Friedrich Nietzsche

Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel,
als er imstande ist, ein Beispiel zu geben.

Unzeitgemäße Betrachtungen

Tragödie ohne Gestalten

Den größten Genuß vom Dasein
einzuernten heißt: gefährlich leben.

Unzeitgemäße Betrachtungen

Die Tragödie Friedrich Nietzsches ist ein Monodram: sie stellt keine andere Gestalt auf die kurze Szene seines Lebens als ihn selbst. In allen den lawinenhaft abstürzenden Akten steht der einsam

Ringende allein, niemand tritt ihm zur Seite, niemand ihm entgegen, keine Frau mildert mit weicher Gegenwart die gespannte Atmosphäre. Alle Bewegung geht einzig von ihm aus und stürzt einzig auf ihn zurück: die wenigen Figuren, die anfangs in seinem Schatten auftreten, begleiten nur mit stummen Gesten des Staunens und Erschreckens sein heroisches Unterfangen und weichen allmählich wie vor etwas Gefährlichem zurück. Kein einziger Mensch wagt sich nahe und voll in den innern Kreis dieses Geschickes, immer spricht, immer kämpft, immer leidet Nietzsche für sich allein. Er redet zu niemandem, und niemand antwortet ihm. Und was noch furchtbarer ist: niemand hört ihm zu.

Sie hat keine Menschen, keine Partner, keine Hörer, diese heroische Tragödie Friedrich Nietzsches: aber sie hat auch keinen eigentlichen Schauplatz, keine Landschaft, keine Szenerie, kein Kostüm, sie spielt gleichsam im luftleeren Raum der Idee. Basel, Naumburg, Nizza

, Sorrent, Sils-Maria, Genua, diese Namen sind nicht seine wirklichen Hausungen, sondern nur leere Meilensteine längs eines mit brennenden Flügeln durchmessenen Weges, kalte Kulissen, sprachlose Farbe. In Wahrheit ist die Szenerie der Tragödie immer dieselbe: Alleinsein, Einsamkeit, jene entsetzliche wortlose, antwortlose Einsamkeit, die sein Denken wie eine undurchlässige Glasglocke um sich, über sich trägt, eine Einsamkeit ohne Blumen und Farben und Töne und Tiere und Menschen, eine Einsamkeit selbst ohne Gott, die steinern ausgestorbene Einsamkeit einer Urwelt vor oder nach aller Zeit. Aber was ihre Öde, ihre Trostlosigkeit so grauenhaft, so gräßlich und zugleich so grotesk macht, ist das Unfaßbare, daß dieser Gletscher, diese Wüste Einsamkeit geistig mitten in einem amerikanisierten Siebzig-Millionen-Lande steht, mitten in dem neuen Deutschland, das klirrt und schwirrt von Bahnen und Telegraphen, von Geschrei und Gedränge, mitten in einer sonst krankhaft neugierigen Kultur, die vierzigtausend Bücher

jährlich in die Welt wirft, an hundert Universitäten täglich nach Problemen sucht, in hunderten Theatern täglich Tragödie spielt und doch nichts weiß und nichts ahnt und nichts fühlt von diesem mächtigsten Schauspiel des Geistes in ihrer eigenen Mitte, in ihrem innersten Kreis.

Denn gerade in ihren größten Augenblicken hat die Tragödie Friedrich Nietzsches in der deutschen Welt keinen Zuschauer, keinen Zuhörer, keinen Zeugen mehr. Anfangs, solange er noch als Professor vom Katheder spricht und Wagners Lichtkraft ihn sichtbar macht, bei seinen ersten Worten, weckt seine Rede noch eine kleine Aufmerksamkeit

. Aber je tiefer er in sich selbst, je tiefer er in die Zeit hinabgreift, um so weniger findet er Resonanz. Einer nach dem andern von den Freunden, von den Fremden steht während seines heroischen Monologs verschüchtert auf, von den immer wilderen Verwandlungen, von den immer glühenderen Ekstasen des Einsamen erschreckt, und läßt ihn auf der Szene seines Schicksals entsetzlich allein. Allmählich wird der tragische Schauspieler unruhig, so ganz ins Leere zu sprechen, er redet immer lauter, immer schreihafter, immer gestikulativer, um sich Widerklang oder wenigstens Widerspruch zu entzünden. Er erfindet sich zu seinem Wort eine Musik, eine strömende, rauschende, dionysische Musik – aber niemand hört ihm mehr zu. Er zwingt sich zu Harlekinaden, zu einer spitzen, schrillen, gewaltsamen Heiterkeit, er läßt seine Sätze Kapriolen springen und sich in Lazzi überschlagen, nur um mit künstlichem Spaß für seinen furchtbaren Ernst Hörer heranzuködern – aber niemand rührt zum Beifall die Hand. Er erfindet sich schließlich einen Tanz, einen Tanz zwischen Schwertern, und übt verwundet, zerfetzt, blutend seine neue tödliche Kunst vor den Menschen, aber niemand ahnt den Sinn dieser schreienden Scherze und die todwunde Leidenschaft in dieser aufgespielten Leichtigkeit. Ohne Hörer und Widerhall endet vor leeren Bänken das unerhörteste Schauspiel des Geistes, das unserem stürzenden Jahrhundert geschenkt war. Niemand wendet nur lässig den Blick, wie der auf stählerner Spitze hinschwirrende Kreisel seiner Gedanken zum letztenmal herrlich aufspringt und endlich taumelnd zu Boden fällt: »tot vor Unsterblichkeit«.

Dieses Mit-sich-allein-Sein, dieses Gegen-sich-selbst-allein-Sein ist der tiefste Sinn, die einzig heilige Not der Lebenstragödie Friedrich Nietzsches: nie war so ungeheure Fülle des Geistes gegen ein so metallen undurchdringliches Schweigen gestellt. Nicht einmal die Gnade bedeutender Gegner ist ihm gegeben – so muß der stärkste Denkwille »in sich selber eingehöhlt, sich selber angrabend«, aus der eigenen tragischen Seele sich Antwort und Widerstand holen. Nicht aus der Welt, sondern in blutenden Fetzen von der eigenen Haut reißt sich der Schicksalsrasende wie Herakles sein Nessushemd, die brennende Glut, um nackt gegen die letzte Wahrheit, gegen sich selbst zu stehen. Aber welcher Frost um diese Nacktheit, welches Schweigen um diesen ungeheuersten Schrei des Geistes, welch entsetzlicher Himmel voll Wolken und Blitze über dem »Mörder Gottes«, der nun, da keine Gegner ihn finden und er keinen mehr findet, sich selber anfällt, »Selbstkenner, Selbsthenker ohne Mitleid«! Von seinem Dämon hinausgetrieben über Zeit und Welt, hinaus selbst über den äußersten Rand seines Wesens,

Geschüttelt ach von unbekannten Fiebern,
Zitternd vor spitzen eisigen Frostpfeilen,
Von dir gejagt, Gedanke!
Unnennbarer! Verhüllter! Entsetzlicher!

schaudert er manchmal mit einem ungeheuren Schreckblick zurück, da er erkennt, wie weit ihn sein Leben über alles Lebendige und alles Gewesene hinausgeschleudert hat. Aber ein so übergewaltiger Anlauf kann nicht mehr zurück: mit voller Bewußtheit erfüllt er das Schicksal, das sein geliebter Hölderlin ihm vorausgedacht, sein Empedokles-Schicksal.

Heroische Landschaft ohne Himmel, gigantisches Spiel ohne Zuschauer, Schweigen und immer gewaltsameres Schweigen um den fürchterlichsten Schrei geistiger Einsamkeit – das ist die Tragödie Friedrich Nietzsches: man müßte sie als eine der vielen sinnlosen Grausamkeiten der Natur verabscheuen, hätte er ihr nicht selbst ein ekstatisches Ja gesagt und die einzige Härte um ihrer Einzigkeit willen gewählt und geliebt. Denn freiwillig, aus gesicherter Existenz und mit klarem Sinn hat er sich dies »besondere Leben« aus dem tiefsten tragischen Instinkt gebaut und mit einer einzigen Kraft die Götter herausgefordert, in ihm »den höchsten Grad der Gefährlichkeit zu erproben, mit der ein Mensch sich lebt«. »×áßñåôå äáὶìïùò« »Seid gegrüßt, Dämonen!« Mit diesem heitern Ruf der Hybris beschwören einmal in studentisch froher Nacht Nietzsche und seine philologischen Freunde die Mächte: zur Geisterstunde schwenken sie vom Fenster aus den gefüllten Gläsern roten Wein in die schlafende Straße der Baseler Stadt hinab als Opfergabe an die Unsichtbaren. Es ist nur ein phantastischer Scherz, der mit tieferer Ahnung sein Spiel treibt: aber die Dämonen hören den Ruf und folgen dem, der sie gefordert, bis aus dem Spiel einer Nacht grandios die Tragödie eines Schicksals wird. Nie aber verwehrt sich Nietzsche dem ungeheuren Verlangen, von dem er sich übermächtig erfaßt und fortgeschleudert fühlt: je härter ihn der Hammer trifft, um so heller klingt der eherne Block seines Willens. Und auf diesem rotglühenden Amboß des Leidens wird härter und härter mit jedem verdoppelten Schlag die Formel geschmiedet, die seinen Geist dann ehern umpanzert, die »Formel für die Größe am Menschen, amor fati: daß man nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloß ertragen, noch weniger verhehlen, sondern es lieben«. Dieser sein inbrünstiger Liebesgesang an die Mächte überklingt dithyrambisch den eigenen Schmerzensschrei: zu Boden geknickt, zerdrückt vom Schweigen der Welt, zerfressen von sich selber, geätzt mit allen Bitterkeiten des Leidens, hebt er niemals die Hände, das Schicksal möchte endlich von ihm lassen. Nur um mehr noch bittet er, um stärkere Not, um tiefere Einsamkeit, um volleres Leiden, um die äußerste Fülle seiner Fähigkeit; nicht in der Abwehr, einzig im Gebet hebt er die Hände, im herrlichsten Gebet des Helden: »Du Schickung meiner Seele, die ich Schicksal nenne, Du In-mir! Über-mir! Bewahre mich und spare mich einem großen Schicksal.«

Wer aber so groß zu beten weiß, der wird erhört.

Doppelbildnis

Das Pathos der Attitüde gehört nicht zur Größe; wer
Attitüden überhaupt nötig hat, ist falsch ... Vorsicht vor
allen pittoresken Menschen!

Pathetisches Heroenbild. So bildet ihn die marmorne Lüge, die pittoreske Legende: ein trotzig gerecktes Heldenhaupt, hohe wölbige Stirn, zerklüftet von düstern Gedanken, niederwuchtende Welle des Haares über gespanntem, auftrotzendem Nacken. Unter den buschigen Augenbrauen blitzt Falkenblick, jeder Muskel des gewaltigen Gesichts steht straff von Willen, Gesundheit und Kraft. Der Vercingetorix-Schnurrbart männisch über herben Mund und das vorstoßende Kinn stürzend, zeigt den barbarischen Krieger, und unwillkürlich denkt man sich zu diesem muskelkräftigen Löwenhaupt eine germanische Wikingergestalt mit Siegschwert, Hifthorn und Speer. So, zum deutschen Übermenschen, zum antiken Promethiden der gefesselten Kraft gewaltsam übersteigert, lieben es unsere Bildhauer und Maler, den Einsamen im Geiste darzustellen, um ihn einer kurzgläubigen Menschheit anschaulicher zu machen, die von Schulbuch

und Bühne her unfähig ist, das Tragische anders als in theatralischer Drapierung zu verstehen. Das wahrhaft Tragische aber ist niemals theatralisch und Nietzsches wahres Bildnis darum unendlich weniger pittoresk als seine Büsten und Bilder.

Bildnis des Menschen. Der dürftige Speiseraum einer Sechs-Franken-Pension in einem Alpenhotel oder am ligurischen Strand. Gleichgültige Gäste, zumeist ältere Damen im »small talk«, im kleinen Gespräch. Die Glocke hat dreimal zu Tisch gerufen. Über die Schwelle tritt mit gedrückter Schulter eine leicht gebückte unsichere Gestalt: wie aus einer Höhle heraus tappt immer der »Sechs-Siebentel-Blinde« in fremdes Gelaß. Dunkles, sauber gebürstetes Kleid, dunkel auch das Antlitz mit dem buschigen, braunen, gewellten Haar. Dunkel auch die Augen hinter der fast rundgeschliffenen dicken Krankenbrille. Leise, ja sogar schüchtern tritt er heran, eine ungemeine Lautlosigkeit um sein Wesen. Man fühlt einen Menschen, der im Schatten lebt, jenseits jeder gesprächigen Geselligkeit, der alles Laute, allen Lärm mit fast neurasthenischer Ängstlichkeit fürchtet: höflich, mit ausgesucht vornehmer Artigkeit grüßt er die Gäste, höflich, mit liebenswürdiger Gleichgültigkeit grüßen die andern den deutschen Professor zurück. Vorsichtig rückt sich der Kurzsichtige an den Tisch, vorsichtig prüft der Magenempfindliche jedes Gericht: ob der Tee nicht zu stark sei, die Speisen nicht übermäßig gewürzt, denn jeder Irrtum in der Kost reizt seine empfindlichen Gedärme, jeder Verstoß in der Nahrung wühlt die zitternden Nerven für Tage gewaltsam um. Kein Glas Wein, kein Glas Bier, kein Alkohol, kein Kaffee vor seinem Platz, keine Zigarre, keine Zigarette nach der Mahlzeit, nichts, was aufmuntert, erfrischt oder ausruhen macht: nur die kurze magere Mahlzeit und ein kleines, urbanes, untiefes Gespräch mit leiser Stimme zum gelegentlichen Nachbar (wie einer spricht, der des Redens seit Jahren entwöhnt ist und sich fürchtet, zuviel gefragt zu werden).

Und wieder hinauf in das schmale, enge, dürftige, kalt möblierte Chambre garnie, der Tisch vollgehäuft mit unzähligen Blättern

, Notizen, Schriften und Korrekturen, aber keine Blume, kein Schmuck, kaum ein Buch und selten ein Brief. Rückwärts in der Ecke ein schwerer klotziger Holzkoffer, seine einzige Habe, mit den zwei Hemden und dem zweiten vertragenen Anzug. Sonst nur Bücher und Manuskripte, auf einem Tablett unzählige Flaschen und Fläschchen und Tinkturen: gegen die Kopfschmerzen, die ihn oft für Stunden sinnlos machen, gegen die Magenkrämpfe, gegen das spasmische Erbrechen, gegen die Trägheit der Eingeweide und vor allem die fürchterlichen Mittel gegen die Schlaflosigkeit, Chloral und Veronal. Ein entsetzliches Arsenal von Giften und Drogen, und doch die einzigen Helfer in dieser leeren Stille des fremden Raums, in dem er niemals anders ruht als in kurzem, künstlich erzwungenem Schlaf. In den Mantel verpackt, mit einem Wollschal umhüllt (denn der elende Ofen raucht bloß und wärmt nicht), mit frierenden Fingern, die doppelte Brille hart ans Papier gedrückt, schreibt die hastende Hand stundenlang Worte, die das trübe Auge dann kaum selbst entziffern kann. Stundenlang sitzt er so und schreibt, bis die Augen brennen und tränen: es sind die seltenen Glücksfälle seines Lebens, wenn sich irgendein Helfer seiner erbarmt und ihm seine Schreibhand borgt für eine Stunde oder zwei. Bei schönem Wetter geht der Einsame aus, immer allein, immer mit seinen Gedanken: nie ein Gruß unterwegs, nie ein Gefährte, nie eine Begegnung. Dunkles Wetter, das er haßt, Regen und Schnee, der seinen Augen weh tut, halten ihn unbarmherzig im Gefängnis seines Zimmers: nie geht er zu den andern, zu den Menschen hinab. Nur abends noch ein paar Kekse, eine Tasse dünnen Tee, und sofort wieder die lange, die unendliche Einsamkeit mit den Gedanken. Stunden und Stunden wacht er noch bei der zuckenden, qualmenden Lampe, ohne daß die Nerven, die heißgestrafften, sich lockerten zu einer sanften Müdigkeit. Dann ein Griff nach dem Chloral, nach irgendeinem Schlafmittel, und dann endlich, mit Gewalt erzwungen, der Schlaf der andern, der gedankenfreien, nicht vom Dämon gejagten Menschen.

Manchmal bleibt er tagelang im Bett. Erbrechen und Krämpfe bis zur Bewußtlosigkeit, sägende Schmerzen in den Schläfen, fast vollkommene Blindheit. Aber niemand kommt zu ihm, niemand für eine kleine Handreichung, für einen Umschlag auf die brennende Stirn, niemand, der ihm vorliest, mit ihm plaudert, mit ihm lacht.

Und dieses Chambre garnie ist überall dasselbe. Die Städte wechseln oft die Namen, sie heißen bald Sorrent, bald Turin, bald Venedig, bald Nizza, bald Marienbad, aber das Chambre garnie bleibt immer dasselbe, immer das fremde, gemietete Zimmer mit kalten, alten, abgenutzten Möbeln, dem Arbeitstisch, dem Schmerzensbett und der unendlichen Einsamkeit. Niemals in all den langen Nomadenjahren heiteres Ruhn in freundschaftlich-munterm Kreise, nie nachts der warme nackte Leib einer Frau an dem seinen, nie ein Morgenrot von Ruhm nach den tausend durchschwiegenen schwarzen Nächten der Arbeit! Oh, wieviel weiter, wie unendlich viel weiter ist Nietzsches Einsamkeit als das pittoreske Höhenplateau von Sils-Maria, wo jetzt die Touristen zwischen Lunch und Dinner seine Sphäre aufzusuchen pflegen: seine Einsamkeit reicht über die ganze Welt, über sein ganzes Leben von einem bis zum andern Ende.

Hin und wieder ein Gast, ein fremder Mensch, ein Besucher. Aber die Kruste ist schon zu hart, zu stark um den sehnsüchtigen, den menschenwilligen Kern: der Einsame atmet erleichtert auf, wenn der Fremde ihn wieder seiner Einsamkeit läßt. Die »Vielsamkeit« ist in fünfzehn Jahren endgültig verloren, Gespräch ermüdet, erschöpft, erbittert den an sich selbst Zehrenden und doch nur auf sich selbst Hungernden. Manchmal glänzt ganz kurz ein kleiner Strahl von Glück: er heißt Musik. Eine Aufführung von »Carmen« in einem schlechten Theater in Nizza, ein paar Arien in einem Konzert, eine Stunde am Klavier. Aber auch dieses Glück wird gewaltsam, es »rührt ihn zu Tränen«. Das Entbehrte ist schon dermaßen verloren, daß es sich als Schmerz anfühlt und weh tut.

Fünfzehn Jahre weit reicht dieser Höhlenweg von Chambre garnie zu Chambre garnie, unbekannt, unerkannt, nur ihm selbst bekannt, dieser grausige Gang im Schatten der Großstädte, durch schlecht möblierte Zimmer, arm gedeckte Pensionen, schmierige Eisenbahnwagen und viele Krankenstuben, indes draußen an der Oberfläche der Zeit das bunte Jahrmarkttreiben der Künste und Wissenschaften sich heiser schreit: nur Dostojewskis Flucht in den fast gleichen Jahren durch gleiche Armut, gleiche Vergessenheit hat dieses graue kalte Gespensterlicht. Hier wie dort verbirgt das Werk des Titanen die hagere Gestalt des armen Lazarus, der täglich hinstirbt an seiner Not und seinem Gebrest und den nur wieder täglich das Erlöserwunder des gestaltenden Willens aus seiner Tiefe weckt. Fünfzehn Jahre lang steigt Nietzsche so aus dem Sarg seines Zimmers empor und wieder hinab, von Leiden zu Leiden, von Tod zu Tod, von Auferstehung zu Auferstehung, bis dann endlich das mit allen Energien überhitzte Gehirn zerklirrt. Auf der Straße hingestürzt, finden fremde Menschen den fremdesten Menschen der Zeit. Fremde bringen ihn hinauf in das fremde Zimmer der Via Carlo Alberto in Turin. Niemand ist Zeuge seines geistigen Todes, so wenig einer Zeuge seines geistigen Lebens war. Um seinen Untergang ist Dunkel und heilige Einsamkeit. Unbegleitet und unerkannt stürzt der hellste Genius des Geistes in seine eigene Nacht.

Apologie der Krankheit

Was mich nicht umbringt,
macht mich stärker.

