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Maigrets Sonntag
M
adame Maigret war etwas verwundert gewesen, als ihr Mann am Samstagnachmittag gegen drei Uhr angerufen hatte, um zu wissen, ob sie das Abendessen schon vorbereitet habe.
»Noch nicht. Warum? … Waaas sagst du? Aber natürlich, mit Vergnügen! Wenn du sicher bist, daß du dich frei machen kannst. Ganz, ganz sicher? Also gut. Ich ziehe mich gleich an. Ich werde dort sein. Neben der Uhr, ja. Nein, kein Sauerkraut für mich, aber ich hätte Lust auf einen Lothringer Topf. Was? … Soll das ein Spaß sein? Ist das dein Ernst, Maigret? Wo ich will? Das ist ja zu schon, um wahr zu sein. Was wetten wir, daß du in einer Stunde wieder anrufst und sagst, du kommst weder zum Essen noch zum Schlafen nach Hause. Nun ja! Ich ziehe mich trotzdem an.«
So kam es, daß es an diesem Samstag in der Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir nicht nach Essen, sondern nach Bad, Kölnischwasser und Parfüm roch, dem etwas süßlichen Parfüm, das Madame Maigret nur für ganz große Anlässe benutzte.
Maigret war da, sogar fast pünktlich, jedenfalls keine fünf Minuten nach der verabredeten Zeit, im Elsässer Restaurant an der Rue d’Enghien, wo sie bisweilen zu Abend aßen. Entspannt und mit seinen Gedanken beim Essen wie jeder andere, hatte er sein Sauerkraut verzehrt; es war so, wie er es liebte.
»Nun, in welches Kino möchtest du?«
Das war es, was Madame Maigret am Telefon kaum fassen konnte. Er hatte ihr vorgeschlagen, in ein Kino zu gehen, das sie sich aussuchen durfte.
Sie gingen ins Paramount am Boulevard des Italiens. Der Kommissar reihte sich ohne Murren in die Warteschlange ein und klopfte im Vorbeigehen seine Pfeife über einem der riesigen Spucknäpfe aus.
Sie hörten Musik und sahen das Orchester auf einer Bühne in die Höhe schweben, während sich ein Vorhang in einen künstlichen Sonnenuntergang verwandelte. Erst nach dem Trickfilm ging Madame Maigret ein Licht auf, als auch die Programmvorschau und zwei kurze Reklamestreifen über eine Süßspeise und über Möbel auf Raten vorbeigeflimmert waren.
Das Polizeipräsidium teilt mit …
Es war das erste Mal, daß sie so etwas auf der Filmleinwand las. Unmittelbar danach erschien ein Steckbrieffoto, erst von vorn, dann vom Profil, Alfred Moss in Großaufnahme. Es folgte eine Aufzählung seiner verschiedenen Identitäten.
Personen, die diesen Mann irgendwann im Lauf der letzten zwei Monate gesehen haben, sind gebeten, sich sofort telefonisch zu melden bei …
»Also deshalb!« sagte sie draußen auf der Straße, als sie sich anschickten, ein Stück weit zu Fuß zu gehen, um vor dem Schlafen noch ein wenig frische Luft zu schöpfen.
»Nicht nur deshalb. Es war übrigens auch nicht meine Idee. Man hat sie dem Polizeipräsidenten schon vor längerer Zeit unterbreitet, aber bis heute hat sich nie eine Gelegenheit ergeben, sie zu verwirklichen. Moers hatte nämlich festgestellt, daß die Bilder in den Zeitungen wegen ihres groben Rasters immer unscharf und etwas verzerrt sind, während eine auf die Leinwand projizierte Fotografie sogar noch besser wirkt als das Original, weil dann die kleinsten Merkmale vergrößert werden.«
»Nun, was immer der Grund, ich bin jedenfalls auf meine Rechnung gekommen. Wie lange ist es her, seitdem wir das letzte Mal zusammen im Kino waren?«
»Drei Wochen?« fragte er ernst.
»Genau zweieinhalb Monate!«
Danach hatten sie sich noch ein bißchen gezankt, nur so zum Spaß. Und weil am nächsten Morgen die Sonne wieder hell und frühlingshaft schien, hatte Maigret in der Badewanne gesungen. Er hatte den ganzen Weg bis zum Quai zu Fuß zurückgelegt, durch Straßen, die beinahe verlassen dalagen, und es wie immer als eine Wohltat empfunden, an den offenen Türen und leeren Büros vorbei durch die weiten Korridore der Kriminalpolizei zu stapfen.
