Kapitel 1:
Die Chrysanthemenfrau

Es war ein besonders unangenehmer Novembertag. Der eiskalte Nordwestwind blies die stetig nachfallenden Tropfen in einem perfiden schrägen Winkel unter die Regenschirme. Ich schauderte, als einer davon eine kalte Spur meinen Hals hinunter zog, bevor er im Schal versickerte. Unwillkürlich hob ich die Schultern und versuchte meinen Kopf einzuziehen wie eine Schildkröte, die sich vor der Welt verkriecht.

Wenigstens schmerzten meine Füße in den neuen schwarzen Pumps kaum noch. Sie mussten inzwischen zu Eisklumpen erstarrt sein. Sehnsüchtig malte ich mir aus, wie ich mir ein dampfend heißes Bad einlassen würde, mit verschwenderischen Bergen von Schaum. Die Wärme würde zuerst beinahe unangenehm sein, aber dann würde sich meine Körpertemperatur anpassen und ich würde den Moment genau spüren, an dem meine Poren sich öffneten und der Schweiß ausbrach.

Wie selbstsüchtig von mir, in solchen Gedanken zu schwelgen!

Schuldbewusst drückte ich meine Schultern nach hinten und hob den Kopf wieder an. Ich beerdigte meine Mutter, es war nicht die Zeit, an mein persönliches Wohlgefühl zu denken. Und wenn ich mich darauf konzentrierte, meine empfindliche Kehle den Nadelstichen der windgetriebenen Regentropfen auszusetzen, würde ich vielleicht von den Worten des fremden Pfarrers abgelenkt werden. Er sprach und sprach über eine Frau, die mir unbekannt war: von langem, geduldig ertragenem Leid, großer persönlicher Tapferkeit und einem Übermaß an Liebe zu ihrem einzigen Kind. Dabei sah er mich streng an.

Um seinem stechenden Blick auszuweichen, musterte ich den Blumenschmuck auf dem Sargdeckel. Die Träger hatten den Eichensarg bereits hinabgelassen und sich nach einem entschuldigenden Blick in meine Richtung eiligst in ihren Aufenthaltsraum zurückgezogen. Einzig der Bestatter hielt neben mir aus. Seine stoische Gegenwart, die Unbeweglichkeit, mit der er das Wetter einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen schien, wirkten seltsam tröstlich. Er erinnerte mich an Säulenzypressen, die weicheren Pflanzen einen festen Rahmen und Orientierung bieten.

Das Gesteck aus weißen Callas und Misteln war Mutters spezieller Wunsch gewesen. Als ich das nüchterne Stück Papier aus dem Umschlag in ihrer Nachttischschublade gezogen hatte, war mein spontaner Gedanke gewesen: »Wie passend!« Besonders Callas wirken in ihrer Perfektion so unnatürlich, dass man immer versucht ist, sich durch eine Berührung zu vergewissern, dass sie keine Nachbildungen aus Plastik sind. Ihnen scheint jedes Leben zu fehlen. Selbst der Prozess des Welkens läuft nahezu im Geheimen ab: Am Abend sehen sie noch makellos aus, am nächsten Morgen hat sich das schneeweiße Blütenblatt braun vertrocknet zusammengerollt, als hätte es nie gelebt.

Misteln, die vom Saft der Bäume leben, auf denen sie wachsen, hatten mit Mutter einiges gemeinsam: Auch sie hatte auf mir gelebt, durch mich, mich erstickend. Hatte es eine Zeit in meinem Leben gegeben, in dem ich mich nicht ununterbrochen von ihrem aufmerksamen Blick, der jede Verfehlung gnadenlos aufzudecken pflegte, beobachtet gefühlt hatte? Als Kind war ich überzeugt davon gewesen, dass sie nicht nur über versteckte Augen am Hinterkopf, sondern auch über hellseherische Fähigkeiten verfügte. Das einzige Mal, dass ich es gewagt hatte, meine Ballettstunde zu schwänzen, um mit meiner Schulfreundin den kleinen Wanderzirkus zu besuchen, der in unserer Stadt Station machte, hatte sie es mir bereits an der Haustür angesehen. Zur Strafe hatte ich meinen Lieblingsteddy dem Kinderheim spenden müssen. Wochenlang weinte ich mich in den Schlaf, weil ich ohne meinen Kameraden den schrecklichen Ungeheuern, die nachts mein Zimmer aufsuchten, hilflos ausgeliefert war. Ich wagte es niemals wieder, offen oder heimlich, entgegen Mutters Anweisungen zu handeln.

Ich ging auf die Realschule, obwohl meine Lehrerin alles versuchte, meine Mutter dazu zu überreden, mich auf das Gymnasium gehen zu lassen. Die Lehrer schätzten mich als fleißige, unauffällige Schülerin – eine, bei der keine Elterngespräche notwendig waren. In den Augen meiner Mitschüler war ich eine langweilige Streberin, uninteressant. Ich beneidete sie glühend um die Freiheit, sich nach Lust und Laune treffen zu können. Sie luden mich nie dazu ein, aber Mutter hätte es mir sowieso nicht erlaubt.

Mein Tagesablauf war vom Aufstehen bis zum Schlafengehen rigoros geregelt: Sobald ich aus der Schule kam, gab es Mittagessen, Abwasch, Hausaufgaben. Drei Nachmittage in der Woche musste ich in die Ballettstunde. Besonders begabt war ich nicht, aber ständige Übung führte auch bei mir zu Soloauftritten. An solchen Abenden zog Mutter ihr bestes Kostüm an und setzte sich in die erste Reihe.

Samstags war Hausputz, und am Sonntag gingen wir vormittags in die Kirche und am Nachmittag spazieren. Seltsamerweise waren es diese Spaziergänge, die mir eine unerwartete Möglichkeit eröffneten, in eine eigene Welt zu flüchten.

Es war ein Sonntag im Mai, die Wiesen hatten sich mit einem faszinierenden Blütenteppich überzogen, aus dem hier und da ein strahlendes Hellblau leuchtete. Plötzlich wollte ich wissen, wie diese besondere Blume hieß. Sie besaß doch sicher einen Namen? Mutter wusste ihn nicht, aber zu meiner maßlosen Verblüffung lag zwei Wochen später auf meinem Geburtstagstisch, zwischen den üblichen Garnituren Unterwäsche und dem Geburtstagskuchen, ein dickes Bestimmungsbuch. Was blüht denn da? war meine Eintrittskarte in die Welt der Botanik.

