»Nein, so geht's nicht«, äußerte er schließlich betrübt, ohne den Kopf zu heben. »Am besten, Herr Leutnant, ich schick den Chauffeur in die Kaserne und laß einen anderen Rock holen. So können Herr Leutnant nicht ausgehen. Aber verlassen sich Herr Leutnant darauf, in einer Stunde ist alles getrocknet und ich bügel die Hose gleich sauber auf.«
Er konstatierte das alles scheinbar bloß fachmännisch beflissen. Aber ein anteilnehmender und etwas bestürzter Ton klang verräterisch mit. Und als ich ihm bedeutete, nein, das sei gar nicht nötig, er solle lieber um einen Wagen telephonieren, ich wolle ohnehin gleich nach Hause, da räusperte er sich unvermutet und hob seine guten, etwas müden Augen bittend empor.
»Bitte, wollten Herr Leutnant noch ein bißchen bleiben. Es wäre schrecklich, wenn Herr Leutnant jetzt fortgingen. Ich weiß bestimmt, das gnädige Fräulein würden sich furchtbar aufregen, wenn Herr Leutnant nicht noch etwas warteten. Jetzt sind Fräulein Ilona noch bei ihr ... und ... haben sie zu Bett gebracht. Aber Fräulein Ilona hat mir aufgetragen, zu sagen, sie käme gleich, Herr Leutnant möchten unbedingt sie abwarten.«
Gegen meinen Willen war ich erschüttert. Wie alle doch diese Kranke liebten! Wie jeder sie verzärtelte und entschuldigte! Unwiderstehlich fühlte ich das Bedürfnis, diesem gütigen alten Mann, der, von seinem eigenen Mut bestürzt, wieder auffallend emsig an meiner Bluse herumputzte, etwas Herzliches zu sagen; so klopfte ich ihm leicht auf die Schulter.
»Lassen Sie nur, lieber Josef, es steht nicht dafür! Bei der Sonne trocknet so was rasch weg, und ich hoffe, Euer Tee ist nicht stark genug, um einen anständigen Fleck zu machen. Lassen Sie's nur, Josef, klauben Sie lieber das Geschirr auf. Ich wart schon, bis Fräulein Ilona kommt.«
»Oh, wie gut, daß Herr Leutnant warten!« Er atmete förmlich auf. »Und Herr von Kekesfalva werden auch bald zurück sein und sich gewiß freuen, den Herrn Leutnant zu begrüßen. Er hat mir ausdrücklich aufgetragen ...«
Aber da knisterte schon ein Schritt leichtfüßig die Treppe empor. Ilona war es. Auch sie hielt, ganz wie vordem der Diener, die Augen gesenkt, während sie an mich herantrat.
»Edith läßt Sie bitten, einen Augenblick hinunter ins Schlafzimmer zu kommen. Nur einen Augenblick! Sie bittet herzlichst darum, läßt sie Ihnen sagen.«
Wir gingen die Wendeltreppe zusammen hinab. Und sprachen kein Wort, während wir durch den Empfangsraum und das zweite Zimmer in den langen Gang gelangten, der offenbar zu den Schlafräumen führte. Manchmal berührten sich zufällig unsere Schultern in diesem dunklen Engpaß, vielleicht auch, weil ich so erregt und unruhig ging. Bei der zweiten Seitentür blieb Ilona stehen und flüsterte dringlich:
»Sie müssen jetzt gut zu ihr sein. Ich weiß nicht, was da oben vorgefallen ist, aber ich kenne diese plötzlichen Ausbrüche bei ihr. Wir alle kennen sie. Aber man darf's ihr nicht übelnehmen, wirklich nicht. Unsereins vermag sich's gar nicht auszudenken, was das heißt, immer so von morgens bis abends hilflos herumzuliegen. Da muß sich schließlich in den Nerven Unruhe aufstauen und einmal bricht's eben heraus, ohne daß sie's weiß oder will. Nur, glauben Sie mir, niemand ist nachher unglücklicher als die Arme. Gerade wenn sie sich derart schämt und abquält, muß man doppelt gut zu ihr sein.«
Ich antwortete nicht. Es war auch unnötig. Ilona mußte ohnehin bemerkt haben, wie erschüttert ich war. Nun klopfte sie vorsichtig an die Tür, und kaum daß von innen Antwort kam, ein leises schüchternes »Herein«, mahnte sie noch rasch:
»Bleiben Sie nicht zu lang. Nur einen Augenblick!«
Ich trat durch die lautlos nachgebende Tür. Auf den ersten Blick gewahrte ich im weiträumigen Zimmer, das die orangefarbenen Vorhänge vollkommen gegen die Gartenseite abdunkelten, nichts als rötliche Dämmerung; dann erst unterschied ich im Hintergrund das hellere Rechteck eines Betts. Schüchtern kam von dort die wohlbekannte Stimme:
»Bitte hierher, auf das Taburett. Nur einen Augenblick halte ich Sie auf.«
Ich trat näher. Aus den Kissen schimmerte schmal das Gesicht unter dem Schatten des Haars. Eine bunte Decke rankte ihre eingestickten Blumen empor bis knapp an den mageren kindlichen Hals. Mit einer gewissen Ängstlichkeit wartete Edith ab, daß ich mich setzte. Dann erst wagte sich die Stimme scheu heran.
»Verzeihen Sie, daß ich Sie hier empfange, aber mir war schon ganz schwindlig ... ich hätte nicht so lange in der scharfen Sonne draußen liegen sollen, das macht mir immer den Kopf wirr ... Ich glaub faktisch, ich war nicht ganz bei Verstand, als ich ... Aber ... aber, nicht wahr ... Sie vergessen alles? Sie nehmen mir meine Ungezogenheit nicht weiter übel?«
Es war so viel flehentliches Ängsten in ihrer Stimme, daß ich sie rasch unterbrach. »Aber was denken Sie ... Es war doch nur meine Schuld ... ich hätte Sie nicht so lange in dieser grellen Hitze sitzen lassen dürfen.«
»Zuverlässig also ... Sie nehmen es mir nicht übel ... wirklich nicht?«
»Keine Spur.«
»Und Sie kommen wieder ... genau so wie immer?«
»Genau so. Aber unter einer Bedingung freilich.«
Sie blickte unruhig. »Welche Bedingung?«
»Daß Sie ein bissel mehr Zutrauen zu mir haben und sich nicht immer gleich Sorgen machen, Sie hätten mich gekränkt oder beleidigt! Wer denkt denn an solchen Nonsens unter Freunden. Wenn Sie wüßten, wie anders Sie aussehen, wenn Sie sich's herzhaft wohl sein lassen, und wie Sie uns alle damit glücklich machen, den Vater und Ilona und mich und das ganze Haus! Ich hätte Ihnen gewünscht, Sie hätten sich selber zusehen können vorgestern bei unserem Ausflug, wie Sie lustig waren und wir alle mit Ihnen – ich habe noch den ganzen Abend daran gedacht.«
»Den ganzen Abend haben Sie an mich gedacht?« Sie blickte mich an, ein wenig unsicher. »Wirklich?«
»Den ganzen Abend. Ach, was war das aber auch für ein Tag, den werde ich nie vergessen. Wunderbar war diese ganze Fahrt, wunderbar!«
»Ja«, wiederholte sie träumerisch. »Wunderbar war das ... wun-der-bar ... erst die Fahrt über die Felder und dann die kleinen Fohlen und das Fest im Dorf ... wunderbar alles vom Anfang bis zum Ende! Ach, ich müßte öfters so wo hinaus! Vielleicht war's wirklich nur dies dumme Zuhausesitzen, dieses blödsinnige Micheinsperren, das mir die Nerven derart heruntergebracht hat. Aber Sie haben recht, ich hab immer zu viel Mißtrauen ... das heißt, ich hab's erst, seit mir das passiert ist. Früher, mein Gott, ich kann mich nicht erinnern, daß ich mich je vor irgend jemandem gefürchtet hätte ... erst seitdem bin ich so schrecklich unsicher geworden ... immer bild ich mir ein, jeder schaut auf meine Krücken, jeder bemitleidet mich ... Ich weiß ja, wie dumm das ist, ein dummer und kindlicher Stolz, und daß man sich dadurch vertrotzt gegen sich selber, ich weiß schon, es rächt sich, es reißt einem nur die Nerven durch. Aber wie soll man nicht mißtrauisch werden, wenn's eine solche Ewigkeit dauert! Ach, wenn nur diese schreckliche Sache endlich zu einem Ende käme, daß man nicht so schlecht dadurch wird, so bös und zornmütig!«
»Aber es geht doch bald zu Ende. Nur Mut müssen Sie haben, ein bißchen Mut noch und Geduld.«
Sie richtete sich leicht auf. »Glauben Sie ... glauben Sie ehrlich, daß jetzt wirklich Schluß wird durch diese neue Kur? ... Denken Sie, vorgestern, wie Papa heraufgekommen ist, war ich schon ganz sicher ... Aber heut nacht, ich weiß nicht wieso, kam plötzlich eine Angst über mich, der Doktor habe sich geirrt und mir was Falsches gesagt, weil ich ... weil ich mich an etwas erinnert hab. Früher, da habe ich dem Doktor, dem Doktor Condor, vertraut wie dem lieben Gott. Aber es geht ja immer so ... erst beobachtet der Arzt den Patienten, aber wenn's lange dauert, lernt auch der Kranke den Arzt beobachten, und gestern – aber das erzähl ich nur Ihnen –, gestern, während er mich untersucht hat, da kam's mir manchmal so vor ... ja, wie soll ich's erklären ... nun so ... als ob er mir eine Komödie vormachen wollte ... Er kam mir so unsicher, so unwahrhaftig vor, nicht so offen, nicht so herzlich wie sonst ... Ich weiß nicht warum, aber mir war, als ob er sich aus irgend einem Grund vor mir schämte ... Natürlich war ich entsetzlich glücklich, wie ich dann hörte, daß er mich gleich in die Schweiz schicken will ... und doch ... irgendwo im geheimen ... das sag ich nur Ihnen ... kam immer wieder diese sinnlose Angst ... aber das sagen Sie ihm nicht, um Gottes willen nicht! ... es sei was nicht richtig mit dieser neuen Kur ... als wollt er mich damit nur zum Narren halten ... oder vielleicht nur Papa beruhigen ... Sie sehen, ich werd es noch immer nicht los, dieses schreckliche Mißtrauen. Aber was kann man dafür? Wie soll man nicht argwöhnisch werden gegen sich, gegen alle, wenn einem so oft schon vorgeredet worden ist, man käme zu einem Ende, und dann ging es immer wieder so langsam, so schrecklich langsam. Nein, ich kann, ich kann dieses ewige Warten wirklich nicht länger ertragen!«
Sie hatte sich erregt aufgerichtet, ihre Hände begannen zu zittern. Rasch beugte ich mich näher zu ihr.
»Nein! Nicht ... nicht sich wieder aufregen! Erinnern Sie sich, eben haben Sie mir versprochen ...«
»Ja, ja, Sie haben recht! Es hilft nichts, wenn man sich quält, man quält nur die andern damit. Und die andern, was können die denn dafür! Man liegt ihnen ohnehin schon als eine Last auf dem Leben ... Aber nein, ich wollte gar nicht davon reden, wirklich, ich wollte nicht ... Ich wollte Ihnen nur danken, daß Sie mir meine dumme Aufgeregtheit nicht weiter übelgenommen haben und ... daß Sie überhaupt immer so gut zu mir sind, so ... so rührend gut, wie ich's gar nicht verdiene ... und daß ich gerade Sie ... aber nicht wahr, wir reden nie mehr davon?«
»Nie mehr. Verlassen Sie sich darauf. Und jetzt ruhen Sie sich ausgiebig aus.«
Ich stand auf, um ihr die Hand zu reichen. Rührend sah sie aus, halb ängstlich noch und halb schon beruhigt von ihren Kissen zu mir emporlächelnd, ein Kind, ein Kind vor dem Schlafengehen. Alles war gut, die Atmosphäre aufgeklärt wie der Himmel nach einem Gewitter. Völlig unbefangen und beinahe fröhlich trat ich heran. Aber da schrak sie jäh empor.
»Um Himmels willen, was ist denn das? Ihre Uniform ...«
Sie hatte die großen nassen Flecken auf meinem Rock bemerkt; schuldbewußt mußte sie sich erinnert haben, daß nur die in ihrem Sturz mitgerissenen Tassen dies kleine Malheur verursacht haben konnten. Sofort flüchteten ihre Augen unter die Lider, die schon ausgestreckte Hand zog sich verängstigt zurück. Aber gerade daß sie diese läppische Kleinigkeit so ernst nahm, wirkte auf mich ergreifend; um sie zu beruhigen, nahm ich zu einem lockeren Ton Zuflucht.
»Ach nichts«, spaßte ich, »nichts Ernstliches. Ein schlimmes Kind hat mich angeschüttet.«
Noch immer war Verstörung in ihrem Blick. Doch dankbar rettete sie sich hinüber in den spielerischen Ton.
»Und haben Sie das schlimme Kind dafür tüchtig verhauen?«
»Nein«, antwortete ich, schon ganz im Spielton. »Das war nicht mehr nötig. Das Kind ist längst wieder brav.«
»Und Sie sind ihm wirklich nicht mehr böse?«
»Nicht die Spur. Sie hätten hören müssen, wie schön es sein ›bitte um Verzeihung‹ gesagt hat!«
»Sie tragen's ihm also gar nicht mehr nach?«
»Nein, vergeben und vergessen. Nur weiter brav bleiben muß es natürlich und alles tun, was man von ihm verlangt.«
»Und was soll es tun, das Kind?«
»Immer geduldig sein, immer freundlich bleiben, immer heiter. Nicht zu lang in der Sonne sitzen, viel spazierenfahren und alles genau befolgen, was der Arzt ihm befiehlt. Jetzt aber soll das Kind vor allem schlafen und nicht mehr reden und nachdenken. Gute Nacht.«
Ich gab ihr die Hand. Bezaubernd hübsch sah sie aus, wie sie da lag und mich glücklich anlachte mit glitzernden Augensternen. Warm und beschwichtigt legten sich fünf schmale Finger in meine Hand.
Dann ging ich, und das Herz war mir leicht. Schon rührte ich an die Klinke, da perlte von rückwärts noch ein kleines Lachen.
»War das Kind jetzt brav?«
»Tadellos. Es kriegt auch eine große Eins. Aber jetzt schlafen, schlafen, schlafen und an nichts Böses mehr denken!«
Ich hatte die Tür schon halb geöffnet, da flitzte noch einmal dieses Lachen mir nach, kindisch und verschmitzt. Und wieder kam von den Kissen die Stimme:
»Haben Sie vergessen, was ein braves Kind bekommt, vor dem Schlafengehen?«
»Nun?«
»Ein braves Kind bekommt einen Gutenachtkuß.«
Irgendwie wurde mir nicht ganz behaglich. Es flackerte und flirrte ein kitzliger Ton in ihrer Stimme, der mir nicht gefiel; schon früher hatten ihre Augen mir zu fiebrig gefunkelt. Aber ich wollte die Reizbare nicht verstimmen.
»Ach ja, natürlich«, sagte ich scheinbar lässig. »Das hätte ich beinahe vergessen.«
Ich ging die paar Schritte zurück bis zu ihrem Bett und spürte an einer plötzlichen Stille, daß ihr Atem aussetzte. Unablässig blieben ihre mitwandernden Augen auf mich gerichtet, indes der Kopf reglos in den Kissen verharrte. Keine Hand, kein Finger rührte sich, einzig die beobachtenden Augen wanderten mit mir und ließen mich nicht los.
Rasch, rasch, dachte ich mit wachsendem Unbehagen: so beugte ich mich eiligst nieder und streifte leicht und flüchtig mit den Lippen ihre Stirn. Mit Absicht rührte ich kaum an ihre Haut und spürte nur von nahe den verworrenen Duft ihres Haares.
Aber da fuhren ihre beiden Hände, die offenbar wartend auf der Decke gelegen, plötzlich empor. Wie Klammern umpreßten sie von beiden Seiten, ehe ich den Kopf wegwenden konnte, meine Schläfen und rissen mir den Mund von der Stirne nieder an ihre Lippen. So heiß, so saugend und gierig preßten sie sich an, daß die Zähne die Zähne berührten, und gleichzeitig wölbte und spannte sich drängend ihre Brust empor, um meinen herabgebeugten Körper zu berühren, zu spüren. Nie in meinem Leben hab ich mehr einen derart wilden, einen so verzweifelten, einen so durstigen Kuß empfangen wie von diesem verkrüppelten Kind.
Und nicht genug, nicht genug! Mit einer trunkenen Kraft hielt sie mich an sich gepreßt, bis ihr der Atem versagte. Dann lockerte sich der Griff, erregt begannen ihre Hände wegzuwandern von den Schläfen und in meinem Haar zu wühlen. Aber sie gab mich nicht frei. Einen Augenblick nur ließ sie mich los, um zurückgelehnt, wie verzaubert, meine Augen anzustarren, dann riß sie mich neuerdings an sich, küßte ziellos und heiß meine Wangen, meine Stirn, meine Augen, meine Lippen mit einer wilden und zugleich ohnmächtigen Gier. Bei jedem dieser Anrisse stammelte, stöhnte sie: »Dummkopf ... Dummkopf ... du Dummkopf ...« und immer heißer »du, du, du«. Immer gieriger, immer leidenschaftlicher wurde dieser Überfall, immer heftiger, immer spasmischer faßte und küßte sie mich. Und plötzlich, wie ein Tuch reißt, ging ein Ruck durch sie hin ... Sie ließ mich los, der Kopf fiel zurück in die Kissen, und nur ihre Augen funkelten mich noch triumphierend an.
Und dann flüsterte sie, hastig sich wegwendend von mir, gleichzeitig erschöpft und schon beschämt: »Geh jetzt, geh, du Dummkopf ... geh!«
Ich ging, nein, ich taumelte hinaus. Schon in dem dunklen Gang verließ mich die letzte Kraft. Ich mußte mich festhalten an der Wand, so schwindlig kreiselten mir die Sinne. Das also war es, das! Das jenes Geheimnis, das zu spät enthüllte, ihrer Unruhe, ihrer mir bisher unerklärlichen Aggressivität. Mein Schrecken war namenlos. Mir war wie einem, der sich arglos über eine Blume beugt, und eine Natter fährt ihm entgegen. Wenn die Empfindliche mich geschlagen, mich beschimpft, mich bespien hätte – all das würde mich weniger entgeistert haben, denn auf Unberechenbares war ich jederzeit bei ihren flackernden Nerven gefaßt – nur auf dies eine nicht, dies eine, daß sie, die Kranke, die Zerstörte, lieben könnte und geliebt sein wollte. Daß dieses Kind, dieses Halbwesen, dieses unfertige und ohnmächtige Geschöpf sich (ich kann es nicht anders sagen) unterfing, zu lieben, zu begehren, mit der wissenden und sinnlichen Liebe einer wirklichen Frau. An alles hatte ich gedacht, nur an dies eine nicht, daß eine vom Schicksal Verstümmelte, die nicht Kraft genug hatte, den eigenen Körper zu schleppen, jemand andern als Liebenden, als Geliebten erträumen konnte, daß sie mich, der ich doch einzig aus Mitleid kam und immer wiederkam, so fürchterlich mißverstand. Aber in der nächsten Sekunde begriff ich bereits mit erneutem Entsetzen, daß nichts so sehr als gerade mein eigenes leidenschaftliches Mitleid die Hauptschuld trug, wenn dies von der Welt abgesperrte und verlassene Mädchen von mir, dem einzigen Manne, der es Tag um Tag in ihrem Kerker anteilnehmend besuchte, wenn es von diesem Narren seines Mitleids ein anderes, ein zärtliches Gefühl erwartete. Ich aber, ich Tölpel, unheilbar einfältig in meiner Ahnungslosigkeit, hatte nur die Leidende in ihr gesehen, die Gelähmte, das Kind und nicht die Frau. Nicht einen Augenblick, und auch nur im flüchtigsten, war es mir in den Sinn gekommen, mir innerlich vorzustellen, daß unter dieser hüllenden Decke ein nackter Körper atmete, fühlte, wartete, der Körper eines Weibes, der wie alle andern begehrte und begehrt sein wollte – nie hatte ich Fünfundzwanzigjähriger auch nur die Möglichkeit zu träumen gewagt, daß auch die Kranken, die Krüppel, die Unreifen, die Überalterten, die Ausgestoßenen, die Gezeichneten unter den Frauen es wagten, zu lieben. Denn vor dem wirklichen Leben und Erleben imaginiert und formt sich ein junger unerfahrener Mensch die Welt fast immer nur nach dem Abglanz des Erzählten, des Angelesenen, er träumt vor der eigenen Erfahrung unweigerlich fremde Bilder und Vorbilder nach. In jenen Büchern aber, jenen Theaterstücken, oder in den Kinos (diesen Verflachungen und Versimplungen der Wirklichkeit) waren es immer ausschließlich die jungen, die schönen, die auserlesenen Menschen, die einander begehrten; so hatte ich gemeint – darum auch meine Scheu vor manchen Abenteuern – man müsse besonders anziehend, besonders begnadet, besonders vom Schicksal bevorzugt sein, um die Neigung einer Frau auf sich zu ziehen. Nur darum war ich ja im Umgang mit diesen beiden Mädchen so arglos, so unbefangen geblieben, weil doch alles Erotische mir in unserer Beziehung von vorneweg ausgeschaltet schien und ich nie auf den Verdacht kam, sie könnten mehr in mir sehen als einen netten Jungen, einen guten Freund. Selbst wenn ich bei Ilona manchmal die sinnliche Hübschheit spürte – an Edith hatte ich nie als ein Wesen anderen Geschlechts gedacht; bestimmt hatte nie der Gedanke auch nur schattenhaft mir durch den Sinn gestreift, daß in ihrem verkümmerten Körper die gleichen Organe sich spannten und in ihrer Seele das gleiche Begehren drängte wie bei anderen Frauen. Erst von diesem Augenblick an begann ich allmählich (das meist von den Dichtern Verschwiegene) zu verstehen, daß gerade die Ausgesetzten, die Gezeichneten, die Häßlichen, die Verblühten, die Verkümmerten, die Zurückgestoßenen mit einer viel leidenschaftlicheren, einer viel gefährlicheren Gier begehren als die Glücklichen und Gesunden, daß sie lieben mit einer fanatischen, einer finsteren, einer schwarzen Liebe und keine Leidenschaft auf Erden gieriger, verzweifelter sich aufbäumt als eben jene aussichtslose, jene hoffnungslose der Stiefkinder Gottes, welche doch nur durch Liebe und Geliebtsein ihre irdische Existenz gerechtfertigt fühlen können. Daß gerade aus dem untersten Abgrund der Verzweiflung am grimmigsten der panische Schrei der Lebensgier aufstöhnt – dieses fürchterliche Geheimnis hatte ich, der Unerfahrene, der Unerprobte niemals zu ahnen gewagt! Erst in dieser Sekunde war diese Erkenntnis wie ein glühendes Messer in mich hineingestoßen.
Dummkopf! – auch das verstand ich jetzt, warum just dieses Wort ihr inmitten der Panik des Gefühls von der Lippe gefahren, während sie die halbgeformte Brust der meinen entgegenpreßte. Dummkopf! – ja, sie hatte recht, mich so zu nennen! Alle mußten längst alles durchschaut haben vom ersten Augenblick, der Vater und Ilona und der Diener und das übrige Gesinde. Alle mußten ihre Liebe, ihre Leidenschaft längst geargwöhnt haben, mit Erschrecken vielleicht und wahrscheinlich mit schlimmem Vorgefühl – nur ich ahnte nichts, der Narr meines Mitleids, der den guten, den braven, den tölpischen Kameraden spielte, der breitmäulig spaßte und nicht merkte, daß sie sich an meinem unverständigen, unverständlichen Nichtverstehen die brennende Seele zerquälte. Wie in einer schlechten Komödie der triste Held inmitten einer Intrige steht, jeder einzelne im Zuschauerraum weiß schon längst, daß er umstrickt ist, und nur er, der Tölpel allein, spielt todernst weiter, unbekümmert weiter und weiter und begreift noch immer nicht, in welches Netz er geriet (und die andern kennen schon jeden Faden und jede Masche von Anfang an) – so mußten alle im Haus zugesehen haben, wie ich herumtappte bei diesem albernen Blindekuhspiel des Gefühls, bis sie mir endlich gewaltsam die Binde von den Augen riß. Aber wie ein einziges aufflammendes Licht genügt, um in einem Zimmer gleichzeitig ein Dutzend Gegenstände zu erhellen, so wurde mir jetzt im nachhinein – zu spät, zu spät! – eine Unzahl Einzelheiten all dieser Wochen beschämend verständlich. Jetzt erst blitzte in mir auf, warum ich sie jedesmal erbitterte, wenn ich sie übermütig »Kind« nannte, sie, die doch gerade vor mir nicht als Kind gelten, sondern als Frau, als Geliebte ersehnt werden wollte. Jetzt erst begriff ich, warum ihr manchmal die Lippen unruhig bebten, wenn ihre Lahmheit mich sichtlich erschütterte, warum sie ingrimmig mein Mitleid haßte – offenbar erkannte hellseherisch der weibliche Instinkt in ihr, daß Mitleid ein viel zu laues Schwestergefühl und nur trister Ersatz wirklicher Liebe sei. Wie mußte die Arme gewartet haben auf ein Wort, auf ein Zeichen des Begreifens, das noch immer und immer nicht kam, wie mußte sie gelitten haben unter meiner plaudernden Unbefangenheit, indes sie auf dem glühenden Rost der Ungeduld lag und mit zuckender Seele wartete, wartete auf die erste zärtliche Geste, oder zumindest wartete, daß ich ihrer Leidenschaft endlich gewahr würde. Und ich, ich hatte nichts gesagt, nichts getan und war doch nicht fortgeblieben, sie unablässig bestärkend durch mein tägliches Kommen und gleichzeitig verstörend durch meine seelische Schwerhörigkeit – wie verständlich darum, daß ihr schließlich die Nerven rissen und sie mich nahm als ihre Beute!
