Erika war eine der ersten im großen, mit tausend Lichtern flimmernden Konzertsaale. Eine sehnsüchtige Unruhe, die Minuten zu Stunden dehnte, hatte sie seit Tagesanbruch erfüllt und durchschauert, seit jener Stunde, da der Gedanke, daß sich heute alles begeben müsse, ihr den Schlaf von den Lidern riß. Und dann war sie alle die Stunden durch Traumland gegangen, ob auch die einzelnen Forderungen ihres Berufes sie immer wieder aufschrecken ließen aus ihren sinnenden Erwartungen und ihrer sanftruhenden Sehnsucht. Und als der Abend kam, nahm sie ihr bestes Gewand und legte es mit einer gewissen feierlichen Sorgfalt an, die nur Frauen haben, wenn sie den Blick des Geliebten erwarten. Eine Stunde zu früh begab sie sich zum Konzertsaal. Wohl hatte sie zuerst einen Spaziergang geplant, ein kurzes Rasten für ihre Nerven, die zu fiebern schienen, aber kaum daß sie die Straße betrat, fühlte sie eine dunkle Gewalt, die sie magnetisch einer Richtung zudrängte. Ihre anfangs bedächtigen Schritte wurden unruhiger und beschleunigter. Und mit einem Male stand sie, fast selbst überrascht, vor den breiten Stufen des Konzertgebäudes und schämte sich ihrer Unrast. Gedankenlos ging sie noch ein wenig dort auf und ab. Und als die ersten Wagen behäbig vorrasselten, mühte sie sich nicht mehr länger, sich zu bezwingen und ging mit beherzter Miene in den eben erleuchteten Saal.

Nicht lange blieb drinnen dieses breite und leere Schweigen, das zu fürchtigen Träumen lud. Dichter und dichter drängten sich die Leute. Erika sah nicht die einzelnen, sondern fühlte nur die hereinströmende Masse, fühlte vor ihren Augen die wandernden Streifen der farbigen Toiletten, das dunkle Durcheinanderschieben und die vielen wechselnden Gesichter, die ihr wie Masken schienen. Alles in ihr war Unrast und Erwartung. In ihren Augen stand nur ein Name, ein Wunsch, ein Wort.

Und dann plötzlich begann das jähaufrauschende Murmeln und Bewegen, die vorbereitende Unruhe vor dem Schweigen, das leise Knacken der geöffneten Operngläser, das Klappern der Lorgnons, das Regen und Bewegen, jenes vieltönige Geräusch, das sich in stürmischen Beifall löste. Sie fühlte, daß er eingetreten war, jetzt eingetreten war. Und schloß die Augen. Sie wußte sich zu schwach, ihn in dieser stolzen Minute schweigend zu sehen. Sie hätte ja jubeln müssen oder ihn rufen, aufspringen oder ihm zuwinken, aber jedesfalls etwas Törichtes, Unüberlegtes, Lächerliches tun. Ihr Herz fühlte sie bis an die Kehle schlagen. Sie wartete. Sie wartete, mit geschlossenen Augen alles sehend, wie er hinaufschritt, wie er sich verneigte und jetzt, – jetzt mußte es ja sein – zum Bogen griff. Sie harrte, bis endlich die ersten Töne seiner Geige sich singend erhoben wie langsam steigende Lerchen, die aus den Feldern zum Himmel aufjubeln.

Dann schaute sie empor, leise, ganz vorsichtig, wie man in ein sehr grelles blendendes Licht sieht. Und sie fühlte eine warme Blutwelle, wie sie ihn sah, gleichsam emporgetragen von diesem dunklen, schweigenden Meer, das die funkelnden Gläser und suchenden Blicke wie zitternde Schaumkämme durchglänzten. Und sie fühlte sein Spiel und wieder die ganze zauberische Gewalt von einst. Und wie die Töne wuchsen und anschwollen, so füllte sich auch ihr Herz. Lachen und Weinen war in ihr, ein Fluten der Erregung, warme zitternde Wellen. Sie fühlte Jubel, Jubel aus tausend sonndurchglänzten Springstrahlen in ihr Herz sprudeln, sie fühlte es selbst aufschäumen zu ihrer Kehle wie den jauchzenden Strahl einer aufzuckenden Fontäne. Wieder verführte sie die Stimmung der Musik wie eine Blinde, die keinen Weg weiß und sich willig der fremden und lieblichen Hand vertraut. Und als dann der Jubel losbrach und dieses dunkle Meer im Saale, das gleichsam in bezaubertem Schlafe gelegen war, plötzlich in wilder, tosender Brandung aufschäumte, als von allen Seiten ein überwältigender Beifall dröhnte, da rauschte ein jäher Stolz in ihr empor. Ihre Seele jubelte bei dem Gedanken, von ihm begehrt worden zu sein. Alle Häßlichkeit und Herbe jener Minuten war zerronnen in diesem stolzen Bewußtsein, in dieser siegenden Stunde seines Künstlertums.

So ward dieser Abend ein lauteres und tiefes Fest für ihre suchende und unruhige Seele. Nur eine Frage drängte sie, ob er ihrer wohl noch gedachte. Und sie war ganz Demut in jener Stunde, eine Sehnsüchtige, die nur begehrt, sich verschenken zu dürfen. Sie dachte nicht mehr an sich und nur mehr an ihn, sah nur sein Verlangen und seine Inbrunst in dem lockenden Geigenspiel und nicht mehr Töne und Melodien.

Und da kam ihr eine seltsame und unendlich beseligende Antwort. Nach langen Beifallsstürmen hatte er sich noch zu einer Zugabe entschlossen. Und nur ein paar schlichte, langsame Takte hatte er gespielt, als Erika erblaßte. Sie lauschte und lauschte wie gebannt. In herbem Erschrecken hatte sie das Lied erkannt, das Lied jenes ersten seltsamen Abends, da er es ihr zuliebe in die Dämmerung gestammelt. Und sie träumte von einer Huldigung. Sie fühlte, daß es ihr gesungen sei, zu ihr gesungen sei. Sie hörte es nur als Frage, die über alle andern zu ihr hinabtastete in den Saal, sie sah eine Liedseele, die in den dunklen Saal flog, um sie zu finden. Eine rasche Gewißheit schaukelte sie in selige Träume. Sie verstand ein Geständnis, daß er ihrer, nur ihrer mehr gedachte. Und Seligkeiten brausten auf sie nieder. Wieder war es die Musik, die sie betörte und über alle Wirklichkeiten hob. Sie fühlte einen Flug nach oben, menschenhoch und erdenfrei. Fast so wie damals in jener Stunde, als sie hoch über der fernen, brausenden Stadt zusammen standen. Nur höher noch, viel höher über Schicksal und Welt, über allen Kleinlichkeiten und Bedenken. In den wenigen Minuten dieses Spieles überflog sie in seligem Traume alle Schranken und Wirklichkeiten.