Lucas war eben eingetroffen. Auch Torrence war da, und Janvier; kurz darauf erschien auch der kleine Lapointe. Aber weil es Sonntag war, benahmen sich alle, als arbeiteten sie nur zum Zeitvertreib. Und vielleicht auch weil es Sonntag war, ließen sie die Türen zwischen ihren Büros offen. Für musikalische Begleitung sorgten die nahen Kirchenglocken, die von Zeit zu Zeit zu läuten begannen.
Lapointe hatte als einziger eine Neuigkeit mitgebracht. Tags zuvor hatte Maigret ihn nach Büroschluß gefragt:
»Ach ja, wo wohnt übrigens der junge Reporter, der deiner Schwester den Hof macht?«
»Damit ist es vorbei. Sie meinen Antoine Bizard.«
»Haben sie sich zerstritten?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht hat er Angst vor mir.«
»Ich brauche seine Adresse.«
»Die kenne ich nicht. Ich weiß nur, wo er für gewöhnlich seine Mahlzeiten einnimmt, und meine Schwester weiß vermutlich auch nicht viel mehr. Ich werde mich bei der Zeitung erkundigen.«
Jetzt reichte er Maigret einen Zettel mit Bizards Adresse. Er wohnte an der Rue de Provence, im gleichen Haus wie Philippe Liotard.
»Sehr gut, mein Junge. Merci«, sagte der Kommissar. Nichts weiter.
Wäre es ein bißchen wärmer gewesen, so hätte er den Rock ausgezogen und die Hemdsärmel aufgerollt wie ein Sonntagsbastler, denn genau nach Basteln war ihm jetzt zumute. Alle seine Pfeifen lagen säuberlich ausgerichtet auf seinem Schreibtisch. Seiner Tasche hatte er das dicke schwarze Notizbuch entnommen, das er ständig vollkritzelte und dann doch so selten benutzte.
Ein paarmal schon hatte er große Papierbogen zerknüllt und weggeworfen, Blätter, auf die er mit Bleistift Kolonnen zeichnete und dann wieder änderte. Allmählich hatte sein Werk Gestalt angenommen.
Donnerstag, 15. Februar – Gräfin Panetti, begleitet von ihrer Zofe Gloria Lotti, verläßt das Claridge im schokoladebraunen Chrysler ihres Schwiegersohns Krynker.
Dieses Datum war vom Tagesconcierge bestätigt worden. Die Auskunft über das Auto stammte von einem Angestellten der Hotelgarage; er hatte auch den Zeitpunkt der Abreise gewußt. Sieben Uhr abends. Er hatte hinzugefügt, die alte Dame habe einen besorgten Eindruck gemacht, und ihr Schwiegersohn habe sie zur Eile angetrieben, als ob sie im Begriff gewesen seien, einen Zug oder eine wichtige Verabredung zu verpassen.
Von der Gräfin nach wie vor keine Spur. Vorsichtshalber erkundigte er sich bei Lucas, der in seinem Büro immer noch Meldungen aus aller Welt entgegennahm.
Am vergangenen Abend hatten die italienischen Journalisten nur wenig Neues von der Kriminalpolizei erfahren; dagegen hatten sie einige Hinweise geliefert. Sie kannten die Gräfin Panetti. Die Heirat ihrer einzigen Tochter, Bella, hatte seinerzeit in Italien viel Staub aufgewirbelt, denn da die Mutter ihr Einverständnis verweigerte, war die junge Dame von zu Hause weggelaufen, um sich in Monte Carlo trauen zu lassen.
Das war vor fünf Jahren gewesen, doch seither verkehrten die beiden Frauen nicht mehr miteinander.
»Wenn Krynker in Paris war«, erklärten die Journalisten, »dann hat er wahrscheinlich noch einmal einen Annäherungsversuch gemacht.«
Freitag, 16. Februar – Gloria Lotti, im weißen Hut der Gräfin, fährt nach Concarneau, gibt dort ein Telegramm an Fernande Steuvels auf, besteigt noch in der gleichen Nacht wieder den Zug nach Paris, ohne sich mit jemandem getroffen zu haben.
Maigret leistete sich den Spaß, am Rand einen Damenhut mit einem kleinen Schleier zu zeichnen.