All das jagte jetzt mit hundert Bildern in mich hinein, während ich, wie von einer Explosion hingeschlagen, in dem dunklen Gang an der Wand lehnte, den Atem ausgeschöpft und die Beine fast genau so lahm wie die ihren. Zweimal versuchte ich, mich weiterzutasten, erst das dritte Mal tappte ich hin bis an die Klinke. Hier geht es in den Salon, überlegte ich rasch, gleich links führt die Ausgangstür zur Halle, dort liegt mein Säbel und meine Kappe. Rasch also das Zimmer durch und fort, nur fort, ehe der Diener kommt. Gleich die Treppe hinab und fort, fort, fort! Sich retten aus dem Haus, bevor man jemandem begegnet, dem man Rede und Antwort stehen muß. Nur fort jetzt, nicht dem Vater in den Weg kommen, nicht Ilona, nicht Josef, keinem von allen, die mich narrenhaft weiterrennen ließen in diese Verstrickung! Fort, nur rasch fort!
Aber zu spät! Im Salon wartete – offenbar hatte sie meinen Schritt schon gehört – Ilona. Kaum daß sie mich erblickte, veränderte sich ihr Gesicht.
»Jesus Maria, was ist denn? Sie sind ja ganz blaß ... Ist ... ist mit Edith wieder etwas passiert.«
»Nichts, nichts«, fand ich gerade noch Kraft zu stammeln und wollte weiter. »Ich glaube, sie schläft jetzt. Verzeihung, ich muß nach Hause.«
Jedoch etwas Erschreckendes muß in meinem brüsken Gehaben gewesen sein, denn Ilona faßte mich resolut am Arm und drückte, ja stieß mich in einen Fauteuil.
»Da, setzen Sie sich zunächst einmal nieder. Sie müssen erst zu sich kommen ... Und Ihr Haar ... wie sieht denn Ihr Haar aus? Sie sind ja ganz zerzaust ... Nein, bleiben Sie« – ich wollte aufspringen – »ich hol einen Kognak.«
Sie lief zum Schrank, füllte ein Glas, und ich kippte es rasch hinab. Beunruhigt blickte Ilona mir zu, wie ich mit zitternder Hand das Glas abstellte (nie in meinem Leben hatte ich mich so schwach, so ausgeschöpft gefühlt). Dann setzte sie sich still zu mir und wartete, ohne zu sprechen, manchmal nur von der Seite vorsichtig den beunruhigten Blick zu mir aufhebend, wie man einen Kranken beobachtet. Endlich fragte sie:
»Hat Edith Ihnen ... etwas gesagt ... ich meine, etwas, das ... das Sie selber betrifft?«
An ihrer teilnehmenden Art spürte ich, daß sie alles ahnte. Und ich war zu schwach, um mich zu wehren. Leise nur murmelte ich: »Ja.«
Sie rührte sich nicht. Sie antwortete nicht. Ich merkte bloß, daß ihr Atem mit einmal heftiger ging. Vorsichtig beugte sie sich heran.
»Und das ... das haben Sie wirklich erst jetzt bemerkt?«
»Wie konnte ich denn so etwas ahnen ... einen solchen Unsinn! Einen solchen Irrsinn! ... Wie kommt sie denn darauf ... wie denn auf mich ... warum gerade auf mich? ...«
Ilona seufzte. »O Gott – und sie meinte immer, Sie kämen nur ihretwegen ... Sie kämen deshalb zu uns. Ich ... ich habe es ja nie geglaubt, weil Sie so ... so unbefangen waren und so ... so herzlich auf eine andere Art. Ich habe vom ersten Moment an gefürchtet, daß es bei Ihnen nur Mitleid ist. Aber wie konnte ich das arme Kind warnen, wie so grausam sein, ihr einen Wahn auszureden, der sie glücklich machte ... Seit Wochen lebt sie einzig in dem Gedanken, daß Sie ... Und wenn sie mich dann immer fragte und fragte, ob ich glaubte, daß Sie sie wirklich gerne hätten, da konnte ich doch nicht roh sein ... Ich mußte sie doch beruhigen und bestärken.«
Ich vermochte nicht länger, an mich zu halten. »Nein, im Gegenteil, Sie müssen es ihr ausreden, unbedingt ausreden. Es ist doch ein Wahnsinn von ihr, ein Fieber, eine kindische Marotte ... nichts als die übliche Backfischschwärmerei für die Uniform, und wenn morgen ein anderer kommt, so wird's eben der andere sein. Sie müssen ihr das erklären ... Sie müssen ihr das rechtzeitig ausreden. Es ist doch nur ein Zufall, daß ich es bin, daß ich es war, der da kam, und nicht ein anderer, ein besserer von meinen Kameraden. So etwas vergeht ganz rasch wieder in ihrem Alter ...«
Aber Ilona schüttelte traurig den Kopf. »Nein, lieber Freund, täuschen Sie sich nichts vor. Bei Edith ist das ernst, fürchterlich ernst und wird sogar von Tag zu Tag gefährlicher ... Nein, lieber Freund, ich kann etwas derart Schweres nicht plötzlich für Sie leicht machen. Ach, wenn Sie ahnten, was hier im Haus vorgeht ... Dreimal, viermal schrillt mitten in der Nacht die Glocke, rücksichtslos weckt sie uns alle auf, und wenn wir an ihr Bett laufen voll Angst, es sei etwas passiert, sitzt sie da, aufrecht, verstört, starrt vor sich hin und fragt uns immer dasselbe, dasselbe: ›Glaubst du nicht, daß er mich wenigstens ein bißchen, nur ganz, ganz wenig gernhaben kann? Ich bin doch nicht so häßlich.‹ Und dann verlangt sie einen Spiegel, doch sofort wirft sie ihn wieder weg, und im nächsten Augenblick erkennt sie selbst schon, daß es Wahnsinn ist, was sie tut, und zwei Stunden später beginnt es wieder von neuem. Den Vater fragt sie in ihrer Verzweiflung und Josef und die Dienstmädchen; sogar jene Zigeunerin von vorgestern – Sie erinnern sich – hat sie gestern noch einmal heimlich kommen und sich dasselbe von ihr wahrsagen lassen, noch einmal ... Fünfmal hat sie Ihnen schon Briefe geschrieben, lange Briefe, und dann wieder zerrissen. Von morgens bis abends, von früh bis nachts denkt und spricht sie nichts anderes. Einmal verlangt sie, daß ich zu Ihnen gehen und auskundschaften soll, ob Sie sie gernhaben, nur ein bißchen gernhaben, oder ob ... ob sie Ihnen lästig ist, weil Sie so schweigen und ausweichen. Sofort, sofort soll ich zu Ihnen, Sie abfangen auf dem Weg, und schon muß der Chauffeur springen und der Wagen wird geholt. Dreimal, viermal, fünfmal lernt sie mir jedes Wort ein, das ich Ihnen sagen, das ich Sie fragen soll. Und im letzten Moment, wenn ich schon draußen im Hausflur stehe, schrillt wieder die Glocke, ich muß in Hut und Mantel zurück und ihr schwören bei dem Leben meiner Mutter, nicht die geringste Anspielung zu machen. Ach, was wissen Sie! Für Sie endet's ja, wenn Sie die Tür hinter sich schließen. Aber kaum sind Sie fort, so berichtet sie mir jedes Wort, das Sie ihr gesagt haben, sie fragt, ob ich glaube und ob ich meine –. Sage ich ihr dann: ›Du siehst doch, wie gern er dich hat‹, so schreit sie mich an: ›Du lügst! Es ist nicht wahr! Kein gutes Wort hat er mir heute gesagt‹, aber gleichzeitig will sie alles nochmals hören, dreimal muß ich es wiederholen und beschwören ... Und dazu noch der alte Mann! Er ist ja seither vollkommen verstört, und dabei liebt und vergöttert er Sie genau wie sein Kind. Sie müßten ihn sehen, wie er mit seinen müden Augen stundenlang an ihrem Bett sitzt und sie streichelt und beruhigt, bis sie endlich einschläft. Und dann geht er selber ruhelos die ganze Nacht auf und ab, auf und ab in seinem Zimmer ... Und Sie – Sie haben wirklich von all dem nichts bemerkt?«
»Nein!« Ich schrie es ganz laut, in der Unbeherrschtheit meiner Verzweiflung. »Nein, ich schwöre Ihnen, nichts! Nicht das Geringste! Glauben Sie, ich wäre überhaupt noch gekommen, ich hätte mich mit Euch hinsetzen können, Schach spielen und Domino, oder Grammophonplatten anhören, wenn ich geahnt hätte, was vorgeht? ... Aber wie kann sie sich in einen solchen Wahn verrennen, daß ich ... daß gerade ich ... wie verlangen, daß ich auf einen solchen Unsinn, eine solche Kinderei eingehe? ... Nein, nein, nein!«
Ich wollte aufspringen, so quälte mich der Gedanke, wider meinen Willen geliebt zu werden, aber Ilona faßte mich energisch am Handgelenk.
»Ruhig! Ich beschwöre Sie, lieber Freund – nicht sich aufregen, und vor allem, ich flehe Sie an, etwas stiller! Sie hat eine Art durch die Wände zu hören. Und bitte, werden Sie um Himmels willen nicht ungerecht. Die Arme hat es eben als ein Zeichen genommen, daß jene Botschaft gerade von Ihnen kam, daß Sie es waren, gerade Sie, der zuerst ihrem Vater von dieser neuen Kur berichtete. Mitten in der Nacht ist er damals gleich zu ihr hinaufgestürzt und hat sie aufgeweckt. Können Sie sich's wirklich nicht ausdenken, wie die beiden geschluchzt und Gott gedankt haben, daß jetzt diese grauenhafte Zeit zu Ende ist, und daß sie beide überzeugt sind, sobald Edith geheilt ist, ein Mensch wie andere Menschen, würden Sie ... ich brauch's Ihnen nicht erst zu sagen. Eben darum dürfen Sie das arme Kind gerade jetzt nicht verstören, wo sie ihre Nerven braucht für die neue Kur. Wir müssen ungemein vorsichtig sein und sie, Gott behüte, nicht ahnen lassen, daß es Ihnen so ... so furchtbar ist.«
Aber meine Verzweiflung hatte mich rücksichtslos gemacht. »Nein, nein, nein«, hämmerte ich heftig mit der Hand auf die Lehne. »Nein, ich kann nicht ... ich will nicht geliebt sein, nicht so geliebt ... Und ich kann auch jetzt nicht weiter so machen, als merkte ich nichts, ich kann nicht mehr unbefangen sitzen und Süßholz raspeln ... ich kann nicht! Sie wissen ja nicht, was vorgefallen ist ... dort, dort drüben und ... sie mißversteht mich ganz. Ich habe doch nur Mitleid mit ihr gehabt. Nur Mitleid, sonst nichts und sonst gar nichts!«
Ilona schwieg und sah vor sich hin. Dann seufzte sie.
»Ja, das habe ich von Anfang an gefürchtet! Die ganze Zeit spüre ich's schon in den Nerven ... Aber, mein Gott was soll jetzt werden? Wie bringt man ihr das bei?«
Wir saßen stumm. Es war alles gesagt. Wir wußten beide, es gab keinen Weg, keinen Ausweg. Plötzlich richtete Ilona sich mit einem gespannten Ausdruck des Aufhorchens empor, und fast gleichzeitig hörte ich vom Eingang her das Knirschen eines anfahrenden Automobils. Das mußte Kekesfalva sein. Rasch fuhr sie auf.
»Besser, Sie begegnen ihm jetzt nicht ... Sie sind zu erregt, um mit ihm unbefangen zu sprechen ... Warten Sie, ich hol Ihnen rasch Kappe und Säbel, Sie verschwinden am einfachsten durch die rückwärtige Tür in den Park. Ich erfind schon eine Ausrede, warum Sie nicht über Abend bleiben konnten.«
Mit einem Sprung hatte sie meine Sachen geholt. Glücklicherweise war der Diener zum Wagen geeilt; so konnte ich unbemerkt an den Hofgebäuden vorbeikommen, und im Park beschleunigte dann die rasende Angst, ich müßte jemandem Rede stehen, meinen Schritt. Zum zweitenmal flüchtete ich, geduckt und scheu wie ein Dieb, aus dem verhängnisvollen Hause.
Immer hatte ich junger und wenig erfahrener Mensch bisher Sehnsucht und Not der Liebe für die schlimmste Qual des Herzens gehalten. In dieser Stunde aber begann ich zu ahnen, daß es noch eine andere und vielleicht grimmigere Qual gibt, als sich zu sehnen und zu begehren, nämlich geliebt zu werden wider seinen Willen und dieser andrängenden Leidenschaft sich nicht erwehren zu können. Einen Menschen neben sich an der Glut seines Verlangens verbrennen zu sehen und ohnmächtig dabeizustehen, nicht die Macht, nicht die Fähigkeit, nicht die Kraft in sich zu finden, ihn diesen Flammen zu entreißen. Wer selbst unglücklich liebt, vermag zuweilen seine Leidenschaft zu bezähmen, weil er nicht nur Geschöpf, sondern zugleich selber Schöpfer seiner Not ist; versteht ein Liebender seine Leidenschaft nicht zu meistern, so leidet er zumindest aus eigener Schuld. Rettungslos jedoch bleibt verfallen, wer geliebt wird ohne Gegenliebe, denn nicht mehr in ihm liegt dann Maß und Grenze jener Leidenschaft, sondern jenseits seiner Kraft, und willenlos bleibt jeder Wille, wenn ein anderer einen will. Vielleicht nur ein Mann kann das Ausweglose einer solchen Bindung ganz erfühlen, nur für ihn wird das ihm aufgezwungene Widerstrebenmüssen gleichzeitig Marter und Schuld. Denn wenn eine Frau gegen unerwünschte Leidenschaft sich wehrt, gehorcht sie im tiefsten dem Gesetz ihres Geschlechts; gleichsam urtümlich ist jedem Weibe die Geste der anfänglichen Weigerung eingetan, und selbst wenn sie glühendstem Begehren sich verweigert, kann man sie nicht unmenschlich nennen. Aber verhängnisvoll, sobald das Schicksal die Waage umstellt, sobald eine Frau ihre Scham so weit bezwungen hat, um einem Manne ihre Leidenschaft zu offenbaren, wenn sie ohne Gewißheit der Gegenliebe schon ihre Liebe bietet, und er, der Umworbene, bleibt abwehrend und kalt! Unlösbare Verstrickung dies immer, denn das Verlangen einer Frau nicht erwidern, heißt auch ihren Stolz zernichten, ihre Scham verstören; immer muß, wer einer begehrenden Frau sich verweigert, sie in ihrem Edelsten verletzen. Vergeblich dann alle Zartheit des Sichentziehens, sinnlos alle höflich ausweichenden Worte, beleidigend jedes Angebot bloßer Freundschaft, wenn einmal eine Frau ihre Schwachheit verraten hat – unrettbar wird jeder Widerstand eines Mannes zur Grausamkeit, immer gerät er, wenn er Liebe nicht nimmt, schuldlos in Schuld. Entsetzliche, unlösbare Fessel – eben hast du dich noch frei gefühlt, du gehörtest dir selbst und warst keinem verschuldet, und plötzlich bist du gejagt und umstellt, Beute und Ziel einer ungewollten fremden Begierde. Du weißt, betroffen bis in den Abgrund deiner Seele: Tag und Nacht wartet jetzt jemand auf dich, denkt an dich, sehnt sich und stöhnt nach dir, eine Frau, eine Fremde! Sie will, sie fordert, sie verlangt dich mit jeder Pore ihres Wesens, mit ihrem Körper, mit ihrem Blut. Deine Hände, dein Haar, deine Lippen, deinen Leib will sie, deine Nacht und deinen Tag, dein Gefühl, dein Geschlecht und alle deine Gedanken und Träume. Alles will sie mit dir teilen, alles will sie dir nehmen und mit ihrem Atem in sich saugen. Immer, Tag und Nacht, ob du wachst oder schläfst, ist in der Welt jetzt ein Wesen irgendwo heiß und wach und wartet auf dich, jemand wacht dich und träumt dich. Vergebens, daß du nicht an sie denken willst, die immer an dich denkt, vergebens, daß du zu entfliehen suchst, denn du bist nicht mehr in dir, sondern in ihr. Wie ein wandernder Spiegel trägt plötzlich ein fremder Mensch dich innen in sich – nein, nicht wie ein Spiegel, denn der trinkt dein Bild doch nur, wenn du dich willig ihm bietest – sie aber, die Frau, die Fremde, die dich liebt, sie hat dich schon nach innen gesogen in ihr Blut. Immer hat sie dich innen und trägt dich mit sich, wohin du auch flüchtest. Immer bist du anderswo in einem andern Menschen verhaftet, gefangen, nie mehr du selbst, nie frei und unbefangen und ohne Schuld, immer gejagt, immer verpflichtet; immer spürst du, wie ein stetes brennendes Saugen, dies An-dich-denken. Voll Haß, voll Schrecken mußt du diese fremde Sehnsucht leiden, die um dich leidet, und ich weiß nun: es ist die unsinnigste, unentrinnbarste Bedrängnis eines Mannes, geliebt zu werden wider seinen Willen, Qual aller Qualen und doch Schuld ohne Schuld.
Nicht im flüchtigsten Tagtraum war mir je denkbar erschienen, auch mich könnte eine Frau so maßlos lieben. Zwar war ich oft dabeigesessen, wenn Kameraden protzig erzählten, wie diese oder jene ihnen »nachlief«; ich hatte vielleicht bei der indiskreten Wiedergabe solcher Zudringlichkeit im erheiterten Chore sogar mitgelacht, denn damals ahnte ich noch nicht, daß jede Form der Liebe, auch die lächerlichste und absurdeste, Schicksal eines Menschen ist und man auch durch Gleichgültigkeit in Schuld gerät gegen Liebe. Aber alles Erlauschte und Angelesene streift doch nur kraftlos an einem vorbei; nur aus eigenem Erleben vermag das Herz das Wesentliche des Gefühls zu erlernen. Erst mußte ich selbst die Not erfahren, die eine fremde, unsinnige Liebe dem Gewissen auflastet, um Mitleid zu fühlen mit dem einen und dem andern, mit jenem, der gewaltsam sich andrängt, und jenem, der gewaltsam sich dieses Überschwangs erwehrt. Aber in welch unausdenkbarer Steigerung war hier gerade mir diese Verantwortung zugeteilt! Denn wenn es an sich schon Grausamkeit bedeutet und beinahe Roheit des Herzens, eine Frau in ihrer Neigung zu enttäuschen, um wieviel furchtbarer dann das »Nein«, das »Ich will nicht«, das ich diesem hitzigen Kinde sagen sollte! Eine Kranke mußte ich kränken, eine vom Leben ohnehin schon schmerzhaft Verletzte noch tiefer verwunden, einer innerlich Unsicheren noch die letzte Krücke Hoffnung, mit der sie sich aufrechterhielt, wegreißen. Ich wüßte, wie ich dieses Mädchen, das allein mein Mitleid erschüttert hatte, gefährdete und vielleicht zerstörte, wenn ich mich flüchtend ihrer Liebe entzog; grauenhaft klar war ich von vorneweg der ungeheuren Schuld bewußt, die ich wider meinen Willen beging, wenn ich, unfähig, ihre Liebe hinzunehmen, nicht wenigstens vortäuschte, sie zu erwidern.
Aber ich hatte keine Wahl. Noch ehe die Seele bewußt die Gefahr begriff, hatte der Körper in mir die jähe Umarmung schon abgewehrt. Immer sind die Instinkte wissender als unsere wachen Gedanken; bereits in dieser ersten Sekunde des Erschreckens, da ich mich wegriß von ihrer gewalttätigen Zärtlichkeit, hatte ich dumpf alles vorausgewußt. Gewußt, daß ich nie die Heilandskraft haben würde, die Verstümmelte so zu lieben, wie sie mich liebte, und wahrscheinlich nicht einmal genug Mitleid, um diese mich entnervende Leidenschaft nur zu ertragen. In diesem ersten Augenblick des Zurückflüchtens hatte ich schon geahnt: hier gab es keinen Ausweg, keinen Mittelweg. Einer mußte unglücklich werden durch diese unsinnige Liebe oder der andere, und vielleicht alle beide.
Wie ich damals in die Stadt zurückgelangte, werde ich mir niemals deutlich zu machen vermögen. Ich weiß nur, ich ging sehr rasch, und nur ein Gedanke wiederholte sich mit jedem Schlag der Pulse: fort! fort! Fort von diesem Hause, fort aus dieser Verstrickung, fliehen, flüchten, verschwinden! Nie mehr diese Villa betreten, nie mehr diese Menschen sehen, überhaupt keine Menschen! Sich verstecken, sich unsichtbar machen, niemandem mehr verpflichtet sein, in nichts mehr verstrickt! Ich weiß, ich versuchte noch weiter zu denken: den Dienst quittieren, irgendwo Geld herbekommen und dann hinausflüchten in die Welt, so weit weg, daß dieses irrwitzige Verlangen mich nicht mehr erreichen könnte; aber all dies war schon mehr geträumt als klar durchdacht, denn immer hämmerte dazwischen in den Schläfen das eine Wort: fort, fort, fort, nur fort!
An meinen bestaubten Schuhen und an Rissen von Disteln an meiner Hose merkte ich später, daß ich quer durch Wiesen und Felder und Straßen gerannt sein mußte; jedenfalls stand, als ich mich schließlich auf der Hauptstraße fand, die Sonne schon hinter den Dächern. Und wirklich wie ein Schlafwandler schrak ich auf, als mir unvermutet jemand von rückwärts auf die Schulter klopfte.
»Hallo, Toni, da bist du ja! Höchste Zeit, daß wir dich erwischen! Jeden Winkel haben wir nach dir durchstöbert, grad wollten wir hinaustelephonieren in deine Ritterburg.«
Ich sah mich umringt von vier Kameraden, der unvermeidliche Ferencz war dabei, Jozsi und der Rittmeister Graf Steinhübel.
»Aber fix jetzt! Denk dir, der Balinkay ist plötzlich hereingeschneit, von Holland oder von Amerika, weiß Gott, von wo. Aber alle Offiziere und Einjährigen vom Regiment hat er eingeladen für heut abend. Der Oberst kommt und der Major, große Tafel heut, im Roten Löwen, um halb neun. Ein Glück, daß wir dich erwischt haben, der Alte hätte schön gebrummt, wenn du ausgekniffen wärst! Du weißt doch, daß er an dem Balinkay einen Narren gefressen hat; wenn der kommt, muß alles aufmarschieren.«
Ich hatte meine Gedanken noch immer nicht völlig beisammen. Ganz verdutzt fragte ich:
»Wer ist gekommen?«
»Der Balinkay! Schneid doch kein so blödes G'sicht! Kennst du am End den Balinkay nicht?«
Balinkay? Balinkay? In meinem Kopf torkelte alles noch wirr durcheinander, wie aus verstaubtem Gerümpel mußte ich diesen Namen mir mühsam herausholen. Ach ja, der Balinkay – der war doch einmal das mauvais sujet des Regiments gewesen. Noch lang vor meiner Garnisonszeit hatte er hier als Leutnant und dann als Oberleutnant gedient, der beste Reiter, der tollste Bursche des Regiments, ein wilder Spieler und Ladykiller. Aber irgend etwas Peinliches war dann passiert, ich hatte mich nie danach erkundigt; jedenfalls, in vierundzwanzig Stunden hatte er die Uniform an den Nagel gehängt und war dann kreuz und quer in der Welt herumgeschwommen, man munkelte davon allerhand sonderbare Geschichten. Schließlich hatte er sich wieder zusammengerissen dadurch, daß er sich im Shepherds Hotel in Kairo eine reiche Holländerin angelte, eine Witwe mit schweren Millionen, Besitzerin irgendeiner Maatschappij mit siebzehn Schiffen und ausgiebigen Plantagen in Java und Borneo drüben: seitdem war er unser unsichtbarer Schutzpatron.