Von einem Tag auf den anderen hatte sich mein Sehen verändert. Meine Augen glitten nicht mehr gleichgültig über das Farbkaleidoskop, sie nahmen Einzelheiten auf, die ich vorher zwar gesehen, aber nicht wahrgenommen hatte. Augentrost, Klappertopf, Wiesensalbei, Günsel – die Vielzahl der Pflanzen und Namen verwirrte mich, doch mit der Zeit wurden sie mir alle vertraut. Und ich begann, sie Bekannten zuzuordnen. Unsere Englischlehrerin erinnerte mich an den Wiesenstorchschnabel: schöne, blaue Blüten, aber keine Standfestigkeit. Der Deutschlehrer dagegen war eine typische Buche: geradlinig, berechenbar und hart. Meine Banknachbarin versah ich mit dem Etikett Gänsedistel. Sie wirkte auf den ersten Blick nett und umgänglich, aber man kam ihr besser nicht zu nah. Nach dem Schulabschluss absolvierte ich lustlos, aber pflichtschuldig die Banklehre, die meine Mutter für mich geplant hatte. Es gab kein Entkommen in ein Leben, wie ich es mir erträumte. Ab sofort bestimmten Mutter und der Filialleiter meine tägliche Routine, in der ich nach außen resigniert hatte.

Wenigstens ermöglichte mir der Teil meines Gehalts, den ich behalten durfte, die Anschaffung und den Unterhalt eines Gewächshauses. Hinter dem breiten Fliederbusch fiel es nicht weiter auf. Dort richtete ich mir mein eigenes Reich ein. Seit einigen Jahren schon sammelte ich Fuchsien und Orchideen, die mich beide wegen ihrer unglaublichen Vielfalt faszinierten. Ich besaß sogar ein seltenes Exemplar der Fuchsia thymifolia mit winzigen weißen Blüten, das ich selbst aus Samen des botanischen Gartens gezogen hatte. Unsere Nachbarn waren allerdings mehr an Ablegern der Prachtformen interessiert, die zum Teil handtellergroße, gefüllte Blüten entwickelten.

Meine Orchideen halfen mir über die Wintermonate, wenn meine übrigen Schützlinge Winterschlaf hielten. Für sie heizte ich einen abgetrennten Teil des Gewächshauses auf Temperaturen, die Mutter einmal als »unanständig« bezeichnet hatte. Die feuchte Wärme war ihr so zuwider, dass sie strikt ablehnte, mein Reich zu betreten.

Der ursprüngliche Rasen des restlichen Teils unseres winzigen Reihenhausgärtchens hatte einer Iris-Sammlung, den Lilien und den Dahlien weichen müssen. Ihre auffällige Farbenpracht leuchtete mir immer schon von weitem entgegen und erfüllte mich immer wieder mit Stolz auf mein Werk.

Schon wenn ich im Frühjahr den harten Lehmboden lockerte, vorsichtig Unkräuter ausstach und die Pflanzlöcher vorbereitete, sah ich das fertige Bild vor meinem inneren Auge. Für andere mochten es nichtssagende braune Knollen sein – für mich waren es die feuerroten Blütenbälle des Roten Sterns, die leuchtend orangefarbenen der Glorie von Norwijk oder die fast schwarzen der Arabischen Nächte.

Die letzten Jahre war ich allerdings nur noch selten dazu gekommen, meinen Garten hingebungsvoll zu pflegen. Mutters Krankheit, die ich anfangs für einen Trick gehalten hatte, noch mehr meiner Zeit für sich zu beanspruchen, hatte immer stärker unser tägliches Leben bestimmt. Ob im Krankenhaus oder zu Hause, sie ließ mich kaum von ihrer Seite. Auch wenn sie zu schlafen schien, öffnete sie sofort die Augen, sobald ich Anstalten machte, mich wegzuschleichen, und fragte anklagend: »Wo willst du denn hin?«

Wusste der Pfarrer, wovon er sprach, wenn er sagte, das Wohlergehen ihrer Tochter sei der rote Faden gewesen, der sich durch ihr Leben gezogen hatte? Ich schluckte, um den Geschmack der Bitterkeit loszuwerden. Dabei fiel mein Blick auf eine rundliche alte Frau in Schwarz, die unterdrückt keuchend angehastet kam. Wollte sie zu uns?

Nur meine Freundin Monika hatte ich wider besseres Wissen gefragt, ob sie kommen würde, und ihr betretenes Schweigen am anderen Ende der Telefonleitung hatte mir mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie immer noch unter ihrer phobieähnlichen Abneigung gegen Beerdigungen litt. Also hatte ich mich beeilt, ihr zu versichern, dass es absolut unnötig wäre, dass sie extra anreiste. Ich käme gut zurecht. Ihr erleichtertes Aufatmen war Antwort genug.

Monika Böhm, wegen ihres jungenhaften Auftretens »Mike« genannt, war für zwei Schuljahre meine Banknachbarin gewesen und wurde während dieser Zeit zu der einzigen Freundin, die ich je hatte. Sie war die Einzige, die ich jemals bat, nach Hause einladen zu dürfen, und sie konnte wunderbar mit Mutter umgehen. Wenn Mike mich zu etwas mitnehmen wollte, wurde es mir erlaubt. Ich durfte sie sogar besuchen und erlebte staunend und ungläubig eine Familie, in der es in meinen Augen chaotisch zuging.

Als Mikes Vater überraschend starb und sie wegziehen mussten, war ich todunglücklich. Die erste Zeit schafften wir es, in Kontakt zu bleiben, aber Monika war keine große Briefschreiberin. Irgendwann kam dann ein Brief zurück, Empfänger unbekannt verzogen, und die Verbindung brach ganz ab.

Dann aber, vor einem halben Jahr, hatte sich Monika überraschend wieder gemeldet. Eines Abends klingelte das Telefon, und eine muntere Stimme fragte: »Hallo, Reni, kannst du dich noch an mich erinnern?«

Natürlich konnte ich! Von da an telefonierten wir regelmäßig miteinander. Einmal hatte ich sie sogar in ihrem kleinen Ort im Badischen besucht, etwas nervös, weil ich jeden Moment damit rechnete, zurück ins Krankenhaus gerufen zu werden.