Unzählbar die Schreie des gemarterten Körpers. Eine hundertstellige Tabelle aller körperlichen Notstände, und darunter der fürchterliche Schlußstrich: »In allen Lebensaltern war der Überschuß des Leidens ungeheuer bei mir.« Und tatsächlich, keine teuflische Marter fehlt in diesem schauerlichen Pandämonium der Krankheit: Kopfschmerzen, betäubende, hämmernde Kopfschmerzen, die für Tage den Taumelnden sinnlos hinschlagen auf Sofa und Bett, Magenkrämpfe mit blutigem Erbrechen, Migränen, Fieber, Appetitlosigkeiten, Müdigkeiten, Hämorrhoiden, Darmstockungen, Schüttelfröste, Nachtschweiß – ein grausiger Kreislauf. Dazu die »dreiviertelblinden Augen«, die bei der geringsten Anstrengung sofort anschwellen und zu tränen beginnen und dem geistigen Arbeiter nur »anderthalb Stunden Augenlicht täglich erlauben«. Aber Nietzsche verachtet diese Hygiene des Leibes und arbeitet zehn Stunden am Schreibtisch, und für dieses Übermaß rächt sich das überhitzte Gehirn mit rasenden Kopfschmerzen und einem nervösen Überlauf, denn es läßt sich, wenn abends der Leib längst müde geworden ist, nicht plötzlich abkurbeln, sondern wühlt weiter

in Visionen und Gedanken, bis es mit Schlafmitteln gewaltsam betäubt wird. Aber immer größere Mengen sind notwendig (in zwei Monaten verbraucht Nietzsche fünfzig Gramm Chloral-Hydrat, um diese Handvoll Schlummer zu erkaufen) – dann weigert sich der Magen, seinerseits so hohen Preis zu zahlen, und revoltiert. Und nun – Circulus vitiosus – spasmisches Erbrechen, neue Kopfschmerzen, die neue Mittel erfordern, ein unerbittliches unersättliches leidenschaftliches Gegeneinander der aufgereizten Organe, die sich wechselseitig im tollen Spiel den Stachelball des Leidens zuschleudern. Nie ein Ruhepunkt in diesem Auf und Ab, nie eine flache Spanne Zufriedenheit, ein knapper Monat voll Behagen und Selbstvergessen; in zwanzig Jahren kann man sich kein Dutzend Briefe herauszählen, wo nicht aus irgendeiner Zeile ein Stöhnen bricht. Und immer rasender, immer wütiger werden die Schreie des von seinen überwachen, überzarten und schon entzündeten Nerven Gestachelten. »Mach es dir doch leichter; stirb!« ruft er sich zu, oder er schreibt: »Eine Pistole ist mir jetzt eine Quelle relativ angenehmer Gedanken« oder »die furchtbare und fast unablässige Marter läßt mich nach dem Ende dürsten, und nach einigen Anzeichen ist der erlösende Hirnschlag nahe«. Längst findet er für seine Leiden keine Superlative des Ausdrucks mehr, fast wirken sie schon monoton in ihrer Schrille und raschen Wiederholtheit, diese gräßlichen Schreie, die fast nichts Menschliches mehr haben und wirklich aus der »Hundestallexistenz« seines Lebens hin zu den Menschen gellen. Da plötzlich flammt – und man schrickt auf vor so ungeheurem Widerspruch – in Ecce homo das starke, stolze, steinerne Bekenntnis auf, das scheinbar alle diese Schreie Lügen straft: »Als summa summarum war ich (in den letzten fünfzehn Jahren) gesund.«

Was soll nun gelten? Die tausend Schreie oder das monumentale Wort? Beides! Nietzsches Körper war organisch stark und widerstandsfähig, der innere Stamm breit gewölbt und fähig, auch getürmteste Last zu tragen; seine Wurzeln greifen tief hinab in das Erdreich deutscher, gesunder Pastorengeschlechter. Im Ganzen »summa summarum«, als Anlage, als Organismus, im fleischgeistigen Fundament war Nietzsche wirklich gesund. Nur die Nerven sind zu zart für das Ungestüm seiner Empfindung und darum in ständiger unruhiger Revolte (einer Revolte, die aber niemals die eherne Herrschkraft seines Geistes zu erschüttern vermag): Nietzsche selbst hat einmal sinnlich glücklichsten Ausdruck für diesen halb gefährlichen, halb gesicherten Zustand gefunden, wenn er von einem »Kleingewehrfeuer« seiner Leiden spricht. Denn niemals kommt es bei diesem Krieg zu einem wirklichen Einbruch in den innern Wall seiner Kraft: er lebt wie Gulliver in Brobdignac, nur ständig umlagert von einem kribbelnden Pygmäengezücht von Schmerzen. Ewiger Alarm der Nerven ist um ihn, der unablässig auf Ausguck und Wachtturm steht, ständig in einer aufreibenden, quälenden Selbstverteidigung der Aufmerksamkeit. Nirgends aber gelingt einer wirklichen Krankheit (außer vielleicht jener einzigen, die einen Minengang zwanzig Jahre lang bis unter die Zitadelle seines Geistes vorgräbt und sie dann plötzlich in die Luft sprengt) ein Einbruch, eine Eroberung: ein monumentaler Geist wie Nietzsche erliegt keinem Kleingewehrfeuer, nur eine Explosion kann den Granit solchen Gehirns zerschmettern. So steht einer ungeheuren Leidensfähigkeit eine ungeheure Leidenskraft entgegen, eine zu starke Vehemenz des Gefühls einer zu feinen Durchnervtheit des motorischen Systems. Denn jeder Nerv des Magens wie des Herzens und der Sinne stellt bei Nietzsche ein überexaktes, filigranzartes Manometer dar, das die kleinsten Veränderungen und Spannungen mit ungeheurem Ausschlag an schmerzhafter Erregung erwidert. Nichts bleibt dem Körper (wie dem Geiste) unbewußt. Die kleinste Fiber, die bei andern stumme, signalisiert ihm sofort mit zuckendem Riß ihre Botschaft, und diese »rasende Reizbarkeit« zersplittert seine naturhafte, starke Vitalität in tausend stechende, schneidende, gefährliche Splitter. Darum dann jene entsetzlichen Schreie, wenn er bei der geringsten Bewegung, bei jedem plötzlichen Schritt seines Lebens an einen dieser offenen zuckenden Nerven rührt.

Diese unheimliche, geradezu dämonische Überempfindlichkeit von Nietzsches Nerven, die schon die flüchtigst verzitternden, für andere tief unter der Schwelle des Bewußtseins dämmernden Nuancen deutlich als Schmerz auswägen, ist seiner Leiden einzige Wurzel und ebenso Urzelle seiner genialen Wertungsfähigkeit. Bei ihm muß es gar nichts Substantielles sein, kein wirklicher Affekt, der das Blut schon zu physiologischer Reaktion aufzucken läßt – die bloße Luft mit ihren stündlichen Veränderungen meteorologischer Natur wird schon Ursache unendlicher Peinigungen. Vielleicht war überhaupt noch niemals ein geistiger Mensch so sehr atmosphärisch empfindlich, so ganz Manometer, Quecksilber und Reizbarkeit: zwischen seinem Puls und dem Luftdruck, zwischen seinen Nerven und dem Feuchtigkeitsgehalt der Sphäre scheinen geheime elektrische Kontakte zu bestehen. Seine Nerven melden jeden Meter Höhe, jeden Druck des Wetters sofort als Schmerz in den Organen und reagieren mit rebellischem Takt auf jede Revolte in der Natur. Regen, verdüsterter Himmel deprimieren seine Vitalität (»bedeckter Himmel setzt mich tief herab«), Belastung mit tiefen Wolken spürt er bis hinab in die Gedärme, Regen »depotenziert«, Feuchtigkeit ermattet, Trockenheit belebt, Sonne erlöst. Winter ist eine Art Starrkrampf und Tod. Nie steht die zitternde Barometernadel seiner aprilhaft wetterschwankenden Nerven jemals still: am ehesten noch in wolkenloser Landschaft, auf den windstillen Hochplateaus des Engadin. Und so wie vom äußeren Himmel jede Belastung und jeden Druck, spüren die entzündlichen Organe auch jede Belastung, Trübung und gewitterliche Befreiung auf dem innern Himmel des Geistes. Denn immer, wenn ein Gedanke aufzuckt, so schmettert er wie ein Blitz durch die straff gespannten Stränge seiner Nerven: der Denkakt vollzieht sich bei Nietzsche dermaßen ekstatisch rauschhaft, dermaßen elektrisch niederzuckend, daß er immer gewitterhaft auf den Körper wirkt und bei jeder »Explosion des Gefühls ein Augenblick im strengsten Sinne hinreicht, um die Blutzirkulation zu verändern«. Körper und Geist sind bei diesem vitalsten aller Denker so spannungshaft mit dem Atmosphärischen verbunden, daß er die Reaktionen von innen und außen als eines empfindet: »Ich bin nun einmal nicht Geist und Körper, sondern etwas Drittes. Ich leide ganz und am Ganzen.«

Gewaltsam herausgezüchtet wird nun diese eingeborene Veranlagung zur Differenzierung aller Reize durch die unbewegte brütende Luft seines Lebens, durch Nietzsches jahrzehntelanges Einsiedlertum. Da in den dreihundertfünfundsechzig Tagen des Jahres nichts Körperliches ihm nahe kommt als sein eigener Körper, weder Frau noch Freund, da kaum jemand anderer mit ihm in den vierundzwanzig Stunden des Tages spricht als das eigene Blut, so führt er gleichsam einen ununterbrochenen Dialog mit seinen Nerven. Ständig hält er in dieser ungeheuren Stille die Bussole seines Empfindens in seinen Händen und beobachtet wie alle Einsiedler, Arbeitsmenschen, Hagestolze und Sonderlinge hypochondrisch auch die kleinsten funktionellen Veränderungen seines Leibes. Andere vergessen sich selbst, weil ihre Aufmerksamkeit durch Gespräch und Geschäft, durch Spiel und Lässigkeit abgelenkt wird, weil sie sich durch Wein und Gleichgültigkeit abdumpfen. Ein Nietzsche aber, ein so genialer Diagnostiker, unterliegt ständig der Versuchung, als Psychologe an seinem eignen Leiden noch eine neugierige Lust zu haben, sich zu seinem »eigenen Experiment und Versuchstier« zu machen. Unablässig legt er mit der spitzen Pinzette – Arzt und Kranker in einer Person – das Schmerzhafte seiner Nerven bloß und reizt damit wie alle nervösen und phantasievollen Naturen die schon überstarken Empfindlichkeiten noch gesteigert empor. Mißtrauisch gegen die Ärzte, wird er sein eigener Arzt und »beärztelt« sich unablässig sein ganzes Leben lang. Er versucht alle erdenklichen Mittel und Kuren, elektrische Massagen, diätetische Vorschriften, Trinkkuren, Bäderkuren, er stumpft bald die Erregungen mit Brom herab, bald stachelt er sie mit andern Mixturen wieder hinauf. Seine meteorologische Empfindlichkeit jagt ihn ununterbrochen auf die Suche nach einer besonderen Atmosphäre, nach einem nur ihm gemäßen Ort, nach einem »Klima seiner Seele«. Bald ist er in Lugano, um der Seeluft und Windstille willen, dann in Pfäfers und Sorrent; dann meint er wieder, die Bäder von Ragaz könnten ihm von seinem schmerzhaften Selbst helfen, die heilkräftige Zone von St. Moritz, die Quellen von Baden-Baden oder Marienbad ihn begnaden. Einen Frühling lang ist es das Engadin, das er als sich wesensverwandt entdeckt mit seiner »stark ozonhaltigen Luft«, dann muß es wieder eine Südstadt sein, Nizza mit seiner »trockenen« Luft, dann wieder Venedig oder Genua. Bald strebt er den Wäldern zu, bald den Meeren, bald den Seen, bald den kleinen heiteren Städten »mit guter leichter Kost«. Weiß Gott, wie viele Tausende Kilometer Eisenbahn der fugitivus errans durchfahren hat, nur um diesen märchenhaften Ort zu finden, wo das Brennen und Ziehen seiner Nerven, dieses ewige Wachsein der Organe aufhörte. Allmählich destilliert er sich aus seinen Leidenserfahrungen eine eigne Art Gesundheitsgeographie, er durchforscht dickleibige geologische Werke um dieses Ortes willen, den er wie Aladins Ring sucht, um endlich die Herrschaft über seinen Leib und Frieden seiner Seele zu gewinnen. Keine Reise wäre ihm zu weit: Barcelona ist in seinen Plänen und das Hochgebirge von Mexico. Argentinien und sogar Japan wird erwogen. Die geographische Lage, die Diätetik des Klimas und der Kost werden allmählich seine private zweite Wissenschaft. Bei jedem Ort notiert er sich die Temperatur, den Luftdruck, mißt mit Hydroskop und Hydrostat die Niederschlagsmenge auf den Millimeter und den Feuchtigkeitsgehalt. Die gleiche Übertreiblichkeit in der Diät. Auch da ein ganzes Register, eine medizinische Tabulatur von Vorsichtigkeiten: der Tee muß eine bestimmte Marke haben und in bestimmter Stärke dosiert, um ihm bekömmlich zu sein; Fleischkost ist gefährlich; Gemüse müssen auf bestimmte Art zubereitet sein; allmählich kommt in dieses Medizinieren und Diagnostizieren ein kranker solipsistischer Zug, ein gespanntes, überspanntes Auf-sich-selber-Starren. Nichts hat Nietzsches Schmerz so schmerzhaft gemacht als diese ewige Vivisektion; wie immer leidet der Psychologe zwiefach stark als jeder andere, weil er sein Leiden verdoppelt erlebt, einmal in der Realität und noch einmal in der Selbstbetrachtung.

Aber Nietzsche ist ein Genie der gewaltsamen Umwendungen; im Gegensatz zu Goethe, der Gefahren genial auszuweichen verstand, hat er eine ungeheuer verwegene Art, ihnen geradewegs auf den Leib zu gehen und den Stier bei den Hörnern zu fassen. Die Psychologie, das Geistige – ich versuchte es eben zu schildern – treibt den bloß Empfindlichen tief ins Leiden; aber gerade die Psychologie, gerade der Geist reißt ihn wieder in die Gesundheit zurück. Schon ist er nach zehn Jahren unaufhörlichen Gequältseins auf einem »Tiefpunkt der Vitalität«, schon meint man ihn zerrissen, zermürbt von seinen Nerven, einer verzweifelten Depression, einer pessimistischen Selbstaufgabe zur Beute. Da plötzlich gibt es in Nietzsches geistiger Haltung eine jener blitzartigen, wahrhaft inspirativen »Überwindungen«, eine jener Selbsterkennungen und Selbstrettungen, die seine geistige Geschichte so großartig dramatisch und aufregend machen. Mit einem Ruck reißt er die Krankheit, die ihm den Boden unterwühlt, plötzlich zu sich hinauf und drückt sie ans Herz: es ist das ein ganz geheimnisvoller (nicht auf den Tag bestimmbarer) Augenblick, eine jener blitzartigen Inspirationen inmitten seines Werkes, wo Nietzsche seine Krankheit für sich » entdeckt«, wo er im Staunen darüber, daß er noch immer, noch immer am Leben ist, im Staunen, daß in den tiefsten Depressionen ihm die Produktivität, statt zu erlahmen, nur gewachsen ist, proklamiert, daß diese Leiden, diese Entbehrung für ihn »zur Sache«, zur heiligen, ihm einzig heiligen Sache seines Lebens gehören. Und von diesem Augenblick an, wo sein Geist kein Mitleid mehr mit dem Körper hat, kein Mit-Leiden mit seinem Leiden, sieht er zum erstenmal sein Leben in einer neuen Perspektive, seine Krankheit in tieferem Sinn. Mit ausgebreiteten Armen nimmt er sie in sein Schicksal wissend hinein als ein Notwendiges, und da er als der fanatische »Fürsprecher des Lebens« alles an seiner Existenz liebt, so sagt er auch zu seinem Leiden jenes hymnische Ja Zarathustras, jenes jubelnde »Noch einmal! noch einmal in alle Ewigkeit!« Aus dem bloßen Anerkennen wird ein Erkennen, aus dem Erkennen eine Dankbarkeit. Denn aus dieser höheren Schau, die den Blick weghebt vom eigenen Leiden, entdeckt er (mit jener übertreiblichen Freude an der Magie des Extrems), daß er keiner Macht der Erde so sehr verbunden und verschuldet ist wie seiner Krankheit, daß er gerade dem grimmigsten Folterknecht sein Höchstes dankt: die Freiheit. Die Freiheit der äußeren Existenz, die Freiheit des Geistes. Denn überall, wo er ruhen, träg werden, verdicken, verflachen, wo er vorzeitig sich in Amt, Beruf und Geistesform versteinern wollte, hat sie ihn mit ihrem Stachel gewaltsam herausgetrieben. Der Krankheit dankt er, daß er vom Militärdienst errettet und der Wissenschaft zurückgegeben war, der Krankheit dankt er, daß er in dieser Wissenschaft und Philologie nicht stocken blieb; sie hat ihn aus dem Baseler Universitätskreis hinaus in die »Pension« und damit in die Welt, zurück in sich selbst gejagt. Den kranken Augen ist er verpflichtet für die »Erlösung vom Buche«, »der größten Wohltat, die ich mir selbst erwiesen habe«. Aus allen Rinden, die ihn umwachsen wollten, aus allen Bindungen, die ihn zu umschließen begannen, hat sein Leiden ihn (schmerzhaft, aber hilfreich) herausgeschält. »Die Krankheit löst mich gleichsam aus sich selbst heraus«, bekennt er selbst – sie war ihm Geburtshelfer des innern Menschen, Wehemutter und Wehetäter zugleich. Ihr dankt er, daß das Leben für ihn statt einer Gewohnheit eine Erneuerung wurde, eine Entdeckung: »Ich entdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet.«

Denn – so überjauchzt der Gequälte nun dankbar seine Qualen in seiner großen Hymne an den heiligen Schmerz – nur das Leiden allein macht wissend. Die bloß angeerbte und nie erschütterte Bärengesundheit ist dumpf und ahnungslos zufrieden. Sie will nichts, sie fragt nichts, und darum gibt es keine Psychologie bei den Gesunden. Alles Wissen kommt aus dem Leiden, »der Schmerz fragt immer nach den Ursachen, während die Lust geneigt ist, stehenzubleiben und nicht nach rückwärts zu schauen«. Man wird »immer feiner im Schmerz«, das Leiden, das stete wühlende, schabende Leiden gräbt das Erdreich der Seele um, und gerade das Pflughafte, das Schmerzhafte dieses innern Umwühlens schafft erst Auflockerung für die neue geistige Frucht. »Erst der große Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes, er allein zwingt uns, in unsere letzte Tiefe zu steigen«, und gerade wem er beinahe tödlich war, darf dann das stolze Wort von sich sagen: »Ich weiß mehr vom Leben, weil ich so oft nahe daran war, es zu verlieren.«

Nicht durch einen Kunstgriff also, durch ein Verneinen seines körperlichen Notstandes überwindet Nietzsche alles Leiden, sondern durch Erkennen: der souveräne Wertfinder entdeckt sich den Wert seiner Krankheit. Ein umgekehrter Märtyrer, hat er nicht zuerst den Glauben, für den er sich quälen läßt; sondern erst aus der Qual, aus der Folter formt er sich den Glauben. Aber seine wissende Chemie entdeckt nicht nur den Wert seines Krankseins, sondern auch seinen Gegenpol: den Wert der Gesundheit; sie beide erst schenken das Vollgefühl des Lebens, den ewigen Spannungszustand von Qual und Ekstase, mit dem der Mensch sich ins Unendliche schnellt. Beide sind notwendig, Krankheit als Mittel, Gesundheit als Zweck, Krankheit als Weg, Gesundheit als Ziel. Denn Leiden im Sinne Nietzsches ist ja nur das eine dunkle Ufer der Krankheit, das andere erglänzt in einem unsäglichen Licht, es heißt Genesen, und nur vom Ufer des Leidens wird es erreicht. Genesen, Gesundwerden bedeutet aber mehr als Erreichung des normalen Lebenszustandes, nicht nur Verwandlung, sondern unendlich mehr, es ist auch Steigerung, Erhöhung und Verfeinerung: man geht aus der Krankheit »gehäuteter, kitzliger, mit einem feineren Geschmack für die Freude, mit einer zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren Sinnen und einer zweiten gefährlicheren Unschuld in der Freude« hervor, kindlich zugleich und hundertmal raffinierter, als man je gewesen ist. Und diese zweite Gesundheit hinter der Krankheit, diese nicht blind hingenommene, sondern sehnsüchtig ersehnte, gewaltsam erzwungene, mit hundert Seufzern, Schreien und Notständen erkaufte, diese »eroberte, erlittene« Gesundheit ist tausendmal lebendiger als das stumpfe Wohlbehagen der immer Gesunden. Und wer von der zitternden Süße, dem prickelnden Rausch solchen Genesens einmal gekostet, der verbrennt vor Gelüst, ihn immer wieder zu erleben: er wirft sich gern immer und immer wieder in die schweflige Feuerflut der brennenden Qualen, nur um immer wieder zu diesem »bezaubernden Gefühl des Gesundens« zu gelangen, zu dieser goldenen Trunkenheit, die Nietzschen all die gemeinen Stimulantia des Alkohols und Nikotins tausendfach ersetzt und sie übertrifft. Aber kaum daß Nietzsche den Sinn seines Leidens sich entdeckt und die große Wollust des Gesundens, so will er sie in ein Apostolat verwandeln, in den Sinn der Welt. Wie alle Dämonischen, erliegt er der eigenen Ekstase und kann nun nicht mehr satt werden an dem funkelnden Wechselspiel von Lust und Leiden; er will noch tiefer hinabgemartert sein in die Qual, um sich höher hinaufzuschwingen in das allerletzte, allerseligste, allerklarste, allerkraftvollste Genesen. Und in diesem funkelnden, lechzenden Rausch verwechselt er allmählich seinen rasenden Willen zur Gesundheit mit der Gesundheit selbst, sein Fieber mit Vitalität, seinen Untergangstaumel mit errungener Kraft. Gesundheit! Gesundheit! – wie ein Panier schwenkt der von sich selber Trunkene das Wort über sich her: sie soll der Sinn der Welt sein, das Ziel des Lebens, das Maß aller Dinge, sie allein der Pegel aller Werte; und der selbst von Qual zu Qual im Dunkel jahrzehntelang getappt, überschreit sich nun in einem Hymnus der Vitalität, der brutalen, machttrunkenen Kraft. Ungeheuer, mit brennenden Farben, entrollt er die Fahne des Willens zur Macht, des Willens zum Leben, zur Härte, zur Grausamkeit, und trägt sie ekstatisch einer kommenden Menschheit voran – ahnungslos, daß die Kraft, die ihn beseelt, das Panier so hoch zu halten, dieselbe ist, die gleichzeitig den Bogen spannt mit dem für ihn tödlichen Pfeil.