Diesem Balinkay mußte unser Oberst Bubencic damals aus einem dicken Schlamassel geholfen haben, denn Balinkays Treue zu ihm und zum Regiment blieb wirklich rührend. Jedesmal, wenn er nach Osterreich kam, fuhr er eigens herüber in die Garnison und schmiß mit dem Gelde so toll herum, daß man noch wochenlang davon in der Stadt erzählte. Die alte Uniform für einen Abend anzuziehen, wieder Kamerad unter Kameraden zu sein, war ihm eine Art Herzensbedürfnis. Wenn er an dem gewohnten Offizierstisch saß, locker und leicht, spürte man ihm an, daß ihm dieser schlechtgetünchte rauchige Saal im »Roten Löwen« hundertmal mehr Heimat war als sein feudales Palais an einer Amsterdamer Gracht: wir waren und blieben seine Kinder, seine Brüder, seine wahre Familie. Alljährlich stiftete er Preise für unsere Steeplechase, regelmäßig kamen zu Weihnachten zwei oder drei Kisten bunter Bolsschnäpse und Champagnerkörbe angerückt, und mit absoluter Verläßlichkeit konnte der Oberst jedes Neujahr einen saftigen Scheck für die Kameradschaftskasse bei der Bank einkassieren. Wer die Ulanka und am Kragen unsere Aufschläge trug, durfte sich auf Balinkay verlassen, wenn er irgend einmal in Schwulitäten geriet: ein Brief und alles war ausgeputzt.
Zu jeder anderen Zeit hätte mich die Gelegenheit, diesem viel Gerühmten zu begegnen, ehrlich gefreut. Aber der Gedanke an Lustigkeit, lautes Hallo, Toaste und Tafelreden schien meiner Verstörtheit so ziemlich das Unerträglichste auf Erden. So versuchte ich, schleunigst abzurücken: ich fühlte mich nicht recht auf dem Damm. Jedoch mit einem drastischen »Ausgeschlossen! Heut gibt's kein Abpaschen«, hatte mich Ferencz schon unter den Arm gefaßt, und ich mußte widerwillig nachgeben. Verworren hörte ich ihn, während sie mich weiterzogen, erzählen, wie und wem Balinkay schon aus der Schlamastik geholfen, daß er sofort seinem Schwager eine Stellung verschafft habe und ob unsereins nicht geschwinder Karriere machen könnte, ginge man auf ein Schiff zu ihm oder nach Indien hinüber. Joszi, dieser hagere, verbissene Bursche, tropfte ab und zu Essig in des braven Ferencz dankbare Begeisterung. Ob der Oberst sein »Herzpinkerl« derart liebevoll empfangen würde, spottete er, wenn Balinkay nicht diesen dicken holländischen Schellfisch eingefangen hätte; zwölf Jahre soll sie übrigens älter sein als er, und: »Wenn man sich schon verkauft, soll man sich wenigstens teuer verkaufen«, lachte Graf Steinhübel.
Jetzt nachträglich kommt es mir sonderbar vor, daß mir trotz meiner Benommenheit jedes Wort dieses Gesprächs im Gedächtnis blieb. Oft geht ja mit einer Betäubung des wachen Denkens eine innere Erregtheit der Nerven geheimnisvoll Hand in Hand, und auch als wir in den großen Saal des »Roten Löwen« kamen, tat ich dank der Hypnose der Disziplin meine zugewiesene Arbeit halbwegs anständig. Und es gab reichlich zu tun. Der ganze Vorrat an Transparenten, Fahnen und Emblemen, der sonst nur beim Regimentsball brillierte, wurde herangeholt, ein paar Ordonnanzen hämmerten laut und vergnügt an den Wänden, nebenan drillte Steinhübel dem Hornisten ein, wann und wie er den Tusch zu blasen hätte. Jozsi bekam, weil er die sauberste Schrift hatte, den Auftrag, das Menü zu schreiben, in dem alle Speisen humoristisch anzügliche Namen erhielten, mir pelzten sie die Tischordnung auf. Zwischendurch rückte der Hausknecht bereits Sessel und Tische zurecht, die Kellner brachten klirrende Batterien von Wein und Sekt in Stellung, die Balinkay von Sacher in Wien in seinem Auto herspediert hatte. Sonderbarerweise tat dieser Wirbel mir wohl, denn er überdröhnte mit seinem Lärm das dumpfe Pochen und Fragen zwischen den Schläfen.
Endlich, um acht Uhr, war alles parat. Jetzt hieß es noch hinüber in die Kaserne, sich rasch herrichten und umkleiden. Mein Bursche war schon verständigt. Waffenrock und Lackstiefel lagen bereit. Rasch den Kopf ins kalte Wasser und einen Blick auf die Uhr: im ganzen noch zehn Minuten; bei unserem Oberst hieß es verflucht pünktlich sein. So ziehe ich mich flink aus, haue die staubigen Schuhe weg, aber gerade, als ich in Unterkleidern vor dem Spiegel stehe, um mir das verraufte Haar zurechtzukämmen, klopft es an der Tür.
»Für niemanden zu sprechen«, befehle ich dem Burschen. Er springt gehorsam weg, einen Augenblick tuschelt's draußen im Vorzimmer. Dann kommt Kusma wieder zurück, einen Brief in der Hand.
Ein Brief für mich? In Hemd und Unterhosen, wie ich eben stehe, nehme ich das blaue rechteckige Couvert, dick und schwer, fast ein kleines Paket, und habe sofort Feuer in der Hand. Ich brauche die Schrift gar nicht anzusehen, um zu wissen, wer mir schreibt.
Später, später – sagt mir ein rascher Instinkt. Nicht lesen, jetzt nicht lesen! Aber schon habe ich wider meinen innersten Willen den Umschlag aufgerissen und lese, lese den Brief, der mir immer heftiger in den Händen knistert.
Es war ein Brief von sechzehn Seiten, mit aufgeregter Hand fliegend hingeschrieben, ein Brief, wie ihn ein Mensch im Leben nur einmal schreibt und nur einmal im Leben empfängt. Gleich Blut aus einer aufgerissenen Wunde flossen die Sätze unaufhaltsam dahin, ohne Absätze, ohne Interpunktion, ein Wort überholte, überrannte, überstürzte das andere. Jetzt noch nach Jahren und Jahren sehe ich jede Zeile, jeden Buchstaben vor mir, jetzt noch könnte ich mir diesen Brief von Anfang bis Ende zu jeder Stunde des Tags und der Nacht Seite für Seite auswendig vorsprechen, so oft habe ich ihn gelesen. Noch Monate und Monate nach jenem Tag habe ich dieses gefaltete blaue Bündel Papiers bei mir in der Tasche getragen, immer wieder es hervorholend, zu Hause, in den Baracken und in den Unterständen und an den Lagerfeuern des Kriegs; erst beim Rückzug in Wolhynien, als unsere Division schon an beiden Flanken vom Feinde umfaßt war und mich die Sorge überfiel, dies Geständnis eines ekstatischen Augenblicks könne in fremde Hände geraten, habe ich diesen Brief vernichtet.
»Sechsmal«, begann er, »hatte ich schon an Dich geschrieben und jedesmal jedes Blatt zerrissen. Denn ich wollte mich nicht verraten, ich wollte nicht. Ich hab mich zurückgehalten, solange noch Widerstand in mir war. Wochen und Wochen habe ich mit mir gerungen, mich vor Dir zu verstellen. Jedesmal, wenn Du zu uns kamst, freundlich und ahnungslos, habe ich meinen Händen befohlen, stillzuhalten, meinen Blicken, gleichgültig zu tun, um Dich nicht zu verstören; oft bin ich sogar mit Absicht hart und höhnisch gegen Dich gewesen, nur um Dich nicht ahnen zu lassen, wie sehr mein Herz nach Dir brannte – alles habe ich versucht, was in der Kraft eines Menschen war und über seine Kraft. Aber heute ist es geschehen und ich schwör Dir, wider meinen Willen ist es über mich gekommen, hinterrücks hat es mich überfallen. Ich verstehe selber nicht mehr, wie mir das geschehen konnte; am liebsten hätte ich mich nachher geschlagen und gezüchtigt, so hündisch schämte ich mich. Denn ich weiß ja, ich weiß, welcher Irrwitz, welcher Wahnsinn das wäre, mich Dir aufzudrängen. Eine lahme Kreatur, ein Krüppel hat kein Recht, zu lieben – wie sollte ich zerschlagenes, geschlagenes Wesen Dir nicht zur Last sein, da ich mir selbst doch ein Ekel, ein Abscheu bin? Ein Wesen wie ich, ich weiß, hat kein Recht, zu lieben, und schon gar keines, geliebt zu werden. Im Winkel hat sich's zu verkriechen und zu krepieren und nicht noch andern mit seiner Gegenwart das Leben zu verstören – ja, alles das weiß ich, ich weiß es und gehe daran zugrunde, daß ich es weiß. Niemals hätte ich darum gewagt, Dich anzufallen, aber wer als Du hat mir die Zuversicht gegeben, ich würde nicht mehr lange dies klägliche Mißgebilde bleiben, das ich bin? Ich würde mich rühren, mich bewegen können wie die andern Menschen, wie alle die Millionen überflüssiger Menschen, die gar nicht wissen, daß jeder freie Schritt eine Gnade ist und eine Herrlichkeit. Eisern hatte ich mir vorgenommen, mich zu verschweigen, bis ich wirklich so weit wäre, ein Mensch, eine Frau wie die andern und vielleicht – vielleicht!!! – Deiner würdig, Du Geliebter. Aber meine Ungeduld, meine Gier, zu genesen, war so toll, daß ich in dieser Sekunde, da Du Dich über mich neigtest, schon glaubte, ehrlich glaubte, ehrlich und närrisch glaubte, jene Andere, jene Neue, jene Genesene zu sein! Ich hatte es eben zu lange gewollt und geträumt und jetzt warst Du mir nah – da vergaß ich für einen Augenblick meine schuftigen Beine, ich sah nur Dich, und fühlte als die, die ich für Dich sein wollte. Kannst Du das nicht verstehen, daß man auch mitten im Tag einen Augenblick lang träumen kann, wenn man Jahr um Jahr immer diesen einzigen Traum träumt, Tag und Nacht? Glaub mir, Geliebter – nur dieser unsinnige Wahn, ich sei schon von meiner Humpelei erlöst, hat mich so wirr gemacht; nur diese Ungeduld, nicht mehr die Ausgestoßene, nicht mehr der Krüppel zu sein, ließ mein Herz derart toll herausfahren aus mir. Begreif's doch: ich hatte doch schon so lange und so unendliche Sehnsucht nach Dir.
Aber nun weißt Du, was Du nie hättest wissen sollen, ehe ich nicht wirklich auferstanden war, und weißt auch, für wen ich geheilt sein will, für wen allein auf Erden – nur für Dich! Nur für Dich! Verzeih mir, unendlich Geliebter, diese Liebe, und um dies eine vor allem flehe ich Dich an – fürchte Dich nicht und entsetze Dich nicht vor mir! Glaub nicht, daß weil ich einmal zudringlich gewesen, ich Dich weiter verstören werde, daß ich, hinfällig und mir selbst widrig, wie ich bin, Dich schon halten will. Nein, ich schwör es Dir – kein Drängen sollst Du jemals von mir spüren, ganz unfühlbar will ich bleiben für Dich. Nur warten will ich, geduldig warten, bis Gott sich meiner erbarmt und mich gesund macht. So bitte, so flehe ich Dich an – fürchte Dich nicht, Liebster, vor meiner Liebe, bedenk doch, Du, der Du Mitleid hattest wie kein anderer mit mir, bedenk, wie gräßlich hilflos ich bin, angenagelt an meinen Sessel, unfähig, einen eigenen Schritt zu tun, unmächtig, Dir nachzugehen, Dir entgegenzueilen. Bedenk doch, bedenk, daß ich eine Gefangene bin, die in ihrem Kerker warten muß, immer geduldig-ungeduldig warten, bis Du kommst und mir eine Stunde schenkst, bis Du mir erlaubst, Dich anzublicken, Deine Stimme zu hören, im selben Raum Deinen Atem zu spüren, Deine Gegenwart zu fühlen, dies einzige, dies erste Glück, das mir seit Jahren gegönnt war. Bedenk's doch, denk Dir's aus: da liegt man und liegt und wartet Tag und Nacht, und jede Stunde dehnt sich, man kann die Spannung kaum ertragen. Und dann kommst Du, und ich vermag nicht wie eine andere aufzuspringen, ich kann Dir nicht entgegenlaufen, nicht Dich umfassen, nicht Dich halten. Man muß sitzen und sich bezähmen, sich dämmen und sich verschweigen, muß auf jedes Wort, auf jeden Blick, auf jede Schwingung der Stimme achten, nur daß Du nicht meinen könntest, ich maße mir an, Dich zu lieben. Aber doch, glaub mir, Geliebter, auch dies martervolle Glück war für mich immer noch Glück, und ich lobte, ich liebte mich jedesmal, wenn es mir noch einmal gelungen war, mich zu verhalten, und Du gingst weg, ahnungslos, frei und unbeschwert, unwissend um meine Liebe; einzig mir blieb dann die Qual, zu wissen, wie rettungslos ich Dir verfallen bin.
Aber nun ist es geschehen. Und jetzt, Geliebter, da ich nicht mehr leugnen und wegleugnen kann, was ich für Dich fühle, jetzt flehe ich Dich an, sei nicht grausam zu mir; auch das ärmste, das kläglichste Wesen hat noch seinen Stolz, und ich könnte es nicht ertragen, daß Du mich verachtest, weil ich mein Herz nicht verhalten konnte! Nicht erwidern sollst Du meine Liebe – nein, bei Gott, der mich heilen und retten soll, solche Verwegenheit wage ich nicht. Nicht einmal im Traum wage ich zu hoffen, daß Du mich, so wie ich heute bin, schon lieben könntest – ich will, Du weißt es, kein Opfer, kein Mitleid von Dir! Ich will nichts, als daß Du duldest, daß ich warte, stumm warte, bis die Zeit endlich gekommen ist! Ich weiß, schon dies ist viel, was ich von Dir erbitte. Aber ist es wirklich zu viel, einem Menschen dies kläglichste, dies kleinste Glück zu gönnen, das man doch jedem Hunde willig verstattet, das Glück, mit stummem Blick manchmal zu seinem Herrn aufzusehen? Muß man ihn gleich gewaltsam zurückstoßen, muß man ihn peitschen mit Verachtung? Denn nur dies eine, das sag ich Dir, nur dies könnte ich nicht ertragen, wenn ich, erbärmlich wie ich bin, Dir widrig geworden wäre dadurch, daß ich mich verraten habe. Wenn Du mich noch strafen würdest über meine eigene Scham und Verzweiflung hinaus. Dann hätte ich nur einen Weg und Du kennst ihn. Ich habe ihn Dir gezeigt.
Aber nein, erschrick nicht, ich will ja nicht drohen! Ich will Dich nicht erschrecken, nicht statt Deiner Liebe Mitleid erpressen, dies einzige, was Dein Herz mir bisher gegeben hat. Ganz frei und sorglos sollst Du Dich fühlen – ich will Dich um Gottes willen nicht belasten mit meiner Last, nicht beschweren mit einer Schuld, an der Du schuldlos bist – nur das eine will ich: daß Du verzeihst und vollkommen vergißt, was geschehen ist, vergißt, was ich gesagt, was ich verraten habe. Diese Beruhigung nur gib mir, nur diese kleine arme Gewißheit! Sag mir sofort, mir genügt ja ein einziges Wort, daß ich Dir nicht widerlich geworden bin, daß Du wieder zu uns kommst, als ob nichts geschehen wäre: Du ahnst ja nicht meine Sorge, Dich zu verlieren. Seit der Stunde, da die Tür hinter Dir zufiel, martert mich, ich weiß nicht warum, eine tödliche Angst, es sei zum letztenmal gewesen. Du warst so blaß in dieser Minute, Du hattest einen solchen Schrecken im Blick, als ich von Dir ließ, daß mir plötzlich eiskalt wurde inmitten meiner Glut. Und ich weiß – der Diener hat es mir erzählt – daß Du gleich hinausgeflüchtet bist aus dem Haus; mit einem Mal warst Du fort und Dein Säbel, Deine Kappe. Vergebens hat er Dich gesucht, in meinem Zimmer und überall, und so weiß ich's, daß Du geflohen bist vor mir wie vor einem Aussatz, wie vor einer Pest. – Aber nein, Geliebter, nein, keinen Vorwurf, ich verstehe Dich doch! Gerade ich, die ich vor mir selber erschrecke, wenn ich die Klötze sehe an meinen Füßen, nur ich, die ich weiß, wie böse, wie launisch, wie quälerisch, wie schwer erträglich ich geworden bin in meiner Ungeduld, gerade ich kann doch am besten begreifen, daß man vor mir erschrickt – oh, schrecklich gut kann ich's verstehen, daß man vor mir flüchtet, daß man zurückschauert, wenn solch ein Unwesen einen anfällt. Und doch flehe ich Dich an, daß Du mir verzeihst, denn es ist nicht Tag und nicht Nacht ohne Dich, nur Verzweiflung. Nur einen Zettel, einen kleinen raschen Zettel schick mir oder ein leeres Blatt, eine Blume, aber nur irgendein Zeichen! Nur etwas, woran ich erkenne, daß Du mich nicht wegstößt, daß ich Dir nicht widerlich geworden bin. Bedenk doch, in ein paar Tagen bin ich fort, für Monate fort, in acht, in zehn Tagen ist Deine Qual zu Ende. Und wenn die meine dann auch tausendfach beginnt, die Qual, Dich wochen-, Dich monatelang entbehren zu müssen, so denk nicht dran, denk nur an Dich, wie ich immer an Dich denke, nur an Dich! – In acht Tagen bist Du erlöst – so komm noch einmal und schick mir inzwischen ein Wort, gib mir ein Zeichen! Ich kann nicht denken, nicht atmen, nicht fühlen, solange ich nicht weiß, daß Du mir verziehen hast; ich will, ich kann nicht länger leben, verweigerst Du mir das Recht, Dich zu lieben.«
Ich las und las. Immer wieder begann ich von neuem. Die Hände zitterten mir und das Hämmern in meinen Schläfen wurde heftiger vor Grauen und Erschütterung, so verzweifelt geliebt zu sein.
»Na so was! Da stehst noch in der Unterhosen herum und drüben warten's wie die Haftelmacher auf dich. Die ganze Bande sitzt schon und spitzt, daß es losgeht, auch der Balinkay, jeden Moment muß der Oberst anrücken, und du weißt, was der blade Frosch für einen Tanz macht, wenn unsereiner zu spät kommt. Eigens hat der Ferdl mich noch rasch herüberg'schickt, nachschaun, ob dir was passiert ist, und da stehst und liest süße Brieferln ... Also fix, Tempo, Tempo, sonst kriegen wir beide einen Mordsputzer.«
Es ist Ferencz, der in mein Zimmer hereingestürmt ist. Ich habe ihn gar nicht bemerkt, ehe er mir mit seiner schweren Pratze brüderlich auf die Schulter haut. Im ersten Augenblick verstehe ich nichts. Der Oberst? Herübergeschickt? Balinkay? Ach so, ach so, erinnere ich mich: der Empfangsabend für Balinkay! Hastig greife ich nach Hose und Rock, und mit der in der Kadettenschule eingelernten Geschwindigkeit reiße ich alles mechanisch an mich, ohne recht zu wissen, wie ich's mache. Ferencz schaut mir merkwürdig zu:
»Was ist denn los mit dir? Ganz teppert tust du da herum. Hast am End schlechte Nachrichten von wo?«
Aber eilig wehre ich ab. »Keine Spur. Ich komm schon.« Drei Sprünge und wir sind bei der Treppe. Da reiße ich mich noch einmal herum.
»Fix Laudon noch einmal, was hast denn schon wieder?« brüllt mir der Ferencz zornig nach. Aber ich habe nur rasch den Brief an mich genommen, den ich auf dem Tisch vergessen, und in die Brusttasche geschoben. Wir kommen wirklich im letzten Augenblick in den Saal. Um den langen hufeisenförmigen Tisch gruppiert sich die ganze bunte Runde, aber keiner getraut sich recht, lustig zu sein, ehe die Vorgesetzten Platz genommen haben, Schuljungen ähnlich, wenn die Glocke schon geläutet hat und jeden Augenblick der Lehrer eintreten muß.
Und schon reißen die Ordonnanzen die Tür auf, schon treten sporenklirrend die Stabsoffiziere ein. Wir krachen alle von unseren Sitzen auf und stehen einen Augenblick »Habtacht«. Der Oberst setzt sich zur Rechten, der rangälteste Major zur Linken Balinkays, und sofort wird die Tafel animiert, Teller klirren, Löffel klappern, alles schwätzt und schlürft lebhaft durcheinander. Nur ich sitze in einer Art Abwesenheit inmitten der aufgelockerten Kameraden und taste immer wieder an den Rock über der Stelle, wo etwas hämmert und pocht wie ein zweites Herz. Durch das weiche, nachgiebige Tuch spüre ich jedesmal beim Hingreifen den Brief knistern wie ein angefachtes Feuer; ja, er ist da, er rührt, er regt sich ganz nah an meiner Brust wie etwas Lebendiges, und während die andern gemächlich schwatzen und schmatzen, kann ich an nichts als an diesen Brief denken und die verzweifelte Not des Menschen, der ihn geschrieben.
Vergebens serviert mir der Kellner. Ich lasse alles unberührt stehen, mich lähmt dieses Nach-innen-horchen wie eine Art Schlaf mit offenen Augen. Rechts und links höre ich verhangene Worte um mich, ohne sie zu verstehen; es ist, als sprächen alle eine fremde Sprache. Ich sehe vor mir, neben mir Gesichter, Schnurrbärte, Augen, Nasen, Lippen, Uniformen, aber mit jener Stumpfheit, mit der man durch eine Glasscheibe Dinge einer Auslage wahrnimmt. Ich bin da und doch nicht dabei, starr und doch beschäftigt, denn ich murmle noch immer mit lautlosen Lippen die einzelnen Worte des Briefes nach, und manchmal, wenn ich nicht weiter weiß oder mich verwirre, zuckt mir die Hand, um heimlich in die Tasche zu greifen, wie man in der Kadettenschule während der Taktikstunde verbotene Bücher hervorholte.
Da klirrt ein Messer energisch ans Glas; als ob der scharfe Stahl den Lärm zerschnitten hätte, wird es plötzlich still. Der Oberst ist aufgestanden und beginnt eine Rede. Er spricht, mit beiden Händen sich angestrengt an dem Tisch festhaltend und den stämmigen Körper vor- und rückwärts schwingend, als säße er zu Pferd. Den Einsatz bildet mit hartem knarrenden Anruf das Wort »Kameraden«; scharf skandierend und die »R« rollend wie eine Sturmtrommel, formuliert er seinen wohlvorbereiteten Speech. Angestrengt höre ich hin, aber der Kopf will nicht mit. Nur einzelne Worte höre ich schnarren und schmettern. »... Ehre der Arrmee ... österreichischer Rreitergeist ... Treue zum Rrregiment ... alter Kamerad ...« – aber dazwischen wispern geisterhaft andere Worte, leise, flehende, zärtliche wie aus einer anderen Welt. Von innen spricht der Brief mit. »Unendlich Geliebter ... fürchte Dich nicht ... ich kann nicht länger leben, nimmst Du mir das Recht, Dich zu lieben ...« und dazwischen wieder die kraxenden R. »... er hat seine Kameraden in der Ferne nicht vergessen ... nicht das Vaterrland ... nicht sein Österrreich ...« und abermals dazwischen die andere Stimme wie ein Schluchzen, wie ein erstickter Schrei. »Nur erlauben sollst Du mir, daß ich Dich liebe ... nur ein Zeichen sollst Du mir geben ...«
Und schon kracht und knattert es wie eine Salve »Hoch, hoch, hoch«. Alle sind, wie vom erhobenen Glas des Obersten emporgerissen, stramm aufgesprungen, vom Nebenraum schmettert prompt der verabredete Tusch »Hoch soll er leben«. Alle stoßen an und toasten auf Balinkay, der nur die niederprasselnde Dusche abwartet, ehe er locker, leicht, in humoristischer Art erwidert. Bloß ein paar anspruchslose Worte wolle er sagen, nur, daß er sich, trotz allem und allem, nirgends in der Welt so wohlfühle wie unter den alten Kameraden, und schon endet er mit dem Ruf: »Es lebe das Regiment! Es lebe Seine Majestät, unser allergnädigster Kriegsherr, der Kaiser!« Steinhübel gibt dem Hornisten den zweiten Wink, ein neuerlicher Tusch setzt ein, und im Chor braust die Volkshymne auf und dann das unvermeidliche Lied aller österreichischen Regimenter, in dem jedes sich mit gleichem Stolz bei seinem Namen nennt:
»Wir sind vom k. und
k.
