie, vielleicht sagte sie auch: »Geh nur rauf«, auf jeden Fall war die Erlaubnis nur eine Formsache, denn ich gehörte dazu, ich war ein Teil dieses Haushalts, dieser Familie, und im nächsten Augenblick sprang ich die Treppe hinauf, wo mir Joan und An-ne, die beiden Mädchen, entgegenkamen, fertig angezogen für die Schule. Vermutlich warfen sie mir einen fragenden Blick zu, möglicherweise kicherten sie auch (sie waren vielleicht siebzehn und sechzehn), aber im Grunde war es etwas ganz Normales: Ich ging die Treppe hinauf, wie ich es schon zuvor getan hatte, John Milk, der gutaussehende junge Mann mit dem widerspenstigen Haar, Daddys Freund, Daddys Assistent, sein Kollege und Reisebegleiter. Ich fand Prok im Badezimmer, er stand vor dem Spiegel und rasierte sich. Die Tür war offen. Er trug Unterwäsche und hatte gerade den letzten Rest Rasierschaum vom Kinn geschabt, als er mich in der Tür bemerkte. »Prok«, sagte ich, »ich hoffe, du ... Ich wußte nicht, mit wem ich reden sollte.«
Ich konnte nichts essen, ich war viel zu aufgewühlt, doch beide, sowohl Prok als auch Mac, bestanden darauf, daß ich Platz nahm, und Mac setzte mir Rührei und Toast vor. Während des ganzen Frühstücks musterte Prok mich mit dem forschenden Blick, den er manchmal hatte, als wollte er mich für eine physiologische Studie über die verschiedenen Reaktionen des Körpers auf Belastung in meine Bestandteile zerlegen, doch was er sagte, galt ausschließlich dem Projekt. »Die Kinder waren wirklich großartig, nicht, Milk? Du hättest sie sehen sollen, Mac: mit vier, fünf Jahren bereits ganz eingebettet in ihre Geschlechterrolle, und mit sieben oder acht hatten etliche von ihnen schon die Geschlechtsorgane des anderen Geschlechts gesehen. Und ein Mädchen war da – erinnerst du dich, Milk? Die Kleine mit den Zöpfen? Sie hatte ihre Eltern nackt gesehen, beide, und zwar regelmäßig.« Als wir fertig waren – ich hatte kaum etwas angerührt –, erhob er sich dynamisch wie immer, zog vor dem Spiegel in der Eingangshalle die Fliege zurecht und sagte, wenn wir pünktlich mit der Arbeit beginnen wollten, müßten wir uns beeilen.
Kaum waren wir aus dem Haus, da fragte er mich, was los sei.
»Es geht um Iris«, sagte ich und mühte mich, mit ihm Schritt zu halten, als wir durch das Gartentor auf die Straße traten. Es fiel mir schwer, die Worte herauszubringen, sie stießen in meinem Kopf zusammen, ebenso wie die Gefühle, die mich auf eine untergründige, drüsengesteuerte Weise im Griff hatten. Prok warf mir einen ungeduldigen Blick zu. »Sie sagt, sie hat sich in Corcoran verliebt und daß« – hier ging ich innerlich in die Knie –, »daß sie zu ihm ziehen will, daß sie mit ihm leben will. Daß sie ...«
Er hielt den Kopf gesenkt, hatte die Schultern hochgezogen und war bereits in seinen energischen Schritt verfallen: Er hatte keine Zeit, und es war reine Zeitverschwendung, auf der Straße herumzustehen und zu plaudern, wenn die Arbeit rief. Er sagte nur: »Das geht nicht.«
Nein, dachte ich, nein, natürlich geht das nicht.