Der unerhörte Jubel, der seinem Spiele folgte, erweckte Erika erst wieder aus ihren weltentrückten Träumen. Und in drängender Hast eilte sie dem Ausgange zu, um ihn zu erwarten. Denn nun wußte sie auch die helle und sonnige Antwort auf ihre letzte Frage, die sie beängstigt und sie zurückgehalten, sich ihm zu schenken – nun war es ihr offenbar, daß er sie noch immer liebte und glühender wie einst, mit einer viel schöneren, wilderen und größeren Liebe. Sonst hätte er nicht all diesen Menschen den leuchtenden Hymnus gesungen, den er ihr zur Feier und aus ihrer Liebe geschaffen, dieses herrliche Lied, dessen Macht sie damals überwältigt und besiegt hatte, ohne daß sie es geahnt. Aber heute wollte sie ihm die sorglich gehüteten Früchte ihrer schenkenden Neigung zu Füßen legen, daß er sie selig erhöhe.....

Mit Mühe drängte sie sich bis zum Ausgange durch, wo die Künstler herabzukommen pflegten. Wenige Flammen erhellten das matte Dunkel; dort drängten die Menschen nicht in so wilder Hast, und sie konnte sich ungestört wieder ihren Träumen hingeben, die sich in seliger Sicherheit wiegten. Sie hätte es doch schon lange, so lange wissen können, daß er sie nicht vergessen könnte – dieser Gedanke kehrte immer wieder und einte sich mit fröhlichen Verheißungen für die kommenden Tage. Mit übermütigem Lächeln dachte sie an seine Überraschung, wenn er ahnungslos die Treppen herabkäme und sich plötzlich der Wunsch verwirklichte, von dem er vielleicht eben geträumt. Und wenn......

Aber da kamen wahrhaftig schon Schritte, die immer lauter und näher tönten. Unwillkürlich zog sich Erika mehr ins Dunkel zurück.

Lachend und plaudernd stieg er die Treppe hinab – zärtlich hinabgebeugt zu einer Dame in spitzenbesetztem Kleide, einer kleinen, netten Sängerin von der Oper, die irgend eine alte Operettenmelodie trällerte. Erika zuckte zusammen. Da bemerkte er sie. Instinktiv griff er nach dem Hut, aber ließ die Hand auf halbem Wege müßig sinken. Ein böses, beleidigtes und höhnisches Lächeln schien auf seinen Lippen zu lauern, aber er wandte den Kopf zur Seite. Und dann führte er die kleine Dame im Spitzenkleid zu seinem Wagen, half ihr hinein und stieg selbst ein, ohne den Blick noch einmal zurückzuwenden zur Erika Ewald, die dort einsam stand mit ihrer verratenen Liebe.


Solche Erlebnisse erwecken oft mit ihrer jähen Gewalt ein Leid, das so furchtbar und tiefeinschneidend ist, daß man es nicht mehr als Schmerz empfindet, weil man die Fähigkeit des Begreifens und des bewußten Fühlens in seinem wilden Anpralle verliert. Man fühlt sich nur sinken, aus schwindelnden Höhen atemlos, willenlos und widerstandsunfähig herabsausen, einem Abgrunde zu, den man noch nicht kennt, den man aber ahnt, näher, näher und immer näher kommen fühlt mit jeder Sekunde, mit jeder verschwindend kleinen Zeiteinheit, die im wirbelnden Sturze verfliegt, jenem furchtbaren Ende zu, von dem man weiß, daß es zerschmettern und zerbrechen wird.

Erika Ewald hatte schon zu viel kleine Leiden ertragen, um einem großen Ereignis ruhig ins Auge sehen zu können. Jene kleinen Schmerzlichkeiten hatten ihr Leben erfüllt, die ein seltsames Glückseligkeitsgefühl in sich tragen, weil sie zu melancholischen, träumerischen Stunden leiten, zu sanften Verzagtheiten und zu jenen süßen Traurigkeiten, aus denen die Dichter ihre innigsten und wehmütigsten Verse schaffen. Aber sie hatte in jenen Stunden schon die mächtige Pranke des Schicksals zu verspüren geglaubt, und es war doch nur ein verrinnender Schatten seiner drohend ausgereckten Hand. Sie hatte gemeint, die finstere Gewalt des Lebens schon getragen zu haben und auf dieses Bewußtsein baute sie ihre starke Sicherheit, die jetzt zusammenbrach unter der Wirklichkeit wie ein Kinderspielzeug in einer nervigen Faust.

Und darum verlor ihre Seele so ganz ihre bindenden Kräfte. Das Leben kam zu ihr wie ein Hagelschauer, der Saaten und Blüten zerbricht. Nur mehr Öde war vor ihren Blicken und Finsternis, weite undurchdringliche Finsternis, die alle Wege versteckte, alle Blicke erblindete und die hallenden Angstrufe mitleidslos verschlang. Nur mehr Schweigen war in ihr, ein dumpfes, atemloses Schweigen, die Stille des Todes. Denn viel war in ihr gestorben in einem einzigen Augenblick: ein helles heiteres Lachen, das noch nicht geboren war, aber in ihr Leben wollte, wie ein Kind, das zum Lichte strebt. Und viel Jugend, jenes sehnsüchtige Empfangenwollen, das der Zukunft vertraut und Freude und Glanz hinter allen verschlossenen Pforten ahnt, die ihr Verlangen sich eröffnen soll. Und viel lautere und weltvertrauende Empfindungen, das Sichhingeben an alle Menschen und an die große Natur, die nur Feste und Wunder ihren gläubigen Schülern offenbart. Und endlich eine Liebe, die unendlich reich gewesen war, weil sie in den dunklen Quellen des Schmerzes sich gebadet hat und durch wechselnde Gestalten gegangen ist, um die Vollkommenheit zu finden.

Aber auch eine neue Saat war in dieser Enttäuschung, ein bitterer Haß gegen alles, was sie umgab und ein heißes Rachebedürfnis, das noch nicht wußte, wie es sich Bahn brechen sollte. In ihren Wangen brannte die Schmach, und ihre Hände bebten, als müßten sie jeden Augenblick losfahren in zorniger Gewalt gegen irgend etwas. Die Schwächlichkeit und Scham war von ihr gewichen, die drängende Macht des Handelns wurde immer deutlicher und unruhiger in ihr; ein Wesen, das sich vom Schicksal immer hatte formen und lenken lassen, wollte ihm nun entgegengehen und mit ihm ringen.

Und dieser ziellose ungebärdige Trieb ließ sie in den Gassen irren, ohne einen Entschluß. Die Wirklichkeit lag in weiter, weiter Ferne. Sie wußte nicht, wohin sie ging, in ihren Füßen war bleierne Müdigkeit, aber auch eine irre Bewegung, die sie weiter stieß. Immer mehr hüllte sie sich in ihre Gedanken, um den Schmerz, der jetzt wach werden wollte, wegzudenken und ihn im raschen Gehen zu vergessen; doch sie spürte einen Druck von Tränen, die noch nicht hervorbrechen konnten, aber innen brannten und tropften.......

Auf einmal stand sie vor einer Brücke. Unten der Fluß, schwarz und langsam gleitend, mit vielen hellen, glitzernden Punkten. Sterne waren das und Reflexe von den Brückenlaternen, die hinaufstarrten wie aufgerissene Augen. Und von irgendwo ein leises unaufhörliches Plätschern, die Strömung, die sich an einem Pfeiler bricht.