Ulanenregiment ...«
Dann wandert Balinkay rings um den Tisch, das Glas in der Hand, um mit jedem einzeln anzustoßen. Mit einmal spüre ich mich, von meinem Nachbarn energisch aufgestupft, einem Paar hellgrüßender Augen entgegen: »Servus, Kamerad.« Ich nicke benommen zurück; erst als Balinkay schon beim Nächsten hält, merke ich, daß ich vergessen habe, mit ihm anzustoßen. Doch schon ist alles wieder im bunten Nebel verschwunden, der mir Gesichter und Uniformen so sonderbar verschwommen durcheinandermengt. Donnerwetter – was ist denn das mit einem Mal für ein blauer Rauch vor meinen Augen? Haben die andern schon angefangen zu qualmen, daß mir's plötzlich so stickig heiß wird? Etwas trinken, rasch trinken! Ein, zwei, drei Gläser stürze ich hinab, ohne zu wissen, was ich trinke. Nur das Bittere, das Üblige erst einmal weg aus der Kehle! Und selber rasch was rauchen! Aber da ich in die Tasche fahre nach der Zigarettendose, spüre ich wieder das Knistern unter dem Rock: der Brief! Meine Hand zuckt zurück. Abermals höre ich durch das wüste Getümmel nur die schluchzenden, die flehenden Worte: »Nur erlauben sollst Du mir, Dich zu lieben ... ich weiß ja, es ist Wahnsinn, mich Dir anzudrängen ...«
Doch da klirrt abermals eine Gabel stillegebietend an ein Glas. Es ist der Major Wondraczek, der jeden Anlaß benützt, um seinen poetischen Fimmel in humoristischen Versen und Schnadahüpfeln zu entladen. Wir wissen alle: sobald Wondraczek aufsteht, sein respektables Bäuchlein an den Tisch lehnt und ein pfiffiges und zwinkerndes Gesicht zu machen versucht, beginnt unaufhaltsam der »lustige Teil« des Kameradschaftsabends.
Und schon steht er in Positur, den Zwicker über die etwas weitsichtigen Augen geschoben, und entfaltet umständlich sein Folioblatt. Es ist das obligate Gelegenheitsgedicht, mit dem er jedes Fest zu verschönen glaubt und das diesmal die Lebensgeschichte Balinkays mit »zündenden« Scherzen zu verbrämen sucht. Aus subalterner Höflichkeit oder vielleicht, weil sie selbst schon ein bißchen angetrunken sind, lachen bei jeder Anspielung einige Nachbarn gefällig mit. Endlich schlägt eine Pointe wirklich ein, und von knatterndem »bravo, bravo« dröhnt die ganze Runde.
Mich aber packt mit einem Mal ein Grauen. Wie eine Kralle krampft sich mir dieses grobe Lachen ums Herz. Denn wie kann man so lachen, wenn irgend jemand stöhnt, irgend jemand so unermeßlich leidet? Wie mit dreckigen Witzen spaßen und spotten, indes jemand zugrunde geht? Gleich, ich weiß es, wenn Wondraczek fertig gequasselt hat, beginnt die große Sumperei, das Hallo und das Allotria. Man wird singen, man wird die neuesten Strophen von der »Wirtin an der Lahn« singen, Witze erzählen, man wird lachen und lachen und lachen. Mit einmal kann ich die gutmütig glänzenden Gesichter nicht mehr sehen. Hat sie denn nicht geschrieben, nur einen Zettel solle ich schicken, nur ein einziges Wort? Ob ich nicht doch ans Telephon gehe und draußen anrufe? Man kann doch nicht einen Menschen so warten lassen! Man muß ihm doch etwas sagen, man muß ...
»Bravo, bravissimo!« Alle applaudieren, Stühle krachen, der Boden dröhnt und staubt vom plötzlichen Aufspringen von vierzig oder fünfzig heiteren und ein wenig beduselten Männern. Stolz steht der Major, nimmt den Zwicker ab und faltet das Blatt zusammen, gutmütig und ein bißchen eitel den Offizieren zunickend, die ihn glückwünschend umdrängen. Ich aber nutze den Augenblick des Tumults und laufe ohne Abschied hinaus. Vielleicht merken sie's nicht. Und wenn sie's merken, mir ist schon alles gleichgültig, ich kann's einfach nicht mehr ertragen, dieses Lachen, nicht diese behagliche, sich gleichsam selber den vollen Bauch beklopfende Lustigkeit. Ich kann nicht, ich kann nicht!
»Gehen Herr Leutnant schon?« fragt bei der Garderobe erstaunt die Ordonnanz. Hol dich der Teufel, murre ich innerlich und schiebe ohne ein Wort an ihm vorbei. Nur die Straße hinüber, rasch ums Eck und die Treppen der Kaserne in mein Stockwerk hinauf: allein sein, allein!
Die Gänge dünsten leer, irgendwo geht schrittauf, schrittab eine Wache, ein Wasserhahn rauscht, ein Stiefel fällt, nur aus einem der Mannschaftszimmer, wo schon vorschriftsmäßig dunkelgemacht ist, tönt etwas weich und fremd. Unwillkürlich horche ich hin: ein paar der ruthenischen Burschen singen oder summen leise zusammen ein melancholisches Lied. Immer vor dem Einschlafen, wenn sie das fremde bunte Kleid mit den Messingknöpfen ausziehen und sie wieder nichts als der nackte Mensch werden, der zu Haus im Stroh lag, erinnern sie sich an die Heimat, an die Felder oder vielleicht an ein Mädel, das sie gern hatten, und dann singen sie, um zu vergessen, wie fern sie sind, diese wehmütigen Melodien. Sonst hatte ich auf dieses Summen und Singen nie achtgehabt, weil ich die Worte nicht verstehe, diesmal aber ergreift mich brüderlich ihre fremde Traurigkeit. Ach, hinsetzen sich zu einem, mit ihm sprechen, der's nicht begreifen würde und vielleicht doch mit einem mitfühlenden Blick seiner kuhhaften guten Augen alles besser verstünde als die drüben, die Lustigen am Hufeisentisch. Nur jemanden haben, der einem hilft aus dieser heillosen Verstrickung!
Auf den Zehenspitzen, um Kusma, meinen Burschen, nicht zu wecken, der mit schweren schnarchigen Atemzügen im Vorraum schläft, schleiche ich in mein Zimmer, werfe im Dunkel die Kappe weg, reiße den Säbel ab und die Halsbinde weg, die mich schon lange würgt und engt. Dann entzünde ich die Lampe und trete an den Tisch, um jetzt endlich, endlich in Ruhe den Brief zu lesen, den ersten erschütternden, den mir jungem, ungewissem Menschen eine Frau geschrieben.
Aber im nächsten Augenblick schrecke ich auf. Denn da auf dem Tisch liegt schon – wie ist das möglich? – der Brief im Lichtkreis der Lampe, der Brief, den ich eben noch in der Brusttasche verborgen meinte, – ja, da liegt er, blau, rechteckiges Kuvert, die wohlbekannte Schrift.
Einen Augenblick taumle ich. Bin ich betrunken? Träume ich mit offenen Augen? Bin ich nicht mehr bei Sinnen? Ich hatte doch eben noch, bei dem Aufreißen des Rocks, deutlich das Knistern des Briefes in der Brusttasche gespürt. Bin ich schon so verstört, daß ich ihn herauslegte, ohne eine Minute später noch davon zu wissen? Ich greife in die Tasche. Nein – es war ja nicht anders möglich – da steckt er noch geruhig der Brief. Und jetzt verstehe ich erst, was vorgeht. Jetzt erst werde ich ganz wach. Dieser Brief auf dem Tisch muß ein neuer, ein zweiter, ein anderer, ein später gekommener sein, und der brave Kusma hat ihn mir vorsorglich neben die Thermosflasche gelegt, damit ich ihn heimkehrend gleich finde.
Noch ein Brief! Noch ein zweiter, innerhalb von zwei Stunden! Sofort pappt sich mir die Kehle zu mit Ärger und Zorn. So wird das jetzt jeden Tag weitergehen, jeden Tag, jede Nacht, Brief auf Brief, einer nach dem andern. Wenn ich ihr schreibe, wird sie mir wieder schreiben, wenn ich nicht antworte, wird sie Antwort fordern. Immer wird sie etwas von mir wollen, jeden Tag, jeden Tag! Sie wird mir Boten schicken und mich antelephonieren, sie wird mich umlauern und umlauern lassen bei jedem Schritt, wird wissen wollen, wann ich ausgehe und zurückkomme, mit wem ich bin und was ich sage und tue und treibe. Ich sehe schon, ich bin verloren – sie lassen mich nicht mehr los – oh, der Djinn, der Djinn, der Alte und der Krüppel! Nie werde ich mehr frei sein, nie geben diese Gierigen, diese Verzweifelten mich mehr frei, bis nicht einer von uns zerstört ist, sie oder ich, durch diese unsinnige, unselige Leidenschaft.
Nicht lesen, sage ich mir. Keinesfalls heute noch lesen. Überhaupt dich nicht mehr einlassen! Du hast nicht Kraft genug gegen dies Ziehen und Zerren, es wird dich zerreißen. Besser den Brief einfach vernichten oder uneröffnet zurückschicken! Überhaupt sich's nicht ins Bewußtsein, ins Wissen, ins Gewissen zwängen lassen, daß irgendein wildfremdes Wesen dich liebt! Hol die ganzen Kekesfalvas der Teufel! Ich habe sie früher nicht gekannt und will sie weiter nicht kennen. Aber dann schauert mich plötzlich der Gedanke an: vielleicht hat sie sich etwas angetan, weil ich nicht geantwortet habe! Vielleicht tut sie sich etwas an! Man darf einen verzweifelten Menschen nicht ganz ohne Antwort lassen! Ob ich nicht doch Kusma aufwecke und rasch ein Wort der Beruhigung, der Bestätigung hinausschicke? Nur keine Schuld auf sich nehmen, keine Schuld! So reiße ich das Kuvert auf. Gottlob, es ist nur ein kurzer Brief. Nur eine einzige Seite, nur zehn Zeilen ohne Überschrift:
»Vernichten Sie sofort meinen früheren Brief! Ich war verrückt, völlig verrückt. Alles, was ich schrieb, ist nicht wahr. Und kommen Sie morgen nicht zu uns! Bitte bestimmt nicht kommen! Ich muß mich bestrafen dafür, daß ich mich so kläglich vor Ihnen erniedrigt habe. Also auf keinen Fall morgen, ich will nicht, ich verbiete es Ihnen. Und keine Antwort! Auf keinen Fall eine Antwort! Vernichten Sie zuverlässig meinen früheren Brief, vergessen Sie jedes Wort! Und denken Sie nicht mehr daran.«
Nicht daran denken – kindischer Befehl, als wären jemals erregte Nerven gesinnt, Zügel und Zaum des Willens sich zu unterwerfen! Nicht daran denken, indes die Gedanken wie scheue, losgerissene Pferde mit schmerzhaft hämmernden Hufen in dem engen Raum zwischen den Schläfen jagen! Nicht daran denken, indes die Erinnerung unablässig Bild auf Bild fiebernd heranreißt, indes die Nerven flirren und flackern und alle Sinne sich spannen zur Abwehr und Gegenwehr! Nicht daran denken, indes das Briefblatt einem die Hand noch versengt mit seinen brennenden Worten, das Briefblatt, das eine und das andere, das man aufnimmt und wieder weglegt und wieder liest und vergleicht, das erste und das zweite, bis jedes Wort eingeglüht ist wie ein Brandmal im Gehirn! Nicht daran denken, indes man doch nur dies eine und eine zu denken vermag: wie entrinnen, wie sich wehren? Wie sich retten vor diesem gierigen Andrang, vor diesem unerwünschten Überschwang?
Nicht daran denken, – man will es doch selbst und löscht das Licht, weil Licht alle Gedanken zu wach, zu wirklich macht. Man sucht unterzukriechen, sich zu verstecken im Dunkel, man reißt die Kleider vom Leibe, um freier zu atmen, man wirft sich hin auf das Bett, um sich fühlloser zu machen. Aber die Gedanken, sie ruhen nicht mit, wie Fledermäuse wirr und gespenstisch umflattern sie die ermatteten Sinne, gierig wie Ratten knabbern und wühlen sie sich durch die bleierne Müdigkeit. Je ruhiger man liegt, um so unruhiger wird das Erinnern, um so erregender die flackernden Bilder im Dunkeln; so steht man wieder auf und macht neuerdings Licht, um die Gespenster zu scheuchen. Aber das erste Ding, das die Lampe feindselig faßt, ist das helle Viereck des Briefs, und um den Stuhl hängt die Bluse, die befleckte, alles erinnert und mahnt. Nicht daran denken – man will es doch selbst und kein Wille vermag's. So irrt man im Zimmer hin und her und her und hin, reißt den Kasten auf und im Kasten die Laden, eine nach der andern, bis man die kleine Glashülse findet mit einem Schlafmittel und hinwankt zu dem Bett. Aber es gibt keine Flucht. Selbst in den Traum wühlen sich, die schwarze Schale des Schlafs durchnagend, die rastlosen Ratten der schwarzen Gedanken, immer dieselben, immer dieselben, und da man morgens erwacht, fühlt man sich wie ausgehöhlt und ausgeblutet von Vampiren.
Wohltat darum die Reveille, Wohltat der Dienst, diese bessere, diese mildere Gefangenschaft! Wohltat, sich auf sein Pferd zu schwingen und vorwärts im Trab mit den andern, ununterbrochen achtsam sein zu müssen und angespannt! Man hat zu gehorchen, man hat zu befehlen! Drei Exerzierstunden, vier Stunden vielleicht entrinnt, entreitet man sich selbst.
Alles geht zuerst gut. Wir haben – gesegneterweise – einen scharfen Tag, Übung für das Manöver, die große Schlußdefilierung, wo jede Eskadron in entwickelter Linie am Kommandierenden vorüberreitet, jeder Pferdekopf, jede Säbelspitze haarscharf ausgerichtet. Bei solchen Paradestücken gibt es verdammt viel zu tun, zehnmal, zwanzigmal heißt es von neuem beginnen, jeden einzelnen Ulanen im Auge behalten, und so sehr fordert die Übung von jedem unter uns Offizieren angespannteste Aufmerksamkeit, daß ich unentrinnbar ganz bei der Sache bin und alles andere vergesse. Gottlob!
Aber während wir zehn Minuten Pause machen, um die Pferde ausschnaufen zu lassen, streift mein wandernder Blick zufällig den Horizont. Weit schimmern im stählernen Blau die Wiesen mit Garben und Schnittern, rund und rein schwingt sich die flache Linie in den Himmel – nur hinter der Lisière silhouettiert sich, zahnstocherhaft schmal, der sonderbare Umriß eines Turms. Das ist ja, ich schrecke auf, ihr Turm mit der Terrasse – zwanghaft ist der Gedanke wieder da, zwanghaft muß ich hinstarren und mich erinnern: acht Uhr, jetzt ist sie längst wach und denkt an mich. Vielleicht tritt der Vater an ihr Bett und sie spricht von mir, sie jagt und fragt Ilona oder den Diener, ob nicht ein Brief gekommen sei, die sehnlich erwartete Nachricht (ich hätte ihr doch schreiben sollen!) – oder vielleicht hat sie sich schon hinauffahren lassen auf den Turm und späht und starrt von dort, angeklammert an das Geländer, genau so herüber nach mir, wie ich jetzt hinüberstarre. Und kaum daß ich mich erinnere, jemand anderer sehne sich dort nach mir, spüre ich in der eigenen Brust schon das mir wohlbekannte heiße Zerren und Ziehen, die verfluchte Kralle des Mitleids, und obwohl jetzt die Übung wieder beginnt, von allen Seiten die Kommandorufe wechseln und die verschiedenen Gruppen in Galopp und Karriere sich zu vorgeschriebenen Formationen formen und lösen und ich selber mein »rechts schwenkt« und »links schwenkt« in das Getümmel schreie, bin ich innerlich hinweggerissen; in der untersten und eigensten Schicht meines Bewußtseins denke ich immer nur an das eine, an das ich nicht denken will, an das ich nicht denken soll.
»Himmel, Angst und Zwirn, was ist das für eine Sauerei! Zurück! Auseinander, ihr Bagage!« Es ist unser Oberst Bubencic, der, puterrot im Gesicht, heranprescht und über den ganzen Exerzierplatz brüllt. Und er hat nicht unrecht, der Oberst. Irgendein Kommando muß falsch erteilt worden sein, denn zwei Züge, darunter der meine, die nebeneinander schwenken sollten, sind in voller Karriere ineinander geraten und haben sich gefährlich verfilzt. Ein paar Pferde brechen im Tumult aufscheuend aus, andere bäumen sich, ein Ulan ist gestürzt und unter die Hufe geraten, dazwischen schreien und toben die Chargen. Es klirrt, es wiehert, es dröhnt und stampft wie bei einer wirklichen Schlacht. Erst allmählich lösen die heranwetternden Offiziere den lärmenden Knäuel leidlich auseinander, auf ein scharfes Trompetensignal reihen sich die neugeformten Schwadronen wieder geschlossen wie vordem zu einer einzigen Front zusammen. Aber nun beginnt eine schreckliche Stille; jeder weiß, jetzt wird Abrechnung gehalten werden. Die Pferde, noch angeschäumt von der Aufregung des Ineinandergeratens und vielleicht auch die verhaltene Nervosität ihrer Reiter fühlend, zittern und zucken, die lange Linie der Helme schwingt dadurch leise mit wie im Wind ein stählern gespannter Telegraphendraht. In diese beunruhigte Stille reitet der Oberst jetzt vor. Schon an der Art, wie er im Sattel sitzt, aufgestrafft in den Steigbügeln und mit der Reitpeitsche erregt gegen die eigenen Stulpenstiefel klatschend, ahnen wir das anziehende Unwetter. Ein kleiner Ruck am Zügel. Sein Pferd steht still. Dann zuckt es scharf über den ganzen Platz hinweg (es ist, als ob ein Hackmesser niederfiele): »Leutnant Hofmiller!«
Nun begreife ich erst, wieso das alles passiert ist. Zweifellos habe ich selbst das falsche Kommando gegeben. Ich muß meine Gedanken nicht beisammen gehabt haben. Ich habe wieder an diese schreckliche Sache gedacht, die mich völlig verstört. Ich allein bin schuld. Mir allein fällt alle Verantwortung zu. Ein leichter Schenkeldruck, und mein Wallach trabt an den Kameraden vorbei, die peinlich berührt wegschauen, auf den Oberst zu, der etwa dreißig Schritt vor der Front unbeweglich wartet. In vorschriftsmäßiger Distanz halte ich vor ihm; inzwischen ist auch das leiseste Klappern und Klinkern abgestorben. Jene letzte, lautloseste, jene wahrhaft tödliche Stille setzt ein wie bei einer Hinrichtung knapp vor dem Kommando »Feuer«. Jeder, selbst der letzte ruthenische Bauernbursche dort rückwärts, weiß, was mir bevorsteht.
An das, was jetzt kam, will ich mich nicht erinnern. Der Oberst dämpft zwar mit Absicht seine trockene, knarrende Stimme, damit die Mannschaft nicht die wüsten Grobheiten vernehmen kann, mit denen er mich bedenkt, aber manchmal fährt doch eines der saftigsten Zornworte wie »Eselei« oder »schweinemäßiges Kommandieren« ihm die Kehle hoch, daß es scharf in die Stille rasselt. Und jedenfalls muß man an der Art, wie er, krebsrot im Gesicht, mich anschnaubt und dabei jedes Staccato mit einem klatschenden Hieb gegen die Reitstiefel begleitet, bis in die letzte Reihe merken, daß ich ärger heruntergeputzt werde als ein Schulbub; hundert neugierige und vielleicht ironische Blicke spüre ich in meinen Rücken gespießt, während der cholerische Troupier mich mit gesprochener Jauche überschüttet. Seit Monaten und Monaten ist über keinen von uns ein ähnliches Hagelwetter niedergegangen wie über mich an diesem stahlblau strahlenden, von ahnungslosen Schwalben munter überflogenen Junitag.
Mir zittern die Hände am Zügel vor Ungeduld und Zorn. Am liebsten möchte ich dem Pferd eins über die Kruppe dreschen und auf und davon galoppieren. Aber vorschriftsmäßig unbeweglich, erfrorenen Gesichts, muß ich dulden, daß Bubencic mich abschließend noch anpfeift, er lasse sich von einem solchen elenden Patzer nicht die ganze Übung versauen. Morgen werde ich Weiteres hören, für heute wünsche er meiner Visage nicht mehr zu begegnen. Dann hart und scharf wie ein Fußtritt ein verächtliches »Abtreten!«, wobei er abschließend noch einmal mit der Reitpeitsche gegen den eigenen Stiefelschaft schlägt.
Ich aber muß gehorsam mit der Hand an den Helm fahren, ehe ich kehrtmachen und zurück zur Front reiten darf; kein Blick eines Kameraden kommt mir offen entgegen, alle ducken sie aus Verlegenheit die Augen tief unter den Helmschatten. Alle schämen sich für mich, oder ich empfinde es zumindest so. Glücklicherweise kürzt ein Kommando meinen Spießrutengang. Auf ein Trompetensignal beginnt die Übung von neuem; die Front zerbricht und löst sich in einzelne Züge. Und diesen Augenblick benützt Ferencz – warum sind die Dümmsten immer die Gutmütigsten zugleich? – um wie zufällig sein Pferd heranzudrängen und mir zuzuflüstern: »Mach dir nix draus! So was kann jedem passieren.«
Aber er kommt schlecht an, der brave Junge. Denn barsch fahre ich ihn an: »Kümmere dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten«, und drehe scharf ab. In dieser Sekunde habe ich zum erstenmal und in der eigenen Seele erfahren, wie ungeschickt man mit Mitleid verwunden kann. Zum erstenmal und zu spät.
Hinschmeißen! Alles hinschmeißen! denke ich mir, während wir wieder in die Stadt zurückreiten. Fort, nur fort, irgendwohin fort, wo niemand einen kennt, wo man frei ist von allem und allem! Weg, nur weg, entkommen, entrinnen! Keinen mehr sehen, sich nicht mehr vergöttern, nicht mehr erniedrigen lassen! Fort, nur fort – unbewußt geht das Wort in den Rhythmus des Trabs über. In der Kaserne werfe ich die Zügel rasch einem Ulanen zu und verlasse sofort den Hof. Ich will nicht bei der Offiziersmesse heute sitzen, will mich weder bespotten und noch weniger mich bemitleiden lassen.
Aber ich weiß nicht recht, wohin. Ich habe keinen Vorsatz, kein Ziel: in meinen beiden Welten bin ich unmöglich geworden, draußen und drinnen. Nur fort, nur fort, hämmert's in den Pulsen, nur fort, nur fort, dröhnt's in den Schläfen. Nur hinaus, irgendwohin, weg jetzt von dem verfluchten Kasernenhaus, weg von der Stadt! Noch die widerliche Hauptstraße entlang und weiter, nur weiter! Aber plötzlich ruft mir jemand von ganz nah ein herzliches »Servus« herüber. Unwillkürlich starre ich hin. Wer grüßt mich da so intim – ein hochgewachsener Herr in Zivil, Breeches, grauer Dreß und schottische Mütze? Nie gesehen, ich erinnere mich nicht. Er steht der fremde Herr, neben einem Automobil, um das zwei Mechaniker in blauen Kitteln hämmernd beschäftigt sind. Aber jetzt tritt er, offenbar meine Verwirrung gar nicht bemerkend, auf mich zu. Es ist Balinkay, den ich immer nur in Uniform gesehen.
»Hat schon wieder einmal seinen Blasenkatarrh«, lacht er mir zu, auf das Auto deutend, »so geht's bei jeder Fahrt. Ich glaub, das wird noch gute zwanzig Jahre dauern, ehe man mit diesen Töfftöffs wirklich verläßlich fahren kann. War doch einfacher mit unseren guten alten Rössern, da versteht unsereins wenigstens was davon.«
Unwillkürlich spüre ich eine starke Sympathie für diesen fremden Menschen. Er hat eine so sichere Art in jeder Bewegung und dazu den hellen warmen Blick der Leichtsinnigen und Leichtlebigen. Und kaum daß dieser unvermutete Gruß mich anruft, blitzt plötzlich in mir der Gedanke auf: dem könntest du dich anvertrauen. Und im winzigen Raum einer Sekunde schließt sich mit jener rapiden Geschwindigkeit, mit der unser Gehirn in angespannten Momenten funktioniert, an jenen ersten Gedanken schon eine ganze Kette. Er ist in Zivil, er ist sein eigener Herr. Er hat selber Ähnliches durchgemacht. Er hat dem Schwager des Ferencz geholfen, er hilft jedem gern, warum sollte er nicht auch mir behilflich sein? Ehe ich noch recht Atem geschöpft habe, ist diese ganze fliegende, flirrende Kette blitzschneller Überlegungen schon zu einem jähen Entschluß zusammengeschweißt. Ich fasse Mut und trete an Balinkay heran.