»Davon, dass du dich verrückt machst, geht es ihr weder schlechter noch besser – also entspann dich und denk auch einmal an dich«, hatte Monika in ihrer unverblümten Art festgestellt. »Hast du dir überhaupt einmal Gedanken über dein Leben ohne sie gemacht? Das kommt – früher oder später, aber so sicher wie das Amen in der Kirche. Sieh die Dinge, wie sie sind: Sie wird auf jeden Fall vor dir sterben.« Energisch stülpte sie sich eine speckige Baseballkappe auf ihre feuerrot gefärbte Igelfrisur – sie erinnerte mich damit an eine Kaktusblüte, deren Auffälligkeit gleichzeitig Warnung ist, und sprang, mich mitziehend, von ihrem alten Ikea-Sofa auf. »Komm, ich zeige dir die Gärtnerei. Sie wird dir gefallen und dich ablenken.«

Und ob sie mir gefiel! Ich beneidete Monika glühend um ihr Reich, mit dem sich mein bescheidener Garten nicht messen konnte. »Wenn ich nur so leben könnte wie du!«, hatte ich sehnsüchtig gewünscht, und Monika hatte mir einen kurzen verständnisvollen Blick zugeworfen und gemeint: »Das müsste sich einrichten lassen. Aber so viel wie deine Bank könnte ich dir natürlich nicht zahlen.«

Wir fantasierten eine Weile über diesen Plan, ohne auszusprechen, dass Mutters Tod die Vorbedingung für seine Realisierung sein würde.

Monika hatte die Gärtnerei von Alfons, dem Vorbesitzer, quasi geerbt. Der alte Herr, ein leidenschaftlicher Blumenliebhaber, hatte keine Verwandten, und seine junge Angestellte war innerhalb kurzer Zeit zu einer Art Tochter geworden. Energisch hatte sie seine unwirtschaftliche Geschäftsführung modernisiert, und von der Verbindung ihrer Geschäftstüchtigkeit und seiner Erfahrung hatte das Unternehmen so profitiert, dass man es nicht nur nach den Maßstäben der Banken als Erfolg bezeichnen konnte. Alfons hatte es ihr schließlich gegen eine bescheidene Rente überschrieben, war aber immer noch täglich in den Gewächshäusern und auf den Anbauflächen anzutreffen, wo er freundlich, aber bestimmt die Hilfskräfte anlernte. Ein kleiner weißhaariger Mann, mit gebeugtem Rücken wie eine Unbilden gewohnte Bergkiefer und mit runzligen, von ständigem Erdkontakt rauen Händen. »Dieser Daumen war nur einmal in meinem Leben sauber«, erklärte er mir fröhlich grinsend, als Monika mich ihm vorstellte, und hielt seine rechte Hand hoch, an der Erdspuren in jede Pore gedrungen waren und sie geradezu gegerbt hatten. »Das war, als ich mir die Blutvergiftung geholt habe. Da mussten sie in der Klinik über eine halbe Stunde daran herumschrubben.« Er schien stolz darauf zu sein.

Die dicke Frau wollte tatsächlich zu uns. Kurzatmig keuchend nickte sie freundlich in die kleine Runde und stellte sich mir gegenüber ans offene Grab. Sie kam mir vage bekannt vor, aber ältere Damen sehen sich alle in gewisser Weise ähnlich. Sie atmete immer noch heftig, zog dezent ein Leinentaschentuch aus der Manteltasche und wischte sich damit über Stirn und Oberlippe. Der schwarze, wadenlange Mantel und der breitkrempige Hut schienen nicht allzu neu zu sein. Die ramponierte Hahnenfeder nickte im böigen Wind wie eine Wetterfahne. Ich musste lächeln, und die Frau lächelte überraschend herzlich zurück. Ihr Lächeln wärmte wie das Goldorange der üppigen Chrysanthemenkugeln, die mir in den letzten Wochen so oft die Sonne hatten ersetzen müssen. Neugierig versuchte ich sie einzuschätzen. Eine alte Freundin meiner Mutter? Kam sie mir deswegen bekannt vor? Oder nur eine Angestellte des Bestattungsunternehmens, die ihren Chef abholen wollte?

Der Pfarrer schien zu spüren, dass der Neuankömmling die Kontinuität durchbrochen hatte und die Aufmerksamkeit auf sich zog, und kam zum Ende.

Mit vor Kälte steifen Fingern griff ich nach der Schaufel, die der Bestatter mir auffordernd hinhielt, und ließ Sand aus dem bereitgestellten Behälter auf den Sarg rieseln. Offenbar hatten sie ihn nicht gesiebt, denn ich hörte deutlich kleine Steine dumpf auf dem Holz aufprallen. Es klang hohl, als sei er leer. Der Orchideenzweig, den ich hinterherwarf, segelte lautlos, drehte sich um die eigene Achse und kam direkt unterhalb des Gestecks auf. Die porzellanweißen Blüten schimmerten vor dem dunklen Hintergrund lebendig und geheimnisvoll. Vielleicht hatte Mutter meine Orchideen so verabscheut, weil sie perfekt und lebendig wirkten.

Die Chrysanthemenfrau hatte einen kleinen Handstrauß aus weißen Nelken und Buchs mitgebracht. Sie ließ die üblichen drei Schaufeln auf Mutters Sarg fallen, warf den kleinen Strauß hinterher und neigte kurz den Kopf. Ohne sich weiter aufzuhalten, drehte sie sich dann zu mir um, streckte mir beide Hände entgegen und sagte freundlich: »Du musst Verena sein. Vermutlich hast du keine Ahnung, wer ich bin? Ich bin deine Tante Hilde, Margarethes Kusine.«

Automatisch ergriff ich die Hände – und wurde in eine überwältigend herzliche Umarmung gezogen. Die kleine Person war erstaunlich kräftig. Ich roch Haarspray und Schmorkraut, fühlte den kompakten Körper, die Wärme, die er ausstrahlte, und musste mich auf einmal zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen.