Denn diese letzte Gesundheit Nietzsches, die sich selbst im Überschwang zum Dithyrambus hinaufstimuliert, ist eine Autosuggestion, eine »erfundene« Gesundheit. Gerade wie er die Hände jubilierend zum Himmel hebt im Rausche seiner Kraft, wie er im Ecce homo die Worte hinschreibt von seiner großen Gesundheit und beeidet, nie krank, nie dekadent gewesen zu sein, zuckt schon der Blitz in seinem Blut. Was in ihm lobsingt, was in ihm triumphiert, ist nicht das Leben, sondern schon sein Tod. Was er für Licht hält, für die Hochglut seiner Kraft, birgt gerade den tödlichen Ansprung seiner Krankheit, und jenes wunderbare Wohlgefühl, das ihn in den letzten Stunden überströmt, diagnostiziert der klinische Blick jedes Arztes heute klar für die Euphorie, das typische Wohlbefinden vor dem Zusammenbruch. Schon von anderer, von dämonischer, von jenseits-weltlicher Sphäre zittert ihm die silberne Helligkeit entgegen, die seine letzten Stunden überflutet: er aber, der Trunkene, er weiß es nicht mehr. Er fühlt sich nur überschüttet von allem Glanz, aller Gnade der Erde: die Gedanken glühen ihm feurig zu, die Sprache quillt mit Urgewalt aus allen Poren seiner Rede, Musik überflutet ihm die Seele. Wohin er blickt, strahlt ihn Friede an – die Menschen auf der Straße lächeln ihm zu, jeder Brief ist eine Botschaft mit göttlichem Inhalt, und taumelnd vor Glück ruft er dem Freunde Peter Gast in seinem letzten Schreiben zu: »Singe mir ein neues Lied: die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich.« Eben aus diesem verklärten Himmel trifft ihn der feurige Strahl, Leiden und Seligkeit in eine einzige unlösbare Sekunde verschmelzend. Beide Enden des Gefühls bohren sich ihm gleichzeitig in die aufgebäumte Brust, und in seinen zerspringenden Schläfen rauscht das Blut Tod und Leben zusammen in eine einzige apokalyptische Musik.

Der Don Juan der Erkenntnis

Auf die ewige Lebendigkeit kommt es an, nicht
auf das ewige Leben.

Immanuel Kant lebt mit der Erkenntnis wie mit einem ehelich angetrauten Weibe, beschläft sie vierzig Jahre lang im gleichen geistigen Bette und zeugt mit ihr ein ganzes deutsches Geschlecht philosophischer Systeme, von denen Nachkommen noch heute in unserer bürgerlichen Welt wohnen. Seine Beziehung zur Wahrheit ist absolut monogam und ebenso jene all seiner intellektuellen Söhne: Schelling, Fichte, Hegel und Schopenhauer. Was sie zur Philosophie treibt, ist ein durchaus undämonischer höherer Ordnungswille, ein guter deutscher, fachlicher und sachlicher Wille zur Disziplinierung des Geistes, zu einer ordnungshaften Architektonik des Daseins. Sie haben Liebe zur Wahrheit, eine ehrliche, dauerhafte, durchaus beständige Liebe: aber in dieser Liebe fehlt vollkommen die Erotik, die flackernde Gier des Zehrens und Sich-selber-Verzehrens; sie fühlen die Wahrheit, ihre Wahrheit als Gattin und gesicherten Besitz, von der sie sich bis zur Stunde des Absterbens nie loslösen und gegen die sie niemals untreu sind. Darum bleibt ewig etwas Hausbackenes, etwas Haushälterisches in ihrer Beziehung zur Wahrheit, und tatsächlich hat jeder von ihnen über Braut und Bett sich ein eigenes Haus erbaut: sein gesichertes System. Und diesen ihren eigenen Bezirk, ihren eroberten Acker des Geistes, den sie aus dem urweltlichen Dickicht des Chaos für die Menschheit ausgerodet haben, bestellen sie meisterlich mit Egge und Pflug. Vorsichtig schieben sie die Gemarken ihrer Erkenntnis weiter

hinaus in die Kultur der Zeit und mehren mit Fleiß und Schweiß die geistige Frucht.

Nietzsches Leidenschaft zur Erkenntnis dagegen kommt aus ganz anderem Temperament, aus einer geradezu antipodischen Welt des Gefühls. Seine Einstellung zur Wahrheit ist eine durchaus dämonische, eine zitternde atemheiße, nervengejagte, neugierige Lust, die sich nie befriedigt und nie erschöpft, die nirgends stehenbleibt bei einem Resultat und über alle Antworten hin sich immer wieder ungeduldig und unbändig weiterfragt. Niemals zieht er eine Erkenntnis dauernd an sich und macht sie mit Eid und Treuschwur zu seinem Weibe, zu seinem »System«, zu seiner »Lehre«. Alle reizen ihn an, und keine kann ihn halten. Sobald ein Problem die Jungfräulichkeit, den Reiz

und das Geheimnis der erbrochenen Scham verloren hat, läßt er es mitleidslos, eifersuchtslos den andern nach ihm, so wie Don Juan, sein Bruder im Triebe, seine mille e tre, ohne sich weiter um sie zu bekümmern. Denn wie jeder große Verführer durch alle Frauen hindurch die Frau, so sucht Nietzsche durch alle Erkenntnis hindurch die Erkenntnis, die ewig irreale und nie ganz erreichbare; ihn reizt bis zum Schmerz, bis zur Verzweiflung nicht das Erobern, nicht das Halten und Haben, sondern immer nur das Fragen, das Suchen und Jagen. Unsicherheit, nicht Gewißheit ist seine Liebe – Erkenntnis im Sinne der Bibel, wo der Mann das Weib »erkennt« und damit gleichsam geheimnislos macht. Er weiß, der ewige Relativist der Werte, daß keiner dieser Erkenntnisakte, dieser Besitzergreifungen mit heißem Geist schon ein wirkliches »Zu-Ende-Kennen« ist, daß sich Wahrheit im letzten Sinn nicht besitzen läßt: denn »wer da empfindet, ich bin im Besitz der Wahrheit, wie vieles läßt der nicht fahren«. Darum richtet sich Nietzsche niemals haushälterisch ein im Sinne des Sparens und Bewahrens und baut kein geistiges Haus: er will – oder er muß vielmehr aus dem nomadischen Zwang seiner Natur – der ewig Besitzlose bleiben, der nicht Dach hat und Weib und Kind und Gesind, aber dafür die Lust und die Freude der Jagd: er liebt gleich Don Juan nicht die Dauer des Gefühls, sondern die »großen und verzückten Augenblicke«, ihn locken einzig die Abenteuer des Geistes, jene »gefährlichen Vielleichts«, die heiß machen und anspornen, solange man sie jagt, und nicht satt machen, sobald man sie greift – er will keine Beute, sondern (wie er sich selbst im Don Juan der Erkenntnis schildert) nur den »Geist, Kitzel und Genuß an Jagd und Intriguen der Erkenntnis – bis an die höchsten und fernsten Sterne der Erkenntnis hinauf –, bis ihm zuletzt nichts mehr zu erjagen übrigbleibt als das absolut Wehetuende der Erkenntnis, gleich dem Trinker, der am Ende Absinth und – Scheidewasser trinkt«.

Denn der Don Juan im Geiste Nietzsches ist kein Epikureer, kein üppiger Genießer: dazu fehlt diesem Aristokraten, diesem feinnervigen Edelmann das dumpfe Behagen des Verdauens, das träge Ausruhen in der Sattheit, das Prahlen mit seinen Triumphen, das jemals Zufriedensein. Der Jäger der Frauen ist – wie der Nimrod des Geistes – selbst der ewig Gejagte eines unstillbaren Triebes, der rücksichtslose Verführer selbst ein Verführter seiner brennenden Neugier, ein Versucher, der versucht ist, alle Frauen in ihrer unerkannten Unschuld immer wieder zu versuchen, so wie Nietzsche fragt um der Frage willen, um der unstillbaren psychologischen Lust. Für Don Juan ist das Geheimnis in allen und in keiner, in jeder für eine Nacht und in keiner für immer: genauso für den Psychologen die Wahrheit in allen Problemen für einen Augenblick und in keinem für immer.

Darum ist Nietzsches geistiges Leben so ganz ohne Ruhepunkte, ohne stille spiegelnde Flächen: es ist durchaus stromhaft, wanderhaft, voll plötzlicher Umwendungen, Kehren und Stromschnellen. Bei den andern deutschen Philosophen geht ihr Dasein episch-gemächlich dahin, ihre Philosophie stellt das behaglich-handwerkliche Fortspinnen eines einmal entwirrten Fadens dar, sie philosophieren gleichsam seßhaft, mit entspannten Gliedern, und kaum spürt man während ihres Denkaktes einen gesteigerten Blutdruck im Körper, ein Fieber in ihrem Schicksal. Niemals hat man bei Kant jene erschütternde Empfindung eines von seinen Gedanken vampirisch gefaßten, eines an der Schöpfung und Gestaltung als einem entsetzlichen Muß leidenden Geistes: und Schopenhauers Leben vom dreißigsten Jahr an, sobald er »Die Welt als Wille und Vorstellung« einmal vollendet hat, trägt einen pensionistisch-behaglichen Zug mit allen kleinen Verbitterungen des Stehengebliebenen. Sie alle gehen mit gutem, festem, klarem Schritt vorwärts einen selbstgewählten Weg, indes Nietzsche immer gejagt erscheint und immer in ein ihm selbst Unbekanntes hinein. Darum gestaltet sich Nietzsches Erkenntnisgeschichte (wie die Abenteuer Don Juans) durchaus dramatisch, eine Kette gefährlicher, überraschender Episoden, eine Tragödie, die vollkommen pausenlos in unablässiger zuckender Erregung von einer Peripetie zur nächsten höheren überspringt, um dann schließlich bei dem unvermeidlichen Absturz ins Bodenlose zu zerschmettern. Und gerade dies Ruhelose im Suchen, dies unablässig Denken-Müssen, der dämonische Zwang zum Vorwärts gibt dieser einzigen Existenz eine unerhörte Tragik und macht sie (durch die totale Abwesenheit jedes handwerklichen, jedes bürgerlich gelassenen Zuges) uns so verlockend als Kunstwerk. Nietzsche ist verflucht, ist verurteilt zum unablässigen Denken, wie der Wilde Jäger im Märchen zur ewigen Jagd: was seine Lust war, ist seine Qual, seine Not geworden, und sein Atem, sein Stil hat das Springende, Heiße, Pochende eines Gehetzten, seine Seele das Lechzende, Verschmachtende eines nie ausruhenden, eines nie befriedeten Menschen: »Man gewinnt etwas lieb, und kaum ist es einem vom Grunde lieb geworden, so sagt der Tyrann in uns (den wir sogar unser höheres Selbst nennen möchten): Gerade das gib mir zum Opfer. Und wir geben es auch, aber es ist Tierquälerei dabei und Verbranntsein mit langsamem Feuer.« Und wie Aufschrei flüchtenden, vom Pfeil getroffenen Wildes klingt es gell, wenn Nietzsche, der zum Erkennen Getriebene, der Ruhelose, aufschreit: »Es gibt überall Gärten Armidens für mich und daher immer neues Losreißen und neue Bitterkeiten des Herzens. Ich muß den Fuß heben, den müden, verwundeten Fuß, und weil ich muß, so habe ich oft für das Schönste, das mich nicht halten konnte, einen grimmigen Rückblick – weil es mich nicht halten konnte!«

Solche Schreie von innen, solch urmächtiges Aufstöhnen aus der letzten Tiefe des Leidens vermißt man vollkommen in alldem, was sich vor Nietzsche in Deutschland Philosophie genannt hat: bei den mittelalterlichen Mystikern vielleicht, bei den Häretikern und Heiligen der Gotik bricht manchmal ähnliche Schmerzensinbrunst durch dunkelgewandetes Wort. Pascal, auch einer, der mit der ganzen Seele im Fegefeuer des Zweifels steht, kennt diese Aufgewühltheit, diese Zernichtung der suchenden Seele, niemals aber, weder bei Leibniz, noch bei Kant, Hegel und Schopenhauer, erschüttert uns dieser elementare Ton. Denn so rechtlich diese wissenschaftlichen Naturen auch sind, so tapfer, so entschlossen ihre Anspannung auf das Ganze wirkt – sie werfen sich doch nicht dermaßen mit ihrem ganzen ungeteilten Wesen, mit Herz und Eingeweiden und Nerven und Fleisch, mit ihrem ganzen Schicksal in das heroische Spiel um die Erkenntnis. Sie brennen immer nur so, wie Kerzen brennen, nur oben, nur zu Häupten, nur mit dem Geist. Ein Teil, der weltliche, der private und damit auch das Persönlichste ihrer Existenz, bleibt immer schicksalsgesichert, indes Nietzsche sich voll und ganz riskiert, er, der sich unaufhörlich nicht »bloß mit den Fühlhörnern des kalten neugierigen Gedankens«, sondern mit der ganzen Wucht seines Schicksals in die Gefahr wirft. Seine Gedanken kommen nicht bloß von oben, aus dem Gehirn, sondern sind herausgefiebert aus einem gehetzten, aufgestachelten Blute, aus zitternd gereizten Nerven, aus unersättlichen Sinnen, aus dem ganzen Zusammenfassen des Lebensgefühls: darum ballen seine Erkenntnisse wie jene Pascals sich »zu einer leidenschaftlichen Seelengeschichte« tragisch auf, sie werden eine gesteigerte Folge gefährlicher und fast tödlicher Abenteuer, ein Lebensdrama, das wir erschüttert miterleben (indes jene andern Philosophen-Biographien nicht um einen Zoll das geistige Bild erweitern). Und doch, selbst in bitterster Not möchte er sein Leben, sein »gefährliches Leben« nicht mit ihrem geordneten vertauschen, denn gerade, was die andern in ihrer Erkenntnis suchen, eine Aequitas animae, eine gesicherte Seelenrast, einen Schutzwall gegen das überströmende Gefühl, das haßt Nietzsche als Minderung der Vitalität. Ihm, dem Tragiker, dem heldischen Menschen, geht es nicht um das »elende Ringen um das Dasein«, um erhöhte Sicherheit, um eine Brustwehr gegen das Erleben. Nur keine Sicherheit, nur nie ein Befriedigtsein, ein Sich-Genügen! »Wie kann man in der ganzen wundervollen Ungewißheit und Vieldeutigkeit des Daseins stehen und nicht fragen, nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens«, so höhnt er den Häuslichen, den rasch Zufriedenen hochmütig entgegen. Mögen sie erfrosten in ihren Gewißheiten, ruhig sich einkapseln in die Muschelschalen ihrer Systeme: ihn lockt nur die gefährliche Flut, das Abenteuer, das ewige Entzücken und die ewige Enttäuschung. Mögen sie weiter ihre Philosophie treiben im gewärmten Haus ihres Systems wie ein Geschäft, ehrlich und sparsam ihren Besitz zum Reichtum mehrend: ihn lockt nur das Spiel, der Einsatz des Letzten, der eigenen Existenz. Denn nicht einmal sein eigenes Leben lüstet es ihn, den Abenteurer, zu besitzen: auch hier will er noch ein heroisches Mehr: »Auf die ewige Lebendigkeit kommt es an, nicht auf das ewige Leben.«

Mit Nietzsche erscheint die schwarze Freibeuterflagge des Piraten zum erstenmal auf den Meeren der deutschen Erkenntnis: ein Mensch anderer Art, anderen Stammes, Philosophie nicht mehr im wissenschaftlichen Kathedertalar, sondern kriegerisch gepanzert und bewehrt. Die andern vor ihm, gleichfalls kühne und heldenhafte Seefahrer des Geistes, hatten Kontinente und Reiche entdeckt, aber gewissermaßen in einer zivilisatorischen, einer nutzhaften Absicht, um sie der Menschheit zu erobern, die Landkarte weiter in die Terra incognita des Denkens zu ergänzen. Sie pflanzen die Fahnen in ihrem eroberten Neuland auf, bauen Städte, Tempel und neue Straßen in das neue Unbekannte, und hinter ihnen kommen die Gouverneure und Verwalter, das Gewonnene zu pflügen und zu ernten, die Kommentatoren und Professoren, die Menschen der Bildung. Aber ihrer Mühe letzter Sinn war immer Ruhe, Frieden und Sicherung: sie wollen Normen und Gesetze, also eine höhere Ordnung verbreiten. Nietzsche dagegen bricht in die deutsche Philosophie wie die Flibustier am Ende des 16. Jahrhunderts in die spanische Welt, ein Schwarm wilder, verwegener, zuchtloser Desperados ohne Nation, ohne Herrscher, ohne König, ohne Flagge, ohne Heim und Aufenthalt. Wie jene erobert er nichts für sich und für keinen andern nach ihm, weder für einen Gott, noch einen König, noch einen Glauben, sondern einzig um der Freude der Eroberung willen, denn er will nichts besitzen, erwerben, erringen. Ihn, den leidenschaftlichen Störenfried aller »braunen Ruhe«, aller Behaglichkeit lüstet es einzig, die gesicherte, genießerische Ruhe der Menschen zu zerstören, mit Feuer und Schreck Wachheit zu verbreiten, die ihm so kostbar ist wie den Friedensmenschen der dumpfe, braune Schlaf. Hinter ihm sind, wie nach jener Flibustierfahrt, erbrochene Kirchen, entweihte jahrtausendalte Heiligtümer, gestürzte Altäre, geschändete Sentiments, gemordete Überzeugungen, erbrochene Moralhürden, ein brennender Horizont, ein ungeheures Fanal der Kühnheit und der Kraft. Aber er wendet sich nie zurück, weder um sich des Gewonnenen zu freuen, noch um es zu besitzen: das Unbekannte, nie Eroberte, nie Erkannte ist seine unendliche Zone, das Entladen seiner Kraft, das »Aufstören der Schläfrigkeit« seine einzige Lust. Keinem Glauben gehörig, keinem Lande verschworen, die schwarze Flagge des Immoralisten auf dem umgestürzten Mast, vor sich das heilige Unbekannte, ewig Ungewisse, dem er sich dämonisch verschwistert fühlt, rüstet er unablässig zu neuen gefährlichen Fahrten. Und einsam in allen Gefahren singt er sich selber zum Ruhme seinen herrlichen Piratengesang, sein Flammenlied, sein Schicksalslied:

Ja, ich weiß, woher ich stamme,
Ungesättigt gleich der Flamme

Glühe und verzehr ich mich,
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse,
Flamme bin ich sicherlich –.

Leidenschaft der Redlichkeit

Nur ein Gebot gilt dir: Sei rein.

»Passio nuova oder Leidenschaft der Rechtlichkeit«, so sollte der Titel eines von Nietzsche früh geplanten Buches lauten. Er hat es nie geschrieben, aber – was mehr ist – er hat es gelebt. Denn leidenschaftliche Redlichkeit, eine fanatisch, eine passionierte, bis zur Qual emporgespannte Wahrhaftigkeit ist die schöpferische Urzelle von Nietzsches Wachstum und Verwandlung.

Redlichkeit, Rechtlichkeit, Reinlichkeit – man ist ein wenig überrascht, gerade bei dem »Amoralisten« Nietzsche keinen absonderlicheren Urtrieb zu entdecken als gerade, was auch Bürger stolz ihre Tugend nennen – Ehrlichkeit, Redlichkeit bis ans kühle Grab, eine rechte und echte Armeleute-Tugend des Geistes also, ein durchaus mittleres und konventionelles Gefühl. Aber bei Gefühlen ist die Intensität alles, der Inhalt nichts; und dämonischen Naturen ist es gegeben, auch den längst eingefriedeten und temperierten Begriff noch einmal empor in eine unendliche Anspannung zurückzureißen. Sie geben selbst den unbetontesten, den abgenutztesten Elementen das Feuerfarbene und Ekstatische des Überschwangs: was ein Dämonischer ergreift, wird immer wieder neu chaotisch und voll unbändiger Gewalt. Darum hat die Redlichkeit eines Nietzsche nicht das mindeste zu tun mit der ins Korrekte abgeflauten Rechtlichkeit der Ordnungsmenschen – seine Wahrheitsliebe ist ein Wahrheitsdämon, ein Klarheitsdämon, ein wildes, jagdhaftes, beutegieriges Raubtier mit den feinsten Instinkten der Witterung und den gewalttätigsten der Raublust. Eine Nietzsche-Rechtlichkeit hat nicht ein Zollbreit mehr gemein mit dem haustierhaften, gezähmten, durchaus temperierten Vorsichtsinstinkt der Händler und ebensowenig mit der vierschrötigen bullenhaften Michael-Kohlhaas-Redlichkeit mancher Denker, die, mit Scheuklappen, nur auf eine, nur auf ihre Wahrheit tollwütig losstürzen. So gewalttätig, so brutal oft Nietzsches Wahrheitsleidenschaft ausbrechen mag, so ist sie doch immer zu nervenhaft, zu kultiviert, um je borniert zu werden: niemals rennt sie sich fest, niemals hakt sie sich ein, sondern durchaus flammenhaft zuckt sie weiter

von Problem zu Problem, jedes aufzehrend und durchleuchtend und doch von keinem gesättigt. Herrlich ist diese Zweiheit: nie setzt bei Nietzsche die Leidenschaft aus; niemals die Redlichkeit. Vielleicht hat noch nie ein so großes psychologisches Genie gleichzeitig so viel ethische Stetigkeit, so viel Charakter gehabt.