»Verzeih«, sage ich und staune selbst über meine Unbefangenheit. »Aber hättest vielleicht fünf Minuten Zeit für mich?«
Er stutzt ein wenig, dann blinken seine Zähne hell.
»Mit Wonne, lieber Hoff... Hoff...«
»Hofmiller«, ergänze ich.
»Ganz zu deiner Verfügung. Wäre noch schöner, wenn man keine Zeit hätt für einen Kameraden. Willst herunten im Restaurant, oder gehen wir hinauf auf mein Zimmer?«
»Lieber oben, wenn's dir gleich ist, und wirklich nur fünf Minuten. Ich halt dich nicht auf.«
»Aber solang du willst. Bis die Kraxen da repariert ist, dauert's ohnehin noch eine halbe Stund. Nur sehr bequem wirst du's oben bei mir nicht finden. Der Wirt will mir immer das noble Zimmer im ersten Stock geben, aber aus einer g'wissen Sentimentalität nehm ich immer das alte von damals. Ich hab da einmal ... na, reden wir nicht davon.«
Wir gehen hinauf. Wirklich, auffällig bescheiden ist das Zimmer für den reichen Burschen. Einbettig, kein Kasten, kein Fauteuil, gerade nur zwei magere Strohsessel zwischen Fenster und Bett. Balinkay zieht seine goldene Tabatière, bietet mir eine Zigarette an und macht mir's erfreulich leicht, indem er geradewegs anfängt:
»Also lieber Hofmiller, womit kann ich dir dienen?«
Kein langes Hin und Her, denke ich mir, und so sage ich klar heraus:
»Ich möchte dich um deinen Rat bitten, Balinkay. Ich will quittieren und weg aus Österreich. Vielleicht weißt was für mich.«
Balinkay wird mit einem Mal ernst. Sein Gesicht strafft sich. Er wirft die Zigarette weg.
»Unsinn – ein Bursch wie du! Was fällt dir denn ein!«
Aber in mich ist plötzlich eine zähe Hartnäckigkeit gefahren. Ich spüre den Entschluß, an den ich vor zehn Minuten noch gar nicht dachte, in mir starr und stark werden wie Stahl.
»Lieber Balinkay«, sage ich auf jene knappe Art, die jede Diskussion abwehrt, »sei so freundlich und erlaß mir jede Explikation. Jeder weiß, was er will und was er muß. Von außen kann so was kein anderer verstehn. Glaub mir, ich muß jetzt den Strich ziehen.«
Balinkay sieht mich prüfend an. Er muß bemerkt haben, daß es mir ernst ist.
»Ich will mich ja net einmengen, aber glaub mir, Hofmiller, du machst einen Unsinn. Du weißt nicht, was du tust. Du bist heut, schätz ich, so um die fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig und nicht weit vom Oberleutnant. Und das ist immerhin schon allerhand. Hier hast deinen Rang, hier stellst was vor. Aber im Augenblick, wo du was andres neu anfangen willst, ist der letzte Schubiak und der dreckigste Ladenschwengel dir über, schon weil er nicht alle unsere dummen Vorurteile wie einen Tornister auf dem Buckel schleppt. Glaub mir, wenn unsereins die Uniform auszieht, dann bleibt nicht mehr viel von dem, der man früher war, und ich bitt dich nur eins: täusch dich nicht, weil's gerade mir gelungen ist, aus dem Dreck wieder herauszukommen. Das war ein purer Zufall, wie er in tausend Fällen einmal passiert, und ich möcht lieber nicht wissen, was mit den andern heut los ist, denen der Herrgott nicht so freundlich wie mir den Steigbügel hingehalten hat.«
Es ist etwas Überzeugendes in seiner Entschiedenheit. Aber ich spüre, daß ich nicht nachgeben darf.
»Ich weiß schon«, bestätige ich, »daß es ein Rutsch nach unten ist. Aber ich muß eben fort, und da bleibt keine Wahl. Tu mir die Lieb und red mir jetzt nicht ab. Was B'sondres bin ich nicht, das weiß ich, und hab auch nichts B'sondres g'lernt, aber wenn du mich wirklich wo hinempfehlen willst, kann ich versprechen, dir keine Schand zu machen. Ich weiß, daß ich nicht der erste bin, du hast ja auch den Schwager vom Ferencz untergebracht.«
»Den Jonas« – schnippt Balinkay verächtlich mit der Hand, »aber ich bitt dich, wer war denn der? Ein kleiner Beamter in der Provinz. So einem ist leicht zu helfen. Den braucht man nur von einem Hocker auf einen etwas besseren zu setzen, und er kommt sich schon wie ein Herrgott vor. Was macht's dem aus, ob er sich da oder dort die Hosen durchwetzt, der war nix Beßres gewöhnt. Aber für einen was auszuknobeln, der schon einmal einen Stern am Kragen gehabt hat, das g'hört auf ein andres Blatt. Nein, lieber Hofmiller, die oberen Etagen sind immer schon besetzt. Wer beim Zivil anfangen will, muß sich unten anstellen und sogar im Keller, wo's nicht grad nach Rosen riecht.«
»Das macht mir nichts.«
Ich mußte das sehr heftig gesagt haben, denn Balinkay blickte mich erst neugierig und dann mit einem merkwürdig starren Blick an, der wie aus einer weiten Ferne kam. Schließlich rückte er den Sessel näher und legte seine Hand auf meinen Arm.
»Du Hofmiller, ich bin nicht dein Vormund und hab dir keine Lektionen zu erteilen. Aber glaub's einem Kameraden, der die Chose durchgemacht hat: das macht sehr viel aus, wenn man mit einem Ruck von oben nach unten rutscht, von seinem Offizierspferd mitten hinein in den Dreck ... das sagt dir einer, der hier in diesem schäbigen kleinen Zimmer gesessen ist von zwölf Uhr mittags bis in die Dunkelheit und genau dasselbe sich vorgeredet hat, dieses ›Das macht mir nix aus‹. Knapp vor halb zwölf habe ich mich abgemeldet beim Rapport. In die Offiziersmeß zu die andern wollt ich mich nicht mehr setzen und in Zivil wiederum am hellichten Tag nicht über die Straßen. So habe ich mir das Zimmer da genommen – jetzt verstehst auch, warum ich immer grad dasselbe will – und hier hab ich gewartet, bis es dunkel wird, damit keiner mitleidig hinblinzeln kann, wie der Balinkay abpascht im schäbigen grauen Sakko und mit einem Melonenhut auf dem Schädel. Da, an dem Fenster bin ich gestanden, genau an dem Fenster da, und hab noch einmal hinuntergeschaut auf den Bummel. Dort sind die Kameraden gegangen, jeder in Uniform, aufrecht und grad und frei, jeder ein kleiner Herrgott, und jeder hat gewußt, wer er ist und wohin er g'hört. Da hab ich erst gespürt, daß ich nur mehr ein Dreck bin in dieser Welt; mir war, als hätt ich mir die Haut heruntergerissen mit meiner Uniform. Natürlich denkst jetzt: Unsinn – ein Tuch ist blau und das andere schwarz oder grau, und es bleibt wurscht, ob man einen Säbel spazierenführt oder einen Regenschirm. Aber den Ruck spür ich noch heut in allen Knochen, wie ich dann nachts hinausgeschlichen bin an den Bahnhof, und an der Ecke sind zwei Ulanen an mir vorbeigekommen und keiner hat salutiert. Und wie ich dann meinen Koffer selbst hin'schleppt hab in die dritte Klass' und zwischen den schwitzigen Bauernweibern gesessen bin und den Arbeitern – ja, ich weiß schon, daß das alles dumm ist und ungerecht und unsere sogenannte Standesehre ein rechter Pflanz – aber man hat's eben im Blut nach acht Jahren Dienst und vier Jahren Kadettenschul! Wie ein Verstümmelter kommt man sich im Anfang vor oder wie einer, der ein Geschwür hat mitten im G'sicht. Gott schütz dich, daß du's selber durchmachen mußt! Für kein Geld in der ganzen Welt möcht ich den Abend noch einmal miterleben, wie ich damals hier weggeschlichen und jeder Laterne ausgebogen bin bis zum Bahnhof. Und dabei war das erst der Anfang.«
»Aber Balinkay, grad darum will ich doch irgendwohin weit weg, wo das alles nicht existiert und niemand mehr von einem was weiß.«
»Genau so, Hofmiller, hab ich geredt, genau so gedacht! Nur weit weg, damit ist alles ausgewischt, tabula rasa! Lieber Schuhputzer drüben in Amerika oder G'schirrwäscher, wie's ja immer in den Zeitungsgeschichten von den großen Millionären steht! Aber, Hofmiller, auch bis hinüber braucht's ein gutes Stück Geld, und das weißt eben noch nicht, was das für unsereins heißt, Buckerln machen! Sobald ein alter Ulan nicht mehr den Kragen mit den Sternen am Hals spürt, kann er nicht einmal mehr anständig in seinen Stiefeln stehn und noch weniger so reden, wie er's früher gewohnt war. Blöd und verlegen sitzt man bei seinen besten Freunden herum, und grad wenn man um was bitten soll, schlägt einem der Stolz auf's Maul. Ja, mein Lieber, ich hab damals allerhand erlebt, an das ich lieber nicht denken will – Blamagen und Erniedrigungen, von denen ich noch zu niemandem g'sprochen hab.«
Er war aufgestanden und machte eine heftige Bewegung mit den Armen, als würde ihm mit einmal der Rock zu eng. Plötzlich wandte er sich um.
»Übrigens, dir kann ich's ruhig erzählen! Denn heut schäm ich mich nicht mehr, und dir tät einer vielleicht nur was Gutes, wenn er dir die romantischen Lichter rechtzeitig abdreht.«
Er setzte sich wieder hin und rückte nah heran.
»Nicht wahr, auch dir haben's wahrscheinlich die ganze Geschichte vom glorreichen Fischzug erzählt, wie ich meine Frau im Shepherds Hotel kenneng'lernt hab? Ich weiß, sie trommeln's in allen Regimentern herum und möchten's am liebsten ins Lesebuch drucken lassen als Heldentat eines k. und k. Offiziers. Nun, so glorios war die Sache nicht; nur etwas ist an der Geschichte wahr, nämlich daß ich sie wirklich im Shepherds Hotel kennengelernt hab. Aber wie ich sie kennengelernt hab, das weiß nur ich und nur sie, und sie hat's niemandem erzählt und ich auch noch keinem. Und dir erzähl ich's bloß, damit begreifst, daß für unsereins die Rosinen nicht auf der Straßen wachsen ... Also, ums kurz zu machen: wie ich sie im Shepherds Hotel kennengelernt hab, war ich dort – aber erschrick jetzt nicht – da war ich dort Zimmerkellner – ja, mein Lieber, ein ganz gewöhnlicher schäbiger Servierkellner. Aus Vergnügen war ich's natürlich nicht geworden, sondern aus Dummheit, aus unserer jämmerlichen Unerfahrenheit. In Wien hatte in meiner schäbigen Pension ein Ägypter gewohnt, und der Kerl hatte mir vorgeschwatzt, sein Schwager sei der Leiter vom Royal Poloklub in Kairo, und wenn ich ihm zweihundert Kronen Provision gäbe, so könnt er mir dort eine Stellung als Trainer verschaffen. Man fliege dort auf gute Manieren und guten Namen; na, im Poloturnier war ich immer der erste und die Gage, die er mir nannte, vorzüglich – in drei Jahren hätt ich mir genug zusammenhamstern können, um nachher mit was Anständigem zu starten. Außerdem, Kairo, das liegt doch weit ab, und beim Polo hat man's mit bessere Leut zu tun. So hab ich begeistert zugestimmt. Na – ich will dich nicht damit anöden, wie viel Dutzend Klinken ich hab drücken müssen und wie viele verlegene Ausreden von sogenannten alten Freunden anhören, eh ich die paar hundert Kronen zusammengekratzt hab für die Überfahrt und Ausstattung – man braucht für so einen Nobelklub doch einen Reitanzug und einen Frack und muß anständig auftreten. Es ist trotz Zwischendeck verflucht knapp ausgegangen. In Kairo klimperten mir im ganzen noch sieben Piaster in der Tasche, und als ich beim Royal Poloklub anläut', glotzt mich ein Negerkerl an und sagt, er kennt keinen Herrn Efdopulos und weiß von keinem Schwager und sie brauchen keinen Trainer und überhaupt sei der Poloklub in Auflösung begriffen – du verstehst schon, dieser Ägypter war natürlich ein elender Lump, der mir Trottel die zweihundert Kronen abgeschwindelt hatte, und ich war nicht gefinkelt genug gewesen, mir die angeblichen Briefe und Telegramme zeigen zu lassen. Ja, lieber Hofmiller, solchen Kanaillen sind wir nicht gewachsen, und dabei war's nicht das erstemal, daß ich so hineingesaust bin bei meiner Stellensucherei. Aber diesmal war's ein Hieb direkt in den Magen. Denn, mein Lieber, da stand ich jetzt, ohne eine Katz zu kennen, in Kairo mit ganzen sieben Piastern in der Tasche, und das ist nicht nur ein heißes, sondern auch ein verdammt teures Pflaster. Wie ich dort gewohnt und was ich gefressen hab die ersten sechs Tage, erspar ich dir; mich wundert's selbst, daß man so was übersteht. Und siehst, ein andrer geht in so einem Fall hin zum Konsulat und schnorrt, man soll ihn per Schub zurückschicken. Aber darin liegt ja der Knacks – unsereins kann sowas nicht. Unsereiner kann sich nicht im Vorzimmer auf eine Bank setzen mit Hafenarbeitern und entlassenen Köchinnen, und kann nicht den Blick ertragen, mit dem so eine kleine Konsulatsseele einen anschaut, wenn er im Paß herausbuchstabiert ›Baron Balinkay‹. Lieber geht unsereins vor die Hunde; darum stell dir vor, was das im Pech noch für ein Glück war, wie ich durch einen Zufall erfahren hab', sie brauchen einen Aushilfskellner im Shepherds Hotel. Und da ich einen Frack hatte und sogar einen neuen (vom Reitanzug hatte ich die ersten Tage gelebt) und auf mein Französisch hin haben sie mich gnädigst auf Probe genommen. Na – von außen sieht so was noch erträglich aus; man steht da, mit blitzblanker Hemdbrust, man dienert und serviert, man macht gute Figur; aber daß man als Zimmerkellner nebenan wo zu dritt schläft in einer Mansarde unter dem brennheißen Dach mit sieben Millionen Flöhen und Wanzen und morgens sich zu dritt hintereinander wäscht in der gleichen Blechschüssel und daß es unsereinem wie Feuer in der Hand brennt, wenn man sein Trinkgeld kriegt und so weiter – na, Schwamm drüber! Genug, daß ich's erlebt, genug, daß ich's überstanden hab'!
Und dann kam die Sache mit meiner Frau. Sie war kurz vorher Witwe geworden und mit ihrer Schwester und ihrem Schwager nach Kairo gefahren. Und dieser Schwager war so ziemlich der ordinärste Kerl, den du dir denken kannst, breit, dick, schwammig, patzig, und irgend was hat ihn an mir geärgert. Vielleicht war ich ihm zu elegant, vielleicht hab' ich den Buckel nicht gehörig krumm gemacht vor dem Mynheer, und da ist es einmal passiert, daß er mich, weil ich ihm das Frühstück nicht ganz zur rechten Zeit brachte, angefahren hat: ›Sie Tölpel!‹ ... Siehst, und das steckt unsereinem in den Muskeln, wenn man einmal Offizier war – ehe ich was überlegt hab', hat's mir schon einen Ruck gegeben wie einem angerissenen Pferd, ich bin aufgefahren – wirklich nur ein Haar hat gefehlt und ich hätt ihm die Faust ins Gesicht gedroschen. Na – im letzten Moment hab' ich mich noch derfangen, denn, weißt, ohnehin war mir ja die ganze Sache mit der Kellnerei alleweil nur wie eine Maskeraden vorgekommen, und es hat mir sogar – ich weiß nicht, ob du das verstehst – im nächsten Augenblick schon eine Art sadistischen Spaß gemacht, daß ich, der Balinkay, mir sowas jetzt gefallen lassen muß von einem dreckigen Käsehändler. So bin ich nur stillgestanden und hab' ihn ein bißchen angelächelt – aber weißt, so von oben herab, so um die Nasen herum gelächelt, daß der Kerl weißgrün geworden ist vor Wut, weil er eben gespürt hat, daß ich ihm irgendwie über bin. Dann bin ich ganz kühl aus dem Zimmer marschiert und hab' noch eine besonders ironisch-höfliche Verbeugung gemacht – geplatzt ist er beinah vor Wut. Aber meine Frau, das heißt, meine jetzige Frau, war dabei; auch sie muß was gespannt haben von dem, was da zwischen uns beiden vorging, und irgendwie hat sie gespürt – sie hat's mir später eingestanden – an der Art, wie ich aufgefahren bin, daß noch nie im Leben sich jemand zu mir so was erlaubt hat. So kam sie mir nach in den Korridor, ihr Schwager sei halt ein bissel aufgeregt, ich möcht's ihm nicht übelnehmen – na, und damit du die ganze Wahrheit weißt, mein Lieber – sie hat sogar versucht, mir eine Banknote zuzustecken, um alles gradzubügeln.
Wie ich diese Banknote dann refüsiert hab, da muß sie zum zweitenmal gespannt haben, daß etwas nicht ganz stimmte mit meiner Kellnerei. Aber damit wäre die Sache aus gewesen, denn ich hab' in den paar Wochen schon genug zusammengekratzt gehabt, um wieder nach Hause zu können, ohne betteln zu müssen beim Konsulat. Ich bin nur hin, um mir eine Auskunft zu holen. Nun da kam mir der Zufall zu Hilfe, eben so ein Zufall, wie er nur einmal hineinplatzt unter hunderttausend Nieten – daß der Konsul gerade durch das Vorzimmer geht und niemand anderer ist als der Elemér von Juhácz, mit dem ich weiß Gott wie oft im Jockeyklub zusammengesessen bin. Na, der hat mich gleich umarmt und sofort eingeladen in seinen Klub – und wieder durch einen Zufall – also Zufall plus Zufall, ich erzähl dir das nur, damit du's einsiehst, wieviel tolle Zufälle sich Rendezvous geben müssen, um unsereins aus dem Dreck zu ziehn – war dort meine jetzige Frau. Wie der Elemér mich vorstellt als seinen Freund, den Baron Balinkay, wird sie feuerrot. Sie hat mich natürlich sofort erkannt und nun war ihr das mit dem Trinkgeld scheußlich. Aber gleich hab' ich g'spürt, was sie für eine Person ist, für eine noble, anständige Person, denn sie hat nicht gefaxt, als wüßt sie von nix, sondern offen und ehrlich gleich Farbe bekannt. Alles andere hat sich dann rasch gedeichselt und g'hört nicht hierher. Aber glaub mir, ein solches Zusammenspiel wiederholt sich nicht alle Tag, und trotz meinem Geld und trotz meiner Frau, für die ich Gott jeden Morgen und Abend tausendmal danke, ich möcht's nicht ein zweites Mal durchleben, was ich vorher erlebt hab'.«
Unwillkürlich streckte ich Balinkay die Hand hin.
»Ich dank dir aufrichtig, daß du mich gewarnt hast. Jetzt weiß ich noch besser, was mir bevorsteht. Aber mein Wort – ich seh keinen andern Weg. Weißt wirklich nichts für mich? Ihr sollt's doch große Geschäfte haben.«
Balinkay schwieg einen Augenblick, dann seufzte er teilnehmend.
»Armer Kerl, dir müssen's aber gehörig zugesetzt haben – keine Angst, ich inquirier dich nicht, ich seh schon selber genug. Wenn's einmal so weit ist, nutzt kein Zureden und Wegreden mehr. Da muß man eben als Kamerad zugreifen, und daß da nix fehlen wird, dafür braucht's kein besonderes Jurament. Nur eins, Hofmiller, so vernünftig wirst doch sein, daß dir nicht einredst, ich könnt dich bei uns gleich in Glanz und Glorie hinaufschubsen. So was gibt's in keinem ordentlichen Betrieb, das möchte nur böses Blut machen bei die andern, wenn einer ihnen mir nix, dir nix über die Schultern springt. Du mußt schon ganz von unten anfangen, vielleicht ein paar Monate bei blödsinnigen Schreibereien im Kontor sitzen, bevor man dich hinüberschicken kann in die Plantagen oder sonst was herauszaubern. Jedenfalls, wie g'sagt, ich wer's schon deichseln. Morgen fahren wir ab, meine Frau und ich, acht oder zehn Tage bummeln wir in Paris, dann geht's für ein paar Tage nach Havre und Antwerpen, Inspektion in den Agenturen. Aber in rund drei Wochen sind wir zurück, und gleich aus Rotterdam schreib ich dir. Keine Sorg – ich vergeß nicht! Auf den Balinkay kannst dich verlassen.«
»Ich weiß«, sagte ich, »und ich dank dir schön.«
Aber Balinkay mußte die leichte Enttäuschung hinter meinen Worten gespürt haben (wahrscheinlich hatte er selbst Ähnliches mitgemacht, denn nur, wer derlei erlebt hat, bekommt ein Ohr für solche Zwischentöne).
»Oder ... oder wäre dir das schon zu spät?«
»Nein«, zögerte ich, »sobald ich's einmal sicher weiß, dann natürlich nicht. Aber ... aber lieber wär's mir schon gewesen, wenn ...«
Balinkay dachte kurz nach. »Heut zum Beispiel hättst keine Zeit? ... Ich mein, weil meine Frau heut noch in Wien ist, und da das G'schäft ihr g'hört und nicht mir, hat sie doch das entscheidende Wörtel dabei.«
»Doch – selbstverständlich bin ich frei«, sagte ich rasch. Mir war eben eingefallen, daß der Oberst heute meiner »Visage« nicht mehr begegnen wollte.
»Bravo! Famos! Dann wär's doch am g'scheitsten, du fährst einfach mit in der Kraxen! Vorn beim Chauffeur ist noch Platz. Rückwärts kannst freilich nicht sitzen, ich hab' meinen alten dasigen Freund Baron Lajos mit der Seinigen eingeladen. Um fünf Uhr sind wir beim Bristol, ich sprech sofort mit meiner Frau, und damit sind wir überm Berg; die hat noch nie nein gesagt, wenn ich sie für einen Kameraden um was gebeten hab'.«
Ich drückte ihm die Hand. Wir gingen die Treppe hinab. Die Mechaniker hatten die blauen Kittel bereits ausgezogen, das Automobil stand bereit; zwei Minuten später knatterten wir mit dem Wagen hinaus auf die Chaussee.
Im Seelischen wie im Körperlichen hat Geschwindigkeit gleichzeitig etwas Berauschendes und Betäubendes. Kaum daß der Wagen aus den Straßen hinaus ins freie Feld puffte, kam eine merkwürdige Entspannung über mich. Der Chauffeur fuhr scharf; wie schief weggehauen stürzten die Bäume, die Telegraphenstangen zurück, in den Dörfern taumelten Haus und Haus ineinander wie in einem verwackelten Bild, Meilensteine sprangen weiß auf und duckten sich schon wieder, noch ehe man ihre Ziffer ablesen konnte, und an der stürmischen Art, wie der Wind mir ins Gesicht schlug, spürte ich, in welchem verwegenen Tempo wir dahinbrausten. Aber noch stärker vielleicht war das Staunen über die Geschwindigkeit, mit der mein eigenes Leben gleichzeitig fortjagte: was alles an Entscheidungen hatte sich in diesen wenigen Stunden vollzogen! Sonst schwingen und schweben doch immer zwischen vagem Wunsch, dämmernder Absicht und endgültiger Vollführung in unzähligen Nuancen schattende Zwischengefühle, und es gehört zur geheimsten Lust des Herzens, mit Entschlüssen erst unsicher zu spielen, ehe man sie tatbewußt verwirklicht. Diesmal jedoch war alles mit traumhafter Geschwindigkeit auf mich niedergefahren, und wie hinter dem hämmernden Wagen Dörfer und Straßen und Bäume und Wiesen ins Nichts wegtaumelten, endgültig und ohne Wiederkehr, so sauste jetzt mit einem Ruck alles fort, was bisher mein tägliches Leben gewesen, die Kaserne, die Karriere, die Kameraden, die Kekesfalvas, das Schloß, mein Zimmer, die Reitschule, meine ganze, scheinbar so gesicherte und geregelte Existenz. Eine einzige Stunde hatte meine innere Welt verändert.