Einen Todesgedanken barg dieser Anblick, das fühlte sie. Ein Beben überlief ihren Körper. Sie wandte sich um. Es war niemand in der Nähe, hie und da schwarze Schatten, die vorüberhuschten. Manchmal ein Lachen aus der Ferne oder das Rollen eines Wagens. Aber in der Nähe niemand, keiner, der sie hindern könnte. Wie leicht, wie rasch das war; ein Griff, ein Schwung über die Rampe, dann noch ein paar häßliche ringende Minuten unten, dort unten in dieser schweigsamen Dunkelheit und dann Friede .... reicher, ewiger Friede, fern von allen Wirklichkeiten, der beruhigende Trost des Nichtwiedererwachens....

Aber dann ein anderer Gedanke! Eine verunstaltete Leiche, die man aus dem Wasser zieht, Neugierige, die sich belustigen, Gerede und Geschwätz – es tat ja nicht mehr weh! Aber einer war, der könnte es erfahren und dann vielleicht selbstbewußt lächeln, im Bewußtsein eines Siegers..... Nein – das durfte nicht sein! Das Leben war noch nicht erschöpft, das fühlte sie, denn es konnte noch Rache bergen, den letzten tastenden Versuch einer Verzweiflung. Und vielleicht war es sogar schön, und sie hatte nur falsch gelebt, sie war gut und vertrauend gewesen, mild und zurückhaltend, während man rücksichtslos, gierig und verschlagen sein sollte, wie ein Raubtier, das sich von fremdem Leben nährt.

Ein Lachen rang sich ihr aus der Brust, wie sie sich von der Brücke abwendete, ein Lachen, vor dem sie erschrak. Denn sie fühlte, wie sie sich selbst nicht ihre ungesprochenen Worte glaubte. Nur der Schmerz war wahr, und der glühende brennende Haß, die blinde Sucht nach Rache. Wie fremd sie sich doch geworden war, daß sie sich nicht einmal selbst mehr erkannte, wie schlecht und wie wertlos!

Ihr fröstelte. Sie wollte an nichts mehr denken. Sie ging wieder tiefer in die Stadt hinein ... irgend wohin .... nach Hause zu...... Nein – nicht nach Hause! Mit Furcht dachte sie daran. Dort war alles so finster und eng und dumpf, dort lauerten in allen Ecken Erinnerungen, die mit hämischen Fingern auf sie deuteten, dort war sie dann ganz allein mit ihrem großen Schmerz, dort konnte er seine schwarzen Flügel dicht ausbreiten, sie umfassen und eng, ganz eng an sie pressen, daß ihr der Atem verginge.

Aber wohin? Wohin? Die Frage zermarterte ihr das Hirn. Sie wußte nichts anderes mehr, ihr ganzes Denken konzentrierte sich in dieses eine Wort. –

Neben ihr lief ein Schatten.

Sie achtete nicht darauf.

Sie merkte es auch nicht, als er sich hart gegen den ihren neigte und mit ihm eine Zeitlang parallel lief. Jemand ging neben ihr, ein Freiwilliger, und betrachtete ihr Gesicht angelegentlich in dem Momente, als sie vor einer Laterne vorbeikamen. Erst wie er sie höflich ansprach, fuhr sie jäh aus ihren Gedanken auf. Sie brauchte einige Momente, um die Situation, in der sie sich befand, erst recht zu erfassen und antwortete nicht.

Der Freiwillige, ein Kavallerist, sehr jung noch und ein bißchen ungeschickt, ließ sich durch ihr Schweigen nicht einschüchtern, sondern redete in einem halb vertraulichen Ton, aber mit einer gewissen Reserve weiter. Offenbar war er mit sich nicht recht im klaren, mit wem er es eigentlich zu tun hätte; sie hatte ihm nicht geantwortet und war doch so vornehm – solid gekleidet. Und andererseits wieder dieses einsame langsame Spazierengehen spät in der Nacht – ganz recht bekam er's nicht heraus. Aber er redete unbekümmert weiter.

Erika schwieg. Instinktiv hatte sie ihn abweisen wollen, aber alle Dinge von früher hatten sie auf seltsame Gedanken gebracht. Sie wollte doch jetzt ein anderes Leben beginnen, nicht mehr dieses traumvolle Dahindämmern und müßige Sichsehnen, das ihr tausend Leiden geboren, es sollte ja für sie ein neues Leben beginnen, heiß verwegen und voll wilder Gewalt. Und dann dachte sie wieder an ihn – eine Rache wollte sie nehmen, eine furchtbare Schmach. Dem ersten besten, der gekommen, wollte sie sich verschenken; weil er sie verschmäht, die Erniedrigung auskosten bis zum letzten bittersten und vielleicht tödlichen Tropfen. Alles wurde rasch in ihr Plan und Entschluß, eine grausame Selbstpeinigung, die eine neue Schmach wählt, um die alte brennende zu vergessen .... wie sie zurecht kam, die Gelegenheit .... ein junger Mensch, ganz jung, der nichts davon verstand, nichts wußte, der sollte es sein, der erste beste.....

Und plötzlich antwortete sie ihm mit so hastiger Liebenswürdigkeit, er dürfe sie begleiten, daß er beinahe wieder schwankend wurde, mit wem er es zu tun hätte. Aber ein paar Fragen, das Opernglas, das sie vom Konzert mitbrachte und ihr vornehmes Benehmen, veränderten seine oberflächliche Haltung zu ihr. Er blieb recht befangen. Eigentlich war er noch ein halbes Kind, das in einer Uniform sich so seltsam ausnahm, wie in einem kriegerischen Maskenkostüm; und seine bisherigen Abenteuer waren so simpler Natur gewesen, daß sie keine Abenteuer mehr waren. Zum ersten Mal sah er sich einem wirklichen Rätsel gegenüber. Denn manchmal blieb sie Minuten still und unbeweglich, überhörte alle Fragen und ging wie im Traum, bis sie dann plötzlich wie mit einer provozierten Zärtlichkeit, die sie im Augenblick vergessen hätte, mit ihm lachte und scherzte; aber manchmal wollte es selbst ihm so erscheinen, als sei im Lachen ein falscher Ton.

Und in der Tat kostete es Erika nicht geringe Mühe, die Rolle einer Entgegenkommenden und Leichtsinnigen zu spielen, während ihr die tollsten Gedankenreihen durch den Kopf schwirrten. Sie wußte, was das Ende sein würde, und sie wollte es, aber eine geheime Angst beschlich sie immer wieder, daß sie gegen sich selbst frevle. Aber das Bedürfnis nach Rache, das sich positiv nicht betätigen konnte, hatte hier ein Mittel gefunden, sich zu entfalten, wenn auch in einer falschen Richtung, die die Spitze gegen sich selbst kehrte, aber es war so überströmend und machtvoll, daß sich ihre frauenhaften Empfindungen vergebens dagegen aufbäumten. Mochte geschehen, was da wolle, sollte eine Reue kommen ..... nur nichts wissen von jener Schmach ..... nur vergessen, wenn auch in einem Rausch, einem künstlichen und einem verderblichen .... aber nur nicht mehr daran denken müssen.....