Darum ist Nietzsche zum Klardenker ohnegleichen prädestiniert: wer selber Psychologie als eine Leidenschaft versteht und betreibt, empfindet sein ganzes Wesen mit jener Wollust

, die man einzig Vollendetem entgegenbringt. Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, diese – ich sagte es ja schon – bürgerliche Tugend, die man sonst als notwendiges Ferment des geistigen Lebens sachlich empfindet, genießt man bei ihm wie Musik. Klarheit wird hier zu Magie. Dieser halbblinde, mühsam vor sich hin tappende, dieser eulenhaft im Dunkel lebende Mensch hatte in psychologicis einen Falkenblick, jenen Blick, der in einer Sekunde raubvogelhaft aus dem unendlichen Himmel seines Denkens auf das feinste Merkmal, auf die verzitterndsten, verschwindendsten Nuancen mit unfehlbarer Sicherheit niederstößt. Vor diesem unerhörten Erkenner, vor diesem einzigen Psychologen hilft kein Verbergen und Verstecken: sein Röntgenblick dringt durch Kleider und Haut und Fleisch und Haar bis ins Innerste jedes Problems hinab. Und genauso, wie seine Nerven auf jeden Druck der Atmosphäre wie ein präziser Apparat reagieren, so zeichnet sein gleich durchnervter Intellekt mit gleich fehllosem Rückschlag jede Nuance im Moralischen auf. Nietzsches Psychologie kommt gar nicht aus seinem diamantharten und klaren Verstand, sie ist immanenter Teil jener übersensiblen Wertempfindlichkeit seines ganzen Körpers, er schmeckt, er wittert – »mein Genie ist in meinen Nüstern« – alles nicht ganz Reine, nicht ganz Frische in menschlichen und geistigen Angelegenheiten absolut funktionell: »Mir eignet eine vollkommen unheimliche Reizbarkeit des Reinlichkeitsinstinktes, so daß ich die Nähe oder das Innerlichste, die Eingeweide jeder Seele physiologisch wahrnehme – rieche.« Mit unfehlbarer Sicherheit wittert er heraus, wo etwas mit Moralin, Kirchenweihrauch, Kunstlüge, Vaterlandsphrase, mit irgendeinem Narkotikum des Gewissens durchsetzt ist; er hat einen überscharfen Geruchssinn für alles Faulige, Brackige und Ungesunde, für den Armeleutegeruch im Geistigen; Klarheit, Reinheit, Sauberkeit bedeuten darum für seinen Intellekt so sehr notwendige Existenzbedingung, wie für seinen Körper – ich schilderte es früher – reine Luft mit klaren Konturen: hier ist wirklich Psychologie, wie er es selber fordert, »Auslegung des Leibes«, Verlängerung einer Nervendisposition ins Zerebrale. Alle andern Psychologen scheinen neben dieser seiner divinatorischen Sensibilität irgendwie dumpf und plump. Selbst Stendhal, der mit ähnlich zarten Nerven instrumentiert war, kann sich ihm nicht vergleichen, weil ihm die leidenschaftliche Betonung, der vehemente Ausschlag fehlt: er notiert nur lässig Beobachtungen, indes Nietzsche mit der ganzen Wucht seines Wesens sich auf jede einzelne Erkenntnis stürzt, so wie der Raubvogel aus seiner unendlichen Höhe auf ein winziges Getier. Einzig Dostojewski hat noch ähnlich hellsichtige Nerven (gleichfalls aus einer Überspannung, aus einer krankhaften, schmerzhaften Sensibilität); aber Dostojewski steht wieder hinter Nietzsche an Wahrhaftigkeit zurück. Er kann ungerecht sein und übertreiberisch mitten in seinem Erkennen, indes Nietzsche auch in der Ekstase nicht einen Zoll seiner Rechtlichkeit preisgibt. Nie war darum ein Mensch vielleicht so sehr naturbestimmter, geborener Psychologe, nie ein Geist so sehr zum feinempfindlichen Druckmesser für die Meteorologie der Seele zugeschliffen; nie hatte die Erforschung der Werte ein so präzises, ein so sublimes Instrument.

Aber für vollendete Psychologie genügt es nicht, das feinste, schneidendste Skalpell, das erlesenste Instrument des Geistes zu besitzen – auch die Hand des Psychologen muß stählern sein, geschmeidiges und hartes Metall, sie darf nicht zittern und zurückzucken bei ihren Operationen. Denn Psychologie ist mit Begabung noch nicht erschöpft, sie ist vor allem auch Sache des Charakters, jenes Mutes, »alles zu denken, was man weiß«, sie ist im idealen Fall wie bei Nietzsche Erkenntnis fähigkeit, gepaart mit einer ganz urhaften männlichen Kraft des Erkenntnis willens. Der wirkliche Psychologe muß dort, wo er sehen kann, auch sehen wollen, er darf nicht aus einer sentimentalen Nachsicht, einer privaten Ängstlichkeit und Scheu vorbeisehen und vorbeidenken oder sich von Rücksichten und Sentimenten einschläfern lassen. Bei ihnen, den gerechten Wägern und Wächtern, »deren Aufgabe das Wachsein ist«, darf es keine Konzilianz geben, keine Gutmütigkeit, keine Ängstlichkeit, kein Mitleid, keine der Schwächen (oder Tugenden) des bürgerlichen, des mittleren Menschen. Ihnen, den Kriegern, den Eroberern des Geistes, ist es nicht erlaubt, auf ihren verwegenen Patrouillengängen irgendeine Wahrheit, die sie ertappen, gutmütig entwischen zu lassen. In Dingen der Erkenntnis ist »Blindheit nicht Irrtum, sondern Feigheit«, Gutmütigkeit ein Verbrechen, denn wer Rücksicht hat auf Scham und Wehetun, Furcht vor dem Geschrei der Entblößten, vor der Häßlichkeit der Nacktheit, der entdeckt niemals letztes Geheimnis. Jede Wahrheit, die nicht bis zum Äußeren geht, jede Wahrhaftigkeit ohne Radikalismus hat keinen ethischen Wert. Deshalb auch Nietzsches Härte gegen alle, die aus Trägheit oder Denkfeigheit die heilige Pflicht zur Entschlossenheit versäumen, deshalb sein Zorn gegen Kant, daß er den Gottbegriff durch eine heimliche Tür in sein System wieder einschleichen ließ, darum sein Haß gegen alles Blinzeln und Augenzudrücken in der Philosophie, gegen den »Teufel oder Dämon der Unklarheit«, der die letzte Erkenntnis feige verschleiert oder verwischt. Es gibt keine abgeschmeichelten Wahrheiten großen Stils, keine zutraulich und lockend herausgeplauderten Geheimnisse: nur mit Gewalt, Kraft und Unerbittlichkeit läßt sich die Natur ihr Kostbarstes abringen, nur mit Brutalität werden in der Moral des »großen Stils« die »Furchtbarkeit und Majestät unendlicher Forderungen« gestellt. Alles Verborgene fordert harte Hände, unerbittliche Intransigenz: ohne Redlichkeit gibt es kein Erkennen, ohne Entschlossenheit keine Redlichkeit, keine »Gewissenhaftigkeit des Geistes.« »Wo meine Redlichkeit aufhört, bin ich blind; wo ich wissen will, will ich auch redlich sein, nämlich hart, strenge, enge, grausam und unerbittlich.«

Diesen Radikalismus, diese Härte und Unerbittlichkeit hat der Psychologe in Nietzsche nicht geschenkt bekommen vom Schicksal wie seinen falkenhaften Blick: ihn hat er erkauft um den Preis seines ganzen Lebens, seiner Ruhe, seines Schlafes, seiner Bequemlichkeit. Von Anfang an eine weiche, gütige, umgängliche, eher heitere und durchaus wohlgesinnte Natur, muß sich Nietzsche erst durch eine spartanische Gewaltsamkeit des Willens unzugänglich und unerbittlich gegen das eigene Gefühl machen: sein halbes Leben hat er gleichsam im Feuer verbracht. Man muß tief in ihn hineinsehen, um die ganze Schmerzhaftigkeit dieses sittlichen Prozesses nachfühlend zu erleben. Denn mit dieser »Schwäche«, mit seiner Milde und Güte brennt Nietzsche auch alles Menschliche aus, das ihn mit den Menschen verbindet; er verdirbt sich seine Freundschaften, seine Beziehungen, seine Bindungen, und sein letztes Stück Leben wird allmählich so heiß, so weißglühend in der eigenen Flamme, daß jeder sich die Hand verbrennt, der an ihn rühren will. So wie man mit Höllenstein eine Wunde ätzt, um sie rein zu erhalten, so beizt Nietzsche sein Gefühl gewaltsam aus, um es rein, um es redlich zu bewahren; er behandelt sich selbst schonungslos mit dem rotglühenden Eisen seines Willens zur äußersten Wahrhaftigkeit: auch seine Einsamkeit ist darum eine erzwungene. Aber als echter Fanatiker gibt er alles preis, was er liebt, selbst Richard Wagner, dessen Freundschaft ihm heiligste Begegnung gewesen; er macht sich arm, er macht sich menscheneinsam und verhaßt, einsiedlerisch und unglücklich, nur um wahr zu bleiben, nur um das Apostolat der Redlichkeit vollkommen zu erfüllen. Wie bei allen Dämonischen wird die Leidenschaft – bei ihm jene der Redlichkeit – allmählich monomanisch und zehrt in ihrer Flamme den ganzen Besitz seines Lebens auf; wie alle Dämonischen kennt er schließlich nichts mehr als diese eine Leidenschaft. Man lasse darum doch endlich die schullehrerhafte Frage: Was wollte Nietzsche, was meinte Nietzsche, welchem System, welcher Weltanschauung strebt er zu? Nietzsche wollte nichts: in ihm genießt eine übermächtige Leidenschaft zur Wahrheit sich selbst. Sie weiß von keinem »Um zu« – Nietzsche denkt nicht, um die Welt zu verbessern oder zu belehren, noch um sie oder sich zu beruhigen: sein ekstatischer Denkrausch ist Selbstzweck, Selbstgenuß, eine ganz private, eine vollkommen selbstsüchtige und elementare Wollust wie jede dämonische Leidenschaft. Niemals geht es bei diesem ungeheuren Kraftaufwand um eine »Lehre« – er ist längst hinaus über »die edle Kinderei und Anfängerei des Dogmatisierens« – und noch weniger um eine Religion. (»In mir ist nichts von einem Religionsstifter. Religionen sind Pöbelaffären.«) Nietzsche treibt Philosophie wie eine Kunst, und als echter Künstler sucht er darum nicht Resultate, kalte Endgültigkeiten, sondern nur einen Stil, den »großen Stil in der Moral«, und ganz als Künstler erlebt und genießt er alle Schauer der plötzlichen Inspirationen. Vielleicht, ja, wahrscheinlich bleibt es darum ein Wortirrtum, Nietzsche einen Philosophen, also einen Freund der Sophia, der Weisheit, zu nennen. Denn der Leidenschaftliche ist immer unweise, und nichts war Nietzsche fremder, als zum gewohnten Philosophenziel zu kommen, zu einer Schwebe des Gefühls, zu einer Rast und Entspannung, zu einer Tranquillitas, einer gesättigten »braunen« Weisheit – zu dem starren Standpunkt einer einmaligen Überzeugung. Er »braucht und verbraucht« Überzeugungen, wirft wieder weg, was er gewinnt, und wäre darum besser ein Philaleth genannt, ein leidenschaftlich Passionierter der Aletheia, der Wahrheit, jener jungfräulichen grausamen Versuchergöttin, die immer wie Artemis ihre Liebhaber in ewige Jagd treibt, um ihnen doch hinter allen ihren zerrissenen Schleiern immer unerreichbar zu bleiben. Wahrheit, wie Nietzsche sie versteht, ist eben keine starre, keine kristallene Form der Wahrheit, sondern der feurig glühende Wille zum Wahrsein und Wahrbleiben, eine Lebenserfüllung im Sinne der höchsten Fülle: Nietzsche will nie und niemals glücklich, immer aber wahrhaftig sein. Er sucht nicht (wie neun Zehntel aller Philosophen) die Rast, sondern als Knecht und Höriger des Dämons den Superlativ aller Erregung und Bewegung. Jeder Kampf aber um das Unerreichbare steigert sich zum Heldischen und alles Heroische wiederum notwendig empor in seine heiligste Konsequenz, in den Untergang.

Denn ganz unausweichlich muß eine solche fanatische Überspannung des Redlichkeitsverlangens, eine so unerbittliche und gefährliche Forderung wie jene Nietzsches, mit der Welt in einen mörderischen, selbstmörderischen Konflikt geraten. Alles Leben ist im letzten auf Konzilianz, auf Nachgiebigkeit angelegt (was Goethe, der in seinem Wesen das Wesen der Natur so weise wiederholte, frühzeitig erkannte und nachbildete). Es bedarf, um sich im Gleichgewicht zu erhalten, ebenso wie die Menschen der Mittelzustände, der Nachgiebigkeiten, der Kompromisse und Paktierungen. Und wer die durchaus unnaturhafte, die absolut anthropomorphe Forderung stellt, in dieser Welt nicht mitoberflächlich, nicht mitkonziliant, nicht mitnachgiebig zu sein, wer sich gewaltsam loslösen will aus dem durch Jahrtausende gewobenen Netz von Bindungen und konventionellen Vereinbarungen, tritt ungewollt in tödliche Gegnerschaft zur Gesellschaft und zur Natur. Je unerbittlicher ein einzelner die Forderung stellt, es »ganz rein haben zu wollen«, um so feindseliger stellt sich die Zeit gegen ihn ein. Ob er nun wie Hölderlin darauf besteht, das vorwiegend prosaische Leben einzig dichterisch zu führen, oder wie Nietzsche, die unendliche Verwirrung der irdischen Zusammenhänge »klar zu denken« – in jedem Fall bedeutet solches unweise, aber heroische Verlangen eine Empörung gegen Sitte und Regel und treibt den Verwegenen in unüberbrückbare Isoliertheit, in einen herrlichen, aber aussichtslosen Krieg. Was Nietzsche die »tragische Gesinnung« nennt, die Entschlossenheit zum Äußersten in irgendeinem Gefühl, greift über vom Geist in das Schicksal und erzeugt die Tragödie. Jeder, der vom Leben ein einzelnes Gesetz erzwingen will, der in diesem Chaos der Leidenschaften eine einzige, seine Leidenschaft durchsetzen will, wird einsam und als Einsamer vernichtet – ein törichter Schwärmer, wenn er unbewußt handelt, ein Held, wenn er die Gefahr kennt und sie dennoch herausfordert. Nietzsche, so leidenschaftlich er in seiner Redlichkeit ist, gehört zu den Wissenden. Er kennt die Gefahr, in die er sich begibt, er weiß vom ersten Augenblick, von der ersten geschriebenen Schrift an, daß sein Denken um ein gefährliches, ein tragisches Zentrum kreist, daß er ein gefährliches Leben lebt, aber – als der wahrhaft tragische Held des Geistes – liebt er das Leben nur um dieser Gefahr willen, die ihm das seine vernichtet. »Baut eure Häuser an den Vesuv«, ruft er den Philosophen zu, um sie zu höherer Schicksalsbewußtheit zu spornen, denn »der Grad der Gefährlichkeit, mit der ein Mensch mit sich selber lebt«, ist für ihn das einzige gültige Maß aller Größe. Nur wer das Ganze im erhabenen Spiel um das Ganze einsetzt, kann die Unendlichkeit gewinnen, nur wer sein eigenes Leben riskiert, seiner engen Erdenform den Wert einer Unendlichkeit geben. »Fiat veritas, pereat vita«, möge es uns das Leben kosten, wenn nur die Wahrhaftigkeit verwirklicht wird: die Leidenschaft ist mehr als das Dasein, der Sinn des Lebens mehr als das Leben selbst. Mit ungeheurer Macht reißt der Ekstatiker allmählich diesen Gedanken ins Große und weit über sein eigenes Schicksal hinaus: »Wir alle wollen lieber den Untergang der Menschheit als den Untergang der Erkenntnis. « Je gefahrvoller sein Schicksal wird, je näher schon in dem immer höheren Himmel des Geistes er den Blitz über sich hängen fühlt, um so herausfordernder, um so schicksalslustiger wird sein Verlangen nach diesem letzten Konflikt. »Ich kenne mein Los«, sagt er knapp vor dem Untergang, »es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissenskollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, und geheiligt war« – aber Nietzsche liebt diesen letzten Abgrund alles Wissens, und sein ganzes Wesen drängt dieser tödlichen Entscheidung entgegen. »Wieviel Wahrheit kann der Mensch ertragen?« das war die Frage des tapferen Denkers ein ganzes Leben hindurch – aber um dieses Maß der Erkenntnisfähigkeit ganz zu ergründen, muß er die Zone der Sicherheit überschreiten und die Stufe erreichen, wo der Mensch sie nicht mehr erträgt, wo die letzte Erkenntnis tödlich wird, wo das Licht zu nahe kommt und das Schauen blendet. Und gerade diese letzten Schritte empor sind die unvergeßlichsten und mächtigsten in der Tragödie seines Schicksals: nie war sein Geist heller, seine Seele leidenschaftlicher, sein Wort mehr Jubel und Musik, als da er sich wissend und wollend von der Höhe seines Lebens in die Tiefe der Vernichtung stürzt.

Wandlungen zu sich selbst

Die Schlange, welche sich nicht häuten kann,
geht zugrunde. Ebenso die Geister, welche man
verhindert, ihre Meinungen zu wechseln: sie
hören auf, Geist zu sein.

Die Menschen der Ordnung, so farbblind sie sonst dem Einzigartigen gegenüberstehen mögen, haben doch einen untrüglichen Instinkt für das ihnen Feindselige; lange bevor Nietzsche sich als der Amoralist, der Brandstifter ihrer umfriedeten Moralhürden enthüllte, haben sie ihn befeindet: ihre Witterung wußte mehr von ihm als er selbst. Er war ihnen unbequem als ewiger Außenseiter aller Kategorien, als Mischling von Philosoph, Philolog, Revolutionär, Künstler, Literat und Musikant – von der ersten Stunde ist er den Fachmenschen als Überschreiter der Grenzen verhaßt. Kaum veröffentlicht der Philologe sein Frühwerk, so prangert der Philologe Wilamowitz (er ist es geblieben ein halbes Jahrhundert, indes sein Gegner hinauswuchs in Unsterblichkeit) den Grenzüberschreiter bei den Kollegen an. Ebenso mißtrauen – und wie mit Recht! – die Wagnerianer dem leidenschaftlichen Panegyriker, die Philosophen dem Erkenner: noch im Puppenzustand des Philologen, noch als Unbeflügelter hat Nietzsche bereits die Fachlichen gegen sich. Nur das Genie, der Wissende um den Wandel, nur Richard Wagner liebt im Werdenden den zukünftigen Feind. Die andern aber, sie spüren und wittern an seinem weit ausholenden kühnen Gang sofort sein Unverläßlichsein, das Nicht-treu-Bleiben an der Überzeugung, jene maßlose Freiheit, die der Freieste gegen alles, also auch gegen sich selber fühlt. Und selbst heute, da seine Autorität sie duckt und einschüchtert, möchten die Fachmenschen gerne den »Prinzen Vogelfrei« wieder in ein System eingittern, in eine Lehre, eine Religion, in eine Botschaft. Sie möchten ihn starr haben wie sich selbst, an Überzeugungen gebunden, in eine Weltanschauung vermauert – gerade das, was er am meisten fürchtete. Ein Definitives, ein Unwidersprochenes möchten sie dem Wehrlosen aufzwingen und den Nomadischen (nun, da er die Welt des Geistes, die unendliche, erobert) festbannen in ein Haus, das er niemals hatte und niemals ersehnte.

