01
26. März
16:15 Uhr. Friseur.
02
Stefan Wallner vergleicht in seinem Büro die Kosten für den Transport von drei Traktoren nach Klatovy – Bahn oder LKW. Frau Beck hat ihn vom Vorzimmer aus angerufen, er kann ihre am Tisch sitzende Gestalt durch die Milchglasscheibe sehen. Sie sagt, daß ihn zwei Polizeibeamte sprechen wollen. Wallner läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Die Polizeibeamten werden wegen dieser Lieferung von CLAAS-Reifen aus Danzig vor zwei Jahren kommen, die nicht versteuert wurde. Sobald die Polizeibeamten gegangen sind, wird Wallner Ulrich Wiget anrufen, um sich mit ihm zu beraten, ob man die Akten in Wigets Büro, alle Beweise beseitigen, am besten vernichten oder ob man einen Anwalt kontaktieren soll, den Fall schildern, nach den möglichen rechtlichen Konsequenzen fragen, abwägen. Der Anwalt hätte Schweigepflicht.
Die beiden Polizeibeamten treten ein. Es habe sich ein ICE-Unglück ereignet, man gehe davon aus, daß sich Wallners Vater unter den Toten befinde, man habe eine Leiche mit einem Paß auf den Namen Günter Wallner gefunden, es täte ihnen leid. Es entsteht eine Pause.
Wallner geht durch den Flur und steigt die Treppe zum ersten Stock herunter, wo Wiget sein Büro hat. Draußen ist ein strahlender Tag, die Sonne scheint hell durch die Fenster. Wallner sagt, daß soeben die Polizei dagewesen sei, sein Vater sei bei einem ICE-Unglück ums Leben gekommen, sein Vater sei tot.
Wiget steht auf und fragt: „Dein Vater?“
Wallner kann Wigets Gesichtsausdruck hinter dessen schwarzen Bart nicht genau erkennen.
Es entsteht eine Pause.
Wiget fragt: „Bist du OK?“
Wiget soll Wallner in den Arm nehmen.
Wallner hat „Ich weiß nicht“ gesagt, seine Stimme zittert dabei, er werde für heute Schluß machen, Uli solle ihn bei allen weiteren Terminen heute vertreten.
Wiget umarmt Wallner. Wallner drückt sein Gesicht an Wigets rechte Schulter, Wiget hält ihn, Wallner weint.
Wallner geht zum Büro seiner Frau Ana und grüßt auf dem Flur Frau Bräuer aus der Buchhaltung. Er sagt Ana, daß sein Vater tödlich verunglückt sei, ein Zug sei entgleist, ein ICE, es sei aber schon in Ordnung, er wolle jetzt nur nach Hause, sie könne ruhig hierbleiben, er komme schon klar. Ana ist aufgestanden und hat die rechte Hand an ihren Mund gedrückt. Ana wird Wallner umarmen wollen. Als Ana auf Wallner zugeht, um ihn zu umarmen, macht er einen Schritt zurück und sagt, daß es schon in Ordnung sei, er brauche nur Ruhe, es sei schon in Ordnung.
Zu Hause in der Küche nimmt Wallner zwei Toastscheiben aus dem Kühlschrank und belegt sie mit Emmentaler und Putenschinken. Von der Treppe sind Schritte zu hören, die angelehnte Küchentür öffnet sich. Costin trägt das goldfarbene Trikot der rumänischen Fußballnationalmannschaft, er muß Wallner gehört haben.
Costin fragt: „Tata? Was machst du denn hier?“
Wallner fragt: „Und du? Was machst du hier?“
Costin sagt: „Ich muß nach Regensburg“, er deutet auf die weiße Sporttasche, die um seine Schulter hängt.
„Diese Tanzgeschichte?“ fragt Wallner.
„Diese Tanzgeschichte“, sagt Costin und nickt.
Er beugt sich zum Teller vor, greift nach der zweiten Toastscheibe und steckt sie als Ganzes in den Mund. Als sich Costin umdreht und mit gespielt hastigen Bewegungen in den Flur verschwindet, hat ihm Wallner, der ihm gar nicht erst folgt, auf den Rücken gepatscht. Auf der Rückseite des Trikots steht über der fettgedruckten schwarzen Acht ein Name, den Wallner noch nie gehört hat, Pesencu.
Das Aufschieben von Angelegenheiten kann Folgen haben. Alles rächt sich. Wallner weiß, daß Ana in der obersten Schublade des Schreibtischs ihr hellgrünes Filzadreßbuch aufbewahrt, in das sie, seit er sie kennt, Adressen einträgt, noch heute, obwohl sie einen mit Handy und Rechenfunktion ausgestatteten Organizer besitzt. Das hellgrüne Filzadreßbuch ist für Verwandte, Freunde und Bekannte, der Organizer für Kunden, Arbeitskollegen und Geschäftsanschriften. Wallner schlägt die Seite der Familiennamen auf, die mit W beginnen, und sucht die Telefonnummer seiner Cousine heraus. Er kann ihre Stimme hören, die sich mit „Wallner-Lloyd“ meldet, und seine eigene, die „Stefan“ sagt. Wallner unterläßt es, seine Cousine anzurufen. In seinem Arbeitszimmer gibt er im Suchfeld auf der Seite seines E-Mail-Kontos „Wallner-Lloyd“ ein und schreibt als Antwort auf die Rundmail, die seine Cousine unter anderem auch an ihn immer zu Weihnachten schickt, sein Vater sei tödlich verunglückt, sie solle ihn aber vorerst nicht anrufen, bitte –, er löscht, was er gerade geschrieben hat, und schreibt, sein Vater sei tödlich verunglückt, sie solle ihn aber vorerst nicht anrufen, bitte –.
Wallner sieht, wie seine Cousine in ihrem Büro im Sozialamt, das er nicht kennt und sich deshalb als das Büro Anas vorstellt, die E-Mail öffnet und die rechte Hand vor den Mund hält, um ihr Schluchzen zu unterdrücken.
Nein.
Er stellt sich vor, daß sie die E-Mail öffnet, einen wichtigen Telefonanruf bekommt und „Darf ich Sie zurückrufen? Ich bin gerade in einem Meeting“ sagt. Sie klingt gefaßt.
03
Aus der Luft, vom Hubschrauber aus, sind die Waggons des ICEs auf offener Strecke zwischen grünen Feldern gut erkennbar. Zwei Waggons sind nach links zur Seite gekippt, die anderen Waggons stehen in gerader Linie. Um die umgestürzten Waggons liegen helle Kleidungs- und Gepäckstücke verstreut, bei denen es sich aber auch um Menschen handeln könnte. Der Augenzeuge Dieter Baumann, der eine hellbraune Strickjacke trägt, die spärlichen weißen Haare zurückgekämmt, sagt aus, er habe ein lautes Quietschen wie von Bremsen gehört, dann ein Krachen, er sei hinausgerannt und da habe der ICE auch schon dagelegen. Baumann deutet dabei mit dem ausgestreckten Arm auf das Feld, die weißen Waggons des ICEs in der Ferne, auf dem leicht erhöhten Damm. Eine Nahaufnahme zeigt die beiden umgestürzten, nahezu unbeschädigten Waggons, um die herum Feuerwehrleute und andere Uniformierte stehen, reden. Laut dem roten Tickerband am unteren Bildschirmrand beläuft sich die Zahl der Todesopfer auf 19, die Zahl der Verletzten auf mehr als 60. Als Unfallursache wird mangelnde Gleiswartung angegeben. Um 16:59 Uhr schaltet Wallner auf die heute-Nachrichten. Der Nachrichtensprecher trägt eine gelbe Krawatte mit roten Punkten, er sagt, es habe sich heute vormittag auf der Strecke Essen–Köln ein schweres ICE-Unglück ereignet. Man gehe von 19 Toten und mehr als 70 Verletzten aus. Die Aufnahme aus dem Hubschrauber zeigt die weißen Waggons des ICEs, die beiden Waggons, die nach links auf das Feld gekippt sind, ringsum verstreut die Kleidungs- und Gepäckstücke, bei denen es sich auch um Menschen handeln könnte.
04
Wallner hat seine Anzughose aus- und eine Jeans angezogen. Während er sein Hemd aufknöpft, hat er plötzlich eine Szene vor Augen. Da ist sein Vater. Er sitzt in einem Sechserabteil in einem ICE. Er hat das Aussehen, das er als etwa 65jähriger hatte, als Wallner ihn zum letzten Mal sah, und nicht das des 82jährigen, als der er starb. Durch die Bremsung des Zugs fällt das durchsichtige Brett des Gepäckfaches auf seinen Kopf. Er stürzt nach vorne, sein Hinterkopf ist eingedrückt. Aus einem Spalt in der Schädeldecke tritt Blut und färbt das grau-schwarze Haar dunkelrot.
05
2. April
König anrufen!
06
In Wallners Kopf befinden sich grüne, blaue und rote Flekken. Dr. Kaduk deutet mit einem Stab auf die Ergebnisse der PET-Aufnahme auf dem Bildschirm.
„So. Nicht erschrecken. Schön bunt, gell? Ich erkläre Ihnen das mal. Hier haben wir das Gehirn. Wir haben ja, wie gesagt, mal die Funktionen gemessen. So. Wir können jetzt auch näher herangehen, um ganz sicher zu sein, daß da nichts ist.“
Dr. Kaduk zoomt mit der Tastatur auf den blauen Fleck, der, wie Wallner jetzt sieht, außen heller ist als innen, azur. „Also“, sagt Dr. Kaduk, „ich habe mir das schon am Vormittag angesehen, und ich kann Sie beruhigen. Da ist nichts. Kein Tumor oder ähnliches. Bitte jetzt nicht enttäuscht sein.“
Dr. Kaduk lacht über seinen Witz und fletscht dabei die Zähne. Wallner lacht mit und hofft, daß es nicht allzu gezwungen wirkt.
„Was meinen Sie dann, woher das kommt? Haben Sie da eine Erklärung?“ sagt Wallner.
Er hätte nicht so abrupt zu lachen aufhören sollen.
„So. Ja. Was Sie mir da geschildert haben, ihre Symptome, Kopfschmerzen, hoher Blutdruck, das mit dem Herzen und so weiter, also für mich klingt das nach klassischer Überarbeitung, zuviel Streß, um es mit einem Wort zu sagen.“
Dr. Kaduk lacht wieder, zähnefletschend. Wallner hatte gedacht, dieses Gefühl, daß da etwas in seinem Kopf sei, etwas Fremdes, Kieselsteingroßes, würde verschwinden, sobald der Beweis erbracht wäre, daß es sich um etwas Ungefährliches handelte. Aber der Kieselstein ist noch immer da.
Möglicherweise hat Dr. Kaduk auch recht. Wallners Nervosität, seine Gereiztheit, das alles könnte streßbedingt sein, seine Angestellten blicken ihn ja zudem seit neuestem mit diesen Augen an, man könnte manchmal tatsächlich glauben, sie führen etwas im Schilde gegen Wallner. Auch Wiget benimmt sich seltsam in letzter Zeit. Erst am Donnerstag war Wallner in sein Büro gekommen, Wiget hatte an seinem Schreibtisch gestanden, einfach so, es schien ihm nicht einmal peinlich zu sein, die Schubladen waren offen. „Du durchsuchst meine Schubladen?“ hatte Wallner gesagt, es sollte wie ein Scherz klingen. Wiget hatte das in den falschen Hals gekriegt, hatte „Du spinnst doch“ oder „Hast du sie noch alle“ gesagt und war hinausgestürmt, Wallner war ihm sofort hinterhergelaufen und hatte sich bei ihm entschuldigt. Aber nicht nur seit diesem Vorfall hatte Wallner das Gefühl, daß Wiget nicht mehr so offen und herzlich wie früher zu ihm war.
„Was ist das hier eigentlich?“ Wallner zeigt mit dem Finger auf einen schwarzen Fleck in einem der roten Flecken auf dem Bildschirm. Wallner muß an ein Baustellenloch in einer Straße denken. Dr. Kaduk hat Wallner für den Bruchteil einer Sekunde durchdringend angeschaut, als wüßte er etwas, was er Wallner nicht sagen darf. Als sei Wallner ihm auf die Schliche gekommen.
Dr. Kaduk sagt: „Zoomen wir doch einmal hin.“
Je näher der schwarze Fleck auf dem Bildschirm rückt, desto mehr färbt er sich rot ein, geht im roten Fleck um ihn auf.
„Ja, Sie sehen. Da ist nichts“, sagt Dr. Kaduk.
07
Die Frauenstimme sagt, er solle die nächste Ausfahrt nehmen. Wallner wollte für einen Moment einen Gang zurückschalten, dann ist ihm wieder eingefallen, daß der Mietvan ja Automatik besitzt. In der Ferne sind drei Kuppeln zu sehen, die Deutzer Bürotürme, in ihren Fenstern spiegelt sich das Licht der Nachmittagssonne; ganz dünn, zwischen den Hochhäusern: die Spitze des Doms. Wallner biegt in die Ausfahrt Bergisch-Gladbach.
Er hat heute schon einmal, in der Früh, als er aus Cham losgefahren ist, überlegt, ob er tatsächlich noch nie in Bergisch-Gladbach war, vielleicht in seiner Kindheit, mit seinem Vater am Wochenende, zum Wandern, ein Sonntagsausflug, aber nein, er ist sich jetzt sicher, während vorne die Ortseinfahrt von Bergisch-Gladbach auftaucht, das heute ist das erste Mal. Es wird deutlich, warum Günter Wallner aus Köln-Rodenkirchen hierhergezogen ist. Die dichten Laubwälder, die Hügel mit den Weiden, die Täler dazwischen, in denen es bereits düster zu werden beginnt. Ja. Man kann hier schön wandern. Günter Wallner ist gerne gewandert. Dadurch, daß Stefan Wallner, wie in diesem Moment, den Kasper macht („den Kasper machen“ = bei Kurven das Quietschen von Reifen imitieren plus der Frauenstimme des Navigationssystems mit „Jawohl“ und „Wird gemacht“ antworten), löst sich die Anspannung, die gestiegen ist, je näher er der Wohnung seines Vaters kommt, der ehemaligen Wohnung.
Ein Piepton erklingt, Wallner hält den Van an. Er sucht den Knopf für das Navigationssystem, schaltet versehentlich das Radio an, erst als er den Knopf darüber drückt, erlischt der Bildschirm mit dem Stadtplanausschnitt des Wohngebiets, der Straße, in der er jetzt parkt.