»Ich wusste gar nicht, dass ich eine Tante habe«, stammelte ich unsicher. »Ich dachte immer, wir hätten keine Verwandten.«

Tante Hilde runzelte die Stirn und schüttelte missbilligend den Kopf. »Es war nicht richtig von Margarethe, sich so zu isolieren. Aber ich will sie nicht an ihrem Grab kritisieren. Lass uns die Herren verabschieden, und dann werden wir uns in aller Ruhe beschnuppern. Kannst du mir ein Hotel empfehlen? Ich habe mein Gepäck noch im Taxi.«

Halb betäubt hörte ich mich dem Pfarrer für seine Worte danken, schüttelte dem Zypressenmann die Hand, der leise murmelte, es sei gut, dass ich jetzt nicht alleine wäre, und fand mich Augenblicke später im Schlepptau von Tante Hilde den Hauptweg entlang zum Ausgang gezogen. Im Fond des Taxis, in dem sie ihre Frage nach einem anständigen Hotel erneuerte, fasste ich mich so weit, dass ich ihr versicherte, es sei ausreichend Platz in unserem Haus vorhanden, um sie unterbringen zu können.

Ihr Koffer schien mit Blei ausgekleidet. In der Diele zögerte ich. »Macht es dir etwas aus, in Mutters Zimmer zu schlafen? Wir haben leider kein Gästezimmer …« Wozu auch? Wir hatten niemals Gäste in unserem Haus gehabt.

Tante Hilde schnaubte leise durch die Nase und fand nichts dabei. »Schließlich haben wir als Kinder oft genug in einem Bett geschlafen.« Ihr kritischer Blick erfasste meine tauben Zehen, klammen Finger und die Kälte, die sich unter meinem alten Wintermantel eingenistet zu haben schien. »Ich komme schon zurecht, Kind. Sieh zu, dass du schleunigst warme Sachen anziehst. Es ist niemandem damit geholfen, wenn du jetzt krank wirst.« Mit diesen Worten scheuchte sie mich in mein Zimmer.

Ich duschte so heiß, wie ich es ertrug, und als ich in Wollsocken und meinem wärmsten Pullover nach unten kam, hatte sie bereits den Tisch gedeckt. Aus dem Backofen duftete es nach Apfelstrudel. Tante Hilde war gerade damit beschäftigt, Tee in Mutters Villeroy-&-Boch-Tassen zu gießen, die, solange ich zurückdenken konnte, nie benutzt worden waren.

»Ich habe alles gefunden«, stellte Tante Hilde so zufrieden fest, dass ich den ersten Impuls, gegen das Sakrileg zu protestieren, unterdrückte und gehorsam meine dampfende Tasse aus ihren Händen entgegennahm.

»So lerne ich dich doch endlich kennen«, stellte sie strahlend fest. »Du siehst gar nicht nach unserer Familie aus, viel eher nach Giuseppe.«

Ich fühlte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte, das Blut in meinen Ohren pochte. Mein Leben lang hatte ich über meinen Vater gerätselt – und nun saß mir jemand gegenüber, der so selbstverständlich über ihn sprach, als hätte er ihn gut gekannt!

Meine plötzliche Blässe war Tante Hilde nicht entgangen.

»Ach herrje, hat sie dir das auch verschwiegen?«, fragte sie ungläubig. »Wie hat sie dir denn dein südländisches Aussehen erklärt?«

»Gar nicht.« Als ich alt genug gewesen war, mir darüber Gedanken zu machen, hatte ich schon lange nicht mehr die Unbefangenheit besessen, Mutter danach zu fragen. Mein Vater war ein Thema, das einfach nicht berührt wurde. Das hatte ich sehr früh gelernt.

Vorsichtig stellte ich die Tasse ab. Meine Hände zitterten. Ich hatte das Gefühl, dass meine vertraute Welt um mich herum unkontrolliert schwankte. Alles schien sich aufzulösen, durcheinander zu wirbeln.

Warme Hände schlossen sich tröstend um meine, braune Augen zwinkerten mir aufmunternd zu.

»Entschuldige, ich bin ein Trampel, dass ich so mit allem herausplatze. Ich hätte wissen müssen, dass Margarethe …« Tante Hilde beobachtete mich so intensiv wie eine Krankenschwester einen Schwerkranken, als sie fortfuhr: »Hat deine Mutter nie von deinem Vater gesprochen?«

Mein einfaches Kopfschütteln schien sie zu erschüttern.

»Du lieber Himmel – ich weiß überhaupt nicht, wie ich anfangen soll. Möchtest du jetzt etwas über deinen Vater erfahren, oder sollen wir bis morgen warten?«, fragte sie schließlich behutsam. »Vielleicht ist alles auf einmal ein bisschen viel …« Nein, ich hatte lange genug in einem Vakuum gelebt. Zu erfahren, dass es ein künstlich erzeugtes gewesen war, wirkte verwirrend und gleichzeitig beruhigend. Es schien mir so unwirklich: Auf einmal war an die Stelle eines gesichtslosen Erzeugers ein Mensch aus Fleisch und Blut getreten. Die Glasglocke, unter der ich gelebt hatte, hob sich. Mir war schwindlig, aber ich sagte mit fester Stimme: »Nein, ich möchte nicht warten.«

Tante Hilde nickte zustimmend, trank ihren Tee aus und verschwand geheimnisvoll lächelnd. Mit einem dicken, in braunes Leder gebundenen Buch kam sie zurück.

»In der Eile habe ich einfach unser Familienalbum gegriffen. Ich habe leider keine Zeit gehabt, die Bilder zu sortieren«, erklärte sie entschuldigend. »Aber einige Bilder von Margarethe und Giuseppe sind natürlich dabei.«

Mit dem braunen Lederband und der Flasche Sherry aus Mutters Kredenz setzten wir uns aufs Sofa und öffneten die Tür zur Vergangenheit.

Mit leicht zitternden Händen schlug ich eine Seite nach der anderen um. Säuglingsbilder, steif wirkende Männer in dunklen Anzügen und mit verhärmten Gesichtern, Frauen in Schürze und Kopftuch.