Aber Nietzsche ist nicht zu bannen in eine Lehre, nicht festzunageln an eine Überzeugung – nie ist auch auf diesen Blättern das Schulmeisterkunststück versucht, aus einer erschütternden Tragödie des Geistes eine kalte »Erkenntnistheorie« zu exzerpieren – denn nie hat sich der leidenschaftliche Relativist aller Werte an irgendein Wort seiner Lippe, an eine Überzeugung seines Gewissens, an eine Leidenschaft seiner Seele dauernd gebunden oder gar verpflichtet erachtet. »Ein Philosoph braucht und verbraucht Überzeugungen«, antwortet er überlegen den Seßhaften, die stolz sich ihres Charakters und ihrer Überzeugungen rühmen. Jede seiner Meinungen hat er nur als Durchgang, ja sogar sein eigenes Ich, seine Haut, seinen Leib, sein geistiges Gebilde hat er immer nur als Vielzahl, als »Gesellschaftsbau vieler Seelen« empfunden: wörtlich sagt er einmal das allerkühnste Wort: »Es ist nachteilig für den Denker, an eine einzige Person gebunden zu sein. Wenn man sich selbst gefunden hat, muß man versuchen, sich von Zeit zu Zeit zu verlieren – und dann wieder zu finden

.« Sein Wesen ist fortwährende Verwandlung, Selbsterkennen durch Selbstverlust, also ewiges Werden, und niemals ein starres, ruhendes Sein: »Werde, der du bist« darum der einzige Lebensimperativ, der sich in seinen ganzen Schriften findet. Nun hat ja auch Goethe ähnlich gespottet, er sei immer schon in Jena, wenn man ihn in Weimar suche, und Nietzsches Lieblingsbild von der abgestreiften Schlangenhaut steht hundert Jahre früher in einem Goethe-Brief, aber doch, wie kontradiktorisch sind Goethes besonnene Entwicklung und Nietzsches eruptive Verwandlung! Denn Goethe verbreitert sein Leben um ein fixes Zentrum, so wie ein Baum um einen verborgenen inneren Schaft jährlich Ring an Ring setzt und, während er die äußere Rinde sprengt, immer fester, wuchtender, höher und weit ausschauender wird. Seine Entwicklung geschieht durch Geduld, durch eine stetige zähe, aufzunehmende Kraft, und bei allem Fortwachsen gleichzeitig durch Resistenz der Selbstverteidigung – die Nietzsches aber immer durch Gewalt, durch stoßhafte Vehemenz des Willens. Goethe erweitert sich, ohne je einen Teil seines Selbst preiszugeben, er braucht sich nie zu verleugnen, um sich zu steigern; Nietzsche dagegen, der Wandelhafte, muß immer sich ganz zerstören, um sich ganz wieder aufzubauen. Alle seine Selbstgewinnungen und Neuentdeckungen resultieren aus mörderischen Selbstzerätzungen und Glaubensverlusten, aus Dekomposition – um höher zu kommen, muß er immer einen Teil seines Ichs wegwerfen (indes Goethe nichts preisgibt und nur chemisch verwandelt und destilliert). Nichts bleibt in seinem wandelhaften Weltbild vom Früheren, vom Vergangenen gültig und unwidersprochen: darum sind auch seine einzelnen Phasen gar nicht brüderhaft, sondern feindselig gegeneinandergestellt. Immer ist er auf dem Weg nach Damaskus; nicht bloß eine einmalige Umwendung seines Glaubens, seines Gefühls wird ihm zuteil, sondern unzählige, denn jedes neue geistige Element dringt bei ihm nicht bloß ins Geistige ein, sondern bis ins Eingeweide: moralische und intellektuelle Erkenntnisse formen sich bei ihm chemisch in andern Blutlauf, anderes Gefühl, anderes Denken um. Als verwegener Spieler setzt Nietzsche (wie Hölderlin einmal von sich fordert) »die ganze Seele der zerstörenden Macht der Wirklichkeit aus«, und von allem Anfang an haben Erfahrung und Eindrücke auf ihn diese Form vehementer und völlig vulkanischer Einbrüche. Wie er als junger Student in Leipzig Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung« liest, kann er zehn Tage nicht schlafen, sein ganzes Wesen wird von einem Zyklon umgewühlt, der Glaube, auf den er sich stützt, stürzt schmetternd ein; und als sich der geblendete Geist allmählich aus dem Taumel ernüchtert, findet er eine vollkommen veränderte Weltanschauung, eine neue Lebensauffassung. Ebenso wird die Begegnung mit Richard Wagner zum leidenschaftlichen Liebeserlebnis, das die Spannkraft seines Gefühls ins Unendliche erweitert. Von Triebschen nach Basel zurückgekehrt, hat sein Leben einen neuen Sinn: der Philologe in ihm ist über Nacht abgestorben, die Perspektive von der Vergangenheit, die Historie, hat sich in die Zukunft verschoben. Und eben weil von dieser geistigen Liebesglut die ganze Seele durchdrungen war, reißt dann die Loslösung von Wagner eine klaffende, beinahe tödliche Wunde, die sich nie mehr schließt und die völlig vernarbt. Immer stürzt wie bei einem Erdbeben bei jeder dieser geistigen Erschütterungen der ganze Bau seiner Überzeugungen in Trümmer zusammen, immer wieder muß Nietzsche sich von Grund aus neu gestalten. Nichts wächst sanft, still und unhörbar, naturhaft organisch in ihm empor, nie dehnt und spannt sich in heimlicher Arbeit das innere Wesen zu breiterem Stand: alles, selbst die eigenen Ideen, schlagen in ihn hinein »wie Blitzschläge«, immer muß eine Welt in ihm vernichtet sein, damit sein Kosmos neu entstehe. Diese Schlagwetterkraft der Idee bei Nietzsche ist ohne Beispiel: »Ich will«, so schreibt er einmal, »von der Expansion des Gefühls erlöst sein, die solche Produktionen mit sich führen; es ist mir öfter der Gedanke gekommen, daß ich an so etwas plötzlich sterben werde.« Und tatsächlich stirbt immer etwas bei seiner geistigen Erneuerung ab, immer wird etwas im innern Gewebe zerrissen, gleichsam als ob ein stählernes Messer hineingefahren wäre, das alle früheren Verbindungen zertrennte. Nie vielleicht hat sich ein Mensch so entsetzlich qualvoll entwickelt, so aus sich selber blutig herausgeschunden. Alle seine Bücher sind darum eigentlich nichts anderes als die klinischen Berichte dieser Operationen, die Methoden seiner Vivisektionen, eine Art Geburtshelferlehre des freien Geistes. »Meine Bücher reden nur von meinen Überwindungen« – sie sind die Geschichte seiner Verwandlungen, seiner Kindbetten und Schwangerschaften, seiner Tode und Neuauferstehungen, die Geschichte der gegen das eigene Ich rücksichtslos geführten und gerichteten Kriege, Exekutionen und Züchtigungen, und in summa eine Biographie all der Menschen, die Nietzsche die zwanzig Jahre seines geistigen Lebens gewesen und geworden ist.

Das unvergleichbar Eigentümliche dieser fortwährenden Verwandlungen Nietzsches ist nun, daß seine Lebenslinie im gewissen Sinne eine rückläufige Bewegung darstellt. Nehmen wir Goethe – immer wieder ihn, die sinnfälligste aller Erscheinungen – als den Prototyp einer organischen Natur, die geheimnisvoll mit dem Weltlauf im Einklange steht, so sehen wir, daß die Formen seiner Entwicklung symbolisch die Lebensalter spiegeln. Goethe ist überschwenglich-feurig als Jüngling, besonnen-tätig als Mann, begrifflich-klar als Greis: der Rhythmus seines Denkens entspringt organisch der Lebenstemperatur seines Blutes. Sein Chaos ist im Anfang (wie immer beim Jüngling), seine Ordnung am Ende (wie immer beim Greis), er wird konservativ, nachdem er Revolutionär gewesen, wissenschaftlich aus anfänglichem Lyrismus, selbstbewahrend nach anfänglicher Selbstverschwendung. Nietzsche geht nun den umgekehrten Weg wie Goethe; strebt jener zu immer fülligerer Bindung seines Wesens, so drängt er zu immer leidenschaftlicherer Auflösung: wie alle dämonischen Charaktere wird er immer hitziger, unduldsamer, ungestümer, revolutionärer, chaotischer mit den fortschreitenden Jahren. Schon die äußere Lebenshaltung deutet den vollkommenen Rücklauf gegen gewohnte Entwicklung. Nietzsche beginnt damit, alt zu sein. Mit vierundzwanzig Jahren, während seine Kommilitonen noch Studentenulk treiben, mit den breiten Biergläsern Zerevis reiben und im Gänsemarsch auf den Straßen herummarschieren, ist Nietzsche schon wohlbestallter Professor, wirklicher Ordinarius der Philologie an der berühmten Universität Basel. Seine wahren Freunde sind damals die fünfzig- und sechzigjährigen Menschen, die großen und greisen Gelehrten, wie Jakob Burckhardt und Ritschl, sein Intimus, der ernste und erste Künstler der Zeit: Richard Wagner. Mit Gewalt unterdrückt er seine dichterischen Kräfte, den Aufstrom der Musik: wie nur irgendein verknöcherter Hofrat sitzt er gebückt über griechischen Handschriften, verfaßt Indices, begnügt sich an der Revidierung verstaubter Pandekten. Der Blick des beginnenden Nietzsche ist vollkommen nach rückwärts gewandt in die »Historie«, in Totes und Gewesenes, seine Lebensfreude vermauert in eine Alte-Männer-Manie, seine Heiterkeit, sein Übermut in eine professorale Würde, sein Blick in Bücher und gelehrte Probleme. Mit siebenundzwanzig Jahren bricht die »Geburt der Tragödie« einen ersten geheimen Stollen in die Gegenwart: noch trägt aber der Verfasser die ernste Maske der Philologie auf seinem geistigen Gesicht, und nur unterirdisch ist ein erstes Flackern darin von zukünftigen Dingen, ein erstes Entbrennen der Liebe zur Gegenwart, der Leidenschaft zur Kunst. Mit etwa dreißig Jahren, zu der Zeit, wo der normale Mensch seine bürgerliche Karriere erst inauguriert, in dem Alter, wo Goethe Staatsrat, Kant und Schiller Professoren wurden, hat Nietzsche seine Karriere bereits hinter sich geworfen und das Katheder der Philologie aufatmend verlassen. Es ist sein erster Abschluß gegen sich selbst, sein Abstoß in die eigene Welt, seine erste innere Umschaltung, und in diesem Aufhören ist des Künstlers eigentlicher Anfang. Der wahre Nietzsche beginnt mit seinem Einbruch in die Gegenwart, der tragische Nietzsche, der unzeitgemäße, mit seinem Blick in die Zukunft, mit seiner Sehnsucht nach dem neuen, dem kommenden Menschen. Dazwischen liegen ununterbrochene Schlagwetter von Verwandlungen, vollkommene Umstülpungen des innersten Wesens, der brüske Windwechsel von Philologie zur Musik, vom Ernst zur Ekstase, von sachlicher Geduld zum Tanz. Mit sechsunddreißig Jahren ist Nietzsche Prinz Vogelfrei, Immoralist, Skeptiker, Dichter und Musikant, »besser jung« als je in seiner Jugend, frei von aller Vergangenheit und eigenen Wissenschaft, frei schon von der Gegenwart und ganz Geselle des jenseitigen, des zukünftigen Menschen. Statt daß also die Jahre der Entwicklung wie bei dem normalen Künstler sein Leben stabilisieren, verwurzelter, ernster, zielhafter machen, lösen sie es nur leidenschaftlich von allen Bindungen und Beziehungen los. Ungeheuer, unvergleichbar ist das Tempo dieser Verjugendlichung. Mit vierzig Jahren hat Nietzsches Sprache, seine Gedanken, sein Wesen mehr rote Blutkörperchen, mehr frische Farbe, Verwegenheit, Leidenschaft und Musik als mit siebzehn, und der Einsame von Sils-Maria geht leichteren, beschwingteren, tanzhafteren Schrittes durch sein Werk als der frühere vierundzwanzigjährige, frühalte Professor. Bei Nietzsche intensifiziert sich also das Lebensgefühl, statt sich zu beruhigen: immer geschwinder, freier, flughafter, vielfältiger, spannkräftiger, boshafter, zynischer werden seine Verwandlungen; nirgends findet er mehr einen »Standpunkt« für seinen eilenden Geist. Kaum hat er sich wo eingewachsen, so »krümmt und bricht sich die Haut«: schließlich kommt er seinem eigenen Leben gar nicht mehr nach mit seinem Sich-selbst-Erleben, und die Veränderungen geraten allmählich in ein kinematographisches Tempo, wo das Bild ständig zittert und verflirrt. Gerade die ihn am nächsten zu kennen meinen, die Freunde seiner früheren Lebensalter, von denen fast alle festgenagelt sitzen in ihrer Wissenschaft, ihrer Meinung, ihrem System, staunen ihn immer fremder von Begegnung zu Begegnung an. Erschreckt sehen sie in seinem immer mehr verjugendlichten geistigen Gesicht neue Züge, die auf nichts Früheres zurückdeuten; und ihm selbst, dem immerzu Verwandelten, kommt es geradezu gespenstig vor, wenn er seinen eigenen Titel hört, wenn er mit jenem »Professor Friedrich Nietzsche in Basel«, dem Philologen, »verwechselt« wird, mit diesem greisen und weisen Mann, der er selbst einmal vor zwanzig Jahren gewesen zu sein sich nur mühsam erinnert! Vielleicht hat noch nie jemand mit solchem Radikalismus alles von sich weggelebt wie Nietzsche, alles aus sich herausgestoßen, was von früheren Rudimenten und Sentiments noch zurückgeblieben ist: darum auch sein furchtbares Alleinsein in den letzten Jahren. Denn alle Verbindungen mit dem Einst hat er abgerissen; und um sich Neuem zu verbinden, dazu ist das Tempo seiner letzten Jahre, seiner letzten Verwandlungen doch ein zu hitziges. Er saust an allen Menschen, an allen Erscheinungen gleichsam nur vorüber; und je näherer sich selber kommt oder zu kommen scheint, desto hitziger wird seine Gier, sich wieder zu entweichen. Immer radikaler werden die Verfremdungen seines Wesens, immer brüsker seine Sprünge vom Nein zum Ja, seine elektrischen Umschaltungen der inneren Kontakte: er verbrennt sich in unablässigen Selbstaufzehrungen, und sein Weg ist eine einzige Flamme.

Aber in dem gleichen Maße, als die Verwandlungen sich beschleunigen, werden sie auch gewaltsamer und schmerzhafter. Nietzsches erste »Überwindungen« bedeuten bloß Abschälung knabenhafter, jünglingshafter Gläubigkeiten, mitgelernter, aus der Schule übernommener Autoritätsmeinungen: sie waren leicht hinter sich geworfen wie eine abgesprungene trockene Schlangenhaut. In je tieferem Sinne er aber Psychologe wird, in um so tiefere Schicht seiner innern Substanz muß er mit dem Messer hinein: je subkutaner, durchnervter, blutdurchdrungener, je mehr vom eigenen Plasma geformter die Überzeugungen werden, um so mehr ist brutale Gewaltsamkeit, Blutverlust und Entschlossenheit vonnöten: es wird »Selbsthenkerdienst«, Shylockarbeit, Schnitt ins offene Fleisch. Schließlich kommen die Selbstbloßlegungen bis in das innerste Erdreich des Gefühls heran, sie werden gefährliche Operationen; die Amputation des Wagner-Komplexes vor allem ist ein solcher schneidendster, fast tödlicher Eingriff in das Innerste seines Leibes, hart an der Herznaht, ein Selbstmord fast, und in dem Grausam-Gewaltsamen seiner Plötzlichkeit eine Art Lustmord auch, denn in liebender Umschlingung, in der Sekunde intimster Annäherung vergewaltigt und erdrosselt sein wilder Wahrheitstrieb die ihm nächste und geliebteste Gestalt. Aber je gewaltsamer, desto lieber: je mehr Blut, je mehr Schmerz, je mehr Grausamkeit Nietzsche eine seiner »Überwindungen« kostet, um so lustvoller genießt sein Ehrgeiz die Probe auf die eigene Willenskraft. Allmählich wird der Selbstzerstörungstrieb Nietzsches geistige Passion: »Ich kenne die Lust am Vernichten in einem Grade, die meiner Kraft zum Vernichten gemäß ist.« Aus dem bloßen Sichverwandeln wächst Lust, sich zu widersprechen, sein eigener Widerpart zu sein: einzelne Aussprüche seiner Bücher schlagen einander brüsk ins Gesicht, jedem Nein setzt der leidenschaftliche Proselyt seiner Überzeugungen herrisch ein Ja, jedem Ja ein Nein entgegen – unendlich reckt er sich aus, um die Pole seines Wesens bis ins Unendliche zu spannen und die elektrische Spannung zwischen diesen beiden äußersten Enden als das wahre Leben des Geistes zu spüren. Immer sich entfliehen, immer sich erreichen – »die sich selbst entfliehende Seele, die sich im weitesten Kreise einholt« –, das treibt am Ende in eine rasende Hitzigkeit hinein, und diese Übertreibung wird sein Verhängnis. Denn gerade, wie er die Form seines Wesens bis ins Äußerste dehnt, birst die Spannung des Geistes: der feurige Kern, die dämonische Urgewalt bricht durch, und das urmächtige Element vernichtet mit einem einzigen vulkanischen Stoß die großartige Folge der Gestalten, die der bildnerische Geist sich aus seinem eigenen Blut und Leben bis hinein in die Unendlichkeit gejagt.

Entdeckung des Südens

Wir haben Süden um jeden Preis,
helle, harmlose, muntere, glückliche
und zärtliche Töne nötig.

»Wir Luftschiffer des Geistes«, sagt Nietzsche einmal stolz, um diese einzige Freiheit des Denkens zu rühmen, das im unbegrenzten, unbetretbaren Element sich seine neuen Wege findet. Und wirklich, die Geschichte seiner geistigen Fahrten, Umwendungen und Erhebungen, diese Jagd ins Unendliche, spielt durchaus im oberen, im geistig unbegrenzten Raum: wie ein Fesselballon, der ständig Last und Ballast abwirft, wird Nietzsche durch seine Entschwerungen, seine Loslösungen immer freier. Mit jedem abgekappten Tau, mit jeder abgeworfenen Abhängigkeit hebt er sich immer herrlicher auf zu weiterem Umblick, zu umfassender Schau, zu zeitloser, persönlicher Perspektive. Es gibt da unzählige Veränderungen der Richtung, ehe das Lebensschiff in den großen Sturm gerät, der es zerschellt: kaum kann man sie aufzählen und unterscheiden. Nur ein besonders schicksalswendender Augenblick der Entscheidungen hebt sich haarscharf und sinnlich im Leben Nietzsches ab: es ist gleichsam die dramatische Minute, da das letzte Tau abgelöst wird und das Luftschiff vom Festen ins Freie, vom Schweren ins unbegrenzte Element sich erhebt. Diese Sekunde in Nietzsches Leben bedeutet der Tag, da auch er den Standort verläßt, die Heimat, die Professur, die Profession, um nie mehr anders als im vorüberstreifenden, verächtlichen Fluge – ewig nun in anderem freieren Element – nach Deutschland zurückzukehren. Denn alles, was bis zu jener Stunde geschieht, ist für den wesentlichen, den welthistorischen Nietzsche nicht sonderlich belangvoll: die ersten Wandlungen bedeuten nichts als Vorbereitungen zu sich selbst. Und ohne jenen entscheidenden Abstoß in die Freiheit hinein wäre er bei aller Geistigkeit doch ein Gebundener geblieben, eine professorale fachmännische Natur, ein Erwin Rhode, ein Dilthey, einer jener Männer, die wir in ihrem Kreise ehren, ohne sie doch für unsere eigene geistige Welt als eine Entscheidung zu fühlen. Erst der Durchbruch der dämonischen Natur, die Entbindung der Denkleidenschaft, das Urfreiheitsgefühl macht Nietzsche zur prophetischen Erscheinung und verwandelt sein Schicksal in einen Mythus. Und da ich hier

sein Leben nicht als eine Historie, sondern als ein Schauspiel, durchaus als Kunstwerk und Tragödie des Geistes zu bilden versuche, beginnt für mich seine Lebenstat erst in dem Augenblick, da der Künstler in ihm beginnt und sich seiner Freiheit besinnt. Nietzsche im philologischen Puppenstand ist ein Philologenproblem: erst der Beflügelte, der »Luftschiffer des Geistes« gehört der Gestaltung.