Sein Vater hat die letzten 17 Jahre in einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus mit Blick auf den knorrigen Apfelbaum im Garten davor gelebt.
Wallner drückt die oberste Klingel an der Haustür, die Klingel neben dem Namensschild Wallner. Es ist wahrscheinlich, daß hinter den Vorhängen in den Häusern gegenüber Hausfrauen, die gerade Mittagessen kochen, oder Rentner, deren Hauptbeschäftigung es ist, jedes Geschehen im Wohngebiet zu verfolgen, auch jetzt, Wallner beobachten, er kann ihre Blicke regelrecht auf seinem Körper spüren. Vielleicht auch Bekannte seines Vaters, Freunde, die sich bei ihm einmal wöchentlich zum Kartenspiel trafen.
Die Haustür öffnet sich, aufgestaute Wärme schlägt Wallner entgegen, Klebstoffgeruch. Ana steht in der Tür der ersten Wohnung im Erdgeschoß.
Sein Vater hat in einer Erdgeschoßwohnung gelebt.
Ana umarmt Wallner und fragt ihn, wie die Fahrt gewesen sei. Ana schwitzt. Sie führt ihn durch die Wohnung, sagt: „Also das war“ – sie sagt war, nicht ist – „das Wohnzimmer, hier das Schlafzimmer, das die Küche“, sagt: „Hier war das Bad“ und deutet auf die Kartons mit den Gegenständen, die sie schon eingepackt hat, das Radio, den AB. Auf dem Glastischchen vor dem schwarz bezogenen Sofa liegen ein Briefumschlag mit dem Sparbuch von Wallners Vater und Schmuckstücke aus dem Safe, die Ana gestern, als sie mit Wallners Vollmacht und seinem Erbschein bei der Hypo-Bank in Köln war, um das Konto seines Vaters aufzulösen, mitgebracht hat, wie sie sagt.
Wallner sagt: „OK. Das schaue ich mir dann nachher an.“
Für einen Moment hat er das Gefühl, sich in der früheren Wohnung seines Vaters zu befinden, die Anordnung der Möbel im Wohnzimmer – das schwarz bezogene Sofa an der Wand, das Glastischchen davor, daneben die Stehlampe, der Orientteppich – ist dieselbe wie in Köln-Rodenkirchen. Auf dem Glastischchen liegt die Fernbedienung für den Fernseher. Wallner kann seinen Vater sehen, der vom Sofa aus, den rechten Arm ausgestreckt, mit der Fernbedienung in der Hand den Fernseher ausschaltet, die Fernbedienung, sich vorbeugend, auf das Glastischchen legt. Klack.
Wallner sagt: „OK. Wir machen das jetzt folgendermaßen. Ich nehme mir das Schlafzimmer vor, und du machst in Küche und Bad weiter.“
Alle Gegenstände des täglichen Gebrauchs, für die sie in Cham keine Verwendung haben, kommen in blaue Müllsäcke. Im Zweifelsfall entscheidet Wallner. Gegenstände aus dem Familienbesitz, die nicht so viel wiegen, als daß sie von den Spediteuren getragen werden müßten plus bei denen sich Wallner und Ana einig sind, daß sie Verwendung in Cham finden werden, kommen in einen Umzugskarton. Die Zahnbürste von Wallners Vater ist ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs. Sie kommt in einen Müllsack. Ana fragt, ob das Glastischchen weg oder mitgenommen werden solle, sie brauche es jedenfalls nicht. Wallner sagt, das Glastischchen sei Familienbesitz, es stamme von den Eltern seiner Mutter, selbstverständlich werde es mitgenommen. Die beigen Vorhänge im Wohnzimmer sind ein Zweifelsfall. Wallner sagt: „Nein.“
Im Schlafzimmer steht ein Einzelbett. Es sieht alles danach aus, als ob Wallners Vater allein lebte. Auf dem Nachttisch rechts neben dem Bett: ein halb gefülltes Glas Wasser. Wallner kann seinen Vater sehen, er liegt mit dem rotsilber gestreiften Pyjama, den er getragen hat, als Wallner noch ein Kind war, im Bett, in der linken Hand ein Buch, lesend, mit einem Griff der rechten, weiter lesend, führt er das volle Glas an den Mund, trinkt, stellt das halb gefüllte Glas auf den Nachttisch, räuspert sich. Wallner hört Ana, die im Bad Gegenstände in einen Müllsack wirft.
Wenn man mit Gegenständen in Berührung kommt, bei denen eine heftige Gefühlsreaktion wahrscheinlich ist (Beispiele: die flach und nahezu faltenlos auf dem Bett liegende Decke und das Kissen, die Wallner jetzt hastig in Müllsäcke stopft), sind die Überlegungen hilfreich, daß sein Vater ihn damals wegen des Kredits angelogen hat, das heißt generell gegen ihn und seine Firma gewesen ist, dann: Wallners Mutter nicht wirklich geliebt haben kann, weil er bald nach ihrem Tod und vielleicht schon davor zahlreiche Verhältnisse mit Frauen hatte, die Wallner zuwider waren, und: sein Vater sich seit ihrem Streit nicht mehr bei ihm gemeldet hat und daß daher Wallner ihm, seinem Vater, keine Träne nachzuweinen habe. Wallner spürt, daß gerade eine Welle auf ihn zurollt, sie wird ihn lähmen, er wird die Fassung verlieren, die Strategie, die er sich in den letzten schlaflosen Nächten und auf der Hinfahrt zurechtgelegt hat, droht in sich zusammenzufallen, er schafft das nicht, es geht nicht, er muß sich auf irgend etwas konzentrieren, um Gottes Willen, irgend etwas.
Wallner hat Hunger bekommen. Die Einbauküche macht einen neuen Eindruck, sie riecht nach Zitrone, ist sehr sauber, wahrscheinlich hat Ana sie aufgeräumt. Wallner öffnet den Kühlschrank mit der hellen Holzverkleidung, auch zu Hause in Cham öffnet er immer, wenn er in die Küche kommt, als erstes den Kühlschrank mit der weißen Plastikverkleidung. Der Kühlschrank ist leer und riecht nach Zitrone. Wallner öffnet das Gefrierfach, in dem sich mehrere Pizzas con Funghi befinden.
Günter Wallner mag Pilze.
Nein.
Günter Wallner mochte Pilze.
Wallner inspiziert die Schränke über der Ablage. Er nimmt die XL-Packung der weißen Schokolade mit Nüssen, die bereits angebrochen ist, schaut auf das Verfallsdatum, November in zwei Jahren, und bricht zwei Rippen ab.
Im Wohnzimmer hat Ana schon die Fotos in den Silberrahmen von der Kommode, die sich Wallner noch nicht angesehen hat, in einen Karton gelegt und zieht gerade zwei Leitz-Ordner, wohl mit Rechnungen oder anderen Papieren, aus dem untersten Regal des Schranks. Wallner macht den Kasper („den Kasper machen“ = gebückt gehen plus sich den Bauch reiben plus „HungerHungerHunger“ sagen), um Ana zu zeigen, daß es ihm nichts oder besser: wenig ausmacht, die ehemalige Wohnung seines Vaters aufzulösen oder besser: daß er den Tod seines Vaters relativ gut verwindet.
Es gilt, den Inhalt der Truhen, Schränke und des Schreibtischs mit voller Konzentration auf Schnelligkeit plus unter optimaler Ausnutzung des Platzes in den Kartons auszuräumen. Später, beim Auspacken, zu Hause, kann der Inhalt dann näher betrachtet werden.
Wallner beugt sich vor und öffnet den Deckel der Truhe im Schlafzimmer. Er sieht seinen Vater, der sich vorbeugt und den Deckel der Truhe öffnet. Als er die Müllsäcke mit den Kleidungsstücken vor die Haustür trägt, ist es draußen, ohne daß Ana und er es gemerkt hätten, Nacht geworden.
Das Hotel Schmidt liegt gegenüber der S-Bahn-Station. Die Jugendlichen auf den Bänken haben ihnen beim Parken und Aussteigen zugesehen. Wallner möchte lieber gleich etwas essen, bevor er auf das Zimmer geht und duscht, weil er Angst hat, daß er es dann nicht mehr aus dem Bett schafft, er spürt seine Arme und Beine. In der Gaststube steht ein Mann hinter dem Tresen – der Wirt? Herr Schmidt? –, der zuerst lächelnd Ana und dann, nicht mehr lächelnd, mit einem durchdringenden Blick Wallner begrüßt und auf einen Tisch weist, an dem lediglich ein älteres Ehepaar sitzt.
Als der Wirt das Essen bringt, stellt er sich wie zu einer Rede mit angewinkelten Ellbogen und gefalteten Händen auf und wünscht „Einen Guten Appetit“. Noch einmal sieht er Wallner mit diesem Blick an, dann wieder Ana, lächelnd.
Wallner steckt ein Kartoffelstück in den Mund, kaut, fragt, ob Ana denn eigentlich beim Grab gewesen sei, ob da alles glattgegangen sei, hört zu kauen auf und hält die Gabel über dem Teller, ohne sie zu senken oder zu heben. Ana sagt, sie sei dagewesen, dieser Mann am Friedhof, der wohl dafür zuständig sei, habe ihr den Eintrag von der Feuerbestattung und der Urnenbeisetzung gezeigt, am Grab hätten einige Kränze gelegen, einer wohl von der Kanzlei, in der Wallners Vater früher gearbeitet habe, sie habe den Betrag für die Instandhaltung des Grabs für die nächsten zwei Jahre von einem Teil der Entschädigung gezahlt, die sie von der Deutschen Bahn erhalten haben. Wallner kaut weiter, will sprechen, so etwas wie „Na schön“ oder „Na dann paßt ja alles“, kann aber nichts sagen, er bringt kein Wort heraus, damit Ana es nicht sieht, tut er so, als huste er in die Serviette.
Als Wallner in das Zimmer tritt, fällt sein erster Blick auf Anas BH und ihren Schlüpfer, die auf dem Bett liegen, die zerwühlte Decke.
08
Wallner läßt die Akte aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegen, nimmt seinen Übergangsmantel von der Garderobe im Sekretariat, sagt zu Frau Beck, daß er noch etwas zu Hause vergessen habe und in einer Viertelstunde wieder zurück sei, eilt durch den Flur, das Treppenhaus hinaus. Es ist bewölkt. Auf dem Parkplatz kommt ihm Ana entgegen. Sie fragt, ob etwas passiert sei, warum er es denn so eilig habe. Sie hat dabei wieder diesen Ausdruck, der Wallner immer an eine Kuh erinnert. Mit der flachen Hand schlägt er ihr ins Gesicht. Wortlos ist sie nach hinten gekippt, noch mal, Ana kommt ihm entgegen, sagt etwas mit Kuh-Ausdruck, Wallner schlägt ihr mit der flachen Hand ins Gesicht, auf die Nase, aus der sofort Blut rinnt.
Mit normalem Tempo, ohne sich zu hetzen, fährt er nach Hause, packt in seinen Koffer Kleidung für zehn Tage. Er schaut sich im Haus um, Geld? Hat er. Noch irgendwas? Er braucht ja nichts. Einen Regenschirm vielleicht. Den Wagen parkt er vor dem Bahnhof, in dem kaum etwas los ist. Wallner löst eine Fahrkarte nach Paris.
„Einfach?“ fragt die Frau am Schalter.
„Einfach“, sagt er.
„Da müssen Sie in Nürnberg und München umsteigen“, sagt die Frau.
„Weiß ich“, sagt Wallner.
Keine fünf Minuten, und der Regionalexpreß nach Nürnberg fährt ein. Wallner setzt sich ans Fenster. Er sieht den Kirchturm von St. Jakob vorbeiziehen, den insolventen Axmann-Möbelmarkt mit den leeren Auslagen. Am Horizont ist der Gewerbepark von Chammünster zu erkennen, das Flachdach von Wallner & Wiget, das Fenster seines Büros, ganz oben, das zweite von links, in dem noch Licht brennt. Schon ist die Silhouette der Stadt vor dem dunkelgrünen Schloßberg zu einem schwarzen Strich zusammengeschrumpft.
Das Telefon klingelt.
„Beck. Ich sollte Sie daran erinnern, daß der Herr Schmaderer um elf einen Termin hat“, sagt Frau Beck.
„Danke Ihnen“, sagt Wallner.
Mit einem Ruck ist er aufgestanden. Schmaderers Akte liegt aufgeschlagen vor ihm. Wallner geht ins Sekretariat, Frau Beck schaut überrascht vom Computer auf. Sie hat nicht mit Wallner gerechnet. Wenn sie sich, wie jetzt, sicher vor ihm glaubt, macht sie Internet-Shopping, Wallner weiß das, aber das spielt in diesem Augenblick keine Rolle. Er nimmt seinen Übergangsmantel von der Garderobe und sagt: „Ich habe noch etwas Wichtiges zu Hause vergessen, bin in einer Viertelstunde wieder zurück.“ Er eilt durch den Flur. Ana kommt ihm entgegen, er dachte, sie komme erst um elf in die Firma. Sie lächelt ihm zu.
„Hast du wieder was liegengelassen zu Hause?“ fragt sie.
Der Streit gestern abend wegen dem Sofa, das sie, ohne Wallner zu fragen, bestellt hat, scheint kein Thema mehr zu sein.
„Ja“, sagt er kurz und weicht ihrem Blick aus. Wallner spürt förmlich, wie sich ihre Gesichtszüge verhärten, wie Ana das hier verletzt. „Entschuldigung“, sagt er schnell, geht zurück, umarmt sie, „Entschuldigung“, hält sie fest, möchte sie nicht loslassen, „ich muß weiter“, er schluckt, wendet sich ab, geht durch die Glastür.
Im Treppenhaus hallen seine Schritte, als er hinunterläuft, viel zu laut, der Kieselstein in seinem Kopf drückt, es ist kaum auszuhalten. Auf dem Parkplatz atmet Wallner tief ein und aus, geht, als ihm schwindelt, in die Hocke, der teure Mantel schleift im Dreck, die Sonne scheint, keine Wolke ist am Himmel. Auf dem Weg nach Hause fällt Wallner ein, daß Costin ja heute freihat. Costin wird ihn sehen, fragen, was los sei. Wallner fährt direkt zum Bahnhof. Er kann sich ja später alles, was er braucht, kaufen. Er beschließt, die Fahrkarte erst im Zug zu lösen, und zwar sukzessive, eine nach Nürnberg, eine nach München, eine nach Paris, damit, falls Nachforschungen angestellt werden und die Frau am Schalter gefragt wird, seine Spuren verwischt sind.