»Aber du warst einverstanden«, sagte ich, »das ist jedenfalls das, was Corcoran mir erzählt hat. Du hast ihm deinen Segen gegeben. Für diese ganze Sache, meine ich.«
Der Seitenblick über die hochgezogene Schulter, mit dem er mich bedachte, war nicht im mindesten mitfühlend. Es war der wilde, gereizte Blick, den er hatte, wenn man ihn herausforderte, wenn die Rices oder Hoenigs dieser Welt aufstanden, um ihn zu kritisieren, sei es aus methodologischen oder aus moralischen Gründen. »Wir sind allesamt erwachsen, Milk«, sagte er kurz angebunden. »Wir sind erwachsen und handeln aus freien Stücken. Niemand braucht meine Erlaubnis für irgend etwas.«
Ich lief jetzt neben ihm, und ich war noch nie so nahe daran gewesen, die Beherrschung zu verlieren: Mir lagen Anschuldigungen auf der Zunge, das weiß ich, und ich wollte ihm seine eigenen Worte ins Gesicht schleudern, doch was ich herausbrachte, war nur ein weiterer Beweis meiner Unzulänglichkeit, ein gequältes Jammern wie das eines Kindes. »Es frißt mich auf«, sagte ich, und obwohl ich mich immer fit hielt, hatte ich das Gefühl, als bekäme ich nicht genug Luft. Meine Beine pumpten automatisch, einatmen, ausatmen. »Ich liebe sie. Ich will sie zurückhaben.«
Wir gingen schweigend weiter, und ich kann Ihnen nicht sagen, ob die Sonne schien und die Eichhörnchen an den Bäumen emporkletterten oder ob ein Sturm tobte, denn ich war am kritischen Punkt angelangt, und nichts in der Welt der Erscheinungen konnte mich noch interessieren, es war alles nur ein Hintergrund für die Szene, die ich spielte: der verzweifelte Liebende, der gehörnte Ehemann, der Dummkopf im Narrengewand. »Sie will zu ihm ziehen, sagst du?« fragte Prok und sah mich mit diesem zupackenden Blick an.
Ich nickte. Wir gingen so schnell, daß ich beinahe traben mußte. »Die letzten drei Nächte hat sie bei ihm verbracht, und sie ... sie ist gestern nacht nur nach Hause gekommen, um ein paar Sachen zu holen, und sie hat gesagt« – es war lächerlich, es zu wiederholen, aber ich konnte nicht an mich halten –, »daß sie auch forschen will.«
Mit einem Mal standen wir still, mitten auf dem Bürgersteig. Ein Hand in Hand spazierendes Studentenpärchen ließ einander los, um rechts und links von uns vorbeizugehen, die Bäume über uns schwankten, und bis auf Proks Gesicht, seiner Brille, seinen Augen schien alles ringsumher in verschwommener Bewegung vorüberzurauschen. »Forschen?« sagte er. »Aber das ist absurd. Es ist falsch. Und das weißt du, John, besser als jeder andere. Habe ich nicht immer wieder betont, wie sehr unsere Arbeit von ihrer Wahrnehmung in der Öffentlichkeit abhängt?«
»Natürlich. Das hab ich ihr ja auch gesagt.«
Er reckte das Kinn. Der Wind, sofern es einen gab, ließ vielleicht die steife Welle seines Haars erzittern. »Wir können es uns nicht leisten, ihnen Munition zu liefern.«
»Nein, natürlich nicht.« Ich wollte den Blick abwenden. In meinen Augen war etwas Flüssiges – Tränen, meine ich –, und ich wollte mich nicht bloßstellen.
»Du und Mac, zum Beispiel – wohltuend für beide Seiten, wie ich es immer gesagt habe. Ein Geben und Nehmen von Freude und Lust. So sollte es sein. Wir müssen unsere Hemmungen überwinden und uns selbst so vollständig wie möglich ausdrücken. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Aber es muß streng vertraulich bleiben, und jeder von uns – nicht nur die Männer, sondern auch ihre Frauen – muß sich darüber im klaren sein, daß wir hier ein Teil von etwas viel, viel Größerem sind. Und daß wir unter Beobachtung stehen, daß man uns durch ein Mikroskop beobachtet, John. Das weißt du doch, oder?« Er hielt inne. Wir standen noch immer wie angewurzelt da, und Prok machte eine Bewegung, als wollte er den Weg fortsetzen, verharrte jedoch abermals. »Hat irgend jemand sie mit ihm gesehen? Hat jemand gesehen, wie sie in seine Wohnung gegangen ist?«
»Das weiß ich nicht«, sagte ich unglücklich. Ich betrachtete das Muster der Platten auf dem Bürgersteig. Ich konnte Prok nicht in die Augen sehen. »Aber ich glaube nicht, daß sich so was in einer Stadt, die so klein ist wie die hier ... Jedenfalls nicht für lange.«
Prok fluchte nicht. Er gebrauchte keine Kraftausdrücke und erzählte keine schmutzigen Witze – auch wenn er in späteren Jahren damit bombardiert wurde –, doch in diesem Augenblick, als wir dort auf der Straße standen, kam er dem Fluchen sehr nahe. Er spuckte etwas aus, irgendeinen lateinischen Ausdruck, und dann gingen wir weiter, und er murmelte etwas über Corcoran und machte sich Vorwürfe, daß er die Situation »nicht absolut klar dargelegt« habe, »so klar, daß jeder Idiot diese Wahrheit und die Notwendigkeit zur Diskretion versteht«. Wir überquerten die Atwater Street, dann die Third Street, bogen in den Fußweg ein und gingen auf die aufragenden Universitätsgebäude zu. »Tut mir leid, John«, sagte er und durchbohrte mich mit einem Blick, als wäre ich derjenige, der seine Forschungsarbeit in Gefahr brachte, »aber das geht einfach nicht.«

Obwohl ihre Töchter noch keine Ferien hatten und daher eineinhalb Monate Unterricht versäumen würden, kam Violet Corcoran zwei Wochen später aus South Bend nach Bloomington und zog in die beengte Wohnung ihres Mannes in der College Avenue. Sogleich nahm sie die Dinge in die Hand: Sie eröffnete ein Konto beim Lebensmittelhändler, stellte einen Privatlehrer ein und setzte Lloyd Wheeler, den besten Makler der Stadt, auf ein passendes Haus an, mit einem Garten für die Mädchen, einer Garage für den Cadillac und schattenspendenden Bäumen, die die Sommerhitze linderten. Prok hatte mit Corcoran gesprochen – an jenem Morgen war er die Treppe im Institut für Biologie hinaufgegangen und energischen Schritts in das hintere Bürozimmer gestürmt, und dann hatte er sich Corcoran vorgeknöpft. Und fünf Minuten später hatte Corcoran mit Iris gesprochen, hatte sie in seiner Wohnung angerufen. Die ganze Zeit saß ich an meinem Schreibtisch und trank Kaffee, als wollte ich damit mein Blut ersetzen.