Diese erste Entscheidung Nietzsches auf der Argonautenfahrt zu sich selbst ist der Süden: und sie bleibt die Verwandlung seiner Verwandlungen. Auch in Goethes Leben bedeutet die italienische Reise ähnlich scharfe Zäsur; auch er flüchtet nach Italien zu seinem wahren Selbst, aus Gebundenheiten in eine Freiheit, aus bloßem Weiterleben ins Erlebnis. Auch über ihn bricht beim Überschreiten der Alpen aus dem ersten Glanz der italienischen Sonne eine Verwandlung mit eruptiver Gewalt herein: »Mir ist«, schreibt er noch im Trento, »als ob ich von einer Grönlandfahrt zurückkehrte.« Auch er ein »Winterkranker«, der in Deutschland unter dem »bösen Himmel leidet«, auch er, eine durchaus auf Licht und höhere Helligkeit angelegte Natur, fühlt sofort ein elementares Aufschießen innersten Gefühls, ein Aufgelockert-, ein Losgelöstsein, einen Drang neuer, persönlichster Freiheit beim Betreten italienischen Bodens. Aber Goethe erlebt das Wunder des Südens zu spät, erst in seinem vierzigsten Jahr; die Kruste ist schon hart um seine, im letzten planhafte und besonnene Natur: ein Teil seines Wesens, seines Denkens ist zurückgeblieben in Weimar bei Hof und Haus und Würde und Amt. Er ist bereits zu stark in sich selbst kristallisiert, um noch jemals von irgendeinem Element vollkommen aufgelöst oder verwandelt zu werden. Sich überwältigen zu lassen, wäre gegen seine organische Lebensform: Goethe will immer Herr seines Schicksals bleiben, von den Dingen nur genau so viel nehmen, als er ihnen erlaubt (indes Nietzsche, Hölderlin, Kleist, die Verschwender, sich immer ungeteilt mit ganzer Seele jedem Eindruck hingeben, beglückt, von ihm ganz wieder ins Strömende, ins Feuerflüssige aufgelöst zu werden). Goethe findet in Italien, was er sucht, und nicht viel mehr: er sucht tiefere Zusammenhänge (Nietzsche höhere Freiheiten), die großen Vergangenheiten (Nietzsche die große Zukunft und die Loslösung von aller Historie); er forscht eigentlich nach den Dingen unter der Erde: der antiken Kunst, dem römischen Geist, den Mysterien von Pflanze und Gestein (indes Nietzsche sich trunken und gesund blickt an den Dingen über sich: dem saphirnen Himmel, dem bis ins Unendliche klaren Horizont, der Magie des hingeworfenen Lichts, das ihm in alle Poren dringt). Das Erlebnis Goethes ist darum vor allem zerebral und ästhetisch, jenes Nietzsches vital: bringt jener aus Italien vor allem einen Kunststil zurück, so entdeckt sich Nietzsche dort einen Lebensstil. Goethe wird bloß befruchtet, Nietzsche umgepflanzt und erneuert. Auch der Weimarer fühlt zwar das Bedürfnis nach Erneuerung (»Gewiß, es wäre besser, ich käme gar nicht wieder, wenn ich nicht wiedergeboren zurückkommen kann«), aber er hat nur wie jede schon halberstarrte Form die Fähigkeit für »Eindrücke«. Für eine so vollkommene Verwandlung bis ins letzte aber wie jene Nietzsches ist der Vierzigjährige eben schon zu durchgestaltet, zu eigenmächtig, und vor allem unwillig: sein starker namhafter Selbstbehauptungstrieb (der ja in späteren Jahren ganz zu Starre und Panzer erfrostet) gibt der Wandlung neben der Beharrung nur gemessenen Raum, er nimmt, der Weise und Diätetische, nur genau so viel an, als er meint, daß es seiner Natur förderlich sein könne (indes ein dionysischer Charakter von allem nimmt bis zum Exzeß und zur Gefahr). Goethe will sich nur bereichern an den Dingen, niemals sich aber an sie bis zur Neige, zum Umgewandeltwerden verlieren. Darum ist auch sein letztes Wort an den Süden bedächtig messender, sorgsam abwägender Dank und im Letzten doch Abwehr: »Unter den löblichen Dingen, die ich auf dieser Reise gelernt habe«, lautet sein Endwort über die italienische Reise, »ist auch dies, daß ich auf keine Weise mehr allein sein und nicht außerhalb des Vaterlandes leben kann.«

Diese wie eine Münze hartgeprägte Formel, man braucht sie nur umzuwenden und hat in nuce Nietzsches Erlebnis des Südens. Sein Fazit ist der glatte Gegensatz zu Goethes Resultat, nämlich, daß er von nun ab nur mehr allein und nur mehr außerhalb des Vaterlandes zu leben vermag: während Goethe aus Italien genau an den Punkt seines Ausganges zurückkehrt wie von einer belehrenden und anregenden Reise, und in Koffer und Kisten, in Herz und Hirn Wertvolles in ein Heim, in sein Heim, wiederbringt, ist Nietzsche endgültig expatriiert und bei sich selber angelangt, »Prinz Vogelfrei«, selig heimatlos, ohne Heim und Habe, für alle Zeit losgelöst von jeder »Vaterländerei«, von jeder »patriotischen Einklemmung«. Von nun an gibt es für ihn keine andere Perspektive mehr als die Vogelschau des »guten Europäers«, jener »wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch«, deren unausbleibliches Kommen er atmosphärisch fühlt und in der er sich einzig wohnhaft macht – in einem jenseitigen, einem zukünftigen Reich. Nicht, wo er geboren war – Geburt ist Vergangenheit, »Historie« –, sondern wo er zeugt, wo er selbst gebiert, ist für Nietzsche der geistige Mensch zu Hause: »Ubi pater sum, ibi patria« – »Wo ich Vater bin, wo ich zeuge, ist meine Heimat«, nicht wo er gezeugt wurde. Das wird die unschätzbare, unverlierbare Gabe der Südenfahrt an Nietzsche, daß für ihn nun die ganze Welt gleichzeitig Ausland und Heimat wird, daß er jenen Vogelschaublick, jenen hellen, niederstoßenden Raubvogelblick von einem Darüber behält, einen Blick nach allen Seiten, nach überall offenen Horizonten (indes Goethe sich nach seinen Worten durch das »Umstellen mit geschlossenen Horizonten« gefährdete, freilich aber auch bewahrte). Mit seiner Übersiedlung ist Nietzsche für immer jenseits von allen seinen Vergangenheiten, er hat sich endgültig entdeutscht, so wie er sich endgültig entphilologisiert, entchristlicht, entmoralisiert; und nichts charakterisiert seine unbändig fortschreitende exzessive Natur so sehr, als daß er niemals mehr einen Schritt oder auch nur einen sehnsüchtig-wehmütigen Blick ins Überwundene zurückgetan hat. Der Seefahrer ins Zukunftsland ist viel zu beglückt, »mit dem schnellsten Schiff nach Kosmopolis« gefahren zu sein, als daß es ihn jemals noch nach seiner einsprachigen, einseitigen, einförmigen Heimat gelüstet: darum verurteilt sich jeder Versuch, ihn zurückzudeutschen, als eine (jetzt sehr übliche) Gewaltsamkeit. Aus der Freiheit gibt es für den Erzfreien kein Zurück mehr; seit er die Klarheit des italienischen Himmels über sich erlebt, erschauert ihm die Seele vor jeder Art »Verdüsterung«, mag sie nun von Wolkentrübe, Hörsaal, Kirche oder Kaserne kommen; seine Lungen, seine atmosphärischen Nerven vertragen keinerlei Art Norden, keine Deutschheit, keine Dumpfheit mehr: er kann nicht mehr leben bei geschlossenen Fenstern, bei zugemachten Türen, im Halbdunkel, in einer geistigen Dämmerung und Vernebelung. Wahr sein ist für ihn von nun ab klar sein – weit sehen, scharfe Konturen ziehen bis in die Unendlichkeit; und seit er dies Licht, dieses elementare, scheidende, schneidende Licht des Südens mit allem Rausch seines Blutes vergöttert, hat er dem »eigentlichen deutschen Teufel, dem Genius oder Dämon der Unklarheit«, für immer entsagt. Seine fast gastronomische Reizbarkeit empfindet, seit er im Süden, seit er im »Ausland« lebt, alles Deutsche als zu schwere, zu drückende Kost für sein aufgeheitertes Gefühl, als eine »Indigestion«, ein Nie-fertig-Werden mit den Problemen, ein Nachschleppen und Wälzen der Seele durch das ganze Leben hin: das Deutsche ist ihm nicht mehr und niemals mehr frei und leicht genug. Selbst seine einst geliebtesten Werke verursachen ihm jetzt eine Art geistigen Magendrucks: in den »Meistersingern« spürt er das Schwere, Verschnörkelte, Barocke, die gewaltsame Anstrengung zur Heiterkeit, bei Schopenhauer die verdüsterten Eingeweide, bei Kant den hypokritischen Beigeschmack von Staatsmoralin, bei Goethe die Beschwertheit mit Amt und Würde, die gewaltsam abgesperrten Horizonte. Aber es ist nicht nur Unbehagen des Geistigen an der damaligen (wirklich am tiefsten Punkte angelangten) geistigen Verfassung des neuen, allzu neuen Deutschland, nicht nur politische Erbitterung über das »Reich« und alle jene, die dem Kanonenideal die deutsche Idee geopfert haben, nicht bloß ästhetischer Abscheu vor dem Plüschmöbel-Deutschland und Siegessäulen-Berlin. Seine neue Südlehre verlangt nun von allen Problemen, und nicht bloß den nationalen, von der ganzen Lebenshaltung klare, freiströmende, sonnenhafte Helligkeit, »Licht, nur Licht auch über schlimme Dinge«, höchste Lust durch höchste Deutlichkeit – eine »gaya scienza«, eine heitere Wissenschaft, nicht die mürrisch-tragische des »Lernvolkes«, die deutsche geduldige, sachliche, professoral-ernste Bildungsgelehrsamkeit, die nach Stube und Hörsaal muffelt. Nicht aus dem Geist, nicht aus der Intellektualität, sondern aus Nerv, Herz, Gefühl und Eingeweide kommt seine endgültige Absage an den Norden, an Deutschland, an die Heimat; sie ist Aufschrei von Lungen, die endlich ihre freie Luft spüren, Jubel eines Entlasteten, der endlich das »Klima seiner Seele« gefunden hat: die Freiheit. Darum dies sein Jauchzen aus dem Innersten, der boshafte Jubelschrei: »Ich entsprang!«

Gleichzeitig mit dieser definitiven Entdeutschung verhilft ihm der Süden zu seiner vollkommenen Entchristlichung. Nun, da er, wie eine Lazerte sich der Sonne freuend und die Seele durchleuchtet bis in ihr letztes Nervengefäß hinab, sich zurückfragt, was ihn so lange Jahre verdüsterte, was seit zweitausend Jahren die ganze Welt so zag, ängstlich, gedrückt, so feige schuldbewußt gemacht, die heitersten, natürlichsten, kraftvollsten Dinge und ihr Kostbarstes, das Leben selbst, so entwertet habe, erkennt er im Christentum, im Jenseitsglauben das Verdüsterungsprinzip der modernen Welt. Dieses »übelriechende Judain von Rabinismus und Aberglauben« hat die Sinnlichkeit, die Heiterkeit der Welt durchsetzt und betäubt, es ist für fünfzig Generationen das gefährlichste Narkotikum geworden, in dem alles, was früher wahrhaft Kraft gewesen, in moralische Lähmung verfiel. Nun aber – und hier empfindet er sein Leben mit einem Mal als Mission –, nun muß endlich der Kreuzzug der Zukunft gegen das Kreuz beginnen, die Wiedereroberung des heiligsten Menschenlandes: unseres Diesseits. Das »Übergefühl des Daseins« hat ihn den leidenschaftlichen Blick für alles Diesseitige, Animalisch-Wahre und Unmittelbare gelehrt; seit dieser Entdeckung weiß er erst, wie lange das »gesunde, rote Leben« ihm von Weihrauch und Moral verschleiert gewesen war. Im Süden, in jener »großen Schule der Genesung im Geistigen und Sinnlichen«, hat er die Fähigkeit des Naturhaften, des schuldlos sich freuenden, des spielhaft heiteren Lebens ohne Winterfurcht und Gottesfurcht erlernt, den Glauben, der zu sich selbst ein herzhaftes, schuldloses Ja sagt. Aber auch dieser Optimismus kommt von oben, freilich nicht von einem verborgenen Gott, sondern vom offensten, vom seligsten Geheimnis, von Sonne und Licht. »In Petersburg wäre ich Nihilist. Hier glaube ich, wie die Pflanze glaubt, an die Sonne.« Alle seine Philosophie ist unmittelbar aus erlöstem Blut aufgegoren: »Bleiben Sie südlich, sei es nur dem Glauben nach«, ruft er einem Freunde zu. Wem aber Helligkeit so sehr Heilung geworden, dem wird sie auch heilig: in ihrem Namen beginnt er den Krieg, jenen furchtbarsten seiner Feldzüge gegen alles auf Erden, was die Helligkeit, die Heiterkeit, die Klarheit, die nackte Ungebundenheit und sonnige Rauschkraft des Lebens verstören will. »... mein Verhältnis zur Gegenwart ist nunmehr Krieg bis aufs Messer.«

Mit diesem Mut kommt aber auch Übermut in dies krankhaft unbewegt hingelebte, hinter verhangenen Fenstern verbrachte Philologenleben, eine Aufstörung, Aufjagung des erstarrten Blutkreislaufes: bis in unterste Nervenenden, durchfiltert von Licht, taut die kristallhafte, klare Form der Gedanken beweglich auf, und im Stil, in der plötzlich aufschießenden und beweglichen Sprache, glitzert Sonne mit diamantenen Funken. In der »Sprache des Tauwinds«, wie er selbst vom ersten seiner Südbücher sagte, ist alles geschrieben: ein aufbrechender, gewaltsam sich befreiender Ton ist darin, wie wenn eine Kruste Eis zerbricht und schon weich, mit einer schmeichlerischen, spielerischen Wollust, der Frühling über die Landschaft rinnt. Licht bis hinab in die letzte Tiefe, Klarheit bis in das kleinste, sprühende Wort, Musik in jeder Pause – und über dem Ganzen jener halkyonische Ton, jener Himmel voller Helligkeit. Welche Verwandlung des Rhythmus von der früheren, der zwar schön geschwungenen, kraftvoll gewölbten, aber doch steinernen, und dieser neuen, klingend aufgesprungenen Sprache, dieser biegsam übermütigen, ganz freudigen Sprache, die gern alle Glieder nützt und reckt, die – wie die Italiener – gestikuliert mit tausend mimischen Zeichen, nicht bloß wie der Deutsche mit unbewegtem, unbeteiligtem Leib spricht. Es ist nicht das würdige, sonore, schwarzbefrackte Humanistendeutsch mehr, dem der neue Nietzsche seine frei geborenen, auf Spaziergängen wie Schmetterlinge zugeflogenen Gedanken anvertraut – seine Freiluftgedanken wollen eine Freiluftsprache, eine sprungleichte, geschmeidige Sprache mit einem turnerisch nackten, gewandten Leib und lockeren Gelenken, eine Sprache, die laufen, springen, sich hochheben, sich ducken, sich spannen und alle Tänze tanzen kann vom Reigen der Schwermut bis zur Tarantella der Tollheit – die alles tragen und alles sagen kann, ohne Lastträgerschultern zu haben und einen Schwermännerschritt. Alles Haustierhaft-Geduldige, alles Gemächlich-Würdige ist vom Stil gleichsam weggeschmolzen, er wirbelt sich von Spaßen zu höchsten Heiterkeiten sprunghaft empor und hat doch wieder in anderen Augenblicken ein Pathos wie der dröhnende Ton einer uralten Glocke. Er schwillt von Gärung und Kraft, er ist champagnisiert mit vielen kleinen, blinkenden aphoristischen Perlen und kann doch überschäumen mit plötzlichem rhythmischem Schwall. Er hat ein goldenes Licht von Feierlichkeit wie alter Falerner und eine magische Durchsichtigkeit bis zum untersten Grund, eine Durchsonntheit ohnegleichen im heiteren, blitzblanken Fluß. Vielleicht hat sich niemals die Sprache eines deutschen Dichters so rasch, so plötzlich, so vollkommen verjüngt, und gewiß ist keine andere dermaßen von Sonne durchglüht, so weinhaft, so südhaftig, so göttlich tanzleicht, so heidnisch frei geworden. Nur im Bruderelement van Goghs erleben wir noch einmal dies Wunder eines solchen plötzlichen Sonneneinbruchs in einen Nordmenschen: nur der Übergang von dem braunen, schwermassigen, trüben Kolorit seiner holländischen Jahre zu den brennweißen, schrillen, grellen, klirrenden Farben in der Provence, nur dieser Einbruch äußerster Lichtbesessenheit in einen halb schon geblendeten Sinn ist mit der Durchleuchtung zu vergleichen, die Nietzsche in seinem Wesen vom Süden geschieht. Nur bei diesen beiden Fanatikern der Verwandlung ist dieses Sich-Berauschen, dies Einsaugen des Lichts mit vampirischen Kräften der Inbrunst so rasch und unerhört. Nur die Dämonischen erleben das Wunder des glühenden Aufgeschlossenseins bis in die letzte Ader ihrer Farbe, ihres Klanges, ihrer Worte hinab.

Aber Nietzsche wäre nicht aus dem Geblüt der Dämonischen, könnte er an irgendeinem Rausche sich schon satt trinken: so sucht er zum Süden, zu Italien, noch immer einen Komparativ, ein »Überlicht« für das Licht, eine »Überklarheit« für die Klarheit. Wie Hölderlin sein Hellas nach »Asia«, also ins Orientalische, ins Barbarische allmählich hinüberdrängt, so funkelt am Ende Nietzsches Leidenschaft einer neuen Ekstase des Tropischen, des »Afrikanischen« entgegen. Er will Sonnenbrand statt Sonnenlicht, Klarheit, die grausam schneidet, statt bloß deutlich zu umrunden, ein Spasma der Lust statt der Heiterkeit: unendlich bricht aus ihm die Gier, diese feinen Aufstachelungen seiner Sinne ganz in Rausch zu verwandeln, den Tanz in Flug, sein heißes Daseinsgefühl bis zum Zustand des Weißglühens zu steigern. Und wie dies erhöhte Begehren in seinen Adern aufschwillt, genügt seinem unbändigen Geist nicht mehr die Sprache. Auch sie wird ihm zu eng, zu stoffhaft, zu schwer. Er braucht neues Element für den Dionysos-Tanz, der trunken in ihm begonnen, eine höhere Ungebundenheit als das gebundene Wort – so greift er zurück in sein urtümliches Element, in die Musik. Musik des Südens, das ist seine letzte Sehnsucht, eine Musik, wo die Klarheit melodisch wird und der Geist ganz flügelhaft. Und er sucht sie und sucht sie, diese diaphane südliche Musik, in allen Zeiten und Zonen, ohne sie zu finden – bis er sie sich selber erfindet.

Flucht zur Musik

Heiterkeit, güldene, komm!

Die Musik war von Anfang an in Nietzsche gewesen, nur immer latent, immer von dem stärkeren Willen nach geistiger Rechtfertigung bewußt beiseite geschoben. Der Knabe schon begeistert durch kühnes Improvisieren seine Freunde, und in den Jugendtagebüchern finden

sich zahlreiche Hinweise auf eigene Komposition. Aber je entschlossener sich der Student zur Philologie und dann zur Philosophie bekennt, um so mehr dämmt er die unterirdisch nach elementarem Ausbruch drängende Macht seiner Natur ab. Musik, das bleibt für den jungen Philologen ein willkommenes Otium, ein Ausruhen von dem Ernst, eine Liebhaberei, wie Theater, Lektüre, Reiten oder Fechten, eine geistig gymnastische Müßigkeit. Durch diese sorgfältige Abkanalisierung, durch diese bewußte Absperrung sickert in den ersten Jahren auch kein Tropfen befruchtend in sein Werk ein: wie er die »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« schreibt, bleibt die Musik nur Gegenstand, Objekt, ein geistiges Thema – aber keine Schwingung musikalischen Gefühls flutet in die Sprache, in die Dichtung, in die Denkart modulierend ein. Selbst Nietzsches Jugendlyrik entbehrt aller Musikalität, und sogar – was noch erstaunlicher anmutet – seine kompositorischen Versuche scheinen nach Bülows doch kompetentem Urteil amorpher Geist, typische Antimusik gewesen zu sein. Musik ist und bleibt ihm lange bloß eine Privatneigung, die der junge Gelehrte mit der ganzen Lust der Unverantwortlichkeit, mit der reinen Freude des Dilettierens betreibt, aber immer jenseits und abseits der »Aufgabe«.