Wallner setzt sich auf die Bank am Bahnsteig. Der Regionalexpreß nach Nürnberg hat Verspätung. Wallner weiß plötzlich, daß er nicht in den Zug nach Nürnberg, nach München oder nach sonstwohin einsteigen wird, er hat es die ganzen letzten Minuten gewußt, seit er das Firmengelände verlassen hat, um elf ist der Termin mit Schmaderer. Wallner steht auf, aus dem Augenwinkel hat er bei dem Getränkeautomaten neben ihm, ein paar Meter entfernt, einen Mann warten sehen, ungefähr 1,85 groß, leicht untersetzt, schon etwas älter, brünettes Haar, spitze Nase, blauer Mantel, Wallner läuft es eiskalt über den Rücken. Was ist denn, wenn ihn jemand hier sieht, jemand, der ihn kennt, jemand, der Schmaderer kennt, der Wiget kennt und der ihm, vielleicht zufällig, erzählt, daß er Wallner werktags vormittags am Bahnsteig traf, übrigens, weißt du, wen ich neulich.
Auf der Treppe der Unterführung hat Wallner sich noch einmal kurz umgedreht, ob ihm der Mann am Bahnsteig nachsieht. Der Mann hat ihm in die Augen geblickt, auch er hat sich auf der Treppe zur Unterführung gegenüber umgedreht. Der Mann ist Wallner. Ungläubig betrachtet er sich selber noch ein paar Sekunden im Spiegel auf der Rückseite des Getränkeautomaten.
Auf dem Weg vom Parkplatz zur Firma drückt Wallner auf den Knopf am Schlüsselbund, um das Auto abzusperren. Summend klappen sich die Seitenspiegel ein. Wallner steigt die Treppe hoch, geht durch den Flur, im Sekretariat schüttelt er Schmaderer, der schon wartet, die Hand, hält ihm die Tür zum Büro auf. Schmaderer setzt sich, Wallner schaut auf die aufgeschlagene Akte vor sich und sagt: „Ja, Herr Schmaderer, also das mit dem Rabatt, das verhält sich wie folgt. Bei einer Abnahme von drei Traktoren gewähren wir einen Rabatt von sieben Prozent.“
09
Er schließt den Kühlschrank und belegt einen Toast mit Emmentalerscheiben. Jemand kommt die Treppe heruntergerannt.
Costin steckt seinen Kopf durch die angelehnte Küchentür und sagt: „Ciao, Tata. Heute schon so früh zu Hause?“
Wallner sagt: „Und du? Diese Tanzgeschichte?“, während er überlegt, wann die Angst, die er immer hatte, als er dieses winzige Baby in den Armen hielt, als Costin auf seinem Rolli in der Garageneinfahrt seine Kreise drehte, als Costin auf der gemeinsamen Radtour nach Tschechien außer Sichtweite vorausfuhr, um seine Unabhängigkeit zu demonstrieren, wann diese Angst, daß Costin (und auch Ana, als sie Costin jede Woche zum Gesangsunterricht nach Regensburg brachte) etwas zustoßen könnte, aufhörte.
10
8. Juni
Nürnberg. Horten. Karstadt. Saturn.
11
Er hat die Hand flach auf den Schreibtisch gelegt und versucht, etwas langsamer zu atmen. Vielleicht haben sich an seinen Mundrändern kleine weiße Spuckeablagerungen gebildet. Wiget hat die ganze Zeit über bewegungslos mit übereinandergeschlagenen Beinen dagesessen und hat sich den Bart gestrichen.
Er sagt: „Wenn du das jetzt so erklärst, Stefan, mit deinem Vater und so, dann wird jetzt natürlich einiges klarer. Ja, jetzt wird einiges klarer. Ich meine, man konnte ja schon so was ahnen, im Prinzip. Das war ja auch jetzt alles nicht so tragisch, mir ist das eben aufgefallen. Eben auch, weil das früher nie so war, daß du so neben dir stehst, daß du die Leute so anfährst, wir hatten ja auch immer, würde ich sagen, wirklich ein sehr gutes Verhältnis.“
„Ja“, sagt Wallner und nickt einmal kraftvoll.
„Ja, und wie gesagt, dann ist es auch nicht so schlimm, wenn ich das jetzt weiß, aber paß halt besser auf, mit den Angestellten“, sagt Wiget.
Es entsteht eine Pause.
„Wie ist das zu Hause momentan, mit euch?“
„Hat sie irgendwas gesagt?“ fragt Wallner schnell und hat kurz von Wiget weg nach links auf die Fußbodenleiste aus hellbraunem Holz gesehen, Wiget hat „Hmhm“ gemacht und mit den Schultern gezuckt.
„Ich bin da oft unbeherrscht ihr gegenüber, und ich weiß auch, daß ich sie da oft verletze in letzter Zeit, und das ist so“, Wallner macht eine kurze Pause, „Scheiße“, schaut Wiget ins Gesicht, der sich noch immer den Bart streicht, und fährt fort, „daß ich da nicht mit dem Tod vom Papa, ich meine von meinem Vater, klarkomme und daß ich mich da jetzt auch noch an der Ana abreagiere. Ich will das nicht. Und ich. Ich schäme mich, Uli. Ich schäme mich.“
Es entsteht eine Pause.
Wiget fragt: „Habt Ihr schon darüber“, Wallner unterbricht ihn und sagt: „Wir werden das noch machen, wir müssen das machen, aber du weißt ja, wie es ist, von ihr kam jetzt noch nichts, und sie ist sich sicher im klaren darüber, wie schwierig das alles ist, für mich, aber alles weiß sie natürlich auch nicht. Wir werden darüber reden. Ja.“
Es klopft.
Frau Beck tritt ein und sagt: „Herr Wiget, etwas Dringendes wegen Wolnzach. Ein Herr Kaiser.“
Wiget steht auf. Frau Beck steht noch in der Tür. Wallner möchte zu Wiget gehen und ihn umarmen und noch einmal Danke oder etwas Ähnliches sagen, bleibt dann aber stehen, hebt den Arm und sagt: „Also, bis nachher dann, Uli, gell“ und lächelt kurz Frau Beck zu, die zurücklächelt. Nachdem sie die Tür geschlossen hat, setzt er sich wieder an seinen Schreibtisch und legt die Hand flach darauf. Er schaut auf die Fußbodenleiste aus hellbraunem Holz, links, und schlägt einmal sehr leicht mit der flachen Hand auf die Tischfläche.
12
Im Sekretariat ist jemand. Eine schwarze Gestalt hat sich hinter der Milchglasscheibe bewegt, jetzt wieder, obwohl Frau Beck das Gebäude schon längst verlassen hat. Sie verabschiedete sich etwa vor einer halben Stunde bei ihm. Er hat sie vom Fenster aus über den Parkplatz zu ihrem silbernen Ford stöckeln sehen. Er steht auf. Ihm ist etwas mulmig. Wer kann noch im Gebäude sein? Nur Breitenbacher sitzt noch in seinem Häuschen an der Pforte. Wallner geht leise zur Tür und reißt sie mit einem Ruck auf, er meint, gerade eben noch im geöffneten Spalt der Tür zum Flur ein Bein gesehen zu haben. Wallners Herz rast. Er tritt in den Flur, das Licht hat sich automatisch eingeschaltet. Der Flur ist leer. Wenn jemand vor Wallner aus dem Sekretariat gegangen ist, dann hätte das Licht schon brennen müssen; unmöglich, daß jemand die Bewegungssensoren überlistet. Aber da war jemand, Wallner ist sich sicher. Ratlos schließt er die Tür. Die Blätter des Ficus neben dem leeren Schreibtisch von Frau Beck zittern für einen Moment vom Luftzug und hängen dann wieder bewegungslos da.
13
Sie ist ruckartig aufgestanden und hat ihren Teller mit den Speiseresten klirrend auf den seinen gelegt. Ihre schwarzen Locken sind ihr dabei ins Gesicht gefallen, das hat sexy ausgesehen. Er wollte sie leicht am Arm festhalten, „Jetzt bleib doch mal da“, hat er gesagt, aber sie hat sich mit einer übertriebenen Bewegung losgemacht und ist mit festem Schritt in Richtung Küche gegangen. Jetzt steht er auf, sieht ihr nach, wartet darauf, daß sie sich umdreht und „Das ist einfach zu-viel“ oder „So was kannst du zu deinen Angestellten sagen, aber nicht zu mir“ sagt. Er geht ihr nach. Sie steht mit gesenktem Kopf vor der Ablage, auf die sie die Teller abgestellt hat, er kennt ihren Gesichtsausdruck, sie versucht, nicht zu weinen.
Sie holt Luft und sagt: „Ich habe wirklich Verständnis für alles, was du durchgemacht hast, mit deinem Vater und so, und ich habe dir auch geholfen“, sie atmet aus und holt Luft, „aber das“, sie hält den Atem an, „das ist jetzt eben zuviel. Das kannst du mit deinen Angestellten machen, aber nicht mit mir. Das geht jetzt zu weit mit deiner schlechten Laune, Stefan, wirklich.“
Jetzt hält sie es nicht mehr zurück, sie weint.
„Nimm auch Herrgott noch mal Rücksicht auf deine Mitmenschen. Bitte.“
Sie hält sich die flache Hand vor den Mund und geht zur Tür. Ohne ihn anzusehen, hat sie darauf gewartet, daß er einen Schritt zur Seite macht und sie durchläßt.
Er sagt: „Ana“, legt ihr die Hand auf die Schulter, den weichen hellblauen Wollpulli (= Bitte um Verzeihung). Sie hat Wallner angesehen, ohne ein böses Gesicht zu machen, wie er es eigentlich erwartet hätte (= Wut), sondern mit Tränen in den Augen und auf den Wangen (= Trauer), für einige Momente (= möglicher Beginn der Vergebung durch vorbehaltlose Darlegung der eigenen Gefühle), dann ist sie in den Flur und weiter ins Wohnzimmer gegangen.
Er steht noch in der Tür und schaut auf die von der Dekkenlampe beleuchteten weißen Kacheln des Küchenbodens. Er möchte ihr sagen, daß er doch wisse, daß er sie verletze und daß er das nicht wolle und daß er sich schäme, es ihm leid tue und daß es Scheiße sei, er sei über den Tod seines Vaters immer noch nicht weg und daß er das an ihr abreagiere, daß ihm das bewußt sei.
14
Der Braunbär streift durch das Unterholz. Die dünnen Stämme der Bäume sind kahl. Der Braunbär verfolgt mit der Schnauze am Boden eine Fährte. Deutlich sind die Geräusche, die er macht, zu hören, sein Schmatzen, Grunzen, Brummen. Das Feld ist von Schnee bedeckt. Der Wind weht Schneeschleier in die Höhe. Der Braunbär stapft über das Feld. Seine Beine versinken fast vollständig im Schnee. Der Schnee knarzt. Der Braunbär sitzt auf einer seichten Stelle im Fluß. Sein Fell ist naß. Mit einer nicht genau zu verfolgenden Bewegung seiner Vordertatzen fängt er einen mittelgroßen Fisch. Der Fisch windet sich so lange, bis ihm der Braunbär den Kopf abbeißt.
Männliche Stimme aus dem Off: „Kira wird noch viele Fische fangen in diesem Herbst. Manchmal bis zu 40 an einem Nachmittag. Das ist auch dringend nötig. In drei Wochen wird Kira Winterruhe halten. Für drei Monate. Drei Monate, in denen sie zwar ihre Höhle nicht mehr verläßt. In denen sie aber auch zwei Junge zur Welt bringen wird.“
Der Braunbär liegt eingerollt im engen Inneren einer Höhle. Das Licht ist schummrig. Seine Augen sind geschlossen. Er gibt Geräusche von sich, Röcheln, Grunzen. Seine Ohren zucken.
Ana schaltet um.
Eduardo hält Constanze umarmt. Constanze hat ihren Kopf an Eduardos Brust gedrückt.
Constanze (leise): „Ich kann dein Herz schlagen hören.“
Ihre Lippenbewegungen sind nicht vollkommen synchron mit ihrer Stimme. Eduardo hat die Augen geschlossen. Er wiegt Constanze hin und her.
Eduardo (leise): „Laß uns das, was heute abend geschehen ist, für uns behalten. Ich werde es nicht meinen und du wirst es nicht deinen Eltern erzählen.“
Es klopft.
Eduardo: „Herein.“
Eduardos Vater, Hernando, tritt ein.
Hernando: „Entschuldigung.“
Er läßt die Tür einen Spalt offen.
Hernando (von draußen): „In zehn Minuten gibt es Abendessen, Kinder.“
Ana schaltet um. Die Uhr auf dem hellblauen Hintergrund zeigt 18:59 Uhr. Der Sekundenzeiger rückt von 51 auf 52.
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13. Juli
17:00 Uhr. Dr. Bräuer. Impfpaß mitbringen!
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14. Juli
Nürnberg. Huber.
17
An einem Samstagnachmittag geht er in den Hobbyraum und sperrt die Tür hinter sich zu. Der Hobbyraum besitzt eine vergitterte Luke aus gelbem Glas. Vom Partykeller nebenan kann er den neuesten Song der im letzten Herbst im Fernsehen gecasteten Popgruppe hören, der, wie er von Costin weiß, gerade in die Top Ten eingestiegen ist. Wenn der Song zu Ende ist, entsteht eine Pause. Dann beginnt derselbe Song von vorn.
In den Modern Dance Lessons, die Costin einmal die Woche in Regensburg besucht, studiert er zusammen mit anderen Jugendlichen bei einem ehemaligen Juror einer Casting-Show Choreographien der aktuellen Popgruppen ein. Es ist sein größter Wunsch, gecastet zu werden. Wie Wallner weiß, steht an der Wand neben der Tür des Hobbyraums Anas Camcorder auf einem Stativ. Costin filmt seine Tanzschritte und schaut sich dann die Aufnahmen an, um eigene Fehler zu erkennen und seine Wirkung auf ein mögliches Publikum zu überprüfen. Kurz nachdem Ana Costin ihren Camcorder geschenkt hatte, hat er in seiner Freizeit mit seinen Freunden, vor allem aber zu Hause, beim Essen, während Wallner und Ana fernsahen oder sich unterhielten, gefilmt, bis es Wallner zuviel wurde und er es ihm eines abends verbot. Wallner hatte wieder Ärger in der Firma gehabt, war zu Hause von Costin überrascht worden, der ihm beim Aufsperren der Haustür und Eintreten im Flur mit dem Camcorder aufgelauert hatte.