»Das ist zu früh, blättere weiter. Margarethe ist ein paar Jahre nach mir geboren, und wir haben uns erst später als Schulmädchen immer in den Sommerferien getroffen. Ein Jahr kam sie zu uns, ein Jahr fuhr ich zu ihr. Damals wurde noch nicht so viel fotografiert. – Da! Ich glaube das ist das erste Bild von uns beiden. Das ist zu meinem 16. Geburtstag. Da muss Margarethe zwölf gewesen sein. Unglaublich, wie erwachsen sie schon wirkt, nicht?«

Auf der Schwarzweiß-Aufnahme lächelte unverkennbar Tante Hilde, die dicken Zöpfe zu einer Krone geschlungen. Neben ihr, schon damals kühl und unnahbar, Mutter: die blonden Locken von einem Stirnreif zurückgehalten, die Bluse makellos gebügelt. Ihr zu Füßen ein kleiner Spaniel.

»Sie hatte einen Hund?«, fragte ich ungläubig.

»Nicht lange. Ihr Vater brachte ihn ihr von einer Geschäftsreise mit. Aber er war ein kleiner Tunichtgut. Als er eines Tages ihre Pantoffeln zerkaute, brachte sie ihn stillschweigend ins Tierheim und behauptete, sie sei allergisch gegen Tierhaare.« Ich blätterte weiter. Ein Familienausflug: lachende Gesichter, die übermütige Grimassen schnitten. Tante Hilde kicherte: »Schau, das da sind deine Großeltern, und das dicke Paar sind meine Eltern. Meine Mutter und dein Großvater waren Geschwister.«

Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Neben meinem Großvater wirkten Frau und Tochter kindlich schmal und zerbrechlich. Feen neben einem fröhlichen Wikinger.

Dann tauchten plötzlich Bilder von einem schlanken, dunklen Mann auf. Meist zusammen mit Mutter – einer lächelnden, jungen Mutter. Eine Aufnahme gefiel mir besonders: Er stand hinter ihr und lächelte über ihre Schulter in die Kamera, sie blickte zu ihm auf, die schlanke Hand auf seinen Arm gelegt. Ein schönes Paar.

»Dein Vater betete sie an.« Tante Hildes Stimme klang belegt. Sie räusperte sich und fuhr fort: »Als sie heirateten, kam seine ganze Verwandtschaft aus Sizilien. Mit einem Reisebus – stell dir das vor! Nette Leute, aber Margarethe fand sie schrecklich: zu laut, zu anstrengend, zu unbeherrscht. Sie weigerte sich, ihre Flitterwochen dort zu verbringen. Giuseppe war tief verletzt, aber er gab nach.«

Die nächsten Fotos von den beiden stammten aus der Zeit der ersten Farbfilme. Verblasst und fremdartig zeigten sie bereits eine Familie, ein Baby im Arm der jungen Frau, der Blick der Mutter eher unangenehm berührt als liebevoll.

Auf dem folgenden Bild hielt der stolze Vater das Kleinkind vorsichtig an den Händen und unterstützte es bei ersten Laufversuchen neben einem Sandkasten. Ich blätterte weiter, aber die restlichen Aufnahmen zeigten ausnahmslos Unbekannte. »Was ist geschehen?«

Tante Hilde zuckte hilflos die Schultern und schloss energisch das Album. »Ganz genau weiß das keiner. Ich war damals mit meiner eigenen Familie beschäftigt. Es gab so etwas wie einen Skandal, weil Giuseppe ein Verhältnis mit einer stadtbekannten lockeren Dame hatte und irgendwie in die Umstände ihres tödlichen Unfalls verwickelt war. Margarethe verlangte die Scheidung und verschwand von einem Tag auf den anderen spurlos. Wir dachten alle, sie wäre vielleicht ausgewandert, weil sie nicht einmal zum Begräbnis ihrer Eltern kam. Die armen haben bis zuletzt gehofft, ihr Enkelkind noch einmal zu sehen.« Tante Hildes Stimme spiegelte ihre unterschwellige Empörung wider.

Mich wunderte ihre offensichtliche Ignoranz. Es war Mutters Art gewesen, einmal getroffene Entscheidungen nicht zu revidieren. Für »sentimentalen Quatsch« hatte sie nicht viel übrig gehabt. Wenn sie entschieden hatte, alle alten Verbindungen zu kappen, hatte sie es sicher als endgültig betrachtet.

Und damit stellte sich die Frage, wieso Tante Hilde und ich uns überhaupt hatten kennen lernen können. »Wie hast du von Mutters Tod erfahren?«

»Dieser Rechtsanwalt hat mir geschrieben. Wie hieß er noch – Weidenmann oder so ähnlich? Der, bei dem deine Mutter ihr Testament hinterlegt hat. Scheinbar hat sie verfügt, dass ich von ihrem Tod zu informieren bin.«

Die Sache wurde immer verwirrender. Hatte Mutter doch Gewissensbisse bekommen? Wollte sie mich nicht ganz allein auf mich gestellt zurücklassen? Es wäre eine tröstliche Vorstellung, zu glauben, dass sie diese Verfügung aus einem Gefühl der Fürsorge und Zuneigung für mich heraus getroffen hätte.

Auf einmal musste ich gegen meinen Willen gähnen. Die emotionale Aufregung forderte ihren Tribut. Ich wollte nur noch in mein Bett, die Decke über den Kopf ziehen und alles hinter mir lassen.

Tante Hilde strich mir verständnisvoll über die Haare: »Geh zu Bett, Kind. Du siehst total erschöpft aus. Ich finde mich schon zurecht.«

In den folgenden Stunden träumte ich die bizarrsten Träume, die mich jemals heimgesucht hatten. Meine Mutter, die ich niemals hatte laut werden hören, schrie so laut und anhaltend, dass ich mir die Ohren zuhalten musste und es trotzdem noch schmerzhaft schrill an mein Trommelfell brandete. Ein kleiner Hund mit dem Kopf meines Vaters knabberte übermütig an ihren Pantoffeln, und sie trat ihn weg, so dass er in weitem Bogen davonflog. Aber bevor er aufschlug, verwandelte er sich in einen Vogel, der sich in die Höhe schraubte, bis er nicht mehr zu sehen war. Meine Mutter schrie immer noch, den Kopf in den Nacken gelegt. Ich konnte ihre Wut, ihre Enttäuschung und ihren Zorn fühlen, als seien es meine eigenen Gefühle, und sie machten mir Angst. Um sie herum war Leere. Nichts existierte darin als dieser Zorn, schwarz und erstickend.

Und dann sah ich mich. Ich versuchte, zu meiner Mutter zu gelangen, aber die dunklen Schwaden reichten mir bereits bis zum Hals, umhüllten mich, versuchten mich zu verschlingen. In panischer Angst schrie ich auf und erwachte – schweißnass, aber sicher in meinem Bett.