So nahm sie auch gern den Vorschlag des Freiwilligen an, mit ihr in ein Restaurant in ein separiertes Zimmer zu gehen, obwohl sie dumpf ahnte, was das bedeutete. Aber sie wollte nicht daran denken ..... nur nicht sich immer besinnen müssen.....

Zuerst kam ein kleines Souper, dem sie aber nicht zusprach. Aber Wein trank sie, in gieriger Hast, Glas auf Glas, um sich zu betäuben. Ganz gelang ihr es noch nicht. Manchmal übersah sie die ganze Situation mit furchtbarer Klarheit. Sie betrachtete ihr Gegenüber. Das war eigentlich der Rechte, besser hätte sie sich ihn nicht wünschen können: ein guter Kerl, von einer gesunden rotwangigen Derbheit, ein bißchen eitel und nicht zu klug .... der würde nie ahnen, was in dieser Nacht geschehen sei, was für eine Rolle er gespielt in einem armen gequälten Menschenleben ..... der würde sie übermorgen vergessen haben. Und das wollte sie.....

In solchen Augenblicken der Überlegung bekamen ihre Augen einen träumerischen Ausdruck, und in ihrem Gesichte zeichnete sich der düstere Schatten eines inneren Schmerzes. Dann kam sie langsam ins Träumen hinein .... ihre Finger zitterten leise .... sie hatte alles vergessen, und die fernen versunkenen Bilder wollten langsam, ganz langsam wieder auftauchen.....

Dann erweckte sie wieder plötzlich ein Wort oder eine Berührung. Eine Sekunde brauchte sie immer, um sich wieder recht in alles hineinzufinden, aber dann faßte sie wieder ein Weinglas und leerte es auf einen Zug. Und dann noch eines und noch eines, bis sie spürte, wie ihr der Arm schwer herabsank.....

Der Freiwillige hatte sich inzwischen herübergesetzt und ziemlich dicht an sie angedrückt. Sie merkte es noch, aber scherzte ruhig weiter........

Allmählich aber begann sie die Wirkung des Weins zu fühlen. Ihr Blick wurde unsicher und sah wie durch trübe Wolken eines schweren breitverströmenden Dunstes; und die zärtlichen und überredenden Worte, die sie vernahm, schienen irgendwo von weiter, weiter Ferne herzukommen, ganz verschwommen und verloren. Ihre Zunge begann zu lallen, und sie merkte, wie trotz aller Bestrebungen ihr Gedankengang sich verwirrte und ein Blitzen und Surren vor ihren Augen funkelte, gegen das sie sich nicht zu wehren wußte. Aber mit der Müdigkeit, die sie immer enger und zärtlicher umfaßte, kam auch jene Schwermut wieder, halb die lallende unmotivierte Melancholie der Trunkenen, und halb der Schmerz, der schon den ganzen Abend ihre Brust durchstürmte und sich noch immer nicht Bahn gebrochen hatte. Sie war ganz in ihr Leid verloren, stumpf und gefühllos gegen die Außenwelt, taub gegen alle Worte und sanften Liebkosungen.

Der junge Bursch verstand ihr Verhalten nicht ganz und eine Unsicherheit überkam ihn, was er mit ihr beginnen sollte; er hielt sie für betrunken, wollte sie jedoch bewegen, wach zu werden, weil er sich schämte, ihre Trunkenheit sich zunutze zu machen. Aber ihre Apathie war nicht durch Zureden, noch durch schmeichelnde Küsse zu lösen; er fächelte ihr Kühlung zu; als er aber versuchte, ihr Kleid zu öffnen, geschah etwas Unerwartetes, das ihn erschreckte.

Denn im Augenblicke, da er sie umfaßte, fiel sie ihm plötzlich in die Arme und begann furchtbar zu weinen. Es war ein unendlich schreckvolles und leidvolles Schluchzen, nicht das wehmütige Duseln eines Trunkenen, sondern in ihrem Weinen war eine elementare Gewalt; wie ein Raubtier war es, das jahrelang im Käfig gefesselt war und mit einem Male in wilder Gewalt die Schranken durchbricht, es war ihr ganzer heiliger und tiefer Schmerz, der ihr nur dunkel bewußt gewesen war und sich jetzt in bebenden Schauern erlöste. Erika weinte aus tiefster Brust, alles, alles schien jetzt gut zu werden, da diese glühende Last der Tränen und die drückende Bürde der nichtentladenen Erregungen sich wie in mächtigen Gewitterstößen von ihr losrang; sie weinte und weinte, jähe Schauer liefen über ihren hilflos angeschmiegten Körper, aber die heißen Quellen ihrer Augen schienen nicht versiegen zu wollen; es war, als spülten sie all das bittere Leid mit sich hinweg, das sich langsam angesetzt hatte wie wachsende Kristalle, die sich verhärten und nicht weichen wollen. Nicht ihre Augen weinten, ihr ganzer schmaler und biegsamer Leib erbebte unter den harten Stößen, und ihr Herz erbebte mit.

Der junge Mann war diesem jähen und peinlichen Ausbruche gegenüber gänzlich hilflos. Er suchte sie zu beruhigen, strich ihr leise und zärtlich über die dunklen Flechten; wie aber ihre Anstrengungen sich immer verdoppelten, kam ein sonderbares Gefühl mitleidsvoller Zuneigung über ihn. Er hatte noch nie so weinen gehört, und dieses unerhörte Leid, von dem er nichts wußte, dessen Größe er aber ahnen mußte, flößte ihm eine achtungsvolle Furcht vor dieser Frau ein, die willenlos in seinen Armen lag. Wie ein Verbrechen erschien es ihm, ihren Körper zu berühren, der zu schwach war, den mindesten Widerstand leisten zu können; nach und nach kam ihm dann auch zu Bewußtsein, daß er sehr großartig dabei handle, und diese kindliche Freude an einem seltsamen Erlebnis stärkte seine Willenskraft. Er ließ einen Wagen holen und begleitete sie, nachdem er von ihr die Adresse erfahren hatte, bis zum Hause hin, wo er sich mit freundlichen und beruhigenden Worten verabschiedete.


Als Erika sich wieder in ihrem Zimmer befand, war auch der letzte Rest des Rausches verflogen. Nur das Geschehene der letzten Stunden war ihr unklar und verschwommen, aber sie dachte nicht mit scheuer Ängstlichkeit zurück, sondern mit friedevoller Ruhe. In diesen glühenden Tränen war ihre ganze junge Seele gewesen mit all ihrem Schmerz: mit der großen drückenden Liebe, mit der wilden und brennenden Schmach und der letzten, beinahe vollbrachten Erniedrigung.

Langsam kleidete sie sich aus.

Alles hatte so kommen müssen; denn es gibt Menschen, die nicht zur Liebe geboren sind, denen nur die heiligen Schauer der Erwartung blühen, weil sie zu schwach sind, die schmerzhaften Seligkeiten der Erfüllungen zu tragen.