Wallner hat sich seit der Auflösung der Wohnung seines Vaters oft, bei der Arbeit in der Firma oder abends, kurz vorm Einschlafen, vorgestellt, wie er in den Keller geht, die Hobbyraumtür hinter sich schließt, wie sein Blick über die hier gelagerten Möbel schweift, die braunen Umzugskartons, wie er ihre Laschen auseinanderzieht und nach und nach die Gegenstände herausholt, die er damals in Bergisch-Gladbach, hastig und ohne sie wirklich anzusehen, umgeräumt hatte, die Fotos, die Aktenordner, den Fernseher, das Radio.
Wallners Blick schweift über die neuen Möbel, die Stehlampe, die zusammengerollten Teppiche, das Nachttischchen, das, sobald er seine Bankausbildung macht und eine eigene Wohnung hat, Costin bekommen soll. Wallner zieht die Laschen des Umzugskartons gleich neben der Tür auseinander und nimmt die Schuhschachtel heraus, in die er die Fototaschen aus den Schreibtischschubladen seines Vaters gelegt hatte.
Wallner hat sich vorgenommen, lediglich Stichproben durchzuführen und nicht alle Fotos anzuschauen. Man hebt einen Stoß Fotos ab, betrachtet das zufällig aufliegende Bild, in diesem Fall: den etwa 50jährigen Günter Wallner mit Kniehosen und Wanderstock vor einer Waldkulisse, ungewohnt: mit schwarz-grauem Bart. Hier, im abgeschlossenen Hobbyraum, ist es dann auch, im Unterschied zu Bergisch-Gladbach, wo Ana anwesend war, möglich, den eigenen Gefühlen freien Lauf zu lassen.
Es tut gut, einfach einmal so für eine Minute zu weinen, aus Trauer darüber, daß der Vater gestorben ist, daß man nie wieder mit ihm reden können wird.
Das nächste Foto, das aufliegt, nachdem Wallner einen weiteren Stoß abgehoben hat, zeigt seinen Vater, ungefähr 70, an der Seite einer etwa gleichaltrigen Frau, wasserstoffblond, er hat den Arm um ihre Schulter gelegt, beide lächeln, im Hintergrund der Petersdom.
Wallner sagt: „In Rom ist er auch gewesen.“
Handelt es sich bei der Frau um eine der Lebensabschnittsgefährtinnen seines Vaters, so wird sie seine letzte gewesen sein. Allerdings können die beiden zum Zeitpunkt des Tods von Wallners Vater nicht mehr zusammengewesen sein, jedenfalls war die Abgebildete nicht im Testament berücksichtigt worden. Sie und sein Vater werden, solange sie ein Paar gewesen waren, Ausflüge wie hier nach Rom gemacht, Kirchen und Museen besichtigt haben, gemeinsam essen gegangen sein. Sein Vater wird ihr viel von sich erzählt haben und dabei, zwangsweise, auch auf ihn, den Sohn, zu sprechen gekommen sein. Die Lebensabschnittsgefährtin wird Wallners Kindheit und Jugend kennen und über seine Familie Bescheid wissen, die Version des Vaters, versteht sich. Sie wird versucht haben, Wallners Vater zu erreichen und wird ihm zuerst höfliche, dann vielleicht immer verzweifelter werdende, in jedem Fall aber inzwischen wieder gelöschte Nachrichten auf dem AB in der Kiste rechts hinterlassen, von seinem Tod aus den Zeitungen erfahren, geweint, eine Kerze an seinem Grab angezündet haben.
Sollte sie eines Tages hier in Cham anrufen und Forderungen stellen, dann weiß Wallner jetzt, wie er sie sich vorzustellen hat.
Die nächsten Fotos aus dem Stoß sind Aufnahmen von Blumen.
Unter der Schuhschachtel mit den Fototaschen liegt das mit dunkelblauem Filz bezogene Album. Als er ein Kind war, hat er es zusammen mit seinem Vater angeschaut, später, während der Schulzeit oder wenn er von Regensburg aus auf Besuch war, auch allein. Nahezu dieselben Bilder kleben in einem anderen in dunkelbraunes Leder gebundenen Album, das er von seinen Großeltern geerbt hat und das jetzt oben im Wohnzimmer steht. Durch die Schwarzweißfotos in beiden Alben kann sich Wallner die Mama als 17jährige Schülerin vorstellen, als 23jährige Braut, 35jährige Mutter und als 38jährige Schilddrüsenkrebspatientin. Er kennt die Fotos auswendig, er muß das dunkelblaue Album jetzt nicht noch einmal aufschlagen, er weiß, daß am Ende das Porträt der ungefähr 30jährigen Else Wallner (mit geschlossenem Mund lächelnd, sie trägt eine Perlenkette, sie hat sehr volles schwarzes Haar) eingeklebt ist, das sich sowohl auf dem Schreibtisch seines Vaters in Bergisch-Gladbach befunden hat als auch auf seinem eigenen Schreibtisch, oben im Büro, steht.
Er sagt: „Das ist jetzt das“ und holt zwei Ordner aus dem Umzugskarton, die die mit einer Schablone aufgemalten Aufschriften Fälle und Rechnungen tragen. Der Fälle-Ordner ist durch farbige Einlagen unterteilt. Die Abfolge der Seiten innerhalb jeder farbigen Einlage ist, soweit Wallner das erkennen kann, stets dieselbe. Auf der ersten Seite wird ein Fall beschrieben, Wallner liest von einem X, männlich, der mit Y, männlich, einen Vertrag abschließt und diesen vorzeitig auflösen will, auf der zweiten Seite steht eine Frage zu dem Fall, „Ist die vorzeitige Auflösung des Vertragsverhältnisses möglich?“, die folgenden Seiten enthalten eine Bearbeitung der Frage, „Nein“.
Wallner sieht seinen Vater, seit dessen Pensionierung Tutor für Jura-Studenten, in seiner Wohnung in Bergisch-Gladbach auf dem Sofa sitzen, das momentan noch im Partykeller lagert, neben ihm auf dem zum Sperrmüll gegebenen Sessel ein Jura-Student mit Brille und blond gefärbtem Haar. Wallners Vater und der Jura-Student haben sich über das rote BGB, das Stefan Wallner in Bergisch-Gladbach in einen der blauen Säcke gesteckt hat, auf dem ebenfalls ausrangierten Wohnzimmertischchen gebeugt. Wallners Vater erklärt dem Jura-Studenten einen Fall und bezieht sich auf die Zeit, als er selber Anwalt war.
Nein.
Wallner sieht seinen Vater allein im Wohnzimmer in Bergisch-Gladbach auf dem Sofa, vor sich auf dem Tisch den roten Schönfelder. Sein Vater verbringt seit seiner Pensionierung einen Teil seiner Zeit damit, sich Fälle auszudenken und diese dann selber zu lösen, zum Spaß. Es gab keinen Jura-Studenten mit Brille und blond gefärbtem Haar, dem sein Vater Nachhilfe erteilte. Die Telefonrechnungen vom Dezember des vorletzten und Januar des letzten Jahres im Rechnungen-Ordner, deren abgeheftete Seiten Wallner einmal vom Anfang bis zum Ende an seinem Daumen entlangblättern läßt, sind in bezug auf die Anzahl der Verbindungen und die daraus entstandenen Kosten nahezu gleich.
Nebenan ist es still geworden. Er sieht Costin vor sich, verschwitzt, mit weißem Stirnband, der die Kamera ausschaltet und zur Tür geht. Wallner holt aus dem Karton das Radio mit Kassettenrekorder und dreht den Schlüssel so leise wie möglich im Türschloß um. Er tritt aus der Tür, wartet ein bißchen, dann tritt auch Costin, verschwitzt, mit weißem Stirnband, aus der Tür des Partykellers nebenan.
Costin sagt: „Hechel. Bin ich platt. Fürs Büro?“ und deutet auf das Radio in Wallners Hand.
Wallner sagt: „Für Ana.“
Als Wallner in die Küche tritt, steht Ana gerade vornübergebeugt am geöffneten Ofen. Es riecht nach Kuchen. Wallner stellt das Radio auf die Ablage neben dem Herd. „Schau mal. Kannst du das brauchen?“
Ana sieht kurz auf.
Wallner fragt: „Was machst du gerade?“
Ana sagt: „Ich backe.“
Wallner hat das Radio eingesteckt. Der Sender, der eingestellt ist, spielt einen Popsong, der letzten Sommer ein Hit war.
18
Sein rechter Schnürsenkel ist aufgegangen. Wallner geht vor der Tür von Wigets Büro in die Hocke und legt den Aktenordner auf den Boden. Hinter der Tür unterhält sich jemand, wenn sich Wallner nicht täuscht, flüsternd. Als Wallner sich wieder erhebt, hört er deutlich, wie die Worte „Wallner“, „Entmündigungsverfahren“ und „Dr. Kaduk“ fallen.
Wiget hat „Dr. Kaduk“ gesagt.
Er weiß von Wallners Arztbesuch.
Frau Beck zischt: „Aber der hat das doch unterschrieben. Das muß Herr Wallner ja nicht erfahren.“
Wallner klopft kurz und tritt ein. Frau Beck trägt ein hellrotes Sommerkleid mit Sonnenblumen. Wallner bemerkt, daß sein Herz wie wild schlägt, schon die ganze Zeit über. Frau Beck sagt zu Wiget, normal laut: „Und dann sage ich zu meinem Mann, entweder wir fahren jetzt nach Madrid oder . . .“
Wiget lacht laut auf und sagt: „Hallo, Stefan. Und wißt ihr auch schon, wohin ihr heuer in den Urlaub fahrt?“
Wallner sagt: „Ach so. Wohin wir heuer in den Urlaub fahren?“
19
Wallner klingelt an der Haustür der Wigets, schultert seine Sporttasche und streicht noch einmal mit der Hand über seine Frisur. Wiget öffnet ihm. Bis auf das weiße Handtuch, das er um die Hüfte geschwungen hat, und die Flip-Flops ist er nackt.
Im Haus riecht es nach Kuchen. Astrid backt gerade eine Torte für Patrick, der morgen Geburtstag hat. Wallner küßt Astrid auf die Wangen und holt aus der Sporttasche das Geschenk für Patrick, das Ana besorgt hat, ein Computerspiel, in dem, soviel man der Beschreibung der Rückseite entnehmen konnte, der Spieler im Ersten Weltkrieg wahlweise als General Schlachten plant, unter anderem auch jene von Verdun – Change History! steht auf dem grellgelben Aufkleber auf dem Cover –, oder aber als Soldat an der Front kämpft. Ana sagt, daß der Verkäufer in Nürnberg ihr erklärte, daß sich das Spiel bei der Gruppe der 15- bis 25jährigen größter Beliebtheit erfreue.
Wiget, der neben Wallner durch den Flur, das Wohnzimmer und von dort aus durch einen Verbindungsgang hinter einer Tür zum Hallenbad schlurft, sagt, daß Patrick nächsten Freitag mit seiner Klasse auf Skikurs nach Kitzbühel fahre und daß er und Astrid hoffen, Patrick mache nicht denselben Blödsinn wie sein großer Bruder, als der damals auf Skikurs war und, wie sich ja Wallner wahrscheinlich noch erinnere, nach Hause geschickt wurde, weil er mit einer Klassenkameradin im Bett erwischt worden war.
Während sich Wallner im Schwimmbad Schuhe, Socken, Mantel, Hose und Pulli auszieht, auf die Kleiderhaken an der Wand hängt, sich das rote Coca-Cola-Handtuch aus der Sporttasche umbindet und aus seiner Unterhose schlüpft, sagt er zu Wiget, der auf einem Hocker gegenüber Platz genommen hat, daß er sich Sorgen mache. Wellenhofer, der Verkäufer für den Bereich Nieder- und Oberbayern habe ihm heute vormittag in der Besprechung gesagt, er wolle zum Ende des Jahres aufhören, einen Ersatz für Wellenhofer zu finden würde schwierig werden, allein die Kontakte zu den Landwirten, die Wellenhofer habe, das komme nicht von heute auf morgen, das müsse wachsen, auch habe Wellenhofer keine Angaben zu den Gründen seiner Kündigung gemacht, Wellenhofer sei noch nicht im Alter für eine vorzeitige Pensionierung, man könne davon ausgehen, daß er abgeworben worden sei, vielleicht von Maier in Rosenheim. Wiget schiebt die Glastür auf. Auf dem Weg zur Sauna am Rand des Grundstücks, der durch die im Boden eingelassenen Lampen beleuchtet ist, hält Wallner wegen der Kälte die Arme vor der Brust verschränkt und fragt sich, ob Astrid sie beide jetzt vom Küchenfenster aus sehen kann, sicher sieht sie aus dem Fenster. Die Schneedecke, die auf dem Rasen ringsum hell schimmert, wird auf dem Feld hinter der Sauna matter und ist an der Stelle, wo der Wald beginnen muß, tatsächlich vollständig von der Dunkelheit verschluckt.
Wallner zieht die Tür zur Sauna auf.
Auf den Liegestufen sind schon zwei Handtücher ausgebreitet.
20
„Ja?“
„Laß uns das irgendwie hinter uns bringen. Daß wir da neu anfangen.“
„Es tut mir . . .“
„Ich weiß schon. Ich weiß doch. Ich habe Sachen falsch gemacht, und du hast Sachen falsch gemacht. Vielleicht können wir das jetzt zu so einem Wendepunkt machen. Laß uns einfach versuchen zu vergessen, was da passiert ist.“
Es entsteht eine Pause.
„Ja?“
„Ich hätte das alles nicht ohne dich. Also du weißt, daß ich das alles hier, die Firma, die Sache mit meinem Vater, daß ich . . .“
„Ich weiß.“
Es entsteht eine Pause.
Er hat seine Hand in ihre gelegt, drückt sie, fest.
21
27. September
München. Konen. Bettenrid. Mövenpick. Sonne.
22
Er wirft einen Blick von der Zeitung auf Ana und Costin und sagt: „Also langsam wird mir das unheimlich. Jetzt hat der Kuhn schon wieder ein Gesetz erlassen. Jetzt können die ohne weiteres hier Wanzen anbringen, hier reinkommen, einfach so und mein Tagebuch lesen . . .“
„Du schreibst Tagebuch?“ fragt Costin.
„. . . also gut, dann eben dein Tagebuch . . .“
„Ich habe kein Tagebuch“, sagt Costin.
„. . . also irgendein Tagebuch halt dann, ist doch egal, die Sache ist doch: Die können einfach in privaten Sachen rumstöbern, auf bloßen Verdacht. Versteht ihr? Auf bloßen Verdacht.“
„Nein“, sagt Ana.