Der Einbruch der Musik in Nietzsches innere Welt erfolgt erst, wie die philologische Kruste, die gelehrte Sachlichkeit um sein Leben gelockert, wie der ganze Kosmos von vulkanischen Stößen erschüttert und aufgerissen ist. Da bersten die Kanäle und strömen urplötzlich über. Immer bricht ja die Musik am stärksten in den aufgewühlten, geschwächten, in den gewaltsam angespannten, von irgendeiner Passion bis ins Unterste aufgerissenen Menschen herein – das hat Tolstoi richtig erkannt und Goethe tragisch gefühlt. Denn selbst er, der gegen die Musik eine vorsichtige, eine abwehrend ängstliche Haltung einnahm (wie gegen alles Dämonische: in jeder Verwandlung erkannte er den Versucher), auch er erliegt der Musik immer nur in aufgelockerten (oder wie er sagt: »in den auseinandergefaltenen«) Augenblicken, da sein ganzes Wesen aufgewühlt ist, in den Stunden seiner Schwäche, seines Aufgetanseins. Immer wenn er (zum letztenmal bei Ulrike) einem Gefühl zur Beute ist und nicht Herr seiner selbst, dann überflutet sie auch den starrsten Damm, zwingt ihm die Träne ab als Tribut und Musik, gedichtete, herrlichste Musik als ungewollten Dank. Musik – wer hat es nicht erlebt? – braucht immer ein Aufgetansein, ein Offensein, ein Weibwerden in einem selig lechzenden Sinne, um fruchtend in ein Gefühl einzugehen: so trifft sie auch Nietzsche im Augenblick, da der Süden ihn weich aufgetan, in dem Zustand gierigsten, lechzendsten Lebensverlangens. Mit einer merkwürdigen Symbolik setzt sie gerade in der Sekunde ein, da sein Leben sich vom Gelassenen, vom Episch-Fortgebildeten durch eine plötzliche Katharsis zum Tragischen wendet; die »Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik« vermeinte er darzustellen und erlebt die Umkehr: die Geburt der Musik aus dem Geist der Tragödie. Die Übermächtigkeit der neuen Gefühle findet ihren Ausdruck nicht mehr in der gemessenen Rede, sie drängt nach stärkerem Element, nach höherer Magie: »Du wirst singen müssen, o du meine Seele.«

Gerade weil diese unterste, die dämonische Quelle seines Wesens so lange verschüttet war mit Philologie, Gelehrsamkeit und Gleichgültigkeit, schießt sie so gewaltsam auf und preßt ihren flüssigen Strahl mit solcher Druckkraft bis in die letzten Nervenfasern, in die letzte Intonation seines Stils. Wie nach einer Infiltration neuer Vitalität beginnt die Sprache, die bis dahin nur darstellen wollte, mit einemmal musikalisch zu atmen: das vortragshafte Andante maestoso, der schwere Sprechstil seiner früheren Schriften, hat jetzt das »Undulatorische«, die vielfache Bewegung der Musik. Alle kleinen Raffinements eines Virtuosen funkeln darin auf, die kleinen spitzen Staccati der Aphorismen, das lyrische Sordino in den Gesängen, die Pizzicati des Spottes, die kühnen Verschleifungen und Harmonisationen von Prosa, Spruch und Gedicht. Selbst die Interpunktionen, das Ungesprochene der Sprache, die Gedankenstriche, die Unterstreichungen haben absolut die Wirkung von musikalischen Vortragszeichen: nie hat man so sehr in der deutschen Sprache das Gefühl einer instrumentierten Prosa gehabt. Ihre nie vordem erreichte Polyphonie bis ins einzelne durchzufühlen, bedeutet für einen Sprachartisten gleiche Wollust wie für einen Musiker das Studium einer Meisterpartitur: wieviel versteckte und verkapselte Harmonie hinter den überspitzten Dissonanzen, wieviel klarer Formgeist in der erst rauschhaften Fülle! Denn nicht nur die Nervenenden der Sprache vibrieren von Musikalität: auch die Werke selbst sind symphonisch empfunden, sie entstammen nicht mehr geistig planender, kalt gedanklicher Architektur, sondern unmittelbar musikalischer Inspiration. Vom »Zarathustra« hat er selbst gesagt, daß er »im Geiste des ersten Satzes der neunten Symphonie« geschrieben sei; und das sprachlich einzige, wahrhaft göttliche Vorspiel zum »Ecce homo« – sind diese monumentalen Sätze nicht ein Orgelpräludium, für einen ungeheuren zukünftigen Dom gedacht? Gedichte wie das »Nachtlied«, das »Gondellied«, sind sie nicht Urgesang der Menschenstimme aus einer unendlichen Einsamkeit? Und wann war der Rausch so tanzhaft, so sehr heroische, so sehr griechische Musik geworden, als im Päan seines letzten Jubels, in dem Dithyrambus des Dionysos? Von oben durchstrahlt von aller Klarheit des Südens, von unten durchwühlt von strömender Musik, wird hier Sprache wahrhaft zur niemals ruhenden Welle, und in diesem meerhaft großartigen Element kreist nun Nietzsches Geist bis zum Wirbel des Untergangs.

Wie nun die Musik so stürmisch und gewaltsam in ihn einbricht, erkennt Nietzsche, der dämonisch Wissende, sofort ihre Gefahr: er fühlt, daß dieser Strom ihn über sich selbst hinausreißen könnte. Aber indes Goethe seinen Gefahren ausweicht – »Goethes vorsichtige Haltung zur Musik«, notiert Nietzsche einmal –, faßt sie Nietzsche immer an den Hörnern; Umwertungen, Umwendungen sind seine Art der Verteidigung. Und so macht er (wie bei seiner Krankheit) aus dem Gift eine Arznei. Musik muß ihm jetzt ein anderes sein als in seinen philologischen Jahren: damals verlangte er erhöhte Spannungen der Nerven, Aufschwülung des Gefühls (Wagner!), ein Gegengewicht gegen seine gelassene, gelehrte Existenz. Jetzt aber, da sein Denken selbst schon Exzeß ist und ekstatische Gefühlsverschwendung, bedarf er der Musik als einer Art seelischen Broms, einer innern Zurückberuhigung. Nicht mehr Trunkenheit soll sie ihm geben (alles Geistige wird ihm ja jetzt klingender Rausch), sondern nach Hölderlins herrlichem Wort die »heilige Nüchternheit«: »Musik als Erholung, nicht als Aufregungsmittel.« Er will eine Musik, in die er flüchten kann, wenn er todwund und müde vom Weidwerk seiner Gedanken taumelt, ein Refugium, ein Bad, kristallene Flut, die kühlt und läutert – Musica divina, eine Musik von oben her, Musik aus klaren Himmeln und nicht aus gepreßter, schwüler, brünstiger Seele. Eine Musik, die ihn sich vergessen läßt, nicht eine, die ihn wieder in sich zurücktreibt, eine »jasagende, jatuende« Musik, eine Südmusik, wasserklar in ihren Harmonien, ureinfach und rein, eine Musik, »die sich pfeifen läßt«. Eine Musik nicht des Chaos (das glüht in ihm selbst), sondern des siebenten Schöpfungstages, da alles ruht und nur die Sphären ihren Gott heiter preisen, Musik als Rast: »Nun, da ich im Hafen bin: Musik, Musik!«

Leichtigkeit, das ist Nietzsches letzte Liebe, sein höchstes Maß an allen Dingen. Was leicht macht, was gesundet, ist gut: in Kost, in Geist, in Luft, in Sonne, in Landschaft, in Musik. Was schweben macht, was die Dumpfheit und Dunkelheit des Lebens, die Häßlichkeit der Wahrheit vergessen hilft, das allein schenkt Gnade. Darum diese letzte, diese späte Liebe zur Kunst, als der »Ermöglicherin des Lebens«, als »großer Stimulans zum Leben«. Musik, helle, erlösende, leichte Musik, wird von nun ab das geliebteste Labsal des tödlich Aufgeregten. »Das Leben ohne Musik ist einfach eine Strapaze, ein Irrtum.« Ein Fieberkranker kann nicht wilder mit zersprungenen, brennheißen Lippen nach Wasser verlangen, als er in seinen letzten Krisen nach ihrem silbernen Trank: »Ob schon je ein Mensch solchen Durst nach Musik gehabt hat?« Sie ist seine letzte Rettung, seine Rettung vor sich selbst: darum auch dieser apokalyptische Haß gegen Wagner, der durch Narkotika und Stimulantia ihre kristallene Reinheit getrübt, darum dies Leiden »am Schicksal der Musik wie an einer offenen Wunde«. Alle Götter hat der Einsame verstoßen, nur dies will er sich nicht rauben lassen, sein Nektar und Ambrosia, das die Seele erfrischt und ewig verjüngt. »Die Kunst und nichts mehr als die Kunst – wir haben die Kunst, daß wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.« Mit dem klammernden Griff des Ertrinkenden heftet er sich an sie, an die einzige Macht des Lebens, die nicht der Schwere unterliegt, daß sie ihn fasse und auftrüge in ihr seliges Element.

Und Musik, sie beugt sich, die erschütternd Beschworene, gütig herab und umfängt seinen stürzenden Leib. Alle haben den Fiebernden verlassen; die Freunde sind längst gegangen, die Gedanken immer fernab am Wege, immer auf waghalsiger Wanderschaft: nur sie begleitet ihn bis in seine letzte, seine siebente Einsamkeit. Was er berührt, berührt sie mit ihm; wo er spricht, tönt ihre klare Stimme mit: gewaltsam reißt sie den gewaltsam Hinabgezogenen immer wieder empor. Und wie er endlich stürzt, wacht sie noch über seiner erloschenen Seele; Overbeck, der zu dem geistig Geblendeten ins Zimmer tritt, findet ihn am Klavier, mit zuckenden Händen noch hohe Harmonien suchend, und wie sie den Verstörten heimbringen, singt er in erschütternden Melodien auf der ganzen Fahrt sein Gondellied. Bis hinab ins Dunkel des Geistes begleitet ihn die Musik, Tod und Leben ihm durchwaltend mit ihrer dämonischen Gegenwart.

Die siebente Einsamkeit

Ein großer Mensch wird gestoßen,
gedrückt, hinaufgemartert zu seiner
Einsamkeit.

»O Einsamkeit, du meine Heimat Einsamkeit« – aus der Gletscherwelt der Stille tönt dieser schwermütige Gesang. Zarathustra dichtet sich sein Abendlied, sein Lied vor der letzten Nacht, sein Lied von der ewigen Heimkehr. Denn Einsamkeit, war sie nicht immer des Wanderers einzige Heimstatt, sein kalter Herd, sein steinernes Dach? In unzähligen Städten ist er gewesen, auf unendlichen Fahrten des Geistes; oft hat er versucht, ihr zu entweichen in der anderen Land – aber immer kehrt er zu ihr zurück, verwundet, ermattet, enttäuscht, zu seiner »Heimat Einsamkeit«.

Aber da sie immer mit ihm gewandert, dem Wandelbaren, hat sie sich selber gewandelt, und er erschrickt nun, wie er ihr ins Antlitz blickt. Denn sie ist ihm allzu ähnlich geworden im langen Beieinandersein, härter, grausamer, gewalttätiger gleich ihm selbst, sie hat das Wehetun gelernt und das Wachstum ins Gefährliche. Und wenn er sie zärtlich noch Einsamkeit nennt, seine alte, geliebte, gewohnte Einsamkeit, so ist es längst ihr Name nicht mehr: sie heißt Vereinsamung, diese letzte, diese siebente Einsamkeit, und ist kein Alleinsein mehr, sondern ein Alleingelassensein. Denn es ist furchtbar leer geworden um den letzten Nietzsche, grauenhaft still: kein Eremit, kein Wüstenanachoret, kein Säulenheiliger war so verlassen; denn sie, die Fanatiker ihres Glaubens, haben noch ihren Gott, dessen Schatten in ihrer Hütte wohnt und von ihrer Säule fällt. Er aber, »der Mörder Gottes«, hat nicht Gott und nicht Menschen mehr: je mehr er sich selbst gewinnt, um so mehr hat er die Welt verloren; je weiter er wandert, desto weiter wächst »die Wüste« um ihn. Sonst verstärken die einsamsten Bücher langsam und still ihre menschenmagnetische Macht: mit dunkel wirkender Kraft ziehen sie einen wachsenden Kreis um ihre noch unsichtbare Gegenwart; Nietzsches Werk aber übt eine repulsive Wirkung, es drängt in gesteigertem Maße alles Befreundete von ihm ab und schält ihn immer gewaltsamer aus der Gegenwart heraus. Jedes neue Buch kostet ihn einen Freund, jedes Werk eine Beziehung. Allmählich ist auch die letzte dünne Vegetation von Interesse an seinem Tun abgefroren: erst hat er die Philologen verloren, dann Wagner und seinen geistigen Kreis, zuletzt noch die Jugendgefährten. Kein Verleger findet sich mehr in Deutschland für seine Bücher, vierundsechzig Zentner schwer lastet in ungebundenen Stapeln die Produktion seiner zwanzig Jahre im Keller; er muß sein eigenes, kümmerlich gespartes und geschenktes Geld

angreifen, um die Bücher überhaupt noch erscheinen zu lassen. Aber nicht nur, daß niemand sie kauft – selbst wenn er sie verschenkt, findet Nietzsche, der letzte Nietzsche, keine Leser mehr. Vom vierten Zarathustrateil läßt er auf eigene Kosten bloß vierzig Exemplare mehr drucken – und findet dann nur sieben Menschen im deutschen Siebzigmillionenreich, denen er ein Exemplar zuschicken kann, so fremd, so unfaßbar fremd ist Nietzsche auf der Höhe seines Schaffens der Zeit geworden. Niemand gibt ihm einen Brocken Zutrauen, ein Senfkorn Dank: im Gegenteil, um den allerletzten der Jugendfreunde, um Overbeck nicht zu verlieren, muß er sich entschuldigen, daß er Bücher schreibt, sie sich verzeihen lassen. »Alter Freund«, – man hört den ängstlichen Ton, man sieht das verstörte Gesicht, die aufgehobenen Hände, die Geste eines Zurückgestoßenen, der noch einen neuen Schlag fürchtet – »lies es von vorn und von hinten, laß Dich nicht verwirren und entfremden. Nimm alle Kraft Deines Wohlwollens für mich zusammen. Ist Dir das Buch unerträglich, so vielleicht hundert Einzelheiten nicht.« So reicht 1887 der größte Geist des Jahrhunderts seinen Zeitgenossen die größten Bücher

der Zeit, und an einer Freundschaft weiß er nichts Heroischeres zu rühmen, als daß sie nichts hätte zerstören können – »auch der Zarathustra nicht«. Auch der Zarathustra nicht! – eine solche Belastungsprobe, eine solche Peinlichkeit ist Nietzsches Schaffen für seine nächsten Menschen geworden, so unüberbrückbar die Distanz seines Genies zur Inferiorität der Zeit. Immer dünner wird die Luft um seinen Atem, immer stiller, immer leerer.

Diese Stille macht die letzte, die siebente Einsamkeit Nietzsches zur Hölle: an ihrer metallenen Wand zerstößt er sich das Gehirn. »Nach einem solchen Anrufe, wie mein Zarathustra es war, aus der innersten Seele heraus, nicht einen Laut von Antwort zu hören, nichts, nichts, immer nur die lautlose, nunmehr vertausendfachte Einsamkeit – das hat etwas über alle Begriffe Furchtbares, daran kann der Stärkste zugrunde gehen«, stöhnt er einmal auf und fügt bei: »Und ich bin nicht der Stärkste. Mir ist seitdem zumute, als sei ich tödlich verwundet.« Aber es ist nicht Beifall, Zustimmung, Ruhm, den er verlangt – im Gegenteil, nichts wäre seinem kriegerischen Temperament willkommener als Zorn, Entrüstung, Verachtung, ja selbst Hohn – »in dem Zustand eines bis zum Zerspringen gespannten Bogens tut einem jeder Affekt wohl, vorausgesetzt, daß er gewaltsam ist« –, aber nur irgendeine Antwort, kalt oder heiß, oder sogar lau, nur etwas, irgend etwas, das ihm seine Existenz, sein geistiges Dasein bezeugt. Aber selbst seine Freunde weichen ängstlich aus, biegen in ihren Briefen an jedem Urteil wie an etwas Peinlichem vorbei. Und das ist die Wunde, die sich immer tiefer nach innen frißt, seinen Stolz vereitert, sein Selbstbewußtsein entzündet, seine Seele brandig macht, »die Wunde, keine Antwort zu haben«. Sie allein hat seine Einsamkeit vergiftet und fiebrig gemacht.

Und dieses Fieber schwillt plötzlich kochend aus dem Verwundeten heraus. Legt man das Ohr näher an die Schriften und Briefe seiner letzten Jahre, so hört man, wie unter dem ungeheuren Druck dieser zu dünnen Luft ein gereiztes, krankes Pochen im Blute beginnt: das Herz von Bergsteigern, von Luftschiffern hat diesen heftigen hämmernden Ton aufgepumpter Lungen, die letzten Briefe Kleistens dieses heftige hämmernde Gespanntsein, dies gefährliche Dröhnen und Knistern einer Maschine knapp vor dem Zerspringen. Ein ungeduldiger nervöser Zug kommt in Nietzsches geduldiges, vornehmes Gehaben: »das lange Schweigen hat meinen Stolz exasperiert« – er will, er fordert jetzt Antwort um jeden Preis. Er hetzt den Druck mit Briefen und Telegrammen, nur rasch, nur rasch muß gedruckt werden, als gelte es etwas zu versäumen. Er wartet nicht mehr, seinem Plan gemäß, bis der »Wille zur Macht«, sein Hauptwerk, vollendet ist, sondern reißt ungeduldig Teile davon los und schleudert sie wie Brandfackeln in die Zeit hinein. Der »halkyonische Ton« ist verloschen, ein Stöhnen ist in diesen letzten Werken von verpreßtem Leiden, von maßlosem höhnischem Zorn: sie sind mit der Peitsche der Ungeduld aus ihm herausgehetzt. Der Gleichgültige beginnt, in seinem Stolz »exasperiert«, die Zeit zu provozieren, damit sie endlich mit einem Wutschrei gegen ihn reagiere. Und um sie noch mehr herauszufordern, erzählt er im »Ecce homo« sein Leben, »mit einem Zynismus, der welthistorisch werden wird«. Nie sind Bücher aus einer solchen Gier, aus einem so kranken zuckenden Fieber der Ungeduld nach Antwort geschrieben worden wie die letzten monumentalen Pamphlete Nietzsches. Eine entsetzliche Angst, nicht mehr den Erfolg zu überleben, eine dämonische Ungeduld ist in diesem Lechzen nach Antwort. Und man spürt, wie er nach jedem Geißelschlag eine Sekunde innehält, wie er sich aus sich selber in entsetzlicher Spannung herausbeugt, um den Schrei der Getroffenen zu hören. Aber nichts rührt sich. Keine Antwort kommt mehr herauf in die »azurne« Einsamkeit. Wie ein eiserner Ring liegt das Schweigen um seine Kehle, von keinem Schrei, nicht von dem furchtbarsten, den die Menschheit gekannt, mehr zu zerbrechen. Und er fühlt: kein Gott erlöst ihn mehr aus dem Kerker der letzten Einsamkeit.

Da packt den Verschmachtenden in seinen letzten Stunden apokalyptischer Zorn. Wie der geblendete Polyphem schleudert er brüllend mit Felsblöcken um sich, ohne zu sehen, ob sie treffen; und weil er niemanden hat, mit ihm zu leiden, mit ihm zu fühlen, so faßt er sich selbst an sein eigenes zuckendes Herz. Alle Götter hat er ermordet, so macht er sich selber zum Gott – »müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um solcher Tat würdig zu erscheinen?« – Alle Altäre hat er zerschlagen, so baut er sich selber seinen Altar, den »Ecce homo«, um sich zu feiern, den niemand feiert; sich zu rühmen, den niemand rühmt. Die wuchtigsten Steine der Sprache türmt er auf, es hallen Hammerschläge, wie sie nie in diesem Jahrhundert mit gleicher Wucht gedröhnt; begeistert beginnt er sein Sterbelied der Trunkenheit und des Überschwangs, den Päan seiner Taten und Siege. Dunkel hebt er an, und großes Brausen wie von kommendem Gewitter ist darin, dann zuckt Gelächter nieder, ein grelles, böses, irres Gelächter, eine Desperado-Heiterkeit, die einem die Seele zersägt: Ecce-homo-Gesang. Aber immer sprunghafter wird das Lied, immer schneidender schrillt das Gelächter in die schweigenden Gletscher hinein, in Selbstverzückung hebt er die Hände, dithyrambisch zuckt ihm der Fuß: und plötzlich beginnt der Tanz, jener Tanz über dem Abgrund, dem Abgrund seines eigenen Unterganges.

Der Tanz über dem Abgrund

Wenn du lange in einen Abgrund
blickst, blickt auch der Abgrund in
dich hinein.

Die fünf Monate des Herbstes 1888, Nietzsches letzte bildnerische Zeit, stehen einzig da in den Annalen schöpferischer Produktivität. Vielleicht ist nie in einem so engen Zeitraum von einem einzigen Genius so viel, so intensiv, so ununterbrochen, so hyperbolisch und radikal gedacht worden; nie war ein irdisches Gehirn so überströmt von Ideen, so durchschossen von Bildern, so umwogt von Musik als dies schon vom Schicksal gezeichnete. Für diese Fülle, für diese rauschhaft niederstürzende Ekstase, für diesen fanatischen Furor des Schaffens hat die Geistesgeschichte aller Zeiten kein Gegenspiel in ihrer unendlichen Weise – nur im Nächsten vielleicht noch, im gleichen Jahr, unter gleichem Himmelsstrich erlebt ein Maler gleich aufgepeitschte, schon in den Wahnsinn hineingejagte Produktivität: im Garten

von Arles und in der Irrenanstalt malt van Gogh mit gleicher Geschwindigkeit, mit der gleichen ekstatischen Lichtbesessenheit, mit der gleichen manischen Schaffensüberfülltheit. Kaum hat er eines seiner weißglühenden Bilder vollendet, so fährt sein fehlerloser Strich schon über neue Leinwand, es gibt da kein Zögern, kein Planen mehr, kein Überlegen. Schöpfung ist Diktat geworden, dämonische Hellsichtigkeit und Schnellsichtigkeit, eine ununterbrochene Kontinuität der Visionen. Freunde, die van Gogh vor einer Stunde verlassen haben, staunen bei ihrer Rückkehr, von ihm schon ein neues Bild vollendet zu sehen, und schon beginnt er mit nassem Pinsel, mit erhitzten Augen, ohne abzusetzen, das dritte: der Dämon, der ihn an der Kehle hat, duldet kein Atemholen, keine Intervalle, gleichgültig, ob er, der rasende Reiter, den keuchenden und glühenden Leib unter sich zuschanden hetzt. Genauso schafft Nietzsche Werk auf Werk, pausenlos, atemlos, in der gleichen, nicht mehr wieder dagewesenen Helligkeit und Schnelligkeit. Zehn Tage, vierzehn Tage, drei Wochen: das sind die Dauer seiner letzten Werke – Zeugung, Austragung, Gebärung, Entwurf und endgültige Gestaltung, das zuckt schußartig ineinander. Es gibt da keine Inkubationsfrist, keine Ruhepausen, kein Suchen

, kein Tasten, kein Verändern und Korrigieren, alles ist gleich makellos, definitiv, unveränderlich, heiß und ausgekühlt zugleich. Nie hat ein Gehirn so dauernde Hochspannung so elektrisch weitergetragen bis ins letzte zuckende, Wort, nie haben mit so magischen Geschwindigkeiten Assoziationen sich gegliedert; Vision ist zugleich schon Wort, Idee vollendete Klarheit, und trotz dieser gigantischen Fülle spürt man nichts von Mühe, von Anstrengung – Schaffen hat längst aufgehört, ein Tun, eine Arbeit zu sein, es ist bloß ein laisser faire, ein Geschehenlassen höherer Gewalten. Der vom Geist Durchschütterte braucht nur den Blick zu heben, jenen weitsichtigen, »weitdenkenden« Blick, und er übersieht (wie Hölderlin im letzten Aufschwung zur mythischen Schau) ungeheure Zeiträume im Vergangenen und Zukünftigen: er aber, der Klardämonische, sieht sie dämonisch klar zum Greifen. Er muß nur die Hand ausstrecken, die heiße rasche Hand, um sie zu fassen; und kaum hat er sie ergriffen, sind sie schon durchblutet von Bildern, zuckend von Musik, lebend und beseelt. Und dieser Zustrom der Ideen, der Bilder setzt nicht eine Sekunde dieser wahrhaft napoleonischen Tage aus. Der Geist wird hier überflutet, es wird ihm Gewalt, Elementargewalt angetan. »Der Zarathustra überfiel mich« – immer ist es ein Überfallenwerden, ein Wehrloswerden vor einem Übermächtigen, das er berichtet – als sei irgendwo in seinen Sinnen ein geheimer Staudamm der Vernünftigkeit, der organischen Abwehr vor einer Flut eingestürzt, die nun sturzbachhaft über den ohnmächtig, den herrlich Willenlosen hereinstürzt. »Es ist vielleicht überhaupt niemals etwas aus einem gleichen Überfluß von Kraft heraus getan worden«, sagt Nietzsche ekstatisch von jenen letzten Werken; aber mit keinem Worte wagt er zu sagen, daß es seine eigene Kraft war, die ihn beschenkt und zersprengt. Im Gegenteil, er fühlt sich trunken – fromm nur als »Mundstück jenseitiger Imperative«, als heilig Besessenen höheren dämonischen Elements.