Erika dachte über ihr Leben nach. Sie wußte nun, daß die Liebe nicht mehr zu ihr kommen würde, und daß sie ihr nicht entgegengehen dürfe; die Bitterkeit des Entsagens nahte ihr zum letzten Male.

Einen Augenblick zögerte sie noch in geheimer unverständlicher Scham; doch dann löste sie die letzten Hüllen vor dem Spiegel.

Sie war noch jung und schön. In ihrem blütenweißen Körper lag noch die hellschimmernde Frische früher Jahre, in sanfter, fast kindlicher Rundung bebten ihre Brüste, die in wilder innerer Erregung sich hoben und senkten, leise und zart in rhythmisch verfließendem Linienspiel. Stärke und Geschmeidigkeit prunkte in den Gliedern, alles war geschaffen und bereit, eine schenkende Liebe kraftvoll zu empfangen und zu erhöhen, Seligkeiten zu geben und zu nehmen im wechselnden Spiel, dem heiligsten Ziele entgegen zu schaffen und das verklärte Wunder der Schöpfung in sich zu erleben. Und das alles sollte ungenützt und unfruchtbar vergehen, wie die Schönheit einer Blume, die ein Wind verweht, ein taubes Korn im unübersehbaren Garbenfelde der Menschheit?

Eine milde versöhnliche Resignation kam über sie, die Hoheit der Menschen, die durch den größten Schmerz gegangen. Und auch den Gedanken, daß diese blühende Jugend einem, einem einzigen bestimmt gewesen sei, der sie begehrt und verachtet habe, auch diese letzte schwerste Prüfung fand keinen Groll mehr bei ihr. Wehmütig löschte sie das Licht und sehnte sich nur mehr nach dem leisen Glück milder Träume.


Diese wenigen Wochen umgrenzten das Leben der Erika Ewald. In ihnen lag alles beschlossen, was sie erlebte, und die vielen späteren Tage gingen an ihr vorüber, gleichgültig wie Fremde. Ihr Vater starb, die Schwester heiratete einen Beamten, Verwandte und Freunde trugen Glück und Unglück, nur in ihre einsamen Stunden ließ sie das Schicksal nicht mehr ein. Ihr konnte das Leben nichts mehr anhaben mit seiner stürmischen Gewalt; die tiefe Wahrheit war ihr bewußt geworden, daß der große heilige Friede, um den sie gerungen, nicht anders errungen wird, als durch einen tiefen läuternden Schmerz, daß es kein Glück gebe für den, der nicht den Weg der Leiden gegangen ist. Aber diese Weisheit, die sie dem Leben abgezwungen, blieb nicht kalt und unfruchtbar; die Fähigkeit zur spendenden Liebe, die einst ihr Wesen in heißen Konvulsionen erschüttert, zog sie nun zu den Kindern hin, die sie Musik lehrte und denen sie vom Schicksal und seinen Tücken erzählte, wie von einem Menschen, vor dem man sich hüten muß. Und so gingen ihre Monate, Tag für Tag dahin.

Und wenn der Frühling ins Land kam und warmer segnender Sommer, dann überströmten auch ihre Abende von inniger Schönheit....

Sie saß dann am Klavier beim offenen Fenster. Von außen zitterte ein feiner würziger Duft herein, wie ihn der erste Frühling bringt, und das Brausen der Großstadt war fern wie ein Meer, das seine stürmischen Fluten gegen die weißen Gestade wirft. Im Zimmer trällerte der Kanarienvogel die lustigsten Läufe, und draußen vom Gang hörte man die Knaben des Nachbars mit ihren tollen, übermütigen Spielen. Wenn sie aber zu spielen begann, dann wurde es draußen still; leise, ganz leise ging dann die Tür auf, und ein Knabenkopf nach dem anderen schob sich herein, um andächtig zu horchen. Und Erika fand wehmütige Melodieen mit ihren weißen schmalen Fingern, die immer heller und durchleuchtender zu werden schienen, dazwischen leise Phantasieen, bei denen verhallte Erinnerungen anklangen.

Und einmal, als sie so spielte, kam ihr ein Motiv, dessen sie sich nicht entsinnen konnte. Und sie spielte es immer wieder, bis sie es jählings erkannte; das Volkslied, die wehmütige Liebesweise, mit der er sein Liebeslied begonnen.....

Da ließ sie die Finger sinken und träumte wieder von der Vergangenheit. Ganz ohne Groll und Neid waren ihre Gedanken. Wer weiß, ob es nicht das Beste gewesen, daß sie sich damals nicht gefunden.... Und ob sie sich vertragen? Wer kann es wissen?....... Aber ..... – sie schämte sich beinahe des Gedankens – ein Kind hätte sie gerne von ihm gehabt, ein schönes goldlockiges Kind, das sie hätte wiegen und warten können, wenn sie allein war, ganz einsam war.......

Sie lächelte. Was für dumme Träumereien das doch waren!

Und tastend suchten ihre Finger wieder das vergessene Liebesmotiv.......


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Der Stern über dem Walde

Franz Carl Ginzkey
in herzlicher Gesinnung

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Einmal, als sich der schlanke und sehr soignierte Kellner François beim Servieren über die Schulter der schönen polnischen Gräfin Ostrowska herabneigte, geschah etwas Seltsames. Nur eine Sekunde währte es und war kein Zucken und kein Erschrecken, keine Regung und Bewegung. Und doch war es eine jener Sekunden, in die tausende Stunden und Tage voll Jubel und Qual gebannt sind, gleichwie der großen dunkelrauschenden Eichen wilde Wucht mit all ihren wiegenden Zweigen und schaukelnden Kronen in einem einzigen verflatternden Samenstäubchen geborgen ist. Nichts Äußerliches geschah in dieser Sekunde. François, der geschmeidige Kellner des großen Rivierahotels beugte sich tiefer hinab, um die Platte dem suchenden Messer der Gräfin besser zurecht zu legen. Doch sein Gesicht ruhte diesen Moment knapp über der weichgelockten duftenden Welle ihres Hauptes, und als er instinktiv das devot gesenkte Auge aufschlug, sah sein taumelnder Blick, in wie milder und weißleuchtender Linie ihr Nacken sich aus dieser dunklen Flut in das dunkelrote bauschende Kleid verlor. Wie Purpurflammen schlug es in ihm auf. Und leise klirrte das Messer an die unmerklich erzitternde Platte. Obzwar er aber in dieser Sekunde alle Folgenschwere dieser jähen Bezauberung ahnte, meisterte er gewandt seine Erregung und bediente mit der kühlen und ein wenig galanten Verve eines geschmackvollen Garçons weiter. Er reichte die Platte mit geruhigem Gange dem steten Tischgenossen der Gräfin, einem älteren, mit ruhiger Grazie begabten Aristokraten, der mit fein akzentuierter Betonung und einem kristallenen Französisch gleichgültige Dinge erzählte. Dann trat er ohne Blick und Gebärde von dem Tisch zurück.