„Doch“, sagt Wallner, ohne von der Zeitung aufzuschauen. „Steht hier alles drin. Die schreiben das ja auch einfach so, als wäre es das Normalste von der Welt, und hier regt sich ja auch keiner auf, in anderen Ländern, Skandinavien, Frankreich wäre das undenkbar, aber warum soll man sich hier auch darüber aufregen, man kann . . .“
„Man kann ja eh nichts machen!“ sagt Costin schnell.
Wallner schaut Costin überrascht ins Gesicht. Wallner ist sich nicht sicher, ob Costin das eben ernst gemeint hat.
„Ich sage euch: Irgendwann, spätestens wenn ich in Rente gehe und der Uli den Laden übernimmt, dann hau ich ab!“ Costin ist jetzt Wallner. Wie Wallner verleiht er den Wörtern Nachdruck, indem er beim Reden die Augen für Momente schließt und mit dem Kopf nickt. Wallner wird erst jetzt bewußt, daß er selbst eben diese Geste gemacht hat, er macht sie immer, aber er achtet gar nicht mehr darauf. Ana lacht. Sie möchte nicht mitspielen, um Wallner zu ärgern, findet Costins Vorstellung aber anscheinend witzig und vor allem auch treffend. Wallner könnte Ana und Costin erzählen, daß er glaubt, neulich abends in der Firma einen Einbrecher gesehen zu haben, und daß Wiget irgendwoher erfahren hat, daß Wallner bei Dr. Kaduk war.
Wallner sagt: „Macht euch nur über euren alten Vater lustig.“
Costin sagt: „Jaha. Dann hau ich ab und nehme mir ’ne Wohnung in Paris! Da kann man auch mit wenig gut leben. Die Franzosen sind da viel weiter als die Deutschen. Savoir vivre kommt nicht von ungefähr. Jaha. Ihr lacht.“
Wallner hat zu lachen begonnen. Einerseits ist das zwar ein bißchen peinlich, so vorgeführt zu werden. Andererseits macht Costin das aber gerade richtig gut, und Wallner möchte kein Spielverderber sein.
Er sagt noch einmal: „Macht euch nur über euren alten Vater lustig“, weil er weiß, daß Ana dann gleich zu ihm schauen und etwas Tröstendes sagen wird.
Ana schaut zu ihm und sagt: „Aber nein. Du weißt doch, wie das gemeint ist.“
23
Er sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen und verschränkten Armen auf dem Sessel vor dem Schreibtisch in seinem Büro.
Vor seinem inneren Auge sieht er das Bett in seinem Schlafzimmer. Ana und er schlafen miteinander. Er stützt sich mit den Armen von der Matratze ab, die beige Decke mit Karomuster ist bis zu seinem nackten Gesäß gerutscht. Unter ihm liegt Ana. Sie hält sich mit beiden Händen an seinen Schultern fest und hat die Beine angewinkelt. Der grau-schwarze Haaransatz in Wallners Nacken ist naß. Er hat dabei die Stirn in Falten gelegt, den Mund leicht geöffnet. Seine Augen sind zusammengekniffen.
24
Das Glastischchen steht links von seinem Schreibtisch, die Stehlampe aus dem Wohnzimmer in Bergisch-Gladbach, die den Eltern seines Vaters oder seiner Mutter gehörte, ist hinter der Milchglasscheibe im Sekretariat als gelber Fleck sichtbar, das schwarz bezogene Sofa, das, soviel er weiß, seine Eltern für ihr erstes Haus in Leverkusen kauften und auf dem er als Kind mit Soldatenfiguren spielte – die Rille ein Schützengraben –, befindet sich jetzt in Wigets Büro, davor der Orientteppich, den die Eltern seiner Mutter von einer Reise aus Indien mitbrachten. Mit der weißen Kaffeemaschine aus der Küche seines Vaters machen alle Angestellten in der Teeküche der Firma im ersten Stock ihren Kaffee.
Wallner liest am Schreibtisch gerade die Unterlagen für das Projekt Brandenburg. Nach der Landflucht der vergangenen Jahre, die weite Teile Brandenburgs verwaist zurückließ, garantiert die Landesregierung jedem Bauern, der zurückkommt, das nötige landwirtschaftliche Gerät für zwei Jahre umsonst zur Verfügung zu stellen. Wallner & Wiget wurde aufgefordert, dem Landwirtschaftministerium ein Angebot zu unterbreiten. Wallner weiß, daß außer Wallner & Wiget noch zwei andere Firmen für das Projekt angefragt sind – van Riet in Hamburg und Gries in Jena, der den Standortvorteil hätte. Vieles wird von der Video-Konferenz übermorgen nachmittag abhängen, dem Eindruck, den er und Wiget beziehungsweise Wallner & Wiget bei den Vertretern des Bauernverbunds Brandenburg und dem Landwirtschaftsministerium machen werden. Sollten sie den Auftrag erhalten, würde das nicht nur unmittelbare finanzielle Auswirkungen haben, auch langfristig würde sich das auszahlen, die Bauern, sofern das Projekt von Erfolg gekrönt ist, würden ihnen über Jahre, Jahrzehnte hinweg die Treue halten und weiter bei ihnen Ersatzteile für neue Maschinen kaufen, der Kundenstamm würde sich maßgeblich erweitern. Wallner und Wiget könnten die Zahl ihrer Beschäftigten vergrößern, sie könnten Anteile an einer zweiten Firma erwerben, dann, wenn es wirklich gut läuft, an die Börse gehen, die Geschäftsleitung würde dann, wie schon mehrfach besprochen, in einen Rat umgewandelt werden, sie, das heißt momentan noch er und Wiget, wären dann zu viert, zu fünft, vielleicht.
Wiget ist vorhin hereingekommen, hat gesehen, daß Wallner, der kurz den Kopf gehoben hat, die Unterlagen für das Projekt Brandenburg studiert, und hat sich hinter ihn gestellt, wahrscheinlich, um mitzulesen. Er legt die Hand auf Wallners Rücken, genau zwischen die Schulterblätter. Schon seit dem Beginn ihrer Freundschaft macht Wiget diese Geste. Die Geste bedeutet Zuspruch.
Zum ersten Mal legte Wiget ihm damals, erinnert sich Wallner, im Wohnheim in Regensburg die Hand auf die Schulter, in der Stockwerkküche, nachts, als Wallner sich allein zugesoffen hatte und Wiget plötzlich auftauchte. Wallner hatte vor sich hin gelallt, er scheiße auf die ZVS, er scheiße auf Regensburg, er scheiße auf BWL, er scheiße auf seinen Alten – in diesem Moment hatte Wiget gefragt, wie lange er schon hier im Wohnheim sei, er habe ihn ja noch nie gesehen, er komme wohl nicht aus Regensburg, er, Wiget, sei ja auch nicht von hier, er komme ursprünglich aus Cham, ob er Cham kenne, in der Oberpfalz, ihm gehe es also genauso.
Warum hatte Wiget ihm eigentlich die Hand auf die Schulter gelegt? Wallner glaubt jetzt, er, also Wallner, habe damals zu flennen angefangen. Vielleicht hatte ihre erste Annäherung auch erst später stattgefunden, beim Wohnheimfasching, als er, als Scheich oder Pirat verkleidet, an der Wand im von Stroboblitzen erhellten Atrium lehnte und er Wiget wegen der lauten Musik und dem Johlen der Gäste ins Ohr brüllte, die Neue im Wohnheim, die Rumänin, sei in diesem Moment in seinem Zimmer, in seinem Bett, wenn Wiget es genau wissen wolle, er, Wallner, hätte sie eben gefickt – gefickt, habe er verstanden?
Wiget sagt, er werde noch eine halbe Stunde machen und dann gehen und sich die Akten heute abend zu Hause vornehmen. Er bleibt vor der Tür zum Sekretariat stehen. Er habe ein gutes Gefühl.
Wallner sagt, sie sollten sich morgen noch einmal zusammensetzen, um genau zu besprechen, wer von ihnen was bei der Konferenz sagt.
25
Das Auto der Familie ist von hoch oben aufgenommen, von einem Hubschrauber aus. Das Auto fährt die Windungen einer Gebirgsstraße entlang. Die Hänge der Berge sind überwiegend unbewaldet und von hellgrünem Gras bewachsen. Eine Synthesizer-Melodie setzt ein, die das Dies-Irae-Motiv variiert.
26
Er schließt die Haustür hinter sich. Man müßte noch einmal überlegen, ob man nicht doch einen zusätzlichen Vertreter für Tschechien braucht. Wallner ist durch den Flur gegangen und hat plötzlich bemerkt, daß er seine Straßenschuhe angelassen hat. Ana hat ihn gebeten, immer die Straßenschuhe auszuziehen, wenn es geregnet hat. Der Boden wird sonst so dreckig, und sie ist dann jeden Tag am Putzen.
Die Eßzimmertür ist angelehnt. Dahinter hat Ana etwas auf rumänisch, dann auf deutsch gesagt. Wallner hat „Verkauf der Firma“ und „Entmündigungsverfahren“ herausgehört.
Costin lacht laut und erwidert: „Ja, aber das spannt der Tata ja nie.“
Auch Ana lacht, als Wallner ins Eßzimmer tritt. Sie blickt ihn überrascht an.
Costin sagt: „Servus, Tata. Wir haben gerade darüber geredet, wie du und Mama euch kennengelernt habt.“
Wallner sagt: „Ihr habt nicht gerade darüber geredet, wie Mama und ich uns kennengelernt haben.“
Costin sagt: „Doch. Wir haben gerade darüber geredet, wie ihr euch kennengelernt habt.“
Wallner sagt lauter, als er eigentlich wollte, er schreit ja fast, denkt er, als er die ersten Wörter spricht: „Ihr habt nicht gerade darüber geredet, wie Mama und ich uns kennengelernt haben.“
Er schaut in die erschreckten Gesichter Costins und Anas.
27
Da steht Witte im Blaumann vor seinem roten Golf.
Wallner ruft: „Einen schönen Abend noch“ und winkt.
Als Wallner und Wiget die insolvente Firma von Karl Lindinger kauften, übernahmen sie die meisten der damaligen Beschäftigten, zu denen auch Witte gehörte. Wallner und Wiget haben durch diesen Kauf die Jobs von 83 Beschäftigten gerettet. Seit Wallner Witte zum Chefmonteur befördert hat, ist Witte seine Kontaktperson zu den anderen Monteuren. Witte sagt Wallner, was man in der Halle so erzählt. Ab und zu, vielleicht einmal alle zwei Monate, laden die Wittes Wallner und Ana zum Essen zu sich ein. Frau Witte bäckt ihr eigenes Brot.
Da ist Frau Beck. Sie stöckelt zu ihrem silbernen Ford in der mittleren Reihe auf dem Parkplatz. Frau Beck hat kurz in Richtung Wallner und Ana gelächelt und sich eine Strähne aus der Stirn gestrichen. Wallner hat zurückgelächelt.
Fakt ist, daß Wallner ihr und ihrem Mann damals geholfen hat, eine größere Wohnung zu finden. Fakt ist auch, daß Wallner und Ana als eine Art Revanche bei Frau Becks Hochzeit eingeladen waren, von der ein Foto existiert, das Wallner, Ana und das Brautpaar zeigt und das in der letzten Reihe von Fotos auf der Kommode im Wallnerschen Wohnzimmer steht. Fakt ist weiter, daß Wallner Herrn Beck eine Stelle im Lager beschafft hat, obwohl es bessere Bewerber gegeben hätte. Fakt ist schließlich, daß Wallner der Taufpate von Justin Beck, dem Sohn der Becks, geworden ist.
Wallner und Ana steigen in ihren hellroten Volvo, Ana fährt. Da ist Breitenbacher. Er kommt aus dem Pförtnerhäuschen, klappt die Schranke hoch, als er den Volvo anfahren sieht. Wallner winkt Breitenbacher aus dem Fenster.
Breitenbacher fährt jedes Jahr mit seiner Frau Yvonne oder Petra Breitenbacher, Wallner weiß nicht mehr genau, wie sie heißt, im Sommer nach Spanien, von wo sie Wallner immer eine stark riechende Peperoni-Salami mitbringen.
Wallner fragt Ana, ob sie die 31 wolle. Ana nickt. Er ruft auf dem Handy beim Chinesen an, er bestellt einmal die 30 und einmal die 31. Am Marktplatz vor dem Restaurant ist Ana ausgestiegen und das Essen holen gegangen, Wallner wartet im Auto, er will es nicht riskieren, den Humpfmüller oder Schwaiger zu treffen, die sich, glaubt er, gerade in der Stadtratssitzung im Rathaus gegenüber befinden.
28
Ana biegt in das Wohngebiet ein. Als sie von Regensburg nach Cham gezogen waren, war das Wohngebiet im Stadtteil Siechen ein Neubaugebiet, von dem nur ein Schachbrett aus geteerten Straßen um leere Quadrate existierte, hier und da Gruben, Rohbauten, erst zwei fertige Häuser, eines davon ihres. Costin hatte den Ausschlag gegeben, hier und nicht etwa neben dem Gewerbepark und der Firma, in Chammünster, zu bauen. Zwar hatte Costin noch gar nicht existiert; ein Kind war zum Zeitpunkt des Umzugs aber Teil der Planung gewesen, das Neubaugebiet würde eine familienfreundliche Umgebung sein; Wallners und Anas Tochter, Johanna (Wallners Wunsch), oder Sohn, Costin (Anas Wunsch), würde nicht nur sicher in einer Tempo-30-Zone aufwachsen und durch die anderen Kinder des Gebiets, die hier einmal wohnen würden, schnell Gesellschaft haben, sondern sie/er hätte es auch nicht weit zum Kindergarten, zur Grundschule und später zum Gymnasium, sie/er würde aufs Gymnasium gehen.
Nächstes Jahr macht Costin Abitur, das er bestehen wird. Costin wird als zu berücksichtigender Faktor wegfallen. Es wäre möglich, ein Haus neben der Firma in Chammünster zu bauen, vielleicht sogar in derselben Straße, der Pappelallee, in der die Villa der Wigets steht.
Wallner und Ana steigen aus. In den Fenstern der anderen Häuser brennt Licht, Wallner kann die Umrisse von Frauen ausmachen, die vom Abendessenkochen gerade einen kurzen Blick nach draußen werfen, ihn beobachten, von den Rentnern, immer diese Rentner überall, einen sieht Wallner jeden Sonntagnachmittag auf dem mit Topfpflanzen zugestellten Balkon schräg gegenüber, natürlich ideal, um sich ein wenig zu verstecken.