Wenn ich heute an die ganze Sache denke, muß ich Iris’ Unreife die Schuld geben. Sie war erst zwanzig, als wir heirateten, und hatte, wie gesagt, keine anderen Erfahrungen mit Männern gemacht. Vielleicht war das ungerecht, ja, ganz sicher war es das, insbesondere angesichts des Projekts, an dem wir alle arbeiteten, und der außerehelichen Beziehungen, die ich gehabt hatte. Sie war nicht imstande einzuschätzen, was sie tat, ihre Gefühle im Zaum zu halten und Prioritäten zu setzen – sie war verknallt, das war alles, so verknallt wie viele der jungen Mädchen, die wir über ihre ersten Verliebtheiten befragten. Vor allem aber war sie dickköpfig. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie schwer wieder davon abzubringen, und als sie eine Stunde später blaß und mit geröteten, verweinten Augen ins Büro trat, war ich nicht überrascht, sondern sank innerlich in mich zusammen. Prok stand gerade neben mir und verglich eine seiner Tabellen mit einer von meinen, und Corcoran, von dessen Gesicht das selbstzufriedene Lächeln endlich einmal verschwunden war, saß über seinen Tisch gebeugt im hinteren Zimmer. »Das können Sie nicht machen«, sagte sie.

Ich war im Nu auf den Beinen, noch bevor ich merkte, daß sie gar nicht zu mir gesprochen hatte. Corcoran drehte sich auf seinem Stuhl um, seine Augen lagen tief in den Höhlen. Er trug seine zweifarbigen Schuhe, das weiß ich noch, und begann eine Fußspitze auf dem Boden hin und her zu drehen, als träte er eine Zigarette aus. Prok legte mir eine Hand auf die Schulter, und ich spürte, daß eine Welle von Scham über mir zusammenschlug.

Iris rührte sich nicht. »Ich bin nicht Ihr Eigentum – und John und Purvis auch nicht.«
»Bring deine Frau bitte hinaus, Milk«, sagte Prok. »Bring sie nach Hause.«
»Nein«, sagte sie mit erhobener Stimme. »Nicht bevor Sie mir gesagt haben, wer Sie zu Gott gemacht hat.«
»Corcoran«, rief Prok über die Schulter, »würden Sie bitte mal kommen?«, und wir sahen zu, wie Corcoran sich erhob und mit steifen Schritten zu uns kam. Er stellte sich mit unsicherem Gesicht neben uns. Iris stand noch immer in der Tür.
»Also, Corcoran«, sagte Prok. Ich war nicht zu meiner Frau gegangen, ich hatte sie nicht berührt. Wir standen da wie drei Abwehrspieler, die den Ball erwarteten. »Sagen Sie mir bitte, ob Sie Mrs. Milk die Situation erklärt haben.«
Corcoran beugte den Kopf. »Ja, das habe ich«, sagte er.
»Entschuldigung, ich habe Sie nicht verstanden.«
Corcoran sah erst Iris und dann mich an. »Ja, das habe ich«, wiederholte er.
»Gut«, sagte Prok, »sehr gut. Wenn das so ist« – er trat auf Iris zu, nahm ihren Arm und führte sie in das hintere Zimmer –, »dann würde ich gern unter vier Augen mit Ihnen sprechen, Iris.«
Die Tür schloß sich, und ich setzte meine Arbeit fort.