Samstag, 17. Februar – Gegen Mittag verläßt Fernande die Wohnung an der Rue de Turenne und fährt nach Concarneau. Ihr Mann begleitet sie nicht zum Bahnhof. Um vier Uhr kommt ein Kunde, um eine bestellte Arbeit abzuholen. Er trifft Frans Steuvels im Atelier an; er bemerkt nichts Ungewöhnliches. Nach dem Koffer befragt, erklärt der Kunde, er erinnere sich nicht, ihn gesehen zu haben.
Kurz nach acht Uhr abends lassen sich drei Personen, worunter Alfred Moss und vermutlich der Mann, der sich im Hotel an der Rue Lepic als Levine einträgt, per Taxi vom Bahnhof Saint-Lazare zur Ecke der Rue de Turenne-Rue des Francs-Bourgeois fahren.
Gegen neun Uhr hört die Concierge, wie bei Steuvels an die Tür geklopft wird. Sie glaubt, daß die drei Männer eingelassen worden sind.
Am Rand schrieb Maigret mit Rotstift: War Krynker der dritte Mann?
Sonntag, 18. Februar – Der Heizofen, der seit Tagen nicht mehr angezündet worden ist, brennt die ganze Nacht, und Frans Steuvels ist gezwungen, sich fünfmal in den Hof zu begeben, um die Asche in die Kehrichteimer zu leeren.
Mademoiselle Béguin, die Mieterin im vierten Stock, empfindet den Rauch als lästig; bei der Befragung erklärt sie, er habe so komisch gerochen.
Montag, 19. Februar – Der Ofen ist immer noch in Betrieb. Der Buchbinder ist den ganzen Tag allein in der Wohnung.
Dienstag, 20. Februar – Die KP erhält eine anonyme Mitteilung, wonach im Ofen des Buchbinders eine Leiche verbrannt worden ist. Fernande kehrt aus Concarneau zurück.
Mittwoch, 21. Februar – Besuch von Lapointe in der Rue de Turenne. Er sieht den Koffer, dessen Griff mittels einer Schnur geflickt worden ist, unter einem Tisch im Atelier stehen. Lapointe verläßt das Atelier gegen Mittag. Geht mit seiner Schwester essen und erzählt ihr von dem Fall. Frage: Trifft Mademoiselle Lapointe sich mit ihrem Geliebten, Antoine Bizard, der im gleichen Haus wohnt wie der unbekannte Winkeladvokat Liotard? Oder ruft sie Bizard an?
Im Lauf des Nachmittags, noch vor fünf Uhr, sucht der Anwalt Steuvels auf, angeblich um ein Exlibris in Auftrag zu geben.
Um fünf Uhr, da Lucas mit seiner Haussuchung beginnt, ist der Koffer verschwunden.
Verhör von Steuvels auf der KP. – Gegen Morgen bezeichnet er Maitre Liotard als seinen Verteidiger.
Maigret unternahm einen kleinen Rundgang, um einen Blick auf die Notizen zu werfen, die die Inspektoren sich am Telefon machten. Es war noch zu früh, um sich ein Bier heraufschicken zu lassen, daher begnügte er sich damit, eine neue Pfeife zu stopfen.
Donnerstag, 22. Februar.
Freitag, 23. Februar.
Samstag …
Eine ganze Kolonne von Daten, an denen sich nichts ereignet hatte, außer daß die Untersuchung nicht vom Fleck kam, daß die Zeitungen sich in Greuelmärchen ergingen, daß Liotard wie ein gereizter Hai über die Polizei im allgemeinen und Maigret im besonderen herfiel. Die Kolonne rechts blieb leer bis zum
Sonntag, 10. März – Ein gewisser Levine mietet ein Zimmer im Hotel Beauséjour, Rue Lepic, und quartiert sich dort mit einem etwa zweijährigen Jungen ein.
Gloria Lotti, die sich als Kindermädchen ausgibt, kümmert sich um den jungen. Während Levine schläft, führt sie ihn jeden Vormittag zur Place d’Anvers, wo er im Freien spielen kann.
Sie selbst schläft nicht im Hotel, sondern entfernt sich spät abends nach Levines Rückkehr.
Montag, 11. März – Ebenso.
Dienstag, 12. März – Halb zehn Uhr. Gloria und das Kind verlassen wie üblich das Hotel Beauséjour. Zehn Uhr fünf zehn: Moss erscheint im Hotel und fragt nach Levine. Dieser packt sogleich seine Koffer und bringt sie nach unten. Moss bleibt ’allein im Zimmer zurück.