Es war noch früh. Die Straßenlaternen brannten hell, nur gedämpft durch den morgendlichen Nebel. Normalerweise hätte ich jetzt aufstehen müssen, aber ich hatte noch zwei Tage Sonderurlaub wegen »Todes eines Angehörigen ersten Grades«.

Mein nass geschwitzter Pyjama klebt unangenehm an der Haut. Ich konnte genauso gut aufstehen und nach meinen Pflanzen sehen, die ich die letzten Tage vernachlässigt hatte. Im Bad stand wie ein Fremdkörper Tante Hildes Kulturbeutel. Ihm entströmte leichter Kampfergeruch, der Duft von Lavendel und Rosencreme. Ihre Zahnbürste hatte sie in ein Glas aus dem Küchenschrank gestellt. Irgendwie war ich ihr dankbar, dass sie Mutters goldgeränderten Porzellanbecher unberührt gelassen hatte. Ich hatte ihn bereitgestellt für die Zeit, wenn sie wieder aus dem Krankenhaus entlassen würde. Dieses Mal aber war sie nicht wieder nach Hause gekommen wie so oft zuvor.

Ich fröstelte. Die Heizung lief noch auf Nachtbetrieb. Mutter hatte es unnötig gefunden, sie nach meinen Zeiten zu programmieren. »Du bist so schnell angezogen, da ist es absolute Geldverschwendung, für die Viertelstunde die Heizung laufen zu lassen«, war stets ihre Meinung gewesen. In einer Anwandlung von Trotz überlegte ich, das heiße Wasser laufen zu lassen, entschied mich dann aber dagegen.

Im Gewächshaus brannte noch die Röhre mit dem ultravioletten Licht und tauchte die Pflanzen in gespenstische Nuancen. Ich sah auf die Uhr; jeden Moment würde die Zeitschaltuhr die Tageslichtröhre einschalten. In dem düsteren Zwielicht schimmerten die weißen wachsartigen Blüten, als leuchteten sie aus sich heraus. Eigentlich zog ich das kräftige Rosa der Cattleyen vor, aber die Phalaenopsis blühten reicher und zeigten sich überhaupt so wuchsfreudig, dass Weiß inzwischen zur vorherrschenden Farbe geworden war.

Die feuchte Wärme hatte sich auf den Fensterscheiben niedergeschlagen und sie mit einem Film überzogen, der meine Welt isolierte. Ich griff nach der Messingkanne mit dem abgestandenen Wasser und begann die Topfreihen zu kontrollieren. Der elegant geschwungene Griff schmiegte sich in meine Hand. Sie war so filigran gearbeitet, dass man mit ihrer feinen Spitze einzelne Tropfen dosieren konnte. Mutter hatte sie mir, zusammen mit einem Paar lederner Gartenhandschuhe, letzte Weihnachten geschenkt.

In meiner Lehrzeit, wie ich es nannte, hatte ich erschreckend viele Pflanzen verloren, weil ich sie zu nass hielt. Und natürlich hatte ich gerade meine Favoriten in fehlgeleiteter Fürsorge zu Tode gegossen. Der so genannte grüne Daumen ist im Wesentlichen der richtige Einsatz des Daumens beim Befühlen der Blumenerde.

Die Sonne ging auf, ohne dass ich von ihr Notiz nahm. Erst das scharrende Geräusch, mit dem die Glastür schnell geöffnet und wieder geschlossen wurde, schreckte mich aus meiner Tätigkeit.

»Hier also steckst du! Ich muss sagen: Es ist wirklich beeindruckend.« Tante Hilde in ihrer altmodisch-adretten Bluse und einem Paar Hosen, von dem es immer so schön heißt »nichts kneift, nichts zwickt«, schaute sich bewundernd um. »Du hättest Gärtnerin werden sollen. Das wirkt richtig professionell.«

Ich war es nicht gewöhnt, hier jemanden bei mir zu haben, und irgendwie irritierte mich dieser Einbruch in meine ureigene Privatsphäre. Aber um nicht unfreundlich zu erscheinen, stellte ich ihr meine schönsten Exemplare vor. Sie war fassungslos: »Und die hast du wirklich alle selbst gezüchtet? Mit künstlicher Bestäubung und so?«

Ich musste lachen. »Das ist nicht so schwierig, wie du denkst. Bei dieser Art ist es sogar ganz einfach, deshalb habe ich so viele davon.«

Tante Hilde schnupperte kritisch: »Es riecht ein wenig muffig. Ich wette, Margarethe hat dieses Gewächshaus nicht gemocht. Seltsam, dass sie es dir erlaubt hat.«

Während wir frühstückten, fragte sie mich ungeniert nach meiner Arbeit aus. Ich erzählte ihr, dass ich seit Beendigung meiner Lehrzeit in derselben Bank arbeitete. In der Vermögensberatung durfte ich mich inzwischen als rechte Hand des Abteilungsleiters betrachten.

»Und Männergeschichten? Hast du einen Freund?«, bohrte Tante Hilde gnadenlos nach.

Ich schüttelte den Kopf. Seit der Geschichte mit Dieter hatte kein Mann an mir echtes Interesse bekundet.

Dieter war gerade in die Hypothekenabteilung übernommen worden, als ich dort mein Praktikum begann, und es war nur natürlich, dass wir zwei Neulinge uns zusammenschlossen. Er war ein freundlicher, wenn auch etwas schüchterner junger Mann, der nach einem Unfall leicht hinkte und bei Nervosität in seinen heimischen schwäbischen Dialekt verfiel. Eine Sonnenblume, die bodenständig und verlässlich Wärme verbreitete. Ich mochte ihn. Er jagte mir keine Angst ein wie die älteren Männer, die sich einen Spaß daraus machten, mich zum Erröten zu bringen. Dieter zwinkerte mir immer aufmunternd zu, wenn ich an seinem Schreibtisch vorbeikam, und hatte sich angewöhnt, mit mir zusammen in die Kantine zu gehen. Dort konnte ich ihn während unserer gemeinsamen Mittagspause die Dinge fragen, bei denen ich die schrägen Witze der anderen fürchtete.