Diese Minuten waren der Beginn eines sehr seltsamen und hingebungsvollen Verlorenseins, einer so taumelnden und trunkenen Empfindung, daß ihr das gewichtige und stolze Worte Liebe beinahe übel ansteht. Es war jene hündisch treue und begehrungslose Liebe, wie sie die Menschen sonst inmitten ihres Lebens gar nicht kennen, wie sie nur ganz junge und ganz alte Leute haben. Eine Liebe ohne Besonnensein, die nicht denkt, sondern nur träumt. Er vergaß ganz jene ungerechte und doch unauslöschliche Mißachtung, die selbst kluge und bedächtige Leute gegen Menschen im Kellnerfracke bezeugen, er sann nicht nach Möglichkeiten und Zufällen, sondern nährte in seinem Blute diese seltsame Neigung, bis ihre geheime Innigkeit sich aller Bespottung und Bemänglung entrang. Seine Zärtlichkeit war nicht die der heimlich zwinkernden und lauernden Blicke, die jäh losbrechende Kühnheit verwegener Gebärden, die sinnlose Brünstigkeit lechzender Lippen und zitternder Hände, sie war ein stilles Mühen, ein Walten jener kleinen Dienste, die um so erhabener und heiliger in ihrer Demut sind, als sie wissend unbemerkt bleiben. Er strich nach dem Souper über die zerknüllten Tischtuchfalten vor ihrem Platze mit so zärtlichen und kosenden Fingern, wie man wohl liebe und weichruhende Frauenhände streichelt; er rückte alle Dinge ihrer Nähe mit hingebungsvoller Symmetrie zusammen, als ob er sie zu einem Feste bereite. Die Gläser, die ihre Lippen berührt hatten, trug er sich sorgsam in sein enges dumpfes Dachlukenzimmer und ließ sie im perlenden Mondlicht nächtlich auffunkeln wie köstliches Geschmeide. Stets war er aus irgend einem Winkel der geheime Behorcher ihres Schreitens und Wandelns. Er trank ihre Sprache so wie man einen süßen und duftberauschenden Wein wollüstig auf der Zunge wiegt, und fing die einzelnen Worte und Befehle gierig wie Kinder den fliegenden Spielball. So trug seine trunkene Seele in sein armes und gleichgültiges Leben einen wechselnden und reichen Glanz. Nie kam ihm die weise Torheit, das ganze Ereignis in die kalten, vernichtenden Worte der Tatsächlichkeit zu kleiden, daß der armselige Kellner François eine exotische, ewig unerreichbare Gräfin liebte. Denn er empfand sie gar nicht als Wirklichkeit, sondern als etwas sehr Hohes, sehr Fernes, das nur mehr mit seinem Abglanz des Lebens reichte. Er liebte den herrischen Stolz ihrer Befehle, den gebietenden Winkel ihrer schwarzen, sich fast berührenden Augenbrauen, die wilde Falte um den schmalen Mund, die sichere Grazie ihrer Gebärden. Unterwürfigkeit schien ihm Selbstverständlichkeit, und die demütigende Nähe niederen Dienstes empfand er als Glück, weil er ihr zu danke so oft in den zauberischen Kreis treten durfte, der sie umfing.

So ward in dem Leben eines einfachen Menschen plötzlich ein Traum wach, gleich einer edlen und sorgfältig gezüchteten Gartenblüte, die an einer Straße blüht, wo sonst der Wanderstaub alle Keime zertritt. Es war der Taumel eines schlichten Menschen, ein zauberischer und narkotischer Traum inmitten eines kalten, gleichtönigen Lebens. Und Träume solcher Menschen sind wie die ruderlosen Boote, die ziellos in schaukelnder Wollust auf stillen, spiegelnden Wassern treiben, bis plötzlich ihr Kiel mit jähem Ruck an ein unbekanntes Ufer stößt.


Die Wirklichkeit ist aber stärker und robuster als alle Träume. Eines Abends sagte ihm der feiste Waadtländer Portier im Vorübergehn: »Die Ostrowska fährt morgen mit dem Acht-Uhr-Zug.« Und dann noch ein paar andre gleichgültige Namen, die er überhörte. Denn ein wirres Brausen und Wirbeln war aus diesen Worten in seinem Hirne geworden. Ein paar Mal fuhr er sich mechanisch mit den Fingern über die gepreßte Stirn, als wollte er eine drückende Schicht wegschieben, die dort lagerte und das Verständnis umdämmerte. Er machte ein paar Schritte; es war ein Taumeln. Unsicher und erschreckt glitt er an einem hohen goldgerahmten Spiegel vorbei, aus dem ihm ein fahles und fremdes Gesicht kreidig entgegenstarrte. Die Gedanken wollten nicht kommen, sie waren gleichsam festgemauert hinter einer dunklen nebligen Wand. Fast unbewußt tastete er am Geländer die breite Treppe in den umdämmerten Garten hinab, wo die hohen Pinien-Bäume einsam standen wie finstere Gedanken. Noch ein paar Schritte wankte seine unruhige Gestalt, gleich dem niederen und taumelnden Flug eines großen dunklen Nachtvogels, dann sank er auf eine Bank, den Kopf an die kühle Lehne gepreßt. Es war ganz still dort. Rückwärts zwischen den runden Sträuchern funkelte das Meer. Weiche und zitternde Lichter glühten dort leise, und in der Stille verlor sich der eintönig murmelnde Singsang fernplätschernder Brandungsquellen.

Und plötzlich war alles klar, ganz klar. So schmerzklar, daß er fast ein Lächeln fand. Es war einfach alles zu Ende. Die Gräfin Ostrowska fährt nach Hause, und der Kellner François bleibt auf seinem Posten. War dies denn so seltsam? Gingen nicht alle die Fremden fort, die kamen, nach zwei, nach drei, nach vier Wochen? Wie töricht, das nicht überdacht zu haben. Es war ja alles so klar, zum Lachen, zum Weinen klar. Er lachte ganz laut in seinem jähen ingrimmigen Schmerz. Und die Gedanken schwirrten und schwirrten. Morgen abend, mit dem Acht-Uhr-Zug nach Warschau. Nach Warschau – Stunden und Stunden durch Wälder und Täler, über Hügel und Berge, über Steppen und Flüsse und durch brausende Städte. Warschau! Wie weit das war! Er konnte es sich gar nicht ausdenken, aber im tiefsten fühlen, dieses stolze und drohende, harte und ferne Wort: Warschau. Und er.....