Um halb sechs hielten wir vor dem Hotel Bristol, scharf durchgerüttelt, ganz angestaubt und doch durch dies Sausen wunderbar erfrischt.
»So kannst nicht hinaufkommen zu meiner Frau«, lachte mich Balinkay an. »Du schaust ja aus, als hätt man einen Mehlsack über dich ausgeschüttet. Und vielleicht macht sich's überhaupt besser, ich red mit ihr allein, da sprech ich mich viel freier aus und du brauchst dich nicht zu genieren. Am gescheitsten, du gehst in die Garderob', waschst dich gründlich ab und setzt dich hinein in die Bar. Ich komm in paar Minuten und geb dir Bescheid. Und sorg dich nicht. Ich dreh's schon so, wie du's willst.«
Tatsächlich: er ließ mich nicht lange warten. Nach fünf Minuten trat er bereits lachend herein.
»Na, hab' ich's nicht gesagt – alles in Ordnung, das heißt, wenn's dir paßt. Bedenkzeit unbegrenzt und Kündigung jederzeit. Meine Frau – sie ist wirklich eine g'scheite Frau – hat schon wieder einmal das Richtigste ausgeknobelt. Also: du kommst gleich auf ein Schiff, hauptsächlich damit du die Sprachen dort lernst und dir alles drüben einmal anschaun kannst. Du wirst dem Zahlmeister zugeteilt als Assistent, kriegst eine Uniform, ißt mit am Offizierstisch, fahrst ein paarmal hin und her nach Holländisch-Indien und hilfst bei der Schreiberei. Dann bringen wir dich schon wo unter, hüben oder drüben, ganz wie dir's paßt, meine Frau hat's mir in die Hand versprochen.«
»Ich dan...«
»Nichts zu danken. War doch ganz selbstverständlich, daß ich dir beispring. Aber noch einmal, Hofmiller, tu so was nicht aus dem Handgelenk! Von mir aus kannst schon übermorgen hinauffahren und meldst dich an, ich telegraphier jedenfalls an den Direktor, damit er deinen Namen notiert; aber besser wär's natürlich, du überschläfst die Sache noch einmal gründlich; ich hätte dich lieber beim Regiment, aber chacun à son goût. Wie g'sagt, wenn d' kommst, dann kommst eben, und wenn nicht, wer'n wir dich nicht einklagen ... Also« – er streckte mir die Hand hin – »ja oder nein, wie immer du dich entschließt, es hat mich aufrichtig g'freut. Servus.«
Ich blickte diesen Menschen, den mir das Schicksal geschickt, wirklich ganz ergriffen an. Mit seiner wunderbaren Leichtigkeit hatte er mir das Schwerste abgenommen, das Bitten und Zögern und die quälende Spannung vor der Entschließung, so daß mir selbst nichts mehr zu tun übrig blieb als die einzige kleine Förmlichkeit: mein Abschiedsgesuch zu schreiben. Dann war ich frei und gerettet.
Das sogenannte »Kanzleipapier«, ein auf den Millimeter vorschriftsmäßig ausgemessener Foliobogen ganz bestimmten Formats, war vielleicht das unentbehrlichste Requisit der österreichischen Zivil- und Militärverwaltung. Jedes Gesuch, jedes Aktenstück, jede Meldung hatte auf diesem säuberlich geschnittenen Papier erstattet zu werden, das durch die Einmaligkeit seiner Form alles Amtliche sichtbar vom Privaten absonderte; auf den Millionen und Milliarden dieser in den Kanzleien aufgeschichteten Blätter wird einmal vielleicht einzig verläßlich die ganze Lebens- und Leidensgeschichte der Habsburgischen Monarchie nachzulesen sein. Keine Mitteilung galt als richtig erstattet, wenn sie nicht auf diesem weißen Rechteck ausgefertigt wurde, und so war es denn auch mein erstes Geschäft, in der nächsten Tabaktrafik zwei solcher Bogen zu kaufen, dazu einen sogenannten »Faulenzer« – ein liniertes Unterlageblatt – sowie das dazugehörige Kuvert. Dann noch hinüber in ein Kaffeehaus, wo man in Wien alles erledigt, das Ernsteste wie das Übermütigste. In zwanzig Minuten, um sechs Uhr, konnte das Gesuch bereits geschrieben sein; dann gehörte ich wieder mir selbst und mir allein.
Mit unheimlicher Deutlichkeit – es galt doch die wichtigste Entscheidung meines bisherigen Lebens – erinnere ich mich an jede Einzelheit dieser aufregenden Verrichtung, an den kleinen runden Marmortisch in der Fensterecke des Ringstraßencafés, an die Mappe, auf der ich das Blatt auseinanderfaltete, und wie ich es dann mit einem Messer, nur damit die Bruchlinie recht tadellos ausfalle, in der Mitte behutsam falzte. Die blauschwarze, etwas wäßrige Farbe der Tinte sehe ich noch photographiescharf vor mir und spüre den kleinen Ruck, mit dem ich ansetzte, um dem ersten Buschstaben den richtigen runden und pathetischen Schwung zu verleihen. Denn es reizte mich, gerade meine letzte militärische Handlung besonders korrekt zu vollziehen; da der Inhalt doch formelhaft feststand, konnte ich die Feierlichkeit des Akts nur durch besondere Sauberkeit und Schönheit der Handschrift bekunden.
Aber schon während der ersten Zeilen unterbrach mich eine sonderbare Träumerei. Ich hielt inne und begann mir auszudenken, was morgen vor sich gehen würde, wenn dies Gesuch in der Regimentskanzlei anlangte. Wahrscheinlich zuerst ein verdutzter Blick des Kanzleifeldwebels, dann erstauntes Flüstern unter den subalternen Schreibern – es war doch nichts Alltägliches, daß ein Leutnant einfach seine Charge hinschmiß. Dann läuft das Blatt den Dienstweg von Zimmer zu Zimmer bis zum Oberst persönlich; ich sehe ihn plötzlich leibhaftig vor mir, wie er sich den Kneifer vor seine fernsichtigen Augen klemmt, bei den ersten Worten stutzt und dann in seiner cholerischen Art mit der Faust auf den Tisch haut; der rüde Kerl ist allzusehr gewohnt, daß seine Untergebenen, denen er Dreck um die Ohren geschmissen, gleich wieder beglückt mit dem Steiß wackeln, wenn er ihnen am nächsten Tage durch ein burschikoses Wort zu verstehen gibt, das Donnerwetter habe sich endgültig verzogen. Diesmal aber wird er merken, daß er auf einen anderen Hartschädel gestoßen ist und zwar auf den kleinen Leutnant Hofmiller, der sich nicht anschnauzen läßt. Und wenn's später herauskommt, daß der Hofmiller seinen Abschied nimmt, werden zwanzig, vierzig Köpfe unwillkürlich aufrucken vor Erstaunen. Alle die Kameraden, jeder für sich, werden sich denken: Donnerwetter noch einmal, das ist aber ein Kerl! Der läßt sich nichts gefallen. Verflucht unangenehm kann es sogar für den Herrn Oberst Bubencic werden – jedenfalls einen honorigeren Abschied hat niemand im Regiment gehabt, anständiger ist noch keiner aus der Kluft gefahren, solange ich mich erinnern kann.
Ich schämte mich nicht, zu bekennen, daß, während ich alles das austräumte, eine merkwürdige Selbstzufriedenheit über mich kam. Bei allen unseren Handlungen bildet doch Eitelkeit einen der stärksten Antriebe, und ganz besonders erliegen schwächliche Naturen der Versuchung, etwas zu tun, was nach außen hin wie Kraft; wie Mut und Entschlossenheit wirkt. Zum erstenmal hatte ich jetzt Gelegenheit, den Kameraden zu beweisen, daß ich einer war, der sich respektierte, ein ganzer Kerl! Immer rascher und, wie ich glaube, mit immer energischeren Zügen schrieb ich die zwanzig Zeilen zu Ende; was anfangs nur eine ärgerliche Verrichtung gewesen, wurde mit einmal zu persönlicher Lust.
Nun noch die Unterschrift – damit war alles erledigt. Ein Blick auf die Uhr: halb sieben. Den Kellner jetzt rufen und bezahlen. Dann noch einmal, zum letztenmal, die Uniform auf der Ringstraße spazierenführen und mit dem Nachtzug heim. Morgen früh den Wisch abgeben, damit ist alles unwiderruflich geworden, eine andere Existenz fängt an.
So nahm ich also den Foliobogen, faltete ihn erst der Länge, dann ein zweites Mal der Breite nach zusammen, um das schicksalhafte Dokument sorglich in der Brusttasche zu verstauen. In diesem Augenblick geschah das Unerwartete.
Es geschah folgendes: In jener halben Sekunde, da ich sicher, selbstbewußt, ja sogar freudig (jede Erledigung macht einen froh) das ziemlich umfängliche Kuvert in die Brusttasche schob, spürte ich dort von innen einen knisternden Widerstand. Was steckt denn da drin, dachte ich unwillkürlich und griff hinein. Aber schon zuckten meine Finger zurück, als hätten sie, ehe ich selbst mich erinnerte, begriffen, was dies Vergessene war. Es war der Brief Ediths, ihre beiden Briefe von gestern, der erste und der zweite.
Ich kann nicht genau das Gefühl beschreiben, das mich bei diesem jähen Erinnern überkam. Ich glaube, es war nicht so sehr Erschrecken als namenlose Beschämung. Denn in diesem Augenblick riß ein Nebel oder vielmehr eine Selbstbenebelung durch. Blitzhaft erkannte ich, daß alles, was ich in den letzten Stunden getan und gedacht, völlig unwahr gewesen war: der Ärger über meine Blamage und ebenso der Stolz auf mein heroisches Quittieren. Wenn ich plötzlich auspaschte, war es doch nicht, weil der Oberst mich abgekanzelt hatte (das passierte schließlich jede Woche); in Wirklichkeit flüchtete ich vor den Kekesfalvas, vor meinem Betrug, vor meiner Verantwortung, ich lief davon, weil ich es nicht ertragen konnte, geliebt zu werden wider meinen Willen. Genau wie ein Todkranker über einem zufälligen Zahnschmerz sein eigentlich marterndes, sein tödliches Leiden vergißt, so hatte ich, was mich in Wahrheit peinigte, was mich feig, was mich flüchtig machte, vergessen (oder vergessen wollen) und statt dessen jenes kleine und im Grunde belanglose Mißgeschick am Exerzierplatz als Motiv meines Fortwollens vorgeschoben. Aber nun sah ich: es war kein heroischer Abschied aus gekränkter Ehre, den ich nahm. Es war eine feige, eine klägliche Flucht.
Aber etwas Getanes hat immer Kraft. Nun, da das Abschiedsgesuch schon geschrieben war, wollte ich mich nicht mehr dementieren. Zum Teufel, sagte ich mir zornig, was geht's mich an, ob die da draußen wartet und flennt! Sie haben mich genug geärgert, mich genug verwirrt. Was geht's mich an, daß der eine fremde Mensch mich liebt? Sie wird mit ihren Millionen schon einen andern finden, und wenn nicht, es ist nicht meine Sache. Genug, daß ich alles hinhaue, daß ich mir die Uniform abreiße! Was geht mich diese ganze hysterische Angelegenheit an, ob sie gesund wird oder nicht? Ich bin doch kein Arzt ...
Aber bei diesem innerlichen Wort »Arzt« stoppten plötzlich meine Gedanken wie eine rasend rotierende Maschine auf ein einziges Signal. Bei diesem Wort »Arzt« war mir Condor eingefallen. Und: seine Sache! seine Angelegenheit! sagte ich mir sofort. Er wird dafür bezahlt, Kranke zu kurieren. Sie ist seine Patientin und nicht die meine. Er soll alles auslöffeln, so wie er alles eingebrockt hat. Am besten ich geh sofort zu ihm und erklär ihm, daß ich ausspring aus dem Spiel.
Ich blicke auf die Uhr. Dreiviertel sieben, und mein Schnellzug fährt erst nach zehn. Also reichlich Zeit, viel brauch ich ihm nicht zu erklären: eben nur, daß ich Schluß mache für meine Person. Aber wo wohnt er denn? Hat er's mir nicht gesagt oder hab ich's vergessen? Übrigens – als praktischer Arzt muß er im Telephonverzeichnis stehen, also rasch hinüber in die Telephonzelle und das Verzeichnis aufgeblättert! Be.. Bi.. Bu.. Ca.. Co.. da sind sie alle, die Condors, Condor Anton, Kaufmann ... Condor Dr. Emmerich, praktischer Arzt, VIII., Florianigasse 97, und kein anderer Arzt auf der ganzen Seite – das muß er sein. Noch im Hinauslaufen wiederhole ich mir zweimal, dreimal die Adresse – ich habe keinen Bleistift bei mir, alles habe ich vergessen in meiner mörderischen Hast – ruf sie gleich dem nächsten Fiaker zu, und während der Wagen rasch und weich auf seinen Gummirädern rollt, mache ich schon meinen Plan zurecht. Nur knapp, nur energisch loslegen. Keinesfalls tun, als ob ich noch schwankte. Ihn gar nicht auf die Vermutung bringen, daß ich etwa wegen der Kekesfalvas auskneife, sondern von vornherein den Abschied als fait accompli hinstellen. Es sei alles seit Monaten eingeleitet gewesen, doch heute erst hätte ich diese ausgezeichnete Stellung in Holland bekommen. Wenn er trotzdem noch lang herumfragt, ablehnen und nichts weiter sagen! Er hat mir schließlich auch nicht alles gesagt. Ich muß endlich aufhören mit diesem ewigen Rücksichtnehmen auf andere.
Der Wagen stoppt. Hat sich der Kutscher nicht geirrt oder hab ich in meiner Eile eine falsche Adresse angegeben? Sollte dieser Condor wirklich so schäbig wohnen? Schon bei den Kekesfalvas allein muß er ein Mordsgeld verdienen, und in so einer Baracke haust kein Arzt von Rang. Aber nein, er wohnt doch hier, da hängt im Hausflur das Schild: »Dr. Emmerich Condor, zweiter Hof, dritter Stock, Sprechstunde von zwei bis vier.« Zwei bis vier, und jetzt geht's schon auf sieben. Immerhin, für mich muß er zu sprechen sein. Ich fertige rasch den Fiaker ab und überquere den schlecht gepflasterten Hof. Was das für eine schäbige Wendeltreppe ist, ausgetretene Stufen, abgeblätterte, bekritzelte Wände, Geruch nach mageren Küchen und schlecht geschlossenen Klosetts, Frauen in schmutzigen Schlafröcken, die auf den Gängen Zwiesprache halten und mißtrauisch auf den Kavallerieoffizier blicken, der da in der Dämmerung etwas verlegen an ihnen vorbeiklirrt!
Endlich der dritte Stock, abermals ein langer Gang, rechts und links Türen und eine in der Mitte. Ich will eben in die Tasche greifen, um ein Streichholz anzuflammen, und die richtige festzustellen, da tritt aus der linken Tür ein ziemlich unordentlich gekleidetes Dienstmädchen, einen leeren Krug in der Hand, wahrscheinlich um Bier für das Nachtessen zu holen. Ich frage nach Doktor Condor.
»Ja, wohnt sich hier«, böhmelt sie zurück. »Aber is noch nich z'Haus. Is aussi g'fahren nach Meidling, muß aber bald zaruk sein. Hat zur gnä Frau g'sagt, daß bestimmt zu Nachtmahl kommt. Kummen's nur und warten's!«
Noch ehe ich Zeit habe, zu überlegen, führt sie mich ins Vorzimmer.
»Da legen's ab« – sie weist auf einen alten Garderobekasten aus weichem Holz, wohl das einzige Möbelstück des kleinen dunklen Vorraums. Dann klinkt sie das Wartezimmer auf, das etwas stattlicher wirkt: immerhin vier, fünf Sessel rund um den Tisch und die linke Wand voller Bücher.
»So, da können's Ihna setzen«, deutet sie mit einer gewissen Herablassung auf einen der Stühle. Und sofort verstehe ich: Condor muß eine Armeleutepraxis haben. Reiche Patienten werden anders empfangen. Sonderbarer Mensch, sonderbarer Mensch, denke ich abermals. Er könnte doch an Kekesfalva allein reich werden, wenn er nur wollte.
Nun, ich warte. Es wird das übliche nervöse Warten im Vorraum eines Arztes, wo man, ohne sie richtig lesen zu wollen, immer wieder in den abgegriffenen und längst zeitlos gewordenen Zeitschriften blättert, um die eigene Unruhe mit einem Schein von Beschäftigung zu betrügen. Wo man immer wieder aufsteht, immer wieder sich niedersetzt und immer wieder zur Uhr aufschaut, die mit schläfrigem Pendel in der Ecke tickt: sieben Uhr zwölf, sieben Uhr vierzehn, sieben Uhr fünfzehn, sieben Uhr sechzehn, und hypnotisch auf die Klinke zum Ordinationszimmer starrt. Schließlich – sieben Uhr zwanzig – kann ich nicht länger stillhalten. Zwei Sessel habe ich schon warmgesessen, so erhebe ich mich und trete zum Fenster. Unten im Hof ölt ein alter hinkender Mann – ein Dienstmann offenbar – die Räder seines Handwagens, hinter den erhellten Küchenfenstern plättet eine Frau, eine andere wäscht, glaube ich, ihr kleines Kind in einem »Schaffel«. Irgendwo, ich kann das Stockwerk nicht bestimmen, es muß aber knapp über mir oder unter mir sein, übt jemand Skalen, immer dieselben, immer dieselben. Wieder blicke ich auf die Uhr: sieben Uhr fünfundzwanzig, sieben Uhr dreißig. Warum kommt er denn nicht? Ich kann, ich will nicht mehr lange warten! Ich spüre, wie das Warten mich unsicher, wie es mich unbeholfen macht.
Endlich – ich atme auf – nebenan eine zuklappende Tür. Sofort setze ich mich in Positur. Haltung jetzt, ganz locker vor ihm tun, wiederhole ich mir. Ganz leger erzählen, daß ich nur en passant gekommen bin, um mich zu verabschieden, ganz nebenbei ihn bitten, er möge bald hinausfahren zu den Kekesfalvas und, wenn sie mißtrauisch werden sollten, ihnen explizieren, ich hätte nach Holland müssen und aus dem Dienst. Himmelherrgott, verdammt noch einmal, warum läßt er mich denn noch immer warten! Deutlich höre ich, wie nebenan schon ein Stuhl gerückt wird. Hat der blöde Trampel von Dienstbote mich am Ende nicht angemeldet?
Schon will ich hinaus und das Mädchen an mich erinnern. Aber mit einem Mal stocke ich. Denn der da nebenan geht, kann nicht Condor sein. Ich kenne seinen Schritt. Ich weiß genau – von jener Nacht, da ich ihn begleitete – wie kurzbeinig, kurzatmig, schwer und tapsig er mit seinen knarrenden Schuhen geht; dieser Schritt nebenan aber, der immer wieder kommt und sich immer wieder entfernt, ist ein ganz anderer, ein zaghafter, ein unsicherer, ein schlurfender Schritt. Ich weiß nicht, warum ich auf diesen fremden Schritt eigentlich so aufgeregt, so ganz von innen heraus hinhorche. Aber mir ist, als lauschte und spürte nebenan jener andere Mensch genau so unsicher und unruhig herüber. Auf einmal vernehme ich ein ganz dünnes Geräusch an der Tür, als drückte oder spielte jemand dort an der Klinke; und wirklich, sie bewegt sich schon. Der dünne Streif Messing rührt sich sichtlich im Dämmern, und die Tür tut sich auf zu einem schmalen schwarzen Spalt. Vielleicht ist es nur Zugluft, vielleicht nur der Wind, sage ich mir, denn so schleicherisch klinkt kein normaler Mensch die Tür auf, höchstens ein Einbrecher in der Nacht. Aber nein, der Spalt wird breiter. Es muß von innen eine Hand den Türflügel ganz vorsichtig vorschieben, und jetzt merke ich auch im Dunkel einen menschlichen Schatten. Festgebannt starre ich hin. Da fragt hinter dem Spalt eine Frauenstimme ganz zaghaft:
»Ist ... ist jemand hier?«
Mir versagt die Antwort in der Kehle. Ich weiß sofort: von allen Menschen kann nur einer so sprechen und fragen: ein Blinder. Nur Blinde gehen und schlurfen und tappen so leise, nur sie haben diesen unsicheren Ton in der Stimme. Und im gleichen Moment blitzt eine Erinnerung mich durch. Hat Kekesfalva nicht erwähnt, Condor habe eine blinde Frau geheiratet? Sie muß es sein, nur sie kann es sein, die da hinter dem Türspalt steht und fragt und mich dabei nicht wahrnimmt. Mit aller Anstrengung starre ich hin, um in dem Schatten ihren Schatten zu fassen, und unterscheide schließlich eine hagere Frau in weitem Schlafrock und mit grauem, etwas wirrem Haar. O Gott, diese reizlose, unschöne Frau ist seine Frau! Furchtbar, sich von solchen vollkommen toten Augensternen angestarrt zu fühlen und zu wissen, daß man doch nicht gesehen wird; gleichzeitig spüre ich an der Art, wie sie jetzt den Kopf horchend vorschiebt, wie sehr sie sich mit allen Sinnen bemüht, in dem für sie unfaßbaren Raum den fremden Menschen zu fassen; diese Anspannung verzerrt ihren schweren, großen Mund noch stärker ins Unschöne.
Eine Sekunde bleibe ich stumm. Dann stehe ich auf und verbeuge mich – ja, ich verbeuge mich, obwohl es doch ganz sinnlos ist, sich vor einer Blinden zu verbeugen – und stammle:
»Ich ... ich warte hier auf den Herrn Doktor.«
Sie hat jetzt die Türe ganz geöffnet. Mit der linken Hand hält sie sich noch an der Klinke fest, als suchte sie eine Stütze im schwarzen Raum. Dann tappt sie vor, schärfer spannen sich die Brauen über den erloschenen Augen, und eine andere Stimme, eine ganz harte, herrscht mich an:
»Jetzt ist kein Ordination mehr. Wenn mein Mann nach Hause kommt, muß er zuerst essen und ausruhen. Können Sie nicht morgen kommen?«
Immer unruhiger wird ihr Gesicht bei jedem Wort, man sieht, sie kann sich kaum beherrschen. Eine Hysterikerin, denke ich mir sofort. Nur sie nicht reizen. Und so murmle ich – dummerweise mich abermals ins Leere verbeugend:
»Verzeihen Sie, gnädige Frau ... ich denke natürlich nicht daran, den Herrn Doktor noch so spät zu konsultieren. Ich wollte ihm nur eine Mitteilung machen ... es handelt sich um eine seiner Kranken.«
»Seine Kranken! Immer seine Kranken!« – die Erbitterung schlägt um in einen weinerlichen Ton. »Heut nachts um halb zwei hat man ihn geholt, heut früh um sieben Uhr ist er schon weg und seit der Ordination nicht wieder zurück. Er muß doch selbst krank werden, wenn man ihm nicht Ruhe läßt! Aber Schluß jetzt! Jetzt ist keine Ordination, hab ich Ihnen gesagt. Um vier Uhr ist Schluß. Schreiben Sie ihm auf, was Sie wollen, oder wenn's dringlich ist, gehn Sie zu einem andern Arzt. Es gibt Ärzte genug in der Stadt, an jeder Straßenecke vier.«
Sie tappt näher heran, und wie schuldbewußt weiche ich zurück vor diesem zornig erregten Gesicht, in dem die aufgerissenen Augen plötzlich glänzen wie angeleuchtete weiße Kugeln.
»Gehn Sie, hab ich gesagt. Gehn Sie! Laßt ihn doch essen und schlafen wie andere Menschen! Krallt euch nicht alle an ihn an! In der Nacht und in der Früh, den ganzen Tag, immer die Kranken, für alle soll er sich plagen und für alle umsonst! Weil ihr spürt, daß er schwach ist, hängt ihr euch alle an ihn und nur an ihn ... ah, roh seid ihr alle! Nur eure Krankheit, nur eure Sorgen, sonst kennt ihr alle nichts! Aber ich duld es nicht, ich erlaub es nicht. Gehn Sie, hab ich gesagt, gehn Sie sofort! Lassen Sie ihn endlich in Ruh, lassen Sie ihn doch diese einzige freie Stunde am Abend!«
Sie hat sich bis an den Tisch getastet. Mittels irgend eines Instinkts muß sie herausgefunden haben, wo ich ungefähr stehe, denn die Augen starren geradeaus auf mich, als könnten sie mich erblicken. Es ist so viel ehrliche und zugleich so viel kranke Verzweiflung in ihrem Zorn, daß ich mich unwillkürlich schäme.