Als er eines Tages zwei Kinokarten aus seiner Brusttasche zog, hätte ich ihm zuliebe jeden Film angesehen. Und so saßen wir einträchtig vor einem cineastischen Produkt, von dem ich nicht einmal die Hälfte verstand, weil es in französischer Originalfassung lief. Die Dunkelheit und die räumliche Nähe ließen es normal erscheinen, dass er meine Hand ergriff und seine Finger mit meinen verschränkte. Sie waren feucht, aber das störte mich nicht im Geringsten. Die einfache Berührung verzauberte mich, weckte geradezu die Gier nach mehr.

Es war ziemlich unbequem in seinem Opel Kadett, aber es war mir egal. Ebenso egal wie die Tatsache, dass die Angelegenheit sich für mich nicht besonders anfühlte. Es tat etwas weh, und ich war erleichtert, dass es nicht lange dauerte. Das Schönste war, dass er mich danach im Arm hielt.

Mutter schlief bereits, als ich vorsichtig die Treppe hinaufschlich, aber ich traute mich nicht, mir ein Bad einzulassen, wie ich es liebend gerne getan hätte. Also griff ich nach einem Waschlappen und musterte mich etwas besorgt im Spiegel. Sah man mir etwas an? Meine weiße Bluse war zerknittert, der dicke Haarknoten hatte sich teilweise gelöst, was mir ein leicht verruchtes Aussehen verlieh. Meine widerspenstige schwarze Haarfülle war früher in adretten Zöpfen gebändigt worden; seit einigen Jahren trug ich sie aufgesteckt, weil ich mich nicht entschließen konnte, sie abschneiden zu lassen. Ich liebte es, sie spätabends, wenn Mutter bereits schlief, meine Haare zu bürsten, bis sie seidig glänzten und sich geschmeidig um meine Finger ringelten wie etwas Lebendiges.

Mit meiner im Sommer goldenen, im Winter eher olivfarbenen Haut, den dunkelbraunen Augen und dem dunklen Haar wirkte ich neben Mutter immer auffallend exotisch. Die Gänsedistel hatte mich »Negerkind« genannt, bis unsere Klassenlehrerin es einmal zufällig mitbekam. Sie war ziemlich wütend geworden und hatte der ganzen Klasse erklärt, ich sei kein »Negerkind«, sondern ein klassischer mediterraner Typ. Besonders dankbar war ich ihr nicht, denn danach hieß ich nur noch »die Itakerin«.

Ich bemühte mich nach Kräften, meine südländische Erscheinung durch besonders strenge Kleidung zu neutralisieren, versagte mir leuchtende Farben und trug hauptsächlich eine Art Tarnkleidung, die meine Seriosität betonen sollte. Weiße Blusen und unauffällige Kostüme verbargen außerdem erfolgreich die üppigen Formen, die sich zu meinem Entsetzen während der Pubertät entwickelt hatten.

Ich wusch den Waschlappen schließlich dreimal mit Seife aus, ehe ich ihn in den Wäschekorb fallen ließ.

Erstaunlicherweise duldete Mutter die wöchentlichen Kinobesuche mit der angeblichen Kollegin kommentarlos, und es spielte sich eine Art Routine ein: Mittwochs gingen Dieter und ich zwar getrennt aus der Bank, trafen uns aber im Park um die Ecke und fuhren von dort aus gemeinsam weiter. Spielte das Wetter mit, ging Dieter nach dem Kino mit mir in den Park. Regnete es, fuhr er in eine dunkle Seitenstraße. Leider blieben mir die Empfindungen, die Dieter so zu genießen schien, versagt, aber ich liebte es, mich an ihn zu pressen; seine Nähe gab mir das Gefühl, lebendig zu sein, zu jemandem zu gehören.

Das Ende kam brutal und plötzlich.

»Sie möchten bitte zu Herrn Lautenschläger kommen!« Die Nachricht allein klang harmlos, aber mein Herzschlag schnellte innerhalb von Sekundenbruchteilen in die Höhe. Mein Mund schien völlig ausgetrocknet, als ich mit zwei Fingerknöcheln zitternd an die massive helle Holztür pochte.

Seine hellblauen Augen musterten mich ausdruckslos. Das eisige Blau der sibirischen Iris. Er war dafür bekannt, dass seine Nackenschläge ohne jede Vorwarnung kamen. Ich duckte mich wie ein Kaninchen vor dem Habicht. Eine Spur Mitgefühl flackerte in den Eislöchern, als er mich bat, Platz zu nehmen. Ein dezentes Räuspern, dann sagte er bedächtig: »Ich muss mit Ihnen über Ihre Beziehung zu Herrn Grieshaber sprechen.«

Mir wurde schwindlig, und ich presste meine verschlungenen Finger ineinander, dass es schmerzte. Was war mit Dieter? Ich hatte ihn heute Morgen noch nicht gesehen. War ihm etwas zugestoßen?

Herr Lautenschläger schien nach Worten zu suchen. »Sehen Sie, Frau Naumann, wir haben als angesehene Bank auch eine gewisse Verantwortung, und Sie sind noch sehr jung. Sonst hätten wir uns in diesem Fall herausgehalten und Sie beide entlassen. Ich gehe davon aus, dass Sie nicht wissen, dass Herr Grieshaber verheiratet und Familienvater ist?«

Der solide Bürostuhl, auf dem ich saß, schien plötzlich zu schwanken. Mir wurde übel. Ich musste schlucken.

Herr Lautenschläger nickte bedächtig: »Das dachte ich mir. Es liegt nicht in unserem Interesse, uns unnötig in das Privatleben unserer Angestellten einzumischen, aber in diesem Fall …« Taktvoll verzichtete er auf weitere Ausführungen und erklärte nüchtern, dass Dieter in eine andere Filiale versetzt worden sei und man davon ausgehe, dass die Sache damit erledigt sei. Mit den Worten »Ich hoffe sehr, dass Sie sich in Ihren wirklich guten Leistungen nicht beirren lassen. Ab nächsten Montag sind Sie in der Devisenabteilung« schüttelte er mir kurz die Hand, und ich stand vor der Tür. Es dauerte eine Zeit lang, bis es wirklich zu mir durchdrang, dass meine Sonnenblume verwelkt und zerrupft auf dem Kompost gelandet war.