Eine Sekunde flatterte noch eine kleine träumerische Hoffnung auf. Er konnte ja nachfahren. Und dort sich verdingen als Diener, als Schreiber, als Fuhrknecht, als Sklave; als frierender Bettler dort auf der Straße stehn, aber nur nicht so furchtbar ferne sein, den Atem derselben Stadt nur atmen, sie manchmal vielleicht vorüberbrausen sehen, nur ihren Schatten sehen, ihr Kleid und ihr dunkles Haar. Schon zuckten eilfertige Träumereien empor. Aber die Stunde war hart und unerbittlich. Er sah das Unerreichbare nackt und klar. Er rechnete: hundert oder zweihundert Francs Ersparnisse im besten Falle. Das reichte kaum die Hälfte des Weges. Und was dann? Wie durch einen zerrissenen Schleier sah er auf einmal sein Leben, fühlte, wie arm, wie kläglich, wie häßlich es jetzt werden mußte. Öde leere Kellnerjahre, zermartert von törichter Sehnsucht, diese Lächerlichkeit sollte seine Zukunft sein. Wie ein Schauder kam es über ihn. Und plötzlich liefen alle Gedankenketten stürmisch und unabwendbar zusammen. Es gab nur eine Möglichkeit. –

Leise schwankten die Wipfel in einer unmerklichen Brise. Eine finstere schwarze Nacht stand drohend vor ihm. Da erhob er sich sicher und gelassen von seiner Bank und schritt über den knirschenden Kies zu dem großen, in weißem Schweigen schlafenden Hause empor. Bei ihren Fenstern blieb er stehen. Sie waren blind und ohne ein funkelndes Lichterzeichen, daran sich träumerische Sehnsucht hätte entzünden können. Nun ging sein Blut in ruhigen Schlägen, und er schritt wie einer, den nichts mehr verwirrt und betrügt. In seinem Zimmer warf er sich ohne jede Erregung auf das Bett und schlief dumpfen traumlosen Schlaf bis zum rufenden Morgenzeichen.


Am nächsten Tage war sein Gebaren gänzlich in den Grenzen sorgfältig gezirkelter Überlegung und erzwungener Ruhe. Mit kühler Gleichgültigkeit erledigte er seine Pflichten, und seine Gebärden hatten eine so sichere und sorglose Gewalt, daß niemand hinter der trügerischen Maske den herben Entschluß hätte ahnen können. Kurz vor der Stunde des Diners eilte er mit seinen kleinen Ersparnissen in das vornehmste Blumengeschäft und kaufte erlesene Blumen, die ihn in ihrer farbigen Pracht wie Worte anmuteten: feuergolden glühende Tulpen, die wie eine Leidenschaft waren, weiße breitgekränzte Chrysanthemen, die wie lichte und exotische Träume anmuteten, schmale Orchideen, die schlanken Bilder der Sehnsucht und ein paar stolze betörende Rosen. Und dann erstand er eine prächtige Vase aus opalisierendem funkelndem Glase. Die paar Francs, die ihm noch blieben, schenkte er im Vorübergehen einem Bettelkinde mit rascher und sorgloser Gebärde. Und eilte zurück. Die Vase mit den Blumen stellte er mit wehmütiger Feierlichkeit vor das Kuvert der Gräfin, das er nun zum letzten Male mit einer voluptuösen und langsamen Peinlichkeit bereitete.

Dann kam das Diner. Er servierte wie immer: kühl, lautlos und geschickt, ohne aufzuschauen. Nur zum Ende umfing er ihre ganze biegsame, stolze Gestalt mit einem unendlichen Blicke, von dem sie nie wußte. Und nie erschien sie ihm so schön, wie in diesem letzten wunschlosen Blick. Dann trat er ruhig, ohne Abschied und Gebärde vom Tische zurück und ging aus dem Saal. Wie ein Gast, vor dem sich die Bedienten beugen und neigen, schritt er durch die Gänge und über die vornehme Empfangstreppe hinab der Straße zu: man hätte fühlen müssen, daß er mit diesem Augenblick seine Vergangenheit verließ. Vor dem Hotel blieb er eine Sekunde unschlüssig stehen: dann wandte er sich den blinkenden Villen und breiten Gärten entlang einem Wege zu, weiter, immer weiter wandelnd in seinem nachdenklichen Promenadeschritt, ohne zu wissen, wohin.


Bis zum Abend irrte er so unstet in träumerischem Verlorensein. Er sann über nichts mehr nach. Nicht über Vergangenes und nicht über das Unabwendbare. Er spielte nicht mehr mit dem Todesgedanken, so wie man wohl noch in den letzten Augenblicken den funkelnden, mit tiefem Auge drohenden Revolver prüfend in der wägenden Hand hebt und wieder senkt. Längst hatte er sich das Urteil gesprochen. Nur Bilder kamen noch, in flüchtigem Fluge, gleich ziehenden Schwalben. Zuerst die Jugendtage bis zu einer verhängnisvollen Schulstunde, da ihn ein törichtes Abenteuer aus einer verführerisch winkenden Zukunft jählings in das Gewirre der Welt stieß. Dann die rastlosen Fahrten, Mühen um den Taglohn, Versuche, die immer wieder mißglückten, bis die große finstere Welle, die man Schicksal nennt, seinen Stolz zerbrach und ihn an einen unwürdigen Posten warf. Viele farbige Erinnerungen wirbelten vorüber. Und schließlich glänzte noch die sanfte Spiegelung dieser letzten Tage aus den wachen Träumen; und jählings stießen sie wieder das dunkle Tor der Wirklichkeit auf, das er durchschreiten mußte. Er besann sich, daß er noch heute sterben wollte.

Eine Weile sann er über die vielen Wege, die zum Tode führen, und wägte ihre Bitterkeit und Behendigkeit gegeneinander ab. Bis ihn plötzlich ein Gedanke durchzuckte. Aus trüben Sinnen fiel ihm jäh ein finsteres Symbol ein: so wie sie unwissend und vernichtend über sein Schicksal hinweggebraust war, so sollte sie auch seinen Körper zermalmen. Sie selbst sollte es vollbringen. Sie selbst ihr Werk vollenden. Und nun hasteten die Gedanken mit unheimlicher Sicherheit. In einer knappen Stunde, um acht Uhr ging der Expreß ab, der sie ihm entführte. Dem wollte er sich unter die Räder werfen, sich zerstampfen lassen von der gleichen stürmenden Gewalt, die ihm die Frau seiner Träume entriß. Unter ihren Füßen wollte er verbluten. Die Gedanken stürmten und stürmten gleichsam jubelnd einander nach. Er wußte auch den Ort. Weiter oben am Waldhang, wo die rauschenden Wipfel den letzten Blick auf die nahe Bucht verdunkelten. Er sah auf die Uhr: fast schlugen die Sekunden und sein hämmerndes Blut den gleichen Takt. Es war schon Zeit, sich auf den Weg zu machen. Nun kam mit einem Male Elastizität und Zielsicherheit in seine schlaffen Schritte, jener harte eilige Takt, der das Träumen im Vorwärtswandeln ertötet. Unruhig stürmte er in die dämmernde Pracht des südlichen Abends der Stelle zu, wo zwischen den fernen bewaldeten Hügeln der Himmel eingebettet war als purpurner Streif. Und er eilte vorwärts, bis er an das Geleise kam, das mit seinen beiden silbernen Linien vor ihm aufglänzte und seinen Weg geleitete. Und sie führten ihn in gewundenem Zuge aufwärts durch die tiefen duftenden Tale, deren dunstige Schleier das matte Mondlicht durchsilberte, sie lenkten ihn im steigenden Gange in das Hügelland, wo man sah, wie ferne das weite nachtschwarze Meer mit seinen funkelnden Strandlichtern aufglänzte. Und sie zeigten ihm endlich den tiefen, unruhig rauschenden Wald, der das Geleise in seinen sinkenden Schatten begrub.