In der Diele öffnet Wallner den Knopf seiner Anzughose und bückt sich, um sie auszuziehen. Aus dem Wohnzimmer sind Stimmen zu hören. Er knöpft sich schnell die Hose wieder zu. Irgendwer hat zu singen angefangen.
Als Wallner durch die angelehnte Wohnzimmertür tritt, hat Costin, in der Mitte des Zimmers, getanzt, dabei gesungen, auf dem Sofa haben ihm zwei Jungen zugeschaut, seine Freunde aus der Schule, der mit den ausgebeulten Hip-Hop-Hosen heißt Markus oder Marco, der andere, der Untersetzte mit dem Mecki, hat diesen Namen, bei dem Wallner zuerst dachte, er sei ursprünglich griechisch oder spanisch, bevor er von Ana erfuhr, daß Quirin eigentlich altbayerisch sei. Aus den Styroporschachteln auf dem Wohnzimmertisch riecht es nach indischem Essen, daneben stapeln sich Comic-Hefte.
Bevor er mit dem Singen und später mit dem Tanzen anfing, hatte Costin exzessiv Comics gesammelt, im Urlaub hatte seine Lektüre ausschließlich aus irgendwelchen Heften bestanden, im Haus hatten sie haufenweise herumgelegen, auf dem Fußboden, den Stühlen, dem Sofa, oft zerfledderte und vergilbte Dinger, die aussahen, als wären sie noch vor Costins Geburt erschienen. Costin und seine Freunde saßen auf der Terrasse oder, wie jetzt, im Wohnzimmer zusammen, hatten Hefte getauscht, ja ver- und gekauft. Die hatten ein regelrechtes Geschäft am Laufen.
Quirin und der andere Junge haben es nach der Begrüßung sichtlich eilig zu gehen. Als sich die beiden verabschieden, sagt Costin, er komme gleich nach, sie sollen beim Auto auf ihn warten, woraufhin sie irgend etwas erwidert haben, schnell, lachend, irgend etwas, was Wallner nicht verstanden hat. Costin hat offenbar seinen Freunden seine neueste Einstudierung vorgeführt. Es drängen sich in diesem Moment Fragen auf. Ist es möglich, daß Costin tagsüber, wenn Wallner und Ana nicht zu Hause sind, in seinem Zimmer, in dem, fällt Wallner ein, er, Wallner, schon lange nicht mehr war, den gerade hier anwesenden Schulfreunden nicht nur etwas vortanzt, sondern sich mit ihnen auch auf eine nicht mehr gänzlich harmlose Art und Weise vergnügt? Wobei statt Schulfreunden auch Schulfreundinnen denkbar wären, Ana hatte einmal etwas von einer Christina erzählt, mit der Costin gehe. Gäbe es Wege, Costins bi- oder heterosexuellen Abenteuern nachzugehen?
Costin sagt, er müsse jetzt los. Er küßt Ana, dann Wallner, links, rechts, auf die Wangen. Anas Eltern haben Ana und Costin – nicht Wallner – zur Begrüßung und Verabschiedung immer auf die Wangen geküßt. Ungefähr seit Anas Vater vor vier Jahren gestorben ist, hat Costin begonnen, nicht nur Ana, Wallner und seine Großmutter vor allem beim Verabschieden auf die Wangen zu küssen, sondern auch seine Freunde beziehungsweise Freundinnen in der Schule, Wallner hat es bei Costins letztem Geburtstagsfest gesehen, das er zu Hause feierte.
Costin fragt Ana: „Cum ţi-a fost ziua?“
Ana antwortet ihm auf rumänisch.
Ana ist zwar in München geboren, spricht aber in ihrer Familie, das heißt mit Elena, ihrer Mutter in Regensburg, deren Freunden in der rumänischen Gemeinde und mit ihren Verwandten, die sie seit 1990 in Bukarest ab und zu besucht, rumänisch, mit allen anderen, das heißt auch Wallner, deutsch. Während Wallner in den ersten Jahren seiner Beziehung mit Ana einige Phrasen auf rumänisch gelernt hat, „Wie geht es dir“, „Ich liebe dich“, „Ich vermisse dich“, hat Ana Costin, als er noch ein Baby war, zuerst Rumänisch und dann erst Deutsch beigebracht. Später ist er nur ungern allein mit seinen Großeltern, die nur schlecht Deutsch konnten, zusammengewesen, weil sie sich mit ihm ausschließlich auf rumänisch unterhielten. Inzwischen meldet sich Costin, dessen Oberpfälzer Dialekt nicht so stark ist wie der seiner Freunde am Gymnasium, wenn ihm seine Mutter den Telefonhörer reicht und sagt, es sei seine Großmutter, von selbst mit „Bună?“
Als die Haustür zufällt, öffnet Wallner den Knopf seiner Anzughose und zieht sie aus. Er setzt sich in den Shorts aufs Sofa und hört Ana aus der Küche, das Knistern der Plastiktüten mit dem chinesischen Essen.
29
Er schaut zu Wiget und wartet darauf, daß er sich zu ihm dreht. Wiget rückt das Mikrofon des Headsets vor seinem Mund zurecht, räuspert sich mehrmals und schaut auf den Bildschirm, auf dem jetzt die letzten Sekunden des kurzen Demos der Firma laufen.
Wallner würde gern, bevor auf dem Bildschirm wieder der Konferenztisch in Berlin mit den Vertretern des Landwirtschaftsministeriums von Brandenburg erscheint und sein eigenes und Wigets Bild von der Kamera auf dem Stativ vor dem Bildschirm am Ende des Konferenztisches nach Berlin übertragen wird, einen Blick der Bestätigung austauschen. Seit Beginn der Präsentation hatte Wallner den Konferenzraum um sich herum vergessen.
Er achtete darauf, durch die Gestik des Teils seines Oberkörpers (Schultern, Arme mit Händen), der von der Kamera gefilmt wird, sowie durch seine Mimik einen glaubwürdigen und selbstbewußten Eindruck auf die Vertreter in Berlin zu machen. Den Text, mit dem er die eingestreuten Power-Point-Statistiken zur Bilanz, Entwicklung und Kapazität der Firma erläuterte, hat er inklusive Intonation auswendig gelernt.
Im Konferenzzimmer riecht es vom Holzpflegemittel stark nach Zitrone.
Wallner nimmt an, daß die Vertreter das Demo zurückgelehnt in ihren Stühlen mit verschränkten Armen verfolgen, erste Wertungen und Eindrücke werden sie durch Blicke austauschen, die Mikrofone haben sie nicht ausgeschaltet: Ab und zu ist über der Tonspur des Films ein Husten, ein Flüstern und Räuspern in Wallners Kopfhörern zu hören.
Jetzt kommt gleich der Fragenteil. Der Fragenteil ist entscheidend.
Wallner und Wiget besprachen die letzten Tage, welche Fragen wahrscheinlich gestellt werden würden. Sie machten zwei Probepräsentationen. Einmal übernahm Wallner die Rolle der Vertreter und stellte Wiget Fragen, einmal umgekehrt.
Auf dem Bildschirm sind die Vertreter zurückgelehnt am Konferenztisch mit verschränkten Armen in ihren Sesseln erschienen. Herr Busmann, links am Tisch, der Vorsitzende des Bauernverbands, hat das Mikrofon seines Headsets zur Seite gedreht, sich zu Herrn Soundso, Wallner hat gerade seinen Namen nicht präsent, neben ihm gebeugt und mit ihm etwas besprochen.
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Das Telefon klingelt, einmal, zweimal. Wallner schaut auf das Display, eine Nummer, die er nicht kennt. Warum hat Frau Beck die einfach so durchgestellt?
„Wallner“, meldet er sich.
Aus dem Hörer ist Rauschen gekommen, dann, weit entfernt, „Allô?“
Eine Männerstimme.
„Hallo?“ sagt Wallner.
„Allô?“ die Männerstimme.
„Wer spricht bitte?“ fragt Wallner.
„Wer spricht bitte?“ fragt die Männerstimme.
Wallner legt erschrocken auf. Zu spät erkennt er, daß er gerade einen Fehler begangen und sich selbst um die Möglichkeit gebracht hat, herauszufinden, wer ihn da ärgern oder aber sogar, falls das noch einmal vorkommt, terrorisieren will. Die Nummer auf dem Display ist erloschen.
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Die Soldaten, die aus dem Kessel in Stalingrad geflohen sind, sitzen auf der überdachten Ladefläche eines LKWs. Draußen tobt ein Schneesturm.
Der Schauspieler mit den abstehenden Ohren (erregt): „Entweder wir machen das jetzt so, oder ich steige aus und gehe von hier nach Deutschland – zu Fuß!“
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10. Oktober
Großer Arber. Mit Uli. Schon Schnee. Schön.
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Wallner geht durch das dunkle Schlafzimmer. Er muß aufstoßen und kann die Hühnchenstücke mit der scharfen chinesischen Sauce riechen, die er zum Abendessen gegessen hatte. Obwohl er das Bett, die Kante, jetzt nicht sehen kann, weiß er, wo sie sich befinden muß und weicht ihr auf dem Weg zum Fenster aus. Wallner läßt den Rolladen herunter.
Am Wochenende steht Ana hier manchmal, winkt ihn zu sich und deutet, flüsternd, als ob die Tiere sie hören könnten, auf Hasen oder Rehe auf den Feldern am Fuß des Galgenbergs, der, eher Hügel als Berg, mit seinen sanft ansteigenden Wiesen eigentlich ganz friedlich aussieht. Abends ist es im Haus fast vollkommen still. Nur von der Ostmarkstraße, der einzigen Verbindung zu den Autobahnen, kommt hin und wieder ein dumpfes Brummen. Nach einer Krise am Anfang, während der sie Wallner vorgeworfen hatte, ihre Karriere ruiniert zu haben – was mache sie, eine fast zu Ende studierte Veterinärmedizinerin und fertig ausgebildete Kindergärtnerin bitte als Buchhalterin in einer Firma für Landmaschinen? –, während der sie öfter mit Costin im Gepäck für Tage einfach abgehauen war, zu ihren Eltern nach München, während der sie geklagt hatte, hier außer Astrid Wiget keine Freundinnen zu haben, und dabei in einer Mischung aus Gebell und Muhen den Oberpfälzer Dialekt nachgemacht hatte, hat Ana sich eingelebt. Früher begann Ana zu weinen, wenn sie, aus dem Urlaub kommend, von der Autobahn die Ausfahrt Richtung Cham nahmen. Jetzt hört sie Wallner zu, wenn er von den Sachen erzählt, die er am nächsten Tag in der Firma erledigen muß, stellt sachbezogene Fragen, grüßt beim Aussteigen die Nachbarn, die vielleicht gerade die Einfahrt kehren, und trägt die Koffer ins Haus. Ana hat jetzt zwar kein positives, aber ein neutrales Verhältnis zu Cham.
Er hat vor dem Spiegel im Badezimmer Wasser in seine hohle Hand laufen lassen und seine Achseln, seinen Brustkörper und sein Glied besprengt. Während er dann Zähne putzt, ist Ana ins Badezimmer getreten. Sie ist nackt und trägt ein Stirnband, damit ihr die Haare beim Waschen nicht ins Gesicht fallen. Vor etwa fünf Monaten war Ana ebenfalls nackt ins Badezimmer gekommen, und Wallner hatte nach einer Weile gesagt, daß sie ihrer Mutter Elena, früher bildhübsch, jetzt dick, immer ähnlicher werde. Bis vor etwa einem Monat hatte Ana deshalb, wenn sie abends ins Badezimmer kam, bereits ihr Nachthemd an. Anas nackter Körper heißt, daß sie entweder vergessen hat, was Wallner ihr damals gesagt hat, oder daß sie Wallner verziehen hat.
Wallner hat sich auf das Bett gelegt, den Fernseher eingeschaltet und die Wildacker-DVD, den Film über den Dreißigjährigen Krieg, zu der Stelle vorlaufen lassen, bei der er noch sicher weiß, daß er sie vor zwei Tagen gesehen hatte und noch nicht eingeschlafen war. Während Wildacker in einer Bauernstube geboren wird, die Plünderung des elterlichen Bauernhofs und die Vergewaltigung seiner Mutter miterlebt, Heere aufeinander zustürzen und tote Soldaten verstreut auf nebligen Wiesen liegen, ist Ana aus dem Bad ins Schlafzimmer gekommen und hat das Licht ausgeschaltet. Sie hat „Nacht, Schatz“ gemurmelt und sich dann auf die Seite gedreht. Schon nach wenigen Minuten, als Wildacker zusammen mit anderen Soldaten in Wallensteins Lager Nachtwache hält, hat Wallner Anas gleichmäßigen Atem gehört und aus der Richtung ihres Gesichts die Minzzahnpasta gerochen.
Wallner hat Ana, seit er sie kennt, darum beneidet, daß sie nur die Augen zu schließen braucht und sie, egal wo, egal in welcher Position, von einem Moment zum anderen fähig ist einzuschlafen. Er muß, um einschlafen zu können, im Bett noch etwas tun, lesen oder fernsehen zum Beispiel.
Er spürt jetzt, daß seine Lider schwerer werden, und achtet noch darauf, was gerade im Film passiert, damit er morgen weiß, zu welcher Stelle er vorspulen muß, dann sind ihm die Augen zugefallen, während er noch die Stimmen und Geräusche vom Film, der weiterläuft, bis zum Ende, jede Nacht, im Ohr hat.
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8. Dezember
Nürnberg. Hugendubel.
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19. Januar
Messe Frankfurt.
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Wallner wählt um 17:24 Uhr von seinem Büro aus die Durchwahl der Buchhaltung, um Ana Bescheid zu sagen, daß er so in 20 Minuten fertig sein werde und daß sie dann zusammen nach Hause fahren können, beim zweiten Klingeln ist ihm eingefallen, daß Ana ja gar nicht in der Firma ist, weil sie heute morgen mit Costin mit der Bahn nach Regensburg und von dort mit ihrer Mutter in deren gebrauchten Audi-Kombi zum einwöchigen Verwandtenbesuch nach Bukarest aufgebrochen ist.