Fünf vor elf: Gloria erblickt Levine und verläßt in aller File das Kind, das in der Obhut von Madame Maigret zurückbleibt.
Kurz nach elf betritt Gloria mit ihrem Begleiter das Beauséjour. Sie treffen sich mit Moss und diskutieren über eine Stunde lang in Levines Zimmer. Moss entfernt sich als erster. Um zwölf Uhr fünfundvierzig verlassen auch Gloria und Levine das Hotel, und Gloria steigt allein in ein Taxi.
Sie fährt am Square d’Anvers vorbei und nimmt das Kind wieder zu sich.
Sie läßt sich zur Porte de Neuilly fahren, gibt dann aber als Fahrtziel den Bahnhof Saint-Lazare an, will unvermittelt an der Place Saint-Augustin aussteigen, nimmt dort ein zweites Taxi.
Am Faubourg Montmartre, Ecke Grands-Boulevards, steigt sie mit dem Kind aus.
Dieses Blatt sah ungemein farbig aus, weil Maigret es mit Skizzen verziert hatte, die wie Kinderzeichnungen aussahen.
Auf einem neuen Bogen notierte er das Datum, an dem sich die Spur der verschiedenen Personen verflüchtigt hatte.
Gräfin Panetti – 15. Februar
Der Angestellte in der Claridge-Garage hatte sie als letzter gesehen, als sie um sieben Uhr abends in den schokoladebraunen Chrysler ihres Schwiegersohns stieg.
Krynker?
Maigret war unschlüssig, ob er das Datum des 17. Februar einsetzen sollte, denn nichts bewies, daß Krynker einer der drei Männer war, die das Taxi am Samstagabend in der Rue de Turenne abgesetzt hatte.
Wenn aber Krynker nicht der dritte Mann war, dann war er zum gleichen Zeitpunkt und ebenso spurlos verschwunden wie die alte Dame.
Alfred Moss – Dienstag, 12. März
Er hatte das Hotel Beauséjour gegen Mittag als erster verlassen.
Levine – Dienstag, 12. März
Eine Stunde später, nachdem er Gloria in ein Taxi gesetzt hatte.
Gloria und das Kind – gleiches Datum
Zwei Stunden später, in der Menschenmenge an der Montmartre-Kreuzung.
Heute war Sonntag, der 17. März. Seit dem 12. war nichts Neues mehr zu vermerken. Die Fahndung lief, das war alles.
Oder doch, da war noch ein Datum, das man festhalten mußte:
Freitag, 15. März – Ein Unbekannter versucht (?) in der Metro das für Frans Steuvels zubereitete Mittagessen zu vergiften.
Eine zweifelhafte Geschichte. Die Experten hatten keine Spur von Gift entdeckt. In dem Zustand nervöser Überreiztheit, in dem sich Fernande seit einiger Zeit befand, mochte sie die Ungeschicklichkeit eines Fahrgastes für eine verdächtige Handlung gehalten haben.
Auf keinen Fall war es Moss, der auf diese Weise wieder auftauchte, denn ihn hätte sie wiedererkannt.
Levine?
Und wenn es gar nicht Gift, sondern eine Nachricht war, die jemand in das Eßgeschirr schmuggeln wollte?
Ein Sonnenstrahl fiel auf Maigrets Gesicht, während er mit zusammengekniffenen Augen noch einige Figuren auf das Blatt Papier zeichnete. Dann trat er ans Fenster und beobachtete eine Prozession von Vergnügungsbooten, die, beladen mit sonntäglich herausgeputzten Familien, unten auf der Seine unter dem Pont Saint-Michel durchglitten.
Madame Maigret war bestimmt wieder ins Bett geschlüpft, wie sie es am Sonntag manchmal tat, nicht um weiterzuschlafen, sondern weil es zu ihrem Sonntagsgefühl gehörte.
»Janvier! Wie wär’s mit einem Bier?«
Janvier rief die Brasserie Dauphine an.
»Mit Schinkenbroten?« fragte der Wirt automatisch.
Ein diskretes Telefongespräch hatte Maigret bestätigt, daß auch der Richter Dossin an diesem Sonntagmorgen gewissenhaft in seinem Büro saß, wohl um die ganze Affäre in Ruhe zu überdenken, genau wie der Kommissar es tat.
»Hat man noch nichts vom Chrysler gehört?«
Maigret schmunzelte, wenn er an alle die braven Dorfpolizisten dachte, die an diesem schönen Sonntag, da es allenthalben nach Frühling roch, die Autos vor den Kirchen und Cafés kontrollierten und unermüdlich nach dem schokoladebraunen Chrysler Ausschau hielten.