Es war schon spät, als er nun schweratmend am dunklen Hange des Waldes stand. Schauerlich und schwarz reihten sich die Bäume um ihn. Nur hoch oben in den durchschimmernden Kronen spann ein fahles zitterndes Mondlicht in den Zweigen, die stöhnten, wenn sie die leise Nachtbrise in die Arme nahm. Manchmal zuckten seltsame Rufe ferner Nachtvögel in diese dumpfe Stille. Die Gedanken erstarrten ihm ganz in dieser bangenden Einsamkeit. Er wartete nur, wartete und starrte, ob nicht unten an der Kurve der ersten ansteigenden Serpentine das rote Licht des Zuges auftauchten wollte. Manchmal sah er wieder nervös auf die Uhr und zählte die Sekunden. Dann horchte er wieder nach dem fernen Schrei der Lokomotive. Aber es war eine Täuschung. Ganz still wurde es wieder. Die Zeit schien erstarrt zu sein.

Endlich glänzte fern unten das Licht. Er fühlte in dieser Sekunde einen Stoß im Herzen, wußte aber nicht, ob es Furcht oder Jubel war. Mit jäher Gebärde warf er sich hin auf die Schienen. Zuerst fühlte er einen Augenblick nur die wohlige Kühle der Eisenstreifen an seiner Schläfe. Dann horchte er. Der Zug war noch weit. Minuten mochte es wohl dauern. Noch hörte man nichts außer dem flüsternden Rauschen der Bäume im Wind. Wirr sprangen die Gedanken. Und plötzlich einer, der blieb und sich wie ein schmerzhafter Pfeil in sein Herz bohrte: daß er um ihretwillen starb und sie es nie ahnen würde. Daß nicht eine einzige leise Welle seines aufschäumenden Lebens die ihre berührt hatte. Daß sie nie wissen würde, daß ein fremdes Leben an ihrem gehangen, an ihrem zerschmettert sei.

Ganz leise keuchte von ferne durch die atemstille Luft der rhythmische Gang der steigenden Maschine. Aber der Gedanke brannte unvermindert und folterte die letzten Minuten des Sterbenden. Näher und näher ratterte der Zug. Und da schlug er noch einmal die Augen auf. Über ihm war ein schweigender blauschwarzer Himmel und ein paar rauschende Kronen. Und über dem Walde ein weißer blinkender Stern. Ein einsamer Stern über dem Walde.... Schon begannen die Schienen unter seinem Kopfe leise zu schwingen und zu singen. Aber der Gedanke brannte wie Feuer in seinem Herzen und in dem Blicke, der alle Glut und Verzweiflung seiner Liebe faßte. Alle Sehnsucht und diese letzte schmerzliche Frage fluteten über in den weißen leuchtenden Stern, der mild auf ihn niedersah. Näher und näher schmetterte der Zug. Und der Sterbende umfing noch einmal mit einem letzten unsagbaren Blick den funkelnden Stern, den Stern über dem Walde. Dann schloß er die Augen. Die Schienen zitterten und wankten, näher und näher stampfte der ratternde Gang des fliegenden Zuges, daß der Wald dröhnte wie von großen hämmernden Glocken. Die Erde schien zu taumeln. Noch ein betäubendes sausendes Schwirren, ein wirbelndes Getöse, dann ein schriller Pfiff, der ängstliche tierische Schrei der Dampfpfeife und das gelle Stöhnen einer vergeblichen Bremse.....


Die schöne Gräfin Ostrowska hatte im Zuge ein eigenes reserviertes Coupé. Seit der Abfahrt las sie einen französischen Roman, sanft gewiegt von der schaukelnden Bewegung des Wagens. Die Luft des engen Raumes war schwül und getränkt von dem drückenden Dufte vieler welkender Blumen. Schon nickten von den prächtigen Abschiedskörben die weißen Fliedertrauben müde herab wie überreife Früchte, erschlafft hingen die Blüten an den Stengeln, und die schweren und breiten Kelche der Rosen schienen zu welken in der heißen Wolke der berauschenden Düfte. Erstickende Schwüle wärmte diese schweren Duftwellen, die träge niederdrückten, selbst in der sausenden Eile des Zuges.

Plötzlich ließ sie mit matten Fingern das Buch sinken. Sie wußte selbst nicht, warum. Ein geheimes Gefühl war es, das sie aufriß. Sie fühlte einen dumpfen schmerzlichen Druck. Ein jäher, unverständlicher beklemmender Schmerz umpreßte ihr Herz. Sie glaubte ersticken zu müssen in dem schwülen betäubenden Dunst der Blumen. Und dieser ängstigende Schmerz wich nicht, sie fühlte jede Schwingung der sausenden Räder, das blinde Vorwärtsstampfen marterte sie unsäglich. Eine plötzliche Sehnsucht packte sie, den eilenden Schwung des Zuges hemmen zu können, ihn zurückzureißen von dem dunklen Schmerz, dem er entgegenstürmte. Nie hatte sie in ihrem Leben eine ähnliche Angst vor etwas Furchtbarem, Unsichtbarem, Grausamem ihr Herz umklemmen gefühlt, als in diesen Sekunden unverständlichen Schmerzes und unbegreiflicher Angst. Und immer wilder wurde dieses unsagbare Gefühl, immer enger der Druck um die Kehle. Wie ein Gebet stöhnte in ihr der Gedanke, daß der Zug anhalten möge.

Da plötzlich ein schriller Signalpfiff, der wilde warnende Schrei der Lokomotive und das klägliche knirschende Stöhnen der Bremse. Und verlangsamt der Rhythmus der fliegenden Räder, langsamer und langsamer, dann ein ratterndes Stammeln und ein stockender Stoß....

Mühsam tappt sie zum Fenster, um die kühle Luft zu trinken. Die Scheibe rasselt nieder. Draußen schwarze, stürmende Gestalten .... fliegende Worte von wechselnden Stimmen: ein Selbstmörder.... Unter den Rädern.... Tot.... Auf freiem Feld....

Sie zuckt zusammen. Instinktiv trifft ihr Blick den hohen schweigenden Himmel und drüben die schwarzen rauschenden Bäume. Und über ihnen ein einsamer Stern über dem Walde. Sie fühlt seinen Blick wie eine funkelnde Träne. Sie sieht ihn an und spürt jählings eine Traurigkeit, wie sie sie nie gekannt. Eine Traurigkeit voll Glut und Sehnsucht, wie sie in ihrem eigenen Leben nie war...

Langsam rattert der Zug wieder weiter. Sie lehnt in der Ecke und spürt leise Tränen über die Wangen tropfen. Die dumpfe Angst ist gewichen, sie fühlt nur noch einen tiefen seltsamen Schmerz, dessen Spur sie vergebens nachsinnt. Einen Schmerz, wie ihn verschreckte Kinder haben, wenn sie in finstrer undurchdringlicher Nacht plötzlich erwachen und fühlen, daß sie ganz einsam sind....