Die Versetzung in die Devisenabteilung half mir. Dort herrschte ein anderer Umgangston, kollegialer und doch zurückhaltender. Man behandelte mich freundlich, aber distanziert, und diese Professionalität half mir.

»Nein, keine Männergeschichten. Meine Blumen sind mir lieber. Sie hintergehen mich nicht und sind … berechenbar.« Tante Hilde schnalzte bedauernd mit der Zunge. »Trotzdem ist es ein Jammer, dass du keinen Freund hast. Bei deinem Aussehen müssten die Männer doch Schlange stehen!« Kopfschüttelnd goss sie mir fürsorglich Tee nach und erkundigte sich nach meinen weiteren Plänen. »Ich weiß, es ist ein bisschen früh nach Margarethes Tod«, sagte sie entschuldigend, »aber auch wenn es grässlich platt klingt: Das Leben geht weiter. Und du solltest heraus aus diesem Mausoleum.« Missbilligend ließ sie ihren Blick über die makellose Einrichtung schweifen, die jedem Möbelhaus zur Ehre gereicht hätte. »Ich wette, du hast nie im Wohnzimmer spielen dürfen.«

Ihre unschuldige Bemerkung machte mir schlagartig klar, dass ich tatsächlich frei war, zu tun, wovon ich stets nur geträumt hatte. Jetzt konnte ich Monikas Angebot annehmen! Ich hatte gerade den Bestatter hinausbegleitet, mit dem ich die Einzelheiten der Beerdigung besprechen musste, als ihr Anruf mich aus meiner Lethargie riss.

»Ich weiß, dass manche Menschen mich für pietätlos halten, aber was du brauchst, ist ein Tapetenwechsel.« Sie hatte mit Alfons gesprochen, und er war einverstanden. Ihr Vorschlag, meine Stelle bei der Bank aufzugeben und in ihrer Gärtnerei Blütenzauber als Prokuristin einzusteigen, war mit einem Mal kein Luftschloss mehr, sondern Realität.

Allerdings müsste ich dafür nicht nur die Stelle wechseln, sondern auch umziehen. »Was soll dann mit dem Haus geschehen?« Ich fühlte mich, ausgebrannt wie ich war, nicht imstande, weitreichende Entscheidungen zu treffen.

»Du kannst doch nicht in dieser blöden Bank versauern bis in alle Ewigkeit«, redete sie mir zu.

Sie hatte sicher Recht, aber ich zögerte, unsicher wegen der ungewohnten Freiheit. Mir fehlte ganz einfach die Entschlusskraft.

Tante Hildes Feststellung, die Monikas Einschätzung so ähnlich war, ermutigte mich, ihr von diesem Angebot zu erzählen. Ich verschwieg allerdings auch nicht meine Bedenken, leichtsinnig eine gute Stellung aufzugeben.

»Weißt du was?«, meinte Tante Hilde sehr vernünftig. »Wir warten diesen Termin morgen beim Rechtsanwalt ab. Aber fangen wir doch schon mal an, Margarethes Sachen auszuräumen.«

Meine anfänglichen Bedenken wischte sie mit der praktischen Einwendung beiseite, dass niemand etwas davon hätte, wenn ich hier alte Kleider hortete, und machte sich tatkräftig an die Arbeit. Beim neuen Wintercape aus dunkelgrauem Kaschmir zögerte Tante Hilde plötzlich, strich beinahe ehrfürchtig über die flaumige Oberfläche und fragte schüchtern: »Meinst du, ich könnte es behalten?«

Ich erinnerte mich an ihre etwas schäbige Erscheinung auf dem Friedhof und bat sie hastig, alles zu behalten, was ihr gefiele. Wieso hatte ich nicht eher daran gedacht? Tante Hilde dankte mir eine Spur verlegen und machte sich wieder an die Arbeit. Kleiderstange für Kleiderstange, Schublade für Schublade wanderten ordentlich zusammengelegt in die Kleidersäcke vom Roten Kreuz. Mutter hätte ihre unbeirrte Effizienz gefallen. Aber ich merkte, dass ich es nicht ertrug. Es war das Nachthemd mit dem Einsatz aus St. Gallener Spitze, das ich vor einer Woche noch sorgfältig gebügelt hatte, das mich schließlich flüchten ließ. Ich murmelte etwas von »Papiere durchsehen« und stürmte aus dem Zimmer.

Ein oder zwei Stunden vergingen in stummer Konzentration.

»Was ist denn das?«

Das Erstaunen in Tante Hildes Ausruf deutete etwas Unerwartetes an. Ich ließ den Ordner mit den Unterlagen von Mutters Krankenkasse fallen und rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die schmale Treppe hinauf. Tante Hilde kniete vor Mutters Wäschekommode und tastete nach etwas im hinteren Bereich der untersten Schublade. Triumphierend zog sie einen dicken Umschlag heraus und schwenkte ihn in meine Richtung. »Es scheinen Fotografien zu sein.«

Ich riss ihr das Päckchen praktisch aus der Hand. Für Verena stand in Mutters gestochener Handschrift darauf. Mit zitternden Händen öffnete ich ihn und zog eine Hand voll Fotos heraus. Auf dem obersten lächelte mich mein Vater an, ein strahlendes Lächeln, das einen animierte zurückzulächeln. Die meisten Bilder zeigten ihn, oft gemeinsam mit Mutter. Auf einigen waren auch meine Großeltern zu sehen, und auf einem stand Giuseppe inmitten seiner sizilianischen Familie: schwarz gekleidete Frauen mit Spitzenschleiern über dem Haar, die Männer mit wilden Schnurrbärten, theatralisch vor einem Säulenportal posierend.

»Du bist ihm geradezu aus dem Gesicht geschnitten«, stellte Tante Hilde fest. »Sie muss immer ihn gesehen haben, wenn sie dich anschaute.«

Ganz zuunterst lag ein zusammengefaltetes Papier. Es schien die Kopie einer Geburtsurkunde zu sein. Ausgestellt in Agrigento, am 23. Oktober 1943, wurde die Geburt von Giuseppe Tomaso Renaldo Corvaio bestätigt. Blitzschnell rechnete ich nach. Mein Vater müsste demnach jetzt 59 sein, sieben Jahre älter als Mutter. Ob er noch lebte?

Wie in Trance sah ich immer wieder die Bilder an, konnte mich gar nicht davon lösen.