»Darf ich mal sehen, Chef?« fragte Lucas, der zwischen zwei Ferngesprächen schnell bei Maigret hereinschaute.
Interessiert betrachtete er das Werk des Kommissars, dann schüttelte er den Kopf.
»Warum haben Sie nicht mich gefragt? Ich habe die gleiche Tabelle aufgestellt, nur vollständiger.«
»Aber ohne meine kleinen Zeichnungen!« gab Maigret lachend zurück. »Was klingt am Telefon vielversprechender? Die Autos? Moss?«
»Vorläufig die Autos. Viele schokoladebraunen Autos. Leider sind sie, wenn ich insistiere, nicht mehr ganz schokoladebraun, sondern kastanienbraun, und keine Chryslers, sondern Citroëns oder Peugeots. Trotzdem werden alle kontrolliert. Jetzt rufen sie schon aus der Banlieue an und sogar von weiter her, aus einem Umkreis von hundert Kilometern.«
Dank dem Rundfunk würde bald ganz Frankreich nach dem Wagen fahnden. Man konnte jetzt nur noch warten, und das war nicht einmal besonders unangenehm. Der Kellner aus der Brasserie brachte ein riesiges Tablett mit vollen Biergläsern und Stößen von Schinkenbroten herauf, und es sah so aus, als würde er an diesem Tag den gleichen Weg noch mehrmals machen müssen.
Sie begannen zu essen und zu trinken und hatten eben die Fenster geöffnet, weil die Sonne so warm schien, als Moers hereinkam, blinzelnd wie einer, der aus der Finsternis ans Tageslicht tritt.
Keiner hatte ihn im Haus vermutet. Er hatte an diesem Tag auch gar nichts Besonderes zu tun. Aber er mußte schon seit einer Weile oben gewesen sein, allein in den Laboratorien.
»Verzeihen Sie, wenn ich störe.«
»Ein Glas Bier? Eines ist noch voll.«
»Danke, nein. Gestern nacht vor dem Einschlafen ging mir ein Gedanke im Kopf herum. Wir waren so sicher, daß der blaue Anzug Steuvels gehörte, daß wir ihn nur auf die Blutflecke hin untersucht haben. Er hängt immer noch oben, deshalb bin ich heute hergekommen. Ich wollte auch den Staub analysieren.«
Eine Routinearbeit, doch in diesem Fall hatte tatsächlich niemand daran gedacht. Moers hatte nun jedes Kleidungsstück einzeln in eine Tüte aus starkem Papier gesteckt und ausgiebig geklopft, um auch das kleinste Stäubchen aus dem Gewebe zu entfernen.
»Hast du etwas gefunden?«
»Holzspäne, sehr feine, und zwar in Mengen. Ich würde es eher Holzstaub nennen.«
»Wie aus einer Sägerei?«
»Nein. Die Abfälle wären nicht so fein und sie wären auch nicht so tief ins Gewebe gedrungen. Dieser Staub läßt auf Feinarbeit schließen.«
»Könnte es eine Kunstschreinerei sein?«
»Vielleicht. Ich bin nicht sicher. Nach meinem Gefühl ist es sogar etwas noch Feineres, aber ich möchte morgen zuerst mit dem Laborchef sprechen, ehe ich mich endgültig äußere.«
Ohne das Ende abzuwarten, hatte Janvier einen Band des Telefonverzeichnisses hervorgeholt und sämtliche Adressen an der Rue de Turenne nachzusehen begonnen.
Alle Arten von handwerklichen Berufen waren an dieser Straße vertreten, darunter einige recht ausgefallene, doch wie durch Zufall hatten fast alle mit Metall oder Pappe zu tun.
»Das wollte ich Ihnen nur rasch im Vorbeigehen sagen. Ob es Ihnen weiterhilft, weiß ich nicht.«
Auch Maigret wußte es nicht. In einem Ermittlungsverfahren wie diesem weiß man nie im voraus, was sich als nützlich erweisen wird. Auf alle Fälle aber bestätigte der Fund die Aussage des Buchbinders, der von Anfang an darauf bestanden hatte, daß der blaue Anzug nicht ihm gehörte.
Weshalb besaß er dann aber einen blauen Überzieher, der sich doch so schlecht mit einem braunen Anzug vertrug?