Aber dies Wunder der Inspiration, den Schrecken und Schauer dieses fünf Monate lang ohne Pause niederbrechenden Gewitters von Produktion, wer darf es schildern, da er selbst in der Verzückung des Dankes, in der Leuchtkraft unmittelbarster, erlebtester Durchführung sein Erleben geschildert hat? Man darf nur diese mit Blitzen gehämmerte Prosaseite abschreiben, wie er sie schrieb: »– Hat jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten? Im anderen Falle will ich's beschreiben. – Mit dem geringsten Rest von Aberglauben in sich würde man in der Tat die Vorstellung, bloß Inkarnation, bloß Mundstück, bloß Medium übermächtiger Gewalten zu sein, kaum abzuweisen wissen. Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, daß plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, Etwas sichtbar, hörbar wird, Etwas, das Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohne Zögern ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Tränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommnes Außer-sich-Sein mit dem distinktesten Bewußtsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fußzehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, als eine notwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses; ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt – die Länge, das Bedürfnis nach einem weitgespannten Rhythmus ist beinahe das Maß für die Gewalt der Inspiration, eine Art Ausgleich gegen deren Druck und Spannung ... Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheitsgefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit ... Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das Merkwürdigste; man hat keinen Begriff mehr, was Bild, was Gleichnis ist, alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck. Es scheint wirklich, um an ein Wort Zarathustras zu erinnern, als ob die Dinge selber herankämen und sich zum Gleichnis anböten (›– hier kommen alle Dinge liebkosend zu deiner Rede und schmeicheln dir; denn sie wollen auf deinem Rücken reiten. Auf jedem Gleichnis reitest du hier zu jeder Wahrheit. Hier springen dir alles Seins Worte und Wort-Schreine auf; alles Sein will hier Wort werden, alles Werden will von dir reden lernen –‹). Dies ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, daß man Jahrtausende zurückgehen muß, um jemanden zu finden, der mir sagen darf: es ist auch die meine.«

Dieser taumelnde, dieser selbst-hymnische Glückston, ich weiß es, die Ärzte sehen heute darin die Euphorie, das Endlustgefühl des Untergehenden und das Stigma der Megalomanie, jener bei Geisteskranken typischen Selbstüberhebung. Aber doch, ich frage, wann ist mit einer so diamantenen Klarheit je der Zustand des schöpferischen Rausches so ins Ewige gegraben worden? Denn dies ist ja das eigenste, das unerhörte Wunder der letzten Werke Nietzsches, daß ein höchster Grad der Klarheit den höchsten Grad des Rausches traumwandlerisch mitbegleitet, daß sie klug sind wie Schlangen inmitten ihrer bacchantischen, fast bestialischen Kraft. Sonst haben die Überschwenglichen, haben alle jene, denen Dionysos die Seele trunken gemacht hat, eine schwere Lippe, ein von Dunkel durchklungenes Wort. Wie aus Träumen reden sie deutsam und verwirrt; sie haben alle, die in den Abgrund hinabgesehen, den orphischen, den pythischen, den urgeheimnisvollen Ton einer Sprache von drüben her, den nur unsere Sinne fürchtig erahnen und unser Geist nicht mehr ganz versteht – Nietzsche aber ist diamantenklar inmitten des Rausches, unaufzehrbar hart und schneidend bleibt sein Wort in allen Feuern der Trunkenheit. Vielleicht hat sich noch nie ein lebendiger Mensch so weit und so wach, so vollkommen schwindelfrei und klar über den Rand des Irrsinns hinabgebeugt: Nietzsches Ausdruck ist nicht (wie Hölderlin, wie die Mystiker und Pythischen) angefärbt, angedunkelt vom Geheimnis; im Gegenteil, nie war er klarer und wahrer als in seinen letzten Sekunden, ja man könnte sagen: überlichtet von Geheimnis. Freilich, es ist ein gefährliches Licht, das hier auffunkelt, es hat die phantastische kranke Helligkeit einer Mitternachtssonne, die rotglühend über Eisbergen aufsteigt, es ist ein Nordlicht der Seele, das in seiner einmaligen Grandiosität erschauern macht. Es wärmt nicht und erschreckt; es blendet nicht, aber es tötet. Nicht vom dunkel wogenden Rhythmus des Gefühls wie Hölderlin, nicht von flutender Schwermut wird er hinabgerissen: er verbrennt an seiner eigenen Helligkeit, in einer Art Sonnenstich allerhöchster Glut, allerhöchster Leuchtkraft, einer weißglühenden und nicht mehr zu ertragenden Heiterkeit. Nietzsches Zusammenbruch ist eine Art Lichttod, ein Verkohltwerden des Geistes von der eigenen Stichflamme.

Schon lange flammt und zuckt ihm die Seele von diesen zu starken Helligkeiten; er selbst erschrickt oft, der magisch Wissende, über diese Lichtfülle von oben und die wilden Heiterkeiten seiner Seele. »Die Intensitäten meines Gefühls machen mich schauern und lachen.« Aber nichts vermag diesen ekstatischen Strom mehr zu dämmen, dieses aus dem Himmel gleich Falken Herabstürzen von Gedanken, die ihn klirrend und klingend umschwirren Tag und Nacht, Nacht und Tag, Stunde um Stunde, bis ihm das Blut in den Schläfen dröhnt. In der Nacht hilft Chloral, baut ein schwaches Schutzdach Schlaf gegen den prasselnden Wolkenbruch der Visionen. Aber die Nerven glühen wie brennende Drähte: sein ganzes Wesen wird Elektrizität, zuckendes, zündendes, blitzartig flirrendes Licht.

Ist es ein Wunder, wenn in diesem Wirbel inspirativer Geschwindigkeiten, in diesem unaufhörlichen Sturzbach von rauschenden Gedanken er den harten ebenen Boden unter den Füßen verliert, wenn Nietzsche, der von allen Dämonen des Geistes Zerrissene, nicht mehr weiß, wer er ist, wenn er, der Grenzenlose, seine Grenzen nicht mehr erkennt? Schon lange scheut sich seine Hand (seit sie sich dem Diktat höherer Mächte und nicht mehr dem Ich gehorsam fühlt), unter Briefe seinen eigenen Namen Friedrich Nietzsche zu setzen. Denn der protestantische kleine Pfarrerssohn aus Naumburg, so mag er dunkel fühlen, er ist es längst nicht mehr, der so Ungeheures erlebt, sondern irgendein Wesen, das noch keinen Namen hat, etwas Übergewaltiges, ein neuer Märtyrer der Menschheit. So unterschreibt er immer nur mit symbolischen Zeichen: »Das Untier«, »Der Gekreuzigte«, »Der Antichrist«, »Dionysos«, seine letzten Botschaften, seit er sich mit den Mächten, den übergewaltigen, als eins fühlt, selbst nicht mehr als Mensch, sondern als Macht und Sendung. »Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.« »Ich bin ein welthistorisches Ereignis, das die Geschichte der Menschheit in zwei Teile spaltet« – so schreit er in gewaltigster Hybris ins schauerliche Schweigen. Wie Napoleon im brennenden Moskau, vor sich den unendlichen russischen Winter, rings um sich nur jämmerliche Trümmer der gewaltigen Armee, noch immer die monumentalsten, drohendsten Proklamationen erläßt (großartig bis an den Rand der Lächerlichkeit), so verfaßt Nietzsche mitten im brennenden Kreml seines Gehirns die furchtbarsten Pamphlete: er befiehlt, daß der deutsche Kaiser nach Rom komme, damit er ihn füsilieren lasse; er fordert die europäischen Mächte zu einer militärischen Aktion gegen Deutschland auf, das er in eine eiserne Zwangsjacke schließen will. Nie hat apokalyptischere Wut wilder ins Leere gewütet, nie so herrliche Hybris einen Geist über alles Irdische hinausgetrieben. Wie Hammerschläge fallen seine Worte gegen das ganze Weltgebäude: er verlangt, daß der Kalender umgestellt werde von der Geburt Christi auf das Erscheinen seines Antichrists, er stellt sein Bildnis über alle Gestalten der Zeiten – selbst der kranke Wahn Nietzsches ist noch größer als jener aller andern im Geist Geblendeten; auch hier wie in allem durchwaltet ihn das herrlichste, das tödlichste Zuviel.

Nie ist auf einen schaffenden Menschen ein solcher Strom von Inspiration gefallen wie auf Nietzsche in diesem einzigen Herbst. »So ist nie gedichtet, nie gefühlt, nie gelitten worden: so leidet ein Gott, ein Dionysos« – diese Worte mitten im beginnenden Wahn, sie sind furchtbar wahr. Denn dies kleine Zimmer des vierten Stockes und die Höhle von Sils-Maria, sie beherbergen zugleich mit dem kranken, nervenzuckenden Menschen Friedrich Nietzsche die kühnsten Gedanken, die herrlichsten Worte, die das Jahrhundert an seinem Ende empfunden: der schöpferische Geist hat sich geflüchtet unter das niedere sonnenverbrannte Dach und wirft über einen armen, einen einzigen, namenlosen, scheuen, verlorenen Menschen seine ganz Fülle – unendlich mehr als ein einzelner Mensch ertragen kann. Und in diesem engen Raume, erstickt von Unendlichkeit, taumelt und tappt der erschreckte, der arme irdische Sinn unter der Wucht der Blitzschläge, peitschenden Erleuchtungen und Verkündungen. Ein Gott, so fühlt er ganz wie der geistgeblendete Hölderlin, ein Gott ist über ihm, ein feuriger Gott, dessen Blick die Augen nicht ertragen und dessen Anhauch verbrennt ... immer hebt sich der Zitternde auf, sein Antlitz zu erkennen, und lose stürzen ihm die Gedanken auseinander ... Denn er, der dies Unsagbare fühlt und dichtet und leidet ... ist er – ist er nicht selber Gott ... ist wieder ein Gott der Welt, nachdem er den andern getötet ... Wer, wer ist er? ... Ist er der Gekreuzigte, der tote Gott oder der lebendige ... Der Gott seiner Jugend, Dionysos ... oder ist er beides zugleich, der gekreuzigte Dionysos ... Immer mehr verwirren sich die Gedanken, der Strom braust zu laut von zu viel Licht ... Ist es noch Licht? Ist es nicht Musik? Das kleine Zimmer im vierten Stock der Via Alberto beginnt zu tönen, alle Sphären leuchten und schwingen, alle Himmel sind verklärt ... Oh, welche Musik: die Tränen fluten ihm in den Bart, warm, heiß ... oh, welche göttliche Zärtlichkeit, welches smaragdene Glück ... Und jetzt ... wieviel Helligkeit ... Und unten auf der Straße, alle Menschen lächeln ihm zu ... wie sie aufsehen und ihn grüßen, und die Hökerin dort, sie sucht die schönsten Äpfel aus dem Korbe ... alles beugt sich und neigt sich vor ihm, dem Mörder Gottes, alles jubelt, jubelt ... warum? ... Ja, er weiß, er weiß es, der Antichrist ist erschienen, und sie singen »Hosianna, Hosianna« ... alles dröhnt, die Welt dröhnt von Jubel, vor Musik ... Und dann plötzlich alles stumm ... Irgend etwas ist gefallen ... Er selbst ist es ja ... hingefallen vor dem Haus ... Irgend jemand trägt ihn hinauf ... jetzt ist er wieder in dem Zimmer ... hat er lange geschlafen, es ist so dunkel ... dort das Klavier, Musik! Musik! ... Und dann plötzlich Menschen im Zimmer ... ist es nicht Overbeck ... aber der ist doch in Basel, und er, er ist ... wo? ... Er weiß es nicht mehr ... Warum sehen sie ihn so fremd, so besorgt an ... und dann ein Wagen, ein Wagen ... wie die Schienen rattern, so seltsam rattern, als wollten sie singen ... ja ... sein Gondellied singen sie, und er singt es mit ihnen ... singt es im unendlichen Dunkel ...

Und dann lange in einem Zimmer ganz anderswo, immer dunkel, immer dunkel. Nie mehr die Sonne, nie mehr das Licht, nicht innen, noch außen. Irgendwo unter ihm reden noch Menschen. Eine Frau – ist es nicht die Schwester? Die ist doch fort, ganz fort im Lamaland? – liest ihm vor aus Büchern ... Bücher? Hat er nicht auch Bücher geschrieben? Irgend jemand antwortet mild. Aber er versteht es nicht mehr. Wem solcher Orkan durch die Seele gebraust, ist taub für alles Menschenwort. Wem der Dämon so tief ins Auge gesehen, der bleibt geblendet.

Der Erzieher zur Freiheit

Größe heißt: Richtung geben.

»Nach dem nächsten europäischen Kriege wird man mich verstehen« – mitten aus den letzten Schriften springt dieses prophetische Wort. Denn wirklich, den wahren Sinn, die historische Notwendigkeit des großen Mahners versteht man erst aus dem gespannten, unsicheren und gefährlichen Zustand unserer Welt um die Jahrhundertwende: in diesem atmosphärischen Genie hat sich der ganze Druck der moralischen Dumpfheit Europas gewaltsam entladen – das herrlichste Gewitter des Geistes vor dem furchtbarsten Gewitter der Geschichte. Nietzsches »weitdenkender« Blick sah die Krise, indes die andern sich an allen gefälligen Feuern der Phrase häuslich wärmten, und sah ihre Ursache: die »nationale Herzenskrätze und Blutvergiftung, um derentwillen sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen absperrt«, den »Hornviehnationalismus« ohne höheren Gedanken als den selbstischen der Historie, indes ungestüm alle Kräfte schon zu höherer, zu zukünftiger Verbindung drängten. Und zornig bricht die Verkündigung einer Katastrophe aus seinem Mund, wie er die krampfigen Versuche sieht, »die Kleinstaaterei Europas zu verewigen«, eine Moral zu verteidigen, die nur auf Interessen und Geschäft beruht. »Dieser absurde Zustand soll nicht mehr lange dauern«, schreibt sein Finger feurig an die Wand, »das Eis, das uns trägt, ist so dünn geworden: wir fühlen alle den warmen gefährlichen Atem des Tauwinds«. Niemand hat so wie Nietzsche das Knistern im europäischen Gesellschaftsbau gefühlt, niemand so verzweifelt in einer Zeit optimistischer Selbstgefälligkeit den Schrei zur Flucht, zur Flucht in die Redlichkeit, in die Klarheit, zur Flucht in die höchste intellektuelle Freiheit über Europa hingeschrien. Keiner so stark gefühlt, daß eine Zeit abgelebt und abgestorben war und in tödlicher Krise ein Neues und Gewaltsames beginnt: nun erst wissen wir es mit ihm.

Diese tödliche Krise, er hat sie tödlich vorgedacht, tödlich vorgelebt: das ist seine Größe, sein Heldentum. Und die ungeheure Spannung, die seinen Geist ins Äußerste quälte und schließlich auseinanderriß, band ihn mit höherem Element: sie war nichts anderes als das Fieber unserer Welt, ehe die Blutbeule aufbrach. Immer fliegen ja Sturmvögel des Geistes den großen Revolutionen und Katastrophen voraus, und der dumpfe Glaube des Volkes, der vor Kriegen und Krisen im höheren Element Kometen erscheinen und ihre blutige Bahn ziehen läßt, dieser abergläubische Glaube hat eine Wahrheit im Geist. Nietzsche war ein solches Fanal im höheren Element, das Wetterleuchten vor dem Gewitter, das große Brausen oben in den Bergen, ehe der Sturm in die Täler fällt – keiner hat so meteorologisch sicher wie alles einzelne auch die Gewalt des kommenden Kataklysmas unserer Kultur vorausgefühlt. Aber das ist die ewige Tragik des Geistes, daß seine höhere klare Sphäre der Schau sich nicht mitteilt der dumpfen stockenden Luft ihrer Zeit, daß die Gegenwart niemals fühlt und faßt, wenn über ihr ein Zeichen am Himmel des Geistes steht und die Flügel der Weissagung rauschen. Selbst der klarste Genius des Jahrhunderts war nicht deutlich genug

, als daß die Zeit ihn verstanden hätte: wie jener Marathonläufer, der den Untergang des Perserreiches gesehen und, mit pochenden Lungen die vielen Meilen nach Athen rennend, die Botschaft nur in einem einzigen ekstatischen Schrei künden konnte (dann brach ihm das Blut tödlich aus der überhitzten Brust), so konnte Nietzsche die entsetzliche Katastrophe unserer Kultur nur verkünden und nicht verhindern. Nur einen ungeheuren, einen unvergeßlichen ekstatischen Schrei warf er in die Zeit: dann brach ihm der Geist.

Seine wahre Tat aber für uns und alle hat sein bester Leser, Jakob Burckhardt, nach meinem Gefühl am besten ausgesagt, als er ihm schrieb, seine Bücher

»vermehrten die Unabhängigkeit in der Welt«. Ausdrücklich sagte der kluge, weitwissende Mann: die Unabhängigkeit in der Welt; nicht die Unabhängigkeit der Welt. Denn die Unabhängigkeit existiert immer nur im Individuum, in der Einzahl, sie läßt sich nicht multiplizieren mit den Massen, sie wächst nicht aus Büchern und Bildung: »es gibt keine heroischen Zeitalter, es gibt nur heroische Menschen«. Immer ist es der einzelne, der sie mitten in die Welt und immer nur für sich allein errichtet. Denn jeder freie Geist ist ein Alexander, er erobert im Sturm alle Provinzen und Reiche, aber er hat keine Erben: immer verfällt ein Reich der Freiheit an Diadochen und Verwalter, an Kommentatoren und Erklärer, die Sklaven werden am Wort. Nietzsches großartige Unabhängigkeit schenkt darum keine Lehre (wie die Schulhaften meinen), sondern eine Atmosphäre, die unendlich klare, überhelle, von Leidenschaft durchstürmte Atmosphäre einer dämonischen Natur, die sich in Gewitter und Zerstörung erlöst. Tritt man in seine Bücher, so fühlt man Ozon, elementarische von aller Dumpfheit, Vernebelung und Schwüle entschwängerte Luft: man sieht frei in dieser heroischen Landschaft bis in alle Himmel hinauf und atmet eine einzig durchsichtige, messerscharfe Luft, eine Luft für starke Herzen und freie Geister. Immer ist Freiheit Nietzsches letzter Sinn – Sinn seines Lebens und Sinn seines Untergangs: wie die Natur Wirbelstürme und Zyklone, um ihre Überkraft in einer Revolte gegen ihren eigenen Bestand gewaltsam auszulassen, so braucht der Geist von Zeit zu Zeit einen dämonischen Menschen, dessen Übergewalt sich auflehnt gegen die Gemeinschaft des Denkens und die Monotonie der Moral. Einen Menschen, der zerstört und der sich selber zerstört; aber diese heroischen Empörer sind nicht minder Bildner und Bilder des Weltalls als die stillen Gestalter. Zeigen jene die Fülle des Lebens, so deuten diese seine unausdenkbare Weite. Denn immer nur an tragischen Naturen werden wir der Tiefe des Gefühls gewahr. Und nur an den Maßlosen erkennt die Menschheit ihr äußerstes Maß.