Eine Viertelstunde später hat Wallner Wiget abgeholt. Wie ein paar Tage zuvor besprochen, nachdem Anas und Costins Reise feststand, ißt Wallner heute abend und morgen nicht zu Hause in Siechen, sondern bei den Wigets in Chammünster und schläft auch bei ihnen. Weil Wiget noch etwas aus der Apotheke am Marktplatz braucht, ist Wallner schon einmal vorausgefahren, die Pappelallee entlang, gibt am Tor der Wiget-Villa die Zahlenkombination ein, die Torflügel öffnen sich, Wallner parkt den Volvo in der Garage.
Astrid und er begrüßen sich im Windfang, sie trägt so einen kurzärmeligen lila Angora-Pulli wie Ana auch einen besitzt, Ana hat ihn viel zu selten an. Astrid sind die blonden Lokken in die Stirn gefallen, das sieht sexy aus.
Astrid fragt: „Wie war dein Tag, Schatz?“, gleich danach lacht sie kurz auf.
Wallner stellt seine Reisetasche im Windfang ab, während er die Kellertreppe heruntersteigt, um am Kleiderständer im Flur sein Sakko aufzuhängen. Als er sich gegenüber von Astrid auf das Sofa im Wohnzimmer setzt, erzählt er ihr von dem Telefongespräch mit Brandenburg heute, bei dem er positive Signale erhalten habe. Astrid erzählt ihm, daß sie einen harten Tag gehabt habe, auf der Station sei heute der Teufel los gewesen. Wallner erkundigt sich, ob es Thea, Astrids Sorgenkind auf der Station, heute besser gegangen sei oder ob sie noch immer so schlecht auf die Chemo reagiere.
Maximilian – Maximilian nach Ulrich Wigets Vater Maximilian Wiget – und Patrick – Patrick wie Patrick Sujet, der Sänger – sind ins Wohnzimmer gekommen. Beide tragen Turnschuhe, kurze Hosen und T-Shirts, Patrick dribbelt mit einem Basketball auf der Stelle.
Wallner sagt: „Hey“ und versucht, die beiden in die Seite zu zwicken.
Maximilian sagt, daß sie eine Runde auf dem Platz gegenüber spielen werden, und fragt, ob Wallner mitwolle.
Wallner ist in den Keller gegangen und hat sich Wigets Turnschuhe, die in der Garderobe stehen, angezogen. Auf dem Sportplatz haben zuerst Wallner und Patrick ein Team gegen Maximilian gebildet. Immer wenn Patrick Wallner den Ball über seinen Bruder hinweg zuwirft, ruft er: „Stefan.“ Wallner macht zwei Schritte auf den Korb zu, Maximilian springt abwehrend in die Höhe, Wallner fälscht den Ball ab und ruft: „Patrick.“ Während dann Maximilian und Patrick gegen Wallner spielen und er immer seltener angegriffen oder abgewehrt hat, haben Maximilian und Patrick, vor Wallner hin und her dribbelnd, immer wieder herausfordernd gesagt: „Na komm“ oder „Komm schon“ oder „Nicht so schlapp, Opa.“
Zurück im Keller des Wiget-Hauses duscht Wallner und geht mit umgebundenem Handtuch in das Gästezimmer neben dem Badezimmer. Er öffnet den Wandschrank, in dem sich neben ausrangierten Röcken, Blusen von Astrid und Anzügen von Wiget auch Kleidungsstücke von ihm befinden. Als Wallner ins Eßzimmer im Erdgeschoß tritt, sitzen Wiget und Astrid bereits am Tisch. Maximilian und Patrick haben sich noch kurz dazugesellt, sie haben sich umgezogen und riechen nach Jasmin. Maximilian und Patrick werden in die Disco in Vilzling fahren, die früher, wie Wallner weiß, Jungle hieß, jetzt aber wahrscheinlich einen anderen Namen trägt, der Besitzer ist jedenfalls nicht mehr derselbe. Maximilian und Patrick sagen, daß sie in einen der Theme-Clubs im neuen Entertainment-Areal Richtung Furth im Wald fahren, von dessen Neueröffnung Wallner aus der Zeitung erfahren hat, Costin, der ihm am ehesten mehr darüber sagen könnte, ist dort noch nie gewesen, das wüßte Wallner. Der Theme-Club habe das antike Rom als Motiv, das Innere sei wie ein Tempel eingerichtet, mit Säulen, die Bedienungen servieren in Togen, die Cocktails, so Maximilian, seien nach römischen Gottheiten benannt. Die Disco in Vilzling gebe es seit ungefähr zwei Jahren nicht mehr.
Nach dem Essen gehen Wallner und Wiget ins Wohnzimmer, Wallner öffnet die untersten Türen des linken Schranks neben dem Fernseher, um die DVD mit der polnischen Tragikomödie, dem Oscar-Gewinner für den besten fremdsprachigen Film letztes Jahr, herauszusuchen. Als er seine Finger an den Rücken der Hüllen entlanggleiten läßt, fällt sein Blick auf den Spielfilm über den Einsatz der Bundeswehr in Angola vor einigen Jahren, den er Anfang des Jahres im Kino zu sehen versäumt hatte. Während der ersten Minuten des Films, in dem anhand von Dokumentarmaterial die Geschichte des Bürgerkriegs in Angola und der Beschluß der EU-Staaten, eine europäische Eingreifgruppe aus mehreren tausend Soldaten nach Luanda zu entsenden – Zentrum der Kämpfe und Titel des Films –, erzählt wird, schaut Wallner zu Wiget, weil er noch kurz über Brandenburg sprechen möchte.
Wiget hat die Augen nur halb geöffnet und hält sich mit einer Hand ein Kissen vor den Bauch. Wallner weiß, daß Wiget müde ist und daß es zu keinem befriedigenden Gespräch über Brandenburg kommen würde. Astrid hat sich schon ihren Pyjama angezogen. Wallner kann sehen, wie sich unter dem Oberteil ihre Nippel abzeichnen. Weiß Astrid das? Weiß sie, daß Wallner das bemerkt? Möchte sie das? Was bedeutet das? Sie kommt ins Wohnzimmer und setzt sich zwischen Wiget und Wallner.
Im Film hat die eigentliche Handlung, die fiktiven Einzelschicksale einer sechsköpfigen deutschen Special-force-Truppe, begonnen. Jeder Soldat geht anders mit der Nachricht um, nach Luanda entsandt zu werden. Der eine hält eine Abschiedsfeier mit seiner Familie und seinen Freunden, die andere sitzt mit Tränen in den Augen im Arm ihres Freundes auf der Couch et cetera. Astrid sagt, daß sie sich das nicht ansehen könne. Sie steht auf und sagt, die Hände vor der Brust verschränkt, Wiget und Wallner gute Nacht.
Im Film springt die sechsköpfige Special-force-Truppe zusammen mit anderen Bundeswehrsoldaten über der Küste Luandas mit dem Fallschirm ab. In das Spielfilmmaterial sind die bekannten Amateurvideoaufnahmen hineingeschnitten, die, von der Küste aus gemacht, die unscharfen Gestalten in der Luft und im Wasser zeigen. Viele Soldaten werden von den Kugeln der Rebellen getroffen, die plötzlich, vollkommen unerwartet, zu feuern beginnen, Leichname treiben an Fallschirmen im Meer, darunter auch der eines Soldaten aus der deutschen Special-force-Truppe. Seine Kameradin hebt seinen Kopf an den Haaren aus dem Wasser, erkennt ihn und schreit auf.
Ulrich Wiget sagt: „Ich weiß, daß du an Brandenburg denkst. Du denkst, daß wir den Auftrag bekommen und daß wir uns nach neuen Zulieferern umsehen sollten. Und du denkst noch einen Schritt weiter. Du denkst, daß, wenn Brandenburg gut über die Bühne geht, wir dann Anteile an Chutkowski in Danzig kaufen können und vielleicht auf lange Sicht die ganze Firma. Ich glaube auch, daß wir Brandenburg bekommen werden. Gries ist schon längst aus dem Rennen, und unsere Bilanz ist besser als die von van Riet. Ich werde am Montag in Riga anrufen und sehen, was deren Angebot für Schaufeln wäre.“
Am Samstag sind Wiget, Astrid und Wallner spontan nach München gefahren. In einem Möbelhaus sitzen er und Wiget Probe und haben dann fünf neue Schreibtischstühle für die Firma gekauft; in der Damenabteilung eines Modehauses hat Wallner ihn gefragt, welches von zwei Kleidern er als Geschenk für Ana zu ihrem Geburtstag besser fände. Am Sonntag hat Wallner Wiget in dessen Haus beim Ausbau des Wintergartens geholfen.
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Wallner nimmt im Sessel, Ana auf dem Sofa Platz. Ana hat sich den Übergangsmantel, den sie getragen hat, als Wallner sie und Costin vom letzten Zug aus Regensburg am Chamer Bahnhof abholte, nicht ausgezogen. Die Wohnzimmerdecke vibriert dumpf von den Schritten Costins, der sofort nach oben in sein Zimmer schlafen gegangen ist, weil er am nächsten Tag Schule hat, außerdem sei er todmüde. Auf dem Wohnzimmertisch liegt auf einer Tüte mit rumänischem Aufdruck ein Ölbild in einem Holzrahmen, das einen Mann mit weißem Schnauzbart, einem Monokel im rechten Auge und einer Warze über dem linken Mundwinkel zeigt.
Ana sagt, daß das ihr Großvater Mihai sei und daß ihre Tante Steluţa ihr nun endlich das Bild als Vorgeburtstagsgeschenk gegeben habe. An dem Sessel lehnen zwei Tüten, deren Inhalt Ana Wallner kurz gezeigt und dann gleich wieder verpackt hat, Mămăligă cu brânză, Ciorbă de Burtă und Pîine, selbstgemacht von Anas Cousin Dinu und dessen Frau. Ana breitet Prospekte mit Zeichnungen von Wohnkomplexen und Apartmentgrundrissen auf dem Tisch aus.
Sie sagt: „Für meine Mutter ist es diesmal ganz schlimm gewesen. Die ist jetzt halt schon so alt, daß es jedesmal sein kann, daß es das letzte Mal ist, daß sie in Rumänien ist. Man hat schon gemerkt, daß Rumänien die Heimat von der Mama ist, aber sie ist eben einfach zu lange weggewesen, und Bukarest hat sich ja in den letzten zehn, zwanzig Jahren ziemlich verändert. Du weißt schon. In Regensburg kennt sie ihr Umfeld, die Nachbarn, die Verkäufer im Supermarkt und so, aber sie ist halt immer die Ausländerin, und die Freunde, die sie hat, die sind halt auch alle aus Rumänien und jetzt auch schon so lange hier wie sie vielleicht. Andererseits in Rumänien, da kennt sie nur noch ihre Schwester und meine Cousine und deren Familie, den Rest gibt es nicht mehr, auch die meisten Häuser in der Innenstadt. Entweder ist da jetzt was Neues gebaut worden, oder die ganz alten Gebäude, die verfallen waren, als die Mama weggegangen ist, sind neu instand gesetzt worden, so daß sie sie nicht wiedererkennt. Dabei ist die Mama doch durch und durch Rumänin. Du weißt schon. Und wenn der Tata nicht damals nach München gegangen wäre mit dem Stipendium und die Praxis aufgemacht hätte, die Mama wäre sicher in Bukarest geblieben. Aber wenn ich mir die Steluţa und den Dinu anschaue und mir überlege, daß das die Mama und ich sein könnten – Steluţas Dreizimmerwohnung, Dinu Bäcker, der gerade mal so seine Familie durchbringt –, da kann ich nur sagen: Gott sei dank sind meine Eltern rübergegangen. Nein danke.“
Es entsteht eine Pause.
„Ich habe mir gedacht, daß man sich mal überlegen soll, ob man sich nicht so ein Apartment in Bukarest kauft. Wir könnten dann dort öfter sein. Costin könnte dann dort öfter sein. Und vor allem könnte die Mama eine längere Zeit dort leben. Das würde sie sehr freuen, denke ich. Das Geld ist ja jetzt auch da.“
Später hat Wallner mit Ana geschlafen. Die linke Nachttischlampe brennt, die rechte, auf Wallners Seite des Betts, ist ausgeschaltet. Wallner stützt sich mit den Armen neben Anas Kopf ab. Er spürt, daß seine Haare im Nacken vom Schweiß naß sind. Während er Ana penetriert und sie die Beine anwinkelt, ist die beige Bettdecke mit dem Karomuster bis zu seinen Füßen gerutscht. Ana dreht sich um. Als sie dann auf dem Bauch liegt, laut atmend, ab und zu stöhnend, er auf ihr, hat er für einige Momente gedacht, daß er eigentlich genau jetzt statt ihren Kopf von oben, die Haare vor ihrem Gesicht, sie lieber von einem Standpunkt von schräg unten aus sehen würde, wie sie sich auf die Lippen beißt, sich selber darüber, wie er die Stirn in Falten gelegt hat, die Wangen gerötet, sie müssen gerötet sein, sie glühen. Als er nicht mehr kann, zieht er sein Glied aus Anas Scheide und dreht sich zur Seite.
Ana fragt: „Bist du müde?“
Es entsteht eine Pause.
„Kann ich irgend etwas tun, damit du?“
Es entsteht eine Pause.
Ana geht ins Bad. Sie läßt die Tür offen. Wallner sieht, wie sie von der Rolle Klopapier abreißt und sich damit die Scheide abwischt.
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Jetzt kommt gleich Costin. Gerade nimmt ein Tobias Vogt, ein hochgewachsener schlaksiger Junge, auf der Bühne das Zeugnis aus den Händen des Rektors entgegen. Wallner sieht trotz seiner neuen blauen Kontaktlinsen das Geschehen auf der Bühne am anderen Ende der Aula nur verschwommen. Ana neben ihm filmt. Sie wird Tobias Vogt und den Rektor herangezoomt und auf dem kleinen ausgeklappten Bildschirm ihres Camcorders scharf gestellt haben, auf den sie bereits während der ganzen Abiturverleihungszeremonie schaut. Der Rektor hat durch das Mikrofon „Herr Costin Wallner, bitte“ gesagt.
Wallner reckt den Kopf, sein Herzschlag hat sich beschleunigt. Costin steht von seinem Platz auf, vorne, an den langen Tischen mit den Bierbänken, und steigt die Treppe an der Seite der Bühne hoch. Seine Gesten, die ruckartigen Bewegungen, die geröteten Wangen, Wallner glaubt, daß die Wangen gerötet sind, lassen darauf schließen, daß Costin nervös ist, vielleicht freudig erregt. Das Publikum klatscht noch immer.