Telefon! Manchmal waren sechs Apparate gleichzeitig in Betrieb, und der Beamte in der Zentrale wußte nicht, wo ihm der Kopf stand, da nicht genügend Leute da waren, um die Anrufe zu beantworten.
»Wer ist es?«
»Der Posten in Lagny.«
Maigret war einmal dort gewesen. Es war ein Stadtchen an der Marne, wo es von Anglern und bunten Fischerbooten wimmelte. Er erinnerte sich nicht mehr an den Fall, der ihn nach Lagny geführt hatte, aber es war Sommer gewesen, und der kleine Weiße, den er dort getrunken hatte, war ihm in bester Erinnerung geblieben.
Lucas machte sich Notizen, bedeutete dem Kommissar durch Zeichen, daß es ernst zu sein schien.
»Da haben wir vielleicht einen Anhaltspunkt«, seufzte er, als er den Hörer auflegte. »Es war die Gendarmerie in Lagny. Sie sagen, sie hätten seit einem Monat eine peinliche Geschichte am Hals wegen eines Wagens, der in die Marne stürzte.«
»Vor einem Monat in die Marne gestürzt?«
»Soviel ich verstanden habe, ja. Der Wachtmeister, den ich am Draht hatte, wollte so vieles erklären und alle Einzelheiten schildern, daß ich am Ende nicht mehr mitkam. Außerdem wartete er mit Namen auf, die ich nicht kenne, wie wenn es Jesus Christus oder Pasteur gewesen wäre. Er kam immer wieder auf die Mère Hébart oder Hobart zu sprechen, die sich jeden Abend einen Rausch antrinkt, aber, sagt er, völlig unfähig ist, sich eine solche Geschichte auszudenken.
Kurz gesagt, vor ungefähr einem Monat …«
»Nannte er das genaue Datum?«
»Es war der 15. Februar.«
Stolz, seine soeben erstellte Liste produzieren zu können, überflog Maigret seine Kolonnen.
15. Februar – Gräfin Panetti, begleitet von Gloria, verläßt das Claridge um sieben Uhr abends in Krynkers Wagen.
»Ich habe auch gleich daran gedacht. Sie werden sehen, diese Geschichte hat Hand und Fuß. Die alte Mère Soundso wohnt in einem abgelegenen Haus am Fluß und vermietet im Sommer Fischerboote. An dem betreffenden Abend ging sie wie gewohnt in ihr kleines Bistro, um ihren Weißen zu trinken. Sie behauptet, auf dem Heimweg habe sie in der Dunkelheit einen lauten Krach gehört. Sie sei sicher, daß es wie ein Auto tönte, das in die Marne fiel.
Um diese Jahreszeit führt der Fluß Hochwasser. Ein kleiner Pfad, der von der Autostraße abzweigt, mündet dort am Ufer und muß glitschig von Schlamm gewesen sein.«
»Hat sie das gleich der Polizei gemeldet?«
»Sie erzählte es anderntags zuerst im Café. Danach dauerte es noch eine Weile, bis sich die Sache herumsprach. Schließlich kam sie einem Polizisten zu Ohren, und der verhörte sie.
Der Polizist hielt Nachschau, aber die Ufer waren zum Teil überschwemmt und die Strömung so stark, daß der Schiffsverkehr während vierzehn Tagen stillgelegt werden mußte. Erst jetzt soll der Wasserstand wieder einigermaßen normal geworden sein.
Ich vermute eher, die Polizei hat die Angelegenheit nicht sehr ernst genommen.
Gestern nun, nachdem sie unsere Meldung wegen des schokoladebraunen Wagens empfangen hatten, telefonierte ein Mann, der an der Stelle wohnt, wo der Pfad von der Straße abzweigt. Er behauptet, er habe vor einem Monat in der Dunkelheit ein braunes Auto vor seinem Haus wenden sehen.
Er ist Tankwart und bediente gerade einen Kunden. Das erklärt, weshalb er um diese Zeit noch draußen war.«
»Wie spät war es denn?«
»Kurz nach neun.«
Man braucht nicht zwei Stunden, um von den Champs-Elysées nach Lagny zu fahren, aber Krynker konnte natürlich einen Umweg gemacht haben.