»Selbstverständlich, gnädige Frau«, entschuldige ich mich. »Ich sehe völlig ein, der Herr Doktor muß seine Ruhe haben ... ich will auch nicht länger stören. Erlauben Sie nur, daß ich ein Wort hinterlasse oder ihn vielleicht in einer halben Stunde antelephoniere.«
Aber »Nein«, schreit sie mir verzweifelt entgegen. »Nein! Nein! Nicht telephonieren! Den ganzen Tag telephoniert's, alle wollen sie was von ihm, alle fragen und klagen! Noch hat er den Bissen nicht im Mund und muß schon aufspringen. Kommen Sie morgen in die Ordination, hab ich gesagt, es wird nicht so eilig sein. Einmal muß er seine Ruhe haben. Weg jetzt! ... Weg, hab ich gesagt!«
Und mit geballten Fäusten, unsicher tastend und tappend geht die Blinde auf mich zu. Es ist entsetzlich. Ich habe das Gefühl, sie wird mich im nächsten Moment mit ihren vorgestreckten Händen packen. Jedoch in diesem Augenblick knackt draußen die Flurtür und fällt vernehmlich klirrend ins Schloß. Das muß Condor sein. Sie lauscht, sie zuckt auf. Sofort verändern sich ihre Züge. Sie beginnt am ganzen Leibe zu zittern, die Hände, die eben geballten, schließen sich plötzlich flehend zusammen.
»Nicht ihn jetzt aufhalten«, flüstert sie. »Nicht ihm was sagen! Er ist gewiß müde, den ganzen Tag war er unterwegs ... Bitte haben Sie Rücksicht! Haben Sie doch Mitl...«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Condor trat ins Zimmer.
Er übersah zweifellos auf den ersten Blick die Situation. Aber nicht eine Sekunde lang verlor er die Fassung.
»Ach, du hast dem Herrn Leutnant Gesellschaft geleistet«, sagte er in seiner jovialen Art, hinter der er, das merkte ich nun schon, am liebsten starke Spannungen verbarg. »Wie lieb von dir, Klara.«
Gleichzeitig ging er auf die Blinde zu und strich ihr zart über das graue und verwirrte Haar. Sofort veränderte sich bei dieser Berührung ihr ganzer Ausdruck. Die Angst, die eben noch ihren großen, schweren Mund verzerrt hatte, glättete sich unter diesem einen zärtlichen Strich, und mit einem hilflos verschämten, einen geradezu bräutlichen Lächeln wandte sie sich, kaum daß sie seine Nähe spürte, ihm zu; rein und hell glänzte die etwas eckige Stirn im Reflex des Lichts. Unbeschreiblich war dieser Ausdruck persönlicher Beruhigung und Gesichertheit nach jenem Ausbruch der Heftigkeit. Anscheinend vergaß sie meine Gegenwart vollkommen über dem Glück, die seine zu fühlen. Ihre Hand tastete, magnetisch angezogen, ihm durch die leere Luft entgegen, und sofort, da die weich suchenden Finger seinen Rock erreichten, strichen sie schon rieselnd aber- und abermals den Arm entlang. Verstehend, daß ihr ganzer Körper seine Nähe suchte, trat er heran, und nun lehnte sie an ihm, wie ein völlig Erschöpfter hinsinkt zur Rast. Lächelnd legte er den Arm um ihre Schultern und wiederholte, ohne mich anzusehen:
»Wie lieb von dir, Klara«, und seine Stimme streichelte gleichsam mit.
»Verzeih mir«, begann sie sich zu entschuldigen, »aber ich hab dem Herrn doch erklären müssen, daß du erst dein Essen haben sollst, du mußt schrecklich hungrig sein. Den ganzen Tag unterwegs, und zwölfmal, fünfzehnmal hat's inzwischen um dich telephoniert ... Verzeih, daß ich dem Herrn sagte, er solle lieber morgen kommen, aber ...«
»Diesmal, Kind«, lachte er und strich zugleich wieder mit der Hand über ihr Haar (ich verstand, er tat es, damit sein Lachen sie nicht kränken könnte), »hast du dich aber mit dem Abschieben gründlich geirrt. Dieser Herr, der Herr Leutnant Hofmiller, ist glücklicherweise kein Patient, sondern ein Freund, der schon lang versprochen hat, mich zu besuchen, wenn er einmal in die Stadt kommt. Er kann sich ja nur immer abends freimachen, bei Tag steckt er im Dienst. Jetzt bleibt nur die Hauptfrage: hast du auch für ihn etwas Gutes zum Nachtmahl?«
Neuerdings begann die ängstliche Spannung in ihrem Gesicht, und ich verstand an ihrem impulsiven Erschrecken, daß sie allein sein wollte mit dem Langentbehrten.
»Oh nein, danke«, lehnte ich eilig ab. »Ich muß gleich weiter. Ich darf den Nachtzug nicht versäumen. Ich wollte wirklich nur Grüße von draußen überbringen, und das kann in ein paar Minuten geschehen.«
»Ist draußen alles in Ordnung?« fragte Condor, mir scharf in die Augen blickend. Und irgendwie mußte er bemerkt haben, daß etwas nicht in Ordnung war, denn er fügte rasch hinzu: »Also hören Sie, lieber Freund, meine Frau weiß immer, wie's mit mir steht, sie weiß es meist besser als ich selbst. Ich habe tatsächlich einen furchtbaren Hunger, und ehe ich nicht was gegessen und mir meine Zigarre verdient habe, bin ich zu nichts zu gebrauchen. Wenn's dir recht ist, Klara, gehn wir zwei jetzt ruhig hinüber zum Essen und lassen den Herrn Leutnant ein bissel warten. Ich gebe ihm unterdessen ein Buch oder er ruht sich aus – Sie haben wohl auch einen ausgiebigen Tag hinter sich«, wandte er sich mir zu. »Wenn ich bei der Zigarre bin, komm ich zu Ihnen herüber, allerdings in Pantoffeln und Hausrock – nicht wahr, Herr Leutnant, Sie verlangen ja von mir keine große Toilette ...«
»Und ich bleibe wirklich nur zehn Minuten, gnädige Frau ... ich muß dann schleunigst zur Bahn.«
Dieses eine Wort erhellte wieder vollkommen ihr Gesicht. Beinahe freundlich wandte sie sich mir zu.
»Wie schade, daß Sie nicht mit uns speisen wollen, Herr Leutnant. Aber ich hoffe, Sie kommen ein anderes Mal.«
Ihre Hand kam mir entgegen, eine sehr zarte, schmale, schon etwas verblichene und verfaltete Hand. Ich küßte sie respektvoll. Und mit ehrlicher Ehrfurcht blickte ich zu, wie Condor die Blinde vorsichtig durch die Tür steuerte, geschickt verhütend, daß sie zur Rechten oder Linken anstreifte: es war, als hielte er etwas unsäglich Zerbrechliches und Kostbares in seiner Hand.
Zwei, drei Minuten blieb die Tür offen, ich hörte die leise schlurfenden Schritte sich entfernen. Dann kam Condor noch einmal zurück. Er hatte ein anderes Gesicht als vordem, jenes wachsame, scharfe Gesicht, das ich in den Augenblicken innerer Spannung an ihm kannte. Zweifellos hatte er begriffen, daß ich nicht ohne zwingenden Grund ihm unangemeldet ins Haus gefallen war.
»Ich komme in zwanzig Minuten. Wir sprechen dann alles rasch durch. Am besten, Sie legen sich inzwischen auf das Sofa oder strecken sich hier in den Fauteuil. Sie gefallen mir nicht, mein Lieber, Sie sehen schrecklich übermüdet aus. Und wir müssen doch beide frisch und konzentriert sein.«
Und rasch die Stimme umwechselnd, fügte er laut hinzu, um bis ins dritte Zimmer hörbar zu sein:
»Ja, liebe Klara, da bin ich schon wieder. Ich hab nur dem Herrn Leutnant rasch ein Buch hingelegt, damit er sich inzwischen nicht langweilt.«
Condors geschulter Blick hatte richtig gesehen. Jetzt erst, da er es ausgesprochen, merkte ich selbst, wie furchtbar übermüdet ich war von der zerstörten Nacht und dem mit Spannungen überfüllten Tag. Seinem Rate folgend – schon spürte ich, daß ich ganz seinem Willen verfallen war – streckte ich mich in den Fauteuil seines Ordinationszimmers, den Kopf ins Tiefe zurückgelehnt, die Hände lasch auf die weiche Lehne gestützt. Draußen mußte die Dämmerung während meines beklommenen Wartens völlig niedergesunken sein; ich unterschied im Raum kaum mehr etwas anderes als das silberne Blinken der Instrumente in dem hohen Glaskasten, und über der rückwärtigen Ecke rund um den Fauteuil, in dem ich ruhte, wölbte sich eine völlige Nische von Nacht. Unwillkürlich schloß ich die Augen, und sofort erschien, wie in einer Laterna magica, das Gesicht der Blinden mit jenem unvergeßlichen Übergang von Erschrecktheit in jähe Beglückung, kaum daß Condors Hand sie berührt, sein Arm sie umfangen hatte. Wunderbarer Arzt, dachte ich, wenn du nur auch mir so helfen könntest, und ich fühlte noch verworren, daß ich weiter denken wollte, an irgend jemand anderen, der ebenso unruhig und verstört gewesen und gleich ängstlich blickte, an irgend etwas Bestimmtes, um dessentwillen ich hierher gekommen war. Aber es gelang mir nicht mehr.
Plötzlich berührte mich eine Hand an der Schulter. Condor mußte leisesten Schritts in das völlig nachtschwarze Zimmer getreten sein oder vielleicht war ich wirklich eingeschlafen. Ich wollte aufstehen, aber er drückte mir, sanft und energisch zugleich, die Schultern nieder.
»Bleiben Sie. Ich setz mich zu Ihnen. Es spricht sich besser im Dunkeln. Nur eines bitte ich Sie: sprechen wir leise! Ganz leise! Sie wissen ja, bei Blinden entwickelt sich manchmal auf magische Weise das Gehör und dazu noch ein geheimnisvoller Instinkt des Erratens. Also« – und dabei strich mir seine Hand wie hypnotisierend von der Schulter den Arm herab bis zu meiner Hand – »erzählen Sie und haben Sie keine Scheu. Ich habe gleich bemerkt, daß was mit Ihnen los ist.«
Sonderbar – in dieser Sekunde fiel es mir ein. Ich hatte in der Kadettenschule einen Kameraden gehabt, Erwin hieß er, zart und blond wie ein Mädchen; ich glaube, ich war sogar auf uneingestandene Weise ein wenig in ihn verliebt. Bei Tag sprachen wir fast nie miteinander oder bloß über gleichgültige Dinge; wahrscheinlich schämten wir uns beide unserer heimlichen und uneingestandenen Neigung. Nur nachts im Schlafsaal, wenn die Lichter gelöscht waren, fanden wir manchmal Mut; aufgestützt auf den Ellenbogen in unseren nachbarlichen Betten, erzählten wir uns im schützenden Dunkel, während alle anderen im Zimmer schliefen, unsere kindischen Gedanken und Betrachtungen, um dann am nächsten Morgen uns unfehlbar mit der gleichen Befangenheit wieder auszuweichen. Jahre und Jahre hatte ich mich an diese flüsternden Geständnisse, die das Glück und Geheimnis meiner Knabenjahre gewesen, nicht mehr erinnert. Aber nun, da ich ausgestreckt lag und das Dunkel um mich schattete, vergaß ich gänzlich meinen Vorsatz, mich vor Condor zu verstellen. Ohne daß ich es wollte, wurde ich völlig aufrichtig; und wie damals dem Kameraden der Kadettenschule die kleinen Erbitterungen und großen, wilden Träume unserer kindischen Jugend, berichtete ich nun – und es war eine geheime Lust des Gestehens dabei – Condor den unvermuteten Ausbruch Ediths, mein Entsetzen, meine Angst, meine Verstörung. Alles erzählte ich in dieses schweigsame Dunkel, in dem sich nichts regte als die beiden Augengläser, die manchmal, wenn er den Kopf bewegte, undeutlich blitzten.
Dann kam ein Schweigen und nach dem Schweigen ein merkwürdiger Laut. Offenbar hatte Condor die Finger gegeneinander gepreßt, daß die Gelenke knackten.
»Das also war's«, knurrte er unwillig. »Und ich Dummkopf konnte so was übersehen! Immer wieder dasselbe, daß man hinter der Krankheit den Kranken nicht mehr spürt. Mit diesem akkuraten Untersuchen und Herumtasten nach allen Symptomen greift man gerade am Wesentlichen vorbei, an dem, was in dem Menschen selber vorgeht. Das heißt – etwas habe ich gleich bei dem Mädel gespürt; Sie erinnern sich, wie ich nach der Untersuchung den Alten fragte, ob nicht jemand anderer in die Behandlung eingegriffen hätte – dieser plötzliche und hitzige Wille, rasch-rasch gesund zu werden, hatte mich sofort stutzig gemacht. Ich hatte schon ganz richtig getippt, daß da jemand Fremder im Spiel war. Aber ich Schwachkopf dachte nur an einen Barbier oder Magnetiseur; ich glaubte, irgendein Hokuspokus hätt ihr den Kopf verdreht. Einzig an das Einfachste, das Logische habe ich nicht gedacht, nur an das nicht, was klar auf der Hand lag. Verliebtheit gehört im Übergangsalter doch geradezu organisch zu einem Mädchen. Nur vertrackt, daß das gerade jetzt passieren muß und derart vehement – o Gott, das arme, das arme Kind!«
Er war aufgestanden. Ich hörte das Auf und Ab seiner kurzen Schritte und den Seufzer:
»Schrecklich, just jetzt muß das geschehen, da wir diese Sache mit der Reise angezettelt haben. Und dabei kann kein Gott das mehr zurückschrauben, weil sie sich suggeriert, sie müsse für Sie geheilt werden, nicht für sich selbst. Furchtbar, o furchtbar wird das werden, wenn dann der Rückschlag kommt. Jetzt, da sie alles erhofft und fordert, wird keine kleine Besserung ihr mehr genügen, kein bloßer Fortschritt! Mein Gott, was für eine schreckliche Verantwortung haben wir da übernommen!«
In mir regte sich plötzlich ein Widerstand. Mich ärgerte dieses Mich-einbeziehen. Ich war doch gekommen, um mich freizumachen. So unterbrach ich entschieden:
»Ich teile ganz Ihre Meinung. Die Folgen werden unabsehbar. Man muß diesen unsinnigen Wahn rechtzeitig abstellen. Sie müssen energisch eingreifen. Sie müssen ihr sagen ...«
»Was sagen?«
»Nun ... daß diese Verliebtheit einfach eine Kinderei, ein Unsinn ist. Sie müssen ihr das ausreden.«
»Ausreden? Was ausreden? Einer Frau ihre Leidenschaft ausreden? Ihr sagen, sie soll nicht fühlen, wie sie fühlt? Nicht lieben, wenn sie liebt? Das wäre kerzengrad das Allerfalscheste, was man tun könnte, und das Dümmste zugleich. Haben Sie je gehört, daß man mit Logik aufkommt gegen eine Leidenschaft? Daß man dem Fieber zureden kann: ›Fieber, fiebre nicht‹ oder dem Feuer: ›Feuer, brenn' nicht!‹ Ein schöner, ein wahrhaft menschenfreundlicher Gedanke, einer Kranken, einer Gelähmten ins Gesicht zu schreien: ›Red' dir um Gottes willen nicht ein, daß auch du lieben darfst! Gerade von dir ist es anmaßend, Gefühl zu zeigen, Gefühl zu erwarten – du hast zu kuschen, weil du ein Krüppel bist! Marsch in den Winkel! Verzichte, gib's auf! Gib dich selber auf!‹ – So wünschen Sie offenbar, daß ich mit der Armen rede. Aber denken Sie sich gütigst dazu auch die gloriose Wirkung aus!«
»Aber gerade Sie müssen ...«
»Warum ich? Sie haben doch ausdrücklich alle Verantwortung auf sich genommen? Warum jetzt justament ich?«
»Ich kann ihr doch nicht selbst zugeben, daß ...«
»Sollen Sie auch gar nicht! Dürfen Sie auch gar nicht! Erst sie verrückt machen und dann auf einen Hieb Vernunft fordern! ... Das fehlte gerade noch! Selbstredend dürfen Sie mit keinem Ton und keinem Wink das arme Kind ahnen lassen, daß seine Zuneigung Ihnen peinlich ist – das hieße doch geradezu einen Menschen mit dem Beil auf den Kopf schlagen!«
»Aber ...« – die Stimme versagte mir – »jemand muß ihr schließlich doch klarmachen ...«
»Was klarmachen? Drücken Sie sich freundlichst präziser aus!«
»Ich meine ... daß ... daß das völlig aussichtslos ist, völlig absurd ... damit sie dann nicht ... wenn ich ... wenn ich ...«
Ich stockte. Auch Condor schwieg. Er wartete offenbar. Dann machte er unvermittelt zwei starke Schritte zur Tür und griff an den Lichtschalter. Scharf und mitleidslos – der grelle Schuß Licht zwang mich unwillkürlich, die Lider zu schließen – fuhren drei weiße Flammen in die Glühbirnen. Mit einem Schlag war das Zimmer taghell.
»So!« skandierte Condor heftig. »So, Herr Leutnant! Ich seh schon, man darf's Ihnen nicht zu bequem machen. Hinter dem Dunkel versteckt man sich zu leicht, und bei gewissen Dingen ist's besser, sich klar in die Pupillen zu schauen. Also Schluß mit dem quatschigen Hin und Her, Herr Leutnant – hier stimmt etwas nicht. Ich laß mir nicht einreden, Sie seien bloß gekommen, um mir diesen Brief zu zeigen. Dahinter steckt etwas. Sie haben, spür ich, etwas Bestimmtes vor. Entweder äußern Sie sich da ehrlich, oder ich muß für Ihren Besuch danken.«
Die Brille blitzte mich scharf an; ich hatte Furcht vor ihrem spiegelnden Rund und blickte nieder.
»Nicht sehr imposant, Ihr Schweigen, Herr Leutnant. Deutet nicht eben auf ein sauberes Gewissen. Aber mir schwant schon ungefähr, was da gespielt wird. Keine Umschweife bitte: haben Sie am Ende die Absicht, auf diesen Brief ... oder auf das andere hin plötzlich Schluß zu machen mit Ihrer sogenannten Freundschaft?«
Er wartete. Ich hob nicht den Blick. Seine Stimme nahm den fordernden Ton eines Examinators an.
»Wissen Sie, was das wäre, wenn Sie sich jetzt aus dem Staube machten? Jetzt, nachdem Sie mit Ihrem famosen Mitleid dem Mädel den Kopf verdreht haben?«
Ich schwieg.
»Nun, dann werde ich mir erlauben, Ihnen meine persönliche Qualifikation einer solchen Handlungsweise mitzuteilen – eine jämmerliche Feigheit wäre ein solches Auskneifen ... ach was, zucken Sie nicht gleich militärisch auf! Lassen wir den Herrn Offizier und den Ehrenkodex aus dem Spiel! Hier geht's schließlich um mehr als um solche Faxereien. Hier geht's um einen lebendigen, einen jungen, einen wertvollen Menschen, und noch dazu um einen, für den ich verantwortlich bin – unter solchen Umständen habe ich keine Lust und Laune, höflich zu sein. Jedenfalls, damit Sie sich keiner Täuschung hingeben, was Sie mit Ihrem Davonlaufen auf Ihr Gewissen nehmen, sage ich Ihnen nun mit voller Deutlichkeit: Ihr Echappieren in einem so kritischen Augenblick wäre – bitte jetzt nicht weghören! – ein niederträchtiges Verbrechen an einem unschuldigen Wesen, und ich fürchte, sogar mehr noch – es wäre ein Mord!«
Der kleine feiste Mann war, die Fäuste geballt wie ein Boxer, auf mich eingedrungen. Vielleicht hätte er sonst in seinem flauschigen Hausrock und seinen schlurfenden Pantoffeln lächerlich gewirkt. Aber etwas Überwältigendes ging von seinem ehrlichen Zorn aus, als er mich neuerdings anschrie:
»Ein Mord! ein Mord! ein Mord! Jawohl, und Sie wissen es selbst! Oder glauben Sie, dieses reizbare, dieses stolze Geschöpf würde es überstehen, wenn sie sich zum erstenmal einem Manne aufschließt, und als Antwort läuft dieser Ehrenmann in einer Panik davon, als hätte er den Teufel erblickt? Ein bißchen mehr Phantasie, wenn ich bitten darf! Haben Sie den Brief nicht gelesen oder keine Augen im Herzen? Schon eine normale, eine gesunde Frau würde eine derartige Mißachtung nicht ertragen! Schon ihr würde ein solcher Hieb das innere Gleichgewicht für Jahre zerstören! Und dieses Mädchen, das sich doch nur an der unsinnigen Heilungshoffnung aufrecht hält, die Sie ihm vorgeschwafelt haben – dieser verstörte, verratene Mensch, glauben Sie, käme über so was hinweg? Wenn nicht dieser Schock, so wird sie sich selber zerstören! Ja, sie wird es selber tun – eine solche Erniedrigung erträgt ein verzweifelter Mensch nicht – ich bin überzeugt, sie übersteht eine solche Roheit nicht, und Sie, Herr Leutnant, wissen das genau so gut wie ich. Und weil Sie all das wissen, wäre Ihr Auskneifen nicht nur Schwäche und Feigheit, sondern ein gemeiner, ein vorbedachter Mord!«
Unwillkürlich wich ich noch weiter zurück. In der einen Sekunde, da er das Wort »Mord« ausgesprochen, hatte ich alles in blitzhafter Vision gesehen: das Geländer der Turmterrasse und wie sie sich ankrampfte daran mit beiden Händen! Wie ich sie packen mußte und mit Gewalt zurückreißen im letzten Augenblick! Ich wußte, Condor übertrieb nicht; genau so würde sie es tun, dort hinunter sich werfen – ich sah die gequaderten Steine der Tiefe vor mir, alles sah ich in dieser Sekunde, als ob es eben geschähe, als ob es schon geschehen wäre, und ein Brausen dröhnte in meinen Ohren, als sauste ich selbst diese vier, diese fünf Stockwerke hinab.
Doch Condor drängte immer noch nach. »Nun? Leugnen Sie's doch ab! Zeigen Sie endlich etwas von dem Mut, zu dem Sie professionell verpflichtet sind!«
»Aber Herr Doktor ... was soll ich denn tun ... Ich kann mich doch nicht zwingen lassen ... nicht etwas sagen, was ich nicht sagen will! ... Wie komme ich denn dazu, so zu tun, als ob ich einginge auf ihren irrwitzigen Wahn ...« Und unbeherrscht brach es aus mir: »Nein, ich ertrage es nicht, ich kann es nicht ertragen! ... Ich kann nicht, ich will nicht und kann nicht!«
Ich mußte ganz laut geschrien haben, denn eisern fühlte ich Condors Finger um meinen Arm.
»Leise, um Himmels willen!« Er sprang rasch zum Lichtschalter und drehte wieder ab. Nur die Lampe auf dem Schreibtisch verstreute unter ihrem gelblichen Schirm einen matten Kegel Helligkeit.
»Kreuzdonner! – Mit Ihnen muß man wirklich wie mit einem Kranken reden. Da – setzen Sie sich erst einmal ruhig nieder; auf diesem Sessel sind schon schwerere Dinge durchgesprochen worden.«
Er rückte näher heran.