»Und weiter?«
»Die Gendarmerie hat beim Straßenamt einen Hebekran angefordert.«
»Gestern?«
»Gestern nachmittag. Sie hatten eine Menge Zuschauer, als sie ihn einsetzten. Sicher ist, daß der Kran gegen Abend auf etwas stieß, aber da es mittlerweile dunkel geworden war, konnten sie nicht weitermachen. Sie sagten mir sogar, wie das Loch heißt. Die Fischer und die Einheimischen kennen dort jedes Loch im Flußbett. Eines sei zehn Meter tief.«
»Inzwischen haben sie den Wagen gehoben, wie?«
»Ja, heute früh. Es ist tatsächlich ein Chrysler, schokoladebraun, mit einem Nummernschild der Alpes-Maritimes. Das ist nicht alles. Im Wagen lag eine Leiche.«
»Männlich?«
»Weiblich. Völlig verwest. Die Kleider sind zum größten Teil von der Strömung fortgeschwemmt worden. Die Haare sind lang und grau.«
»Die Gräfin?«
»Ich weiß nicht. Sie haben sie erst jetzt entdeckt. Die Leiche liegt immer noch am Ufer unter einer Blahe, und sie fragen, was sie damit tun sollen. Ich sagte, ich würde wieder anrufen.«
Moers war vor wenigen Minuten weggegangen. Für den Kommissar hätte er jetzt eine wertvolle Hilfe bedeutet, doch es bestand wenig Hoffnung, ihn zu Hause zu erreichen.
»Ruf Doktor Paul an.«
Der Arzt war selbst am Apparat.
»Sie sind nicht beschäftigt, wie? Keine besonderen Pläne für heute? Wäre es Ihnen sehr unangenehm, wenn ich bei Ihnen vorbeikäme und Sie nach Lagny mitnähme? Mit Ihrer Tasche, ja. Nein, es wird kein schöner Anblick sein. Eine alte Frau, die sich einen Monat lang in der Marne aufgehalten hat.«
Maigret drehte sich um und sah eben noch, wie Lapointe errötend den Kopf abwandte. Anscheinend brannte der junge Mann darauf, seinen Chef zu begleiten.
»Bist du heute nicht mit einer kleinen Freundin verabredet?«
»O nein, Herr Kommissar.«
»Kannst du Autofahren?«
»Ich habe meinen Ausweis schon seit zwei Jahren.«
»Dann hol den blauen Peugeot und warte unten auf mich. Sieh nach, ob du genug Benzin hast.«
Und zu Janvier, der ein enttäuschtes Gesicht machte:
»Du, Kleiner, nimmst einen zweiten Wagen und fährst langsam die gleiche Strecke ab. Frag die Leute an den Tankstellen, in den Cafés, überall, wo du willst. Es wäre ja denkbar, daß noch jemand den braunen Wagen gesehen hat. Wir treffen uns in Lagny.«
Er trank das restliche Glas Bier aus, und wenig später ließ sich der fröhliche Spitzbart des Doktor Paul im Fond des Wagens nieder, den Lapointe stolz durch die Stadt steuerte.
»Nehme ich die kürzeste Route?«
»Das möchte ich dir geraten haben, junger Mann.«
Es war einer der ersten schönen Frühlingstage, und eine Menge Autos waren unterwegs, vollbepackt mit Familien und Picknickkörben.
Doktor Paul erzählte Geschichten von Autopsien, die aus seinem Mund so drollig klangen wie jüdische Witze.
In Lagny mußten sie nach dem Weg fragen, dann durch das ganze Städtchen fahren und lange Umwege machen, ehe sie die Flußbiegung erreichten, wo mindestens hundert Personen um einen Kran standen. Die Schutzleute hatten so viel zu tun wie an einem Jahrmarktstag. Neben dem Kran stand ein Polizeileutnant. Er schien sehr erleichtert zu sein, als er den Kommissar erblickte.
Das braune Auto lag an der Böschung, über und über mit Schlamm, Gras und unidentifizierbaren Abfällen bedeckt. Das Wasser rann immer noch aus allen Ritzen. Die Karosserie war eingedrückt, eine Scheibe zertrümmert, von den Scheinwerfern blieb nur ein Scherbenhaufen übrig, doch erstaunlicherweise funktionierte noch eine der Wagentüren, und durch diese Tür hatten sie die Leiche herausziehen können.
Sie bildete einen kleinen Hügel unter der Blahe. Ein paar Gaffer, die sich zu weit vorgewagt hatten, schienen gegen Übelkeit anzukämpfen.
»Ich überlasse Ihnen das Weitere, Doktor.«
»Hier?«
Es hätte Doktor Paul nichts ausgemacht, gleich mit der Arbeit zu beginnen. Man hatte ihn, die ewige Zigarette im Mund, schon an den unwahrscheinlichsten Orten eine Leiche sezieren sehen; es konnte sogar geschehen, daß er mitten in der Arbeit innehielt und die Gummihandschuhe abstreifte, um einen Happen zu essen.