»Also ohne Erregung jetzt, und bitte, ruhig, langsam eins nach dem andern! Zunächst: Sie stöhnen da herum ›Ich kann es nicht ertragen!‹ Aber das sagt mir nicht genug. Ich muß wissen: was können Sie nicht ertragen? Was entsetzt Sie eigentlich so sehr an der Tatsache, daß dies arme Kind sich leidenschaftlich in Sie vernarrt hat?«
Ich holte aus, um zu antworten, aber schon setzte Condor hastig ein:
»Nichts übereilen! Und vor allem: sich nicht schämen! An sich kann ich's ja verstehen, daß man im ersten Moment erschrickt, wenn man mit einem derart leidenschaftlichen Geständnis überfallen wird. Nur einen Hohlkopf macht ein sogenannter ›Erfolg‹ bei Frauen glücklich, nur einen Dummkopf bläht dergleichen auf. Ein wirklicher Mensch wird eher bestürzt sein, wenn er spürt, daß eine Frau sich an ihn verloren hat und er kann ihr Gefühl nicht erwidern. Alles das verstehe ich. Aber da Sie so ungewöhnlich, so ganz ungewöhnlich verstört sind, muß ich doch fragen: spielt in Ihrem Fall nicht etwas Besonderes mit, ich meine die besondern Umstände ...«
»Welche Umstände?«
»Nun ... daß Edith ... es ist nur so schwer, derlei Dinge zu formulieren ... ich meine ... flößt Ihnen ihr ... ihr körperlicher Defekt am Ende einen gewissen Widerwillen ... einen physiologischen Ekel ein?«
»Nein ... durchaus nicht«, protestierte ich heftig. Es war doch gerade die Hilflosigkeit, die Wehrlosigkeit, die mich an ihr so unwiderstehlich angezogen, und wenn ich in manchen Sekunden ein Gefühl für sie empfunden, das dem zärtlichen eines Liebenden sich geheimnisvoll näherte, so war es doch nur deshalb gewesen, weil ihr Leiden, ihr Vereinsamt- und Verstümmeltsein mich derart erschüttert hatte. »Nein! Niemals«, wiederholte ich in beinahe erbitterter Überzeugtheit. »Wie können Sie so etwas denken!«
»Um so besser. Das beruhigt mich einigermaßen. Nun, als Arzt hat man oft Gelegenheit, derartige psychische Hemmungen bei den scheinbar Normalsten zu beobachten. Freilich – verstanden habe ich die Männer nie, bei denen die kleinste Unregelmäßigkeit bei einer Frau eine Art Idiosynkrasie erzeugt, aber es gibt eben unzählige Männer, bei denen sich, sobald von den Millionen und Milliarden Zellen, die einen Körper, einen Menschen formen, nur ein Fingerbreit Pigment entstellt ist, sofort jede Möglichkeit einer erotischen Bindung ausschaltet. Solche Repulsionen sind wie alle Instinkte leider immer unüberwindlich – darum bin ich doppelt froh, daß dies bei Ihnen nicht zutrifft, daß es also keinesfalls das Faktum ihrer Lahmheit ist, das Sie derart zurückschrecken läßt. Dann allerdings kann ich nur annehmen, daß ... darf ich aufrichtig reden?«
»Gewiß.«
»Daß Ihr Erschrecken gar nicht der Tatsache selbst galt, sondern den Konsequenzen ... ich meine, daß Sie sich gar nicht so sehr vor der Verliebtheit dieses armen Kindes entsetzen, als daß Sie innerlich fürchten, andere möchten von Ihrer Verliebtheit erfahren und darüber spotten ... meiner Meinung nach ist also Ihre unmäßige Verstörtheit nichts anderes als eine Art Angst – verzeihen Sie lächerlich zu werden vor den andern, vor Ihren Kameraden.«
Mir war, als hätte Condor mir mit einer feinen spitzen Nadel ins Herz gestoßen. Denn was er aussprach, hatte ich im Unbewußten längst gefühlt und nur nicht zu denken gewagt. Schon vom ersten Tage an hatte ich mich gefürchtet, meine sonderbare Beziehung zu dem humpelnden Mädchen könnte von meinen Kameraden bespöttelt werden mit jener gutmütigen und doch seelenmörderischen österreichischen »Frozzelei«; ich wußte zu gut, wie sie jeden verhöhnten, den sie einmal mit einer »schiechen« oder uneleganten Person »erwischt« hatten. Nur darum hatte ich ja instinktiv jene Doppelschicht in meinem Leben zwischen der einen Welt und der andern, zwischen dem Regiment und den Kekesfalvas aufgerichtet. Tatsächlich – Condor hatte richtig gemutmaßt: vom ersten Augenblick, da ich ihrer Leidenschaft gewahr wurde, hatte ich mich hauptsächlich geschämt vor den andern, vor dem Vater, vor Ilona, vor dem Diener, vor den Kameraden. Sogar vor mir selbst hatte ich mich meines verhängnisvollen Mitleids geschämt.
Aber da spürte ich schon Condors Hand magnetisch streichelnd auf meinem Knie.
»Nein, schämen Sie sich nicht! Wenn einer, so versteh ich, daß man Furcht haben kann vor den Menschen, sobald etwas ihren reglementierten Vorstellungen widerspricht. Sie haben doch meine Frau gesehen. Niemand verstand, warum ich sie heiratete, und alles, was nicht auf ihrer engen und sozusagen normalen Linie liegt, macht die Menschen erst neugierig und dann böswillig. Gleich flüsterten meine Herren Kollegen herum, ich hätte sie in meiner Behandlung verpatzt und nur aus Furcht geheiratet – meine Freunde wieder, die sogenannten, verbreiteten, sie habe viel Geld oder erwarte eine Erbschaft. Meine Mutter, meine eigene Mutter, weigerte sich zwei Jahre lang, sie zu empfangen, denn sie hatte schon eine andere Partie für mich im Hinterhalt, die Tochter eines Professors – damals der berühmteste Internist der Universität und wenn ich sie geheiratet hätte, wäre ich drei Wochen später Dozent gewesen, Professor geworden und mein Leben lang warm in der Wolle gesessen. Aber ich wußte, daß diese Frau zugrunde gehen würde, wenn ich sie im Stiche ließe. Sie glaubte nur an mich, und hätte ich ihr diesen Glauben genommen, so wäre sie unfähig gewesen, weiterzuleben. Nun, ich gestehe Ihnen offen, ich habe meine Wahl nicht bereut. Denn glauben Sie mir, als Arzt und gerade als Arzt hat man selten ein ganz reines Gewissen. Man weiß, wie wenig man wirklich helfen kann, man kommt als einzelner nicht auf gegen die Unermeßlichkeit des täglichen Jammers. Man schöpft nur mit einem Fingerhut ein paar Tropfen weg aus diesem unergründlichen Meer, und die man heute geheilt glaubt, haben morgen schon wieder ein neues Gebrest. Immer hat man das Gefühl, zu lässig, zu nachlässig gewesen zu sein, dazu kommen die Irrtümer, die Kunstfehler, die man unvermeidlich begeht – da bleibt es immerhin ein gutes Bewußtsein, wenigstens einen Menschen gerettet zu haben, ein Vertrauen nicht enttäuscht, eine Sache richtig getan zu haben. Schließlich muß man wissen, ob man nur dumpf und dumm hingelebt hat oder für etwas gelebt. Glauben Sie mir« – und ich spürte mit einmal seine Nähe ganz warm und beinahe zärtlich – »es lohnt sich schon, etwas Schweres auf sich zu nehmen, wenn man es einem anderen Menschen damit leichter macht.«
Die tiefe Schwingung in seiner Stimme berührte mich. Mit einmal fühlte ich ein leises Brennen in der Brust, jenen wohlbekannten Druck, als ob das Herz sich erweiterte oder spannte; ich spürte, wie die Erinnerung an die verzweifelte Verlassenheit jenes unglücklichen Kindes das Mitleid in mir neuerdings erweckte. Gleich, wußte ich, würde dieses Quellen und Strömen beginnen, dem ich nicht zu wehren vermochte. Aber – nicht nachgeben! sagte ich mir. Nicht dich wieder hineinziehen, nicht dich zurückziehen lassen! So blickte ich entschlossen auf.
»Herr Doktor – jeder kennt bis zu einem Grad die Grenzen seiner Kraft. Deshalb muß ich Sie warnen: bitte zählen Sie nicht auf mich! An Ihnen ist es und nicht an mir, jetzt Edith zu helfen. Ich bin in dieser Sache schon viel weiter gegangen, als ich ursprünglich wollte, und sage Ihnen ehrlich – ich bin keineswegs so gut oder so aufopfernd, wie Sie meinen. Ich bin am Ende meiner Kraft! Ich ertrag's nicht länger, mich anbeten, mich anhimmeln zu lassen und dabei so zu tun, als ob ich's wünschte oder duldete. Besser, sie begreift jetzt die Situation, als daß sie später enttäuscht wird. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort als Soldat, daß ich Sie aufrichtig gewarnt habe, wenn ich Ihnen jetzt wiederhole: Zählen Sie nicht auf mich, überschätzen Sie mich nicht!«
Ich mußte sehr entschieden gesprochen haben, denn Condor blickte mich etwas verdutzt an.
»Das klingt ja beinahe so, als ob Sie zu etwas Bestimmtem entschlossen wären.«
Er stand plötzlich auf.
»Die ganze Wahrheit, bitte, und nicht die halbe! Haben Sie schon etwas – etwas Unwiderrufliches getan?«
Ich stand gleichfalls auf.
»Ja«, sagte ich, mein Abschiedsgesuch aus der Tasche ziehend. »Hier. Bitte lesen Sie selbst.«
Mit einer zögernden Bewegung nahm Condor das Blatt, einen beunruhigten Blick auf mich werfend, ehe er hinüber ging zum kleinen Lichtkreis der Lampe. Er las stumm und langsam. Dann faltete er das Blatt zusammen und äußerte ganz ruhig in dem sachlichsten Ton der Selbstverständlichkeit:
»Ich nehme an, Sie sind nach dem, was ich Ihnen vorhin darlegte, sich vollkommen der Konsequenzen bewußt – wir haben eben festgestellt, daß Ihr Echappieren auf das Kind mörderisch wirken muß ... mörderisch oder selbstmörderisch ... Sie sind sich daher, vermute ich, eindeutig über die Tatsache im klaren, daß dieses Blatt Papier nicht nur ein Abschiedsgesuch für Sie darstellt, sondern ein ... ein Todesurteil für das arme Kind.«
»Ich habe eine Frage an Sie gerichtet, Herr Leutnant! Und ich wiederhole die Frage: sind Sie sich dieser Konsequenzen bewußt? Nehmen Sie die volle Verantwortung auf Ihr Gewissen?«
Ich schwieg abermals. Er trat näher, das gefaltete Blatt in der Hand, und reichte es mir zurück.
»Danke! Ich will mit der Sache nichts zu tun haben. Da – nehmen Sie!«
Aber mein Arm war gelähmt. Ich hatte nicht die Kraft, ihn aufzuheben. Und ich hatte nicht den Mut, seinen prüfenden Blick zu bestehen.
»Sie beabsichtigen also, das ... das Todesurteil nicht weiterzugeben?«
Ich wandte mich ab und nahm die Hände hinter den Rücken. Er verstand.
»Ich darf es also zerreißen?«
»Ja«, antwortete ich, »ich bitte Sie darum.«
Er ging zurück zum Schreibtisch. Ich hörte, ohne hinzublicken, einen scharfen Riß durch das Papier, den ersten, den zweiten, den dritten, und wie dann raschelnd die zerfetzten Blätter in den Papierkorb fielen. Auf merkwürdige Weise ward mir leicht. Abermals – zum zweitenmal an diesem schicksalhaften Tage – war eine Entscheidung für mich geschehen. Ich hatte sie nicht tun müssen. Sie hatte sich selbst für mich getan.
Condor trat auf mich zu und drückte mich sanft wieder auf den Sessel zurück.
»So – ich glaube, wir haben jetzt ein großes Unglück verhütet ... ein ganz großes Unglück! Und nun zur Sache! Ich verdanke immerhin dieser Gelegenheit, Sie einigermaßen kennengelernt zu haben – nein, wehren Sie nicht ab. Ich überschätze Sie nicht, ich betrachte Sie keineswegs als jenen ›wunderbaren, guten Menschen‹, als den Kekesfalva Sie lobpreist, sondern als einen, durch die Unsicherheit des Gefühls, durch eine besondere Ungeduld des Herzens, recht unverläßlichen Partner; so sehr ich froh bin, Ihre unsinnige Eskapade verhindert zu haben, so wenig gefällt mir die Art, wie rasch Sie Entschlüsse fassen und wie rasch Sie Ihre Absichten wieder fallen lassen. Menschen, die Stimmungen derart unterworfen sind, soll man keine ernsten Verantwortungen auferlegen. Sie wären der letzte, den ich zu etwas verpflichten möchte, was Ausdauer und Standhaftigkeit erfordert.
Darum hören Sie! Ich will von Ihnen nicht viel. Nur das Nötigste, das unbedingt Nötigste. Wir haben Edith doch bewogen, eine neue Kur zu beginnen – oder vielmehr eine, die sie für eine neue hält. Um Ihretwillen hat sie sich entschlossen, wegzufahren, für Monate wegzufahren, und wie Sie wissen, reisen sie in acht Tagen. Nun – diese acht Tage lang benötige ich Ihre Hilfe, und ich sage Ihnen gleich zur Entlastung: nur für diese acht Tage! Ich will nicht mehr von Ihnen, als daß Sie versprechen, innerhalb dieser einen Woche bis zur Abreise nichts Brüskes, nichts Plötzliches zu tun, und vor allem, mit keinem Wort und keiner Geste zu verraten, daß die Neigung dieses armen Kindes Sie dermaßen verstört. Mehr will ich zunächst nicht von Ihnen – ich glaube, das ist das Bescheidenste, was man fordern kann: acht Tage Selbstbeherrschung, wenn es um das Leben eines andern Menschen geht.«
»Ja ... aber dann?«
»An später denken wir vorläufig nicht. Ich darf auch, wenn ich einen Tumor operieren soll, nicht lange fragen, ob er nicht in ein paar Monaten wiederkommt. Wenn ich gerufen werde, zu helfen, habe ich nur eines zu tun: zuzugreifen, ohne zu zögern. Das ist in jedem Fall das einzig Richtige, weil das einzig Menschliche. Alles Übrige liegt beim Zufall, oder wie Frömmere sagen würden: bei Gott. Was kann nicht alles in den paar Monaten geschehen! Vielleicht bessert sich ihr Zustand wirklich rapider, als ich vermeinte, vielleicht flaut ihre Leidenschaft mit der Entfernung ab – ich kann nicht alle Möglichkeiten vorausdenken, und Sie sollen's schon gar nicht! Konzentrieren Sie alle Ihre Kraft einzig darauf, innerhalb dieser entscheidenden Zeit ihr nicht zu verraten, daß ihre Liebe Ihnen ... Ihnen so schrecklich ist. Sagen Sie sich's immer wieder: acht Tage, sieben Tage, sechs Tage, und ich rette einen Menschen, ich kränke, ich beleidige, ich verstöre, ich entmutige ihn nicht. Acht Tage männlicher, entschlossener Haltung – glauben Sie, daß Sie das wirklich nicht durchstehen können?«
»Doch«, sagte ich spontan. Und fügte noch entschlossener bei: »Bestimmt! Ganz bestimmt!« Seit ich meine Aufgabe begrenzt wußte, fühlte ich eine Art neuer Kraft.
Ich hörte Condor stark aufatmen.
»Gott sei Dank! Jetzt kann ich Ihnen auch eingestehen, wie beunruhigt ich war. Glauben Sie mir – Edith hätte es wirklich nicht überstanden, wenn Sie als Antwort auf ihren Brief, auf ihr Geständnis einfach durchgebrannt wären. Gerade die nächsten Tage sind darum entscheidend. Alles andere wird sich später geben. Lassen wir zunächst das arme Kind ein bißchen glücklich sein – acht Tage ahnungslos glücklich; für diese eine Woche verbürgen Sie sich doch, nicht wahr?«
Statt eines Wortes reichte ich ihm die Hand.
»Dann, glaube ich, ist alles wieder in Ordnung, und wir können getrost hinüber zu meiner Frau.«
Aber er erhob sich nicht. Ich spürte, daß ein Zögern in ihm begonnen hatte.
»Noch eines«, fügte er leise bei. »Wir Ärzte sind genötigt, immer auch an Unvorhergesehenes zu denken, wir müssen auf jede Möglichkeit vorbereitet sein. Sollte etwa – ich setze hier einen irrealen Fall – ein Zwischenfall sich ereignen ... ich meine, sollte Ihnen die Kraft versagen oder das Mißtrauen Ediths zu irgendeiner Krise führen dann verständigen Sie mich sofort. Um keinen Preis darf während dieser kurzen, aber gefährlichen Phase etwas Unwiderrufliches geschehen. Wenn Sie sich Ihrer Aufgabe nicht gewachsen fühlen sollten, oder innerhalb dieser acht Tage unbewußt verraten, dann schämen Sie sich nicht – um Gottes willen, schämen Sie sich nicht vor mir, ich habe genug nackte Menschen und brüchige Seelen gesehen! Sie können zu jeder Stunde bei Tag oder Nacht kommen oder mich anrufen; ich bin immer bereit, beizuspringen, denn ich weiß, um was es geht. Und jetzt« – der Sessel neben mir rückte, ich merkte, daß Condor aufstand – »übersiedeln wir besser hinüber. Wir haben etwas lang gesprochen, und meine Frau wird leicht unruhig. Auch ich muß nach Jahren noch immer auf der Hut sein, sie nicht zu irritieren. Wen einmal das Schicksal hart verletzt hat, der bleibt für immer verletzbar.«
Er machte wieder die zwei Schritte zum Lichtschalter, die Glühbirnen flammten auf. Da er sich jetzt mir zuwandte, schien mir sein Gesicht anders; vielleicht modellierte nur der grelle Schein so scharf die Konturen heraus, denn zum erstenmal bemerkte ich die tiefen Falten auf seiner Stirn, und an seiner ganzen Haltung, wie müde, wie erschöpft dieser Mann war. Er hat sich immer an andere weggegeben, dachte ich. Erbärmlich schien mir mit einmal mein Flüchtenwollen vor der ersten Unannehmlichkeit, und ich blickte ihn mit dankbarer Erregung an.
Er schien es zu merken und lächelte.
»Wie gut«, klopfte er mir mit der Hand auf die Schulter, »daß Sie zu mir gekommen sind und wir uns ausgesprochen haben. Denken Sie sich aus, Sie wären ohne zu überlegen, einfach davongelaufen! Ihr ganzes Leben hätte der Gedanke auf Ihnen gelastet, denn allem kann man entfliehen, nur sich selber nicht. – Und nun gehen wir hinüber. Kommen Sie – lieber Freund.«
Dieses Wort »Freund«, das mir dieser Mann in dieser Stunde gab, bewegte mich. Er wußte, wie schwach, wie feig ich gewesen, und doch, er verachtete mich nicht. Mit diesem einen Wort schenkte er mir, der Ältere dem Jüngeren, der Erfahrene dem unsicher Beginnenden, wieder Zuversicht. Entlastet und leicht folgte ich ihm.
Wir durchschritten zuerst das Wartezimmer, dann öffnete Condor die Tür zu dem nächsten Raum. An dem noch nicht abgeräumten Speisetisch saß seine Frau und strickte. Nichts an ihrer beharrlichen Tätigkeit hätte vermuten lassen, daß hier blinde Hände so leicht und sicher die Nadeln gegeneinander spielten, und sauber-gradlinig standen das Körbchen mit Wolle und die Schere aufgereiht. Erst als die Niedergeneigte die leeren Pupillen zu uns aufhob und sich auf ihrer glatten Rundung miniaturhaft die Lampe spiegelte, wurde die Unempfindlichkeit ihrer Augen offenbar.
»Nun, Klara, haben wir Wort gehalten?« sagte Condor, zärtlich auf sie zutretend, mit jenem schwingenden Ton, der immer weich aus seiner Kehle bebte, wenn er sich an sie wandte. »Nicht wahr, es hat nicht lang gedauert! Und wenn du es wüßtest, wie froh ich bin, daß der Herr Leutnant mich aufgesucht hat! Du mußt nämlich wissen – aber setzen Sie sich doch einen Augenblick, lieber Freund – daß er in derselben Stadt in Garnison steht, wo die Kekesfalvas wohnen, du erinnerst dich doch an meine kleine Patientin.«
»Ach, das arme lahme Kind, nicht wahr?«
»Und nun verstehst du auch: durch den Herrn Leutnant erfahre ich ab und zu, ohne daß ich eigens hinfahren muß, was es dort Neues gibt. Er geht fast jeden Tag hinaus, um sich ein bißchen der Armen anzunehmen, und leistet ihr Gesellschaft.«
Die Blinde wandte den Kopf in die Richtung, wo sie mich vermutete. Etwas Weiches glättete mit einem Mal ihre harten Züge.
»Wie gut von Ihnen, Herr Leutnant! Ich kann mir denken, wie ihr das wohltut!« nickte sie mir zu; unwillkürlich rückte ihre Hand auf dem Tisch näher an mich heran.
»Ja, gut auch für mich«, fuhr Condor fort, »sonst müßte ich viel öfter hinaus, um sie in ihrem nervösen Zustand aufzurichten. Da bedeutet's mir eine große Entlastung, daß gerade in dieser letzten Woche, ehe sie zur Erholung in die Schweiz fährt, Leutnant Hofmiller bei ihr ein bißchen aufpaßt. Man hat's mit ihr nicht immer leicht, aber er nimmt sich der Armen wirklich wunderbar an, ich weiß, er läßt mich nicht im Stich. Auf ihn kann ich mich besser als auf meine Assistenten und Kollegen verlassen.«
Ich verstand sofort, daß Condor mich noch fester binden wollte, indem er mich in Gegenwart dieser anderen Hilflosen verpflichtete; aber ich nahm das Versprechen gern auf mich.
»Selbstverständlich können Sie sich auf mich verlassen, Herr Doktor. Ich gehe bestimmt diese letzten acht Tage vom ersten bis zum letzten hinaus und würde Ihnen den kleinsten Zwischenfall sofort telephonisch melden. Jedoch es wird« – ich blickte ihn über die Blinde hinweg bedeutsam an – »es wird keinen Zwischenfall und keine Schwierigkeiten geben. Ich bin dessen so viel wie gewiß.«
»Ich auch«, bestätigte er mit einem kleinen Lächeln. Wir verstanden uns ganz. Aber da begann um den Mund seiner Frau eine kleine Anstrengung. Man sah, daß etwas sie quälte.
»Ich hab mich noch gar nicht bei Ihnen entschuldigt, Herr Leutnant. Ich fürchte, ich bin vorhin ein bißchen ... ein bißchen unfreundlich zu Ihnen gewesen. Aber das dumme Mädel hatte niemanden gemeldet, ich hatte keine Ahnung, wer da im Zimmer wartete, und Emmerich hat mir noch nie von Ihnen erzählt. So meinte ich, es wäre jemand Fremder, der ihn aufhalten will, und er ist doch immer todmüde, wenn er nach Hause kommt.«
»Sie haben ganz recht gehabt, gnädige Frau, und Sie sollten sogar noch strenger sein. Ich fürchte – verzeihen Sie meine Unbescheidenheit – Ihr Herr Gemahl gibt zu viel von sich her.«
»Alles«, unterbrach sie mich heftig und rückte mit dem Sessel leidenschaftlich näher heran. »Alles, sage ich Ihnen, gibt er her, seine Zeit, seine Nerven, sein Geld. Er ißt nicht, er schläft nicht wegen seiner Kranken. Jeder beutet ihn aus, und ich, mit meinen blinden Augen, kann ihm nichts abnehmen, kann ihm nichts wegschaffen. Wenn Sie wüßten, wie ich um ihn in Sorge bin! Den ganzen Tag denke ich: jetzt hat er noch nichts gegessen, jetzt sitzt er schon wieder in der Bahn, in der Tramway, und in der Nacht werden sie ihn wieder wecken. Für alle hat er Zeit, nur für sich selbst nicht. Und mein Gott, wer dankt ihm dafür? Niemand! Niemand!«
»Wirklich niemand?« beugte er sich lächelnd über die Erregte.
»Natürlich«, errötete sie. »Aber ich kann doch gar nichts für ihn leisten! Wenn er heimkommt von der Arbeit, bin ich jedesmal ganz zerquält vor Angst. Ach, wenn Sie nur Einfluß auf ihn nehmen könnten! Er brauchte jemanden, der ihn ein bißchen zurückhält. Man kann doch nicht allen helfen ...«
»Aber versuchen muß man's«, sagte er und blickte mich dabei an. »Dafür lebt man doch. Nur dafür.« Ich spürte die Mahnung bis nach innen dringen. Aber ich ertrug diesen Blick, seit ich wußte, daß ich entschlossen war.
Ich erhob mich. Ich hatte in diesem Moment ein Gelöbnis geleistet. Kaum, daß sie das Rücken meines Stuhles vernahm, hob die Blinde die Augen.
»Müssen Sie wirklich schon gehen?« fragte sie mit ehrlichem Bedauern. »Wie schade, wie schade! Aber nicht wahr, Sie kommen bald wieder?«
Mir war sonderbar zumute. Was ist das mit mir, staunte ich innerlich, daß alle zu mir Vertrauen haben, daß diese Blinde ihre leeren Augen strahlend gegen mich hebt, daß dieser Mann, ein beinahe Fremder, mir jetzt freundschaftlich den Arm um die Schulter legt? Schon als ich die Treppe hinunterging, verstand ich nicht mehr, was vor einer Stunde mich hierhergetrieben. Warum hatte ich denn eigentlich fliehen wollen? Weil irgendein bärbeißiger Vorgesetzter mich beschimpft hatte? Weil ein Wesen, ein armer verstümmelter Mensch in Liebe zu mir verging? Weil jemand an mir sich festhalten, sich aufrichten wollte? Es war doch wunderbar, zu helfen, das einzige, was sich wahrhaft verlohnte und belohnte. Und diese Erkenntnis drängte mich, nun aus freiem Willen zu leisten, was ich gestern noch als unerträgliches Opfer empfunden: für die große, für die glühende Liebe eines Menschen diesem Menschen dankbar zu sein.