»Können Sie die Leiche auf den Posten bringen lassen, Leutnant?«
»Meine Leute kümmern sich sofort darum. Zurück, ihr da! Vor allem die Kinder! Wer zum Teufel läßt hier Kinder in die Nähe?«
Maigret betrachtete das Auto, als eine alte Frau ihn am Ärmel zupfte und stolz erklärte:
»Ich habe den Wagen gefunden.«
»Sind Sie die Witwe Hébart?«
»Hubart, Monsieur. Das Haus, das Sie dort hinter den Eschenbäumen sehen, gehört mir.«
»Erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben.«
»Gesehen habe ich eigentlich nichts, aber gehört. Ich kam gerade hier herunter, auf dem Pfad hier, wo wir stehen.«
»Hatten Sie getrunken?«
»Höchstens zwei, drei Gläschen.«
»Wo genau waren Sie?«
»Etwa fünfzig Meter weit von hier, etwas näher bei meinem Haus. Ich hörte ein Auto von der Straße herunterkommen und dachte, es seien wohl wieder die Wilderer. Für Liebespaare war es nämlich zu kalt, und außerdem regnete es. Das einzige, was ich sah, als ich mich umdrehte, waren die Scheinwerfer.
Sehen Sie, ich konnte ja nicht wissen, daß das einmal wichtig sein könnte. Ich ging also weiter. Dann hatte ich das Gefühl, daß das Auto stehenblieb.«
»Weil Sie den Motor nicht mehr hörten?«
»Ja.«
»Drehten Sie dem Pfad den Rücken zu?«
»Ja. Dann hörte ich, wie der Motor wieder anlief, und ich dachte, das Auto kehre um. Aber o nein! Gleich darauf gab es ein lautes ›Pluff‹, und als ich zurückschaute, war das Auto nicht mehr da.«
»Hörten Sie keinen Schrei?«
»Nein.«
»Und Sie sind nicht zurückgegangen?«
»Hätte ich das tun sollen? Was hätte ich denn schon tun können, so ganz allein? Ich war ziemlich erschrocken. Ich dachte, die Ärmsten seien ertrunken, und lief schnell nach Hause und trank noch ein Glas, um mich vom Schreck zu erholen.«
»Sie blieben also nicht am Wasser stehen?«
»Nein, Monsieur.«
»Und nach dem ›Pluff‹ hörten Sie nichts mehr?«
»Doch, so etwas wie Schritte, aber ich sagte mir, es müsse ein Kaninchen sein, das vom Lärm aufgeschreckt worden war.«
»Ist das alles?«
»Finden Sie, das sei nicht genug? Wenn man auf mich gehört hätte, anstatt mich wie eine alte Verrückte zu behandeln, so hätten sie die Dame schon längst aus dem Wasser gezogen. Haben Sie sie gesehen?«
Maigret verzog das Gesicht, als er sich vorstellte, mit welchem Ausdruck diese alte Frau jene andere alte, verweste Frau betrachtet haben mochte.
Ob die Witwe Hubart wußte, daß sie nur wie durch ein Wunder noch am Leben war? Daß sie, hätte die Neugier sie an jenem Abend umkehren lassen, wahrscheinlich ebenfalls in der Marne gelandet wäre?
»Kommen denn keine Reporter?«
Das war es natürlich, worauf sie wartete. Sie wollte sich in den Zeitungen sehen.
Lapointe kroch schlammbedeckt aus dem Chrysler.
»Nichts gefunden«, sagte er. »Der Werkzeugkasten steht an seinem Platz neben dem Ersatzreifen im hinteren Kofferraum. Kein Gepäck, keine Handtasche. Nur ein Damenschuh, eingeklemmt unter dem Sitz, und vorn im Fach am Schaltbrett diese Handschuhe und die Taschenlampe.«
Es mußten schweinslederne Männerhandschuhe gewesen sein, soweit sich dies noch feststellen ließ.
»Geh schnell zum Bahnhof. Falls es im Städtchen keine Taxis gibt, muß jemand dort einen Zug bestiegen haben. Wir treffen uns in der Gendarmerie.«
Er zog es vor, im Hof des Polizeipostens seine Pfeife zu rauchen, bis Doktor Paul seine Arbeit in der Garage beendet hatte.