Wallner würde, wäre er in diesem Moment an Costins Stelle, nervös und freudig erregt sein, weil er trotz der ständigen Anfeindungen durch die Mitschüler und Lehrer und nicht zuletzt trotz des Elternhauses, des ihn ständig kontrollierenden Vaters, also Wallners Vater, Günter Wallner, nicht Costins, Stefan Wallner, ein Abiturzeugnis mit einem Zweier-Schnitt geschafft hat. Costin hat vor einer Woche auf Wallners wiederholte Frage hin, während des Abendessens, vorgerechnet, daß er keinen Einser-, mit Sicherheit aber einen Zweier-Schnitt haben werde.
Ana hat jetzt vom Bildschirm des Camcorders weg auf die Bühne geschaut und sich auf die Zehenspitzen gestellt. Costin ist an den Bühnenrand vorgetreten und hat einige Tanzschritte gemacht. Wallner kann nicht erkennen, ob der Rektor lächelt oder verdutzt aussieht. Costin ist Wallner peinlich. Er schaut zu Ana, die mit offenem Mund, lautlos lachend, auf den Bildschirm schaut, die anderen Abiturienten haben angefangen zu jubeln und zu klatschen, die anderen Eltern an den Tischen vor Wallner und Ana fallen mit ein.
Nach dem Gruppenfoto der Abiturienten, die eine Eins vor dem Komma haben, hat der Rektor das Buffet für eröffnet erklärt, und Wallner hat sich durch die Gänge zwischen den Tischen, den Schlangen der Schüler und Erwachsenen, die jetzt nach hinten strömen, entgegen, nach vorne gezwängt. Er tippt Costin, der sich gerade mit dem Mädchen neben ihm unterhält, von hinten auf die Schulter. Costin dreht sich um, lächelt und sagt: „Ihr seid ja doch noch gekommen, ist die Mama auch da?“ Das Mädchen neben Costin, das sich ebenfalls umgedreht hat und Wallner lächelnd ansieht, hat langes, glattes blondes Haar, ihr Gesicht ist schmal. Das Mädchen neben dem Mädchen, das sich ebenfalls zu Wallner umgedreht hat, hat langes, glattes schwarzes Haar und etwas Babyspeck im Gesicht.
Wallner sagt: „Ja, die Mama ist auch da, herzlichen Glückwunsch übrigens“ und hat dem blonden Mädchen ins schmale Gesicht geschaut.
Wallner sieht das blonde Mädchen in einem Bett aus Rosenblüten, Rosenblüten auf der Scham und auf den Brüsten, Rosenblüten, die auf das Mädchen herabregnen, er könnte sich vorstellen, morgen in der Dusche hinter der Milchglasscheibe zu onanieren und dabei an Geschlechtsverkehr mit dem blonden Mädchen zu denken.
Wallner dreht sich um und winkt Ana her, die, sofern er das zwischen dem Gewusel der Menschen sehen kann, noch immer filmt und die Kamera auf ihn gerichtet hat. Auch Costin hat in Anas Richtung geschaut und gewinkt. Ana hat den Camcorder eingesteckt und sich auf den Weg nach vorne gemacht. Wallner hat „Ja“ gesagt und „Soll ich euch“, und er hat auf das blonde Mädchen geblickt und einen fragenden Gesichtsausdruck gemacht, „Das ist Sara und das ist Nicole“, sagt Costin und deutet auf das schwarzhaarige Mädchen, „Sara und Nicole“, fährt Wallner fort, „etwas vom Buffet mitbringen?“
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3. Oktober
Großer Arber. Mit Uli. Regen.
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12. Dezember
Geburtstag Ana (56)
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30. Juli
King Kong. Mit Costin. Lustig.
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14. Februar
Messe Frankfurt.
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1. Februar
Ist der Wunsch nach Flucht vorhanden?
Ja.
Was hindert dich daran? Erstelle eine Reihenfolge!
a) die Firma, b) Ana, c) Costin
Vorausgesetzt, a) bis c) sind nicht vorhanden, was wäre der Zielort deiner Flucht?
Das wäre projektgebunden. Ich hätte gern ein neues Projekt – ein Projekt außerhalb des Umfelds, das ich kenne und das mich kennt. Generell ließe sich die Frage daher vielleicht mit „Außerhalb Europas“ beantworten.
Paris?
Paris ist dadurch, daß ich es so gut kenne und schätze, selbstverständlich eine Option. Im Grunde genommen ist Paris aber zu nahe an Deutschland, der Firma, Ana et cetera. Ich hätte immer Angst, daß ich, durch was für einen Zufall auch immer, jemanden treffe, der mich erkennt.
Was wäre, wenn Brandenburg nicht klappt?
Es müßten mehrere Faktoren zusammenkommen, damit ich auch wirklich an eine „Flucht“, oder wie immer man das nennen mag, denke.
Was wären diese Faktoren?
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Er sitzt im Konferenzraum der Firma und sieht, wie zwei Polizeibeamte in sein Büro treten. Der eine, etwas größere, hat das Gesicht von Wachtmeister Willems, sein Kollege das von Wachtmeister Roche, den beiden Fahndern aus der Serie Streife 6, von der Wallner vor eineinhalb Wochen, es war Samstag abend, eine Folge gesehen hat. Obwohl die Polizeibeamten vor dem Schreibtisch im Büro stehengeblieben sind und sich auch sonst nicht bewegen, haben ihre dunkelbraunen Lederjacken geknarzt. Die Tür dämpft das Klingeln des Telefons, das aus dem Sekretariat kommt.
Der eine, etwas größere Polizeibeamte sagt: „Heute früh hat sich auf der Strecke Essen–Köln ein ICE-Unglück ereignet. Ihr Vater saß in dem ICE. Er wurde durch das Fenster geschleudert, ihm wurde die Schädeldecke zertrümmert. Anschließend überschlug er sich mehrmals auf der Wiese, auf der Löwenzahn blühte und Kühe weideten. Dabei wurde ihm das Genick gebrochen.“
Papa ist das Genick gebrochen worden.
Wallner sagt: „Es gibt auch noch diese Kinderdörfer in Nigeria. Die Mehrzahl der Kinder sind Waisen, häufig Kinder, die ihre Eltern in einem der Bürgerkriege verloren haben oder ausgesetzt wurden. Der andere Teil sind Kinder, deren Eltern über keinerlei finanzielle Mittel verfügen. In den Dörfern werden die Aufgaben von den Kindern selber übernommen. Es gibt Handwerker, es gibt Verwalter. Die meisten Lehrer der Schulen in den Kinderdörfern kommen aus westlichen Ländern. Wenn die Kinder ihren Abschluß gemacht haben, gehen sie entweder in praktische Berufe oder sie werden an Unis im In- und Ausland weitervermittelt.“
Während er sich zu den anderen Parteien im Konferenzraum wendet, Henning van Riet und Tobias Resch, streicht sich Wiget übers Kinn, eine Gewohnheit, die er, auch nachdem er sich vor zwei Jahren den Bart abrasierte, beibehalten hat.
Er sagt: „Und man darf nicht vergessen, Stefan und ich kennen den Gründer, Mark Huggan, persönlich. Er hat mit uns in Regensburg studiert. Er ist integer. Es sind keine Fälle von Betrug oder irgendwelchen Schweinereien mit den Kindern bekannt. Es ist unwahrscheinlich, daß unser Name unter ihrem Namen leidet. Es ist wahrscheinlich, daß ihr Name auf unseren Namen einen positiven Effekt hat.“
Resch sagt, daß es seitens der Aktionäre auch keine Einwände gegeben habe.
Van Riet sagt, daß das drei gegen einen sei und daß die Spendensache jetzt ohnehin nicht so wichtig sei, ihm sei mehr daran gelegen, über Marckelsheim zu sprechen.
Frau Beck neben Wallner fragt, was sie jetzt ins Protokoll schreiben solle.
Wallner sagt, daß sie schreiben solle, der Aufsichtsrat habe eine Spende in Höhe von soundso viel Euro für die Stiftung „Kinderdörfer“ beschlossen.
Van Riet sagt, die Fakten seien die: Die Firma in Marckelsheim sei halb so groß wie die Firma hier in Cham. Bis vor zehn Jahren sei Marckelsheim der einzige Hersteller landwirtschaftlicher Geräte im Elsaß gewesen. Vor zehn Jahren sei eine Firma für landwirtschaftliche Geräte in Straßburg gegründet worden. Seit zehn Jahren laufe Straßburg Markkelsheim den Rang ab. Im Elsaß werde vorrangig Getreide und Mais angepflanzt. Neuerdings Erdnüsse.
Van Riet hat eine stark norddeutsche und insbesondere hamburgische Aussprache. Vor drei Jahren haben Wallner und Wiget Anteile an van Riets Unternehmen für landwirtschaftliche Geräte in Hamburg erworben. Van Riet ist dadurch Mitglied im neu entstandenen Aufsichtsrat der fusionierten Firmen und kommt regelmäßig zu den Sitzungen nach Cham. In seinen Wortschatz haben sich seitdem bayerische Ausdrücke gemischt, die er aber norddeutsch ausspricht. Van Riet sagt „Grät“, Singular, statt „Geräte“, Plural.
Wiget hatte Wallner einige Tage vor der Sitzung gesagt, daß van Riet und er eine mögliche Kandidatin für eine Tochterfirma gefunden hätten. Wallner war überrascht gewesen. Er hatte zwar das Thema Tochterfirma immer wieder in Gesprächen mit Wiget in den Raum gestellt, ohne aber konkret zu werden. Wiget mußte mit van Riet wegen dem Thema Tochterfirma in Kontakt gestanden haben, ohne vorher Wallner davon zu unterrichten. Wiget, der weiterhin die Hände auf der Tischplatte gefaltet hat, wendet sich jetzt zu Wallner und Resch, während er hin und wieder kurz zu van Riet blickt, der, die Arme auf der Brust verschränkt, nickt.
Wiget sagt: „Marckelsheim wird in einem Monat Insolvenz anmelden. Van Riet und ich wollen nach Marckelsheim fahren und uns vor Ort über die Gegebenheiten der Firma ein Bild machen.“
Resch hat einen schwarzen Bart und eine hohe Stimme.
Er sagt: „Seitens der Aktionäre wäre das in Ordnung. Die Mehrzahl der Aktionäre, mit denen ich darüber gesprochen habe, hat gesagt, Marckelsheim sei eine Möglichkeit.“
Um die Meinung der Aktionäre eingeholt zu haben, denen seit Wallners und Wigets Börsengang ein Viertel der Firma gehört, muß auch Resch bereits im voraus von Wiget oder van Riet über die Pläne, sich um eine Tochterfirma zu vergrößern, unterrichtet worden sein. Nach der Sitzung steht Wallner bei Resch am Konferenztisch und fragt: „Und fahren Sie heute noch nach Frankfurt, oder übernachten Sie hier?“ Wiget steht neben van Riet bei der Tür und unterhält sich mit ihm.
Wallner kann nicht verstehen, was sie reden.
Fast wäre Wallner bei der Firmenausfahrt nicht nach rechts abgebogen, zu der Villa, die sie sich im Jahr davor in der Pappelallee in Chammünster gekauft hatten, sondern nach links, nach Siechen. Er fährt an Wigets Anwesen vorbei und holt schon einmal die Fernbedienung für das grüne Gatter der Einfahrt heraus.
Ana sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer, sie hat die Beine auf das Wohnzimmertischchen hochgelegt, das sie von ihrer Mutter geerbt hat. Der Fernseher läuft ohne Ton.
Ana sagt: „Ich bin noch ein bißchen traurig. Den ganzen Tag ist heute im Geschäft noch weniger los als sonst. Gerade daß ich mal die Hälfte des Futters und der Katzenstreu verkauft habe, die ich sonst verkaufe. Aber kurz vor Schluß ist eine Mutter mit ihrer Tochter gekommen. Die Mutter hat gesagt, daß sich die Tochter einen Hund zum Geburtstag aussuchen dürfe. Der Hund dürfe eine mittlere Größe haben. Die Tochter hat sich sehr schnell für Betty entschieden. Sie hat Betty im Arm gehalten. Ich wollte fast fragen, wo Mutter und Tochter wohnen, damit ich wenigstens theoretisch ab und zu vorbeischauen könnte. Als Mutter und Tochter gingen, hat Betty versucht, sich loszumachen und zu mir zu kommen. Betty hat gewinselt. Das hat mir einen ganz schönen Stich gegeben.“
Es entsteht eine Pause.
Ana sagt: „Jetzt kommt er gleich.“
Letzten Abend hatte Costin Ana angerufen und gesagt, daß er gerade in der Popstar-Casting-Show in Köln auch den dritten Recall bestanden habe, er werde jetzt gleich ins Flugzeug steigen und sich dann in zwei Tagen aus dem Trainingscamp der besten 20 Kandidaten in Orlando wieder melden.
Im Fernsehen ist nach dem Popstar-Vorspann mit der Erkennungsmelodie zur Erinnerung für die Zuschauer eine Zusammenfassung aller Kandidaten gezeigt worden, die jetzt in der aktuellen Folge vor dem zweiten Recall stehen. Costin hatte vor einer Woche hier, auf dem Sofa, zusammen mit ihnen gesessen und berichtet, wie er beim zweiten Recall einen Teil seines Textes vergessen hatte, die Minuspunkte aber bei seiner Solotanzperformace und anschließend bei seinem Auftritt in einer der Gruppen, in die die Kandidaten von der Jury spontan eingeteilt wurden, wieder wettmachen konnte.
Durch Costins Bericht weiß Wallner, daß die rothaarige Henriette, die jetzt in der Zusammenfassung, nachdem sie zu Hause in Bozen beim Singen gezeigt worden ist, sagt, sie werde im zweiten Recall alles geben, spätestens am Ende der Sendung in einer Stunde von der Jury erfahren wird, daß sie ihren Performancestil bereits zu sehr individualisiert habe und daher nur schwer in eine noch zu bildende Gruppe passe, sie es daher nicht in die nächste Runde geschafft habe, worauf Henriette zu weinen beginnen wird, von Costin in den Arm genommen und auf die Stirn geküßt werden wird, was, in der Sendung nicht gezeigt, zu einer momentan noch andauernden Beziehung zwischen Costin und Henriette führen wird. Bei der Zusammenfassung von Costins Weg zum zweiten Recall erscheint zunächst Costin, der in der ersten Runde der Jury in München vorsingt, dann Costin, der im Rahmen seiner Ausbildung zum Bankkaufmann hinter dem Schalter einer Filiale in Regensburg steht, dann Ana, die auf dem Wohnzimmersofa sitzt und sagt, daß es Costins größter Traum sei, Popstar in einer Band zu werden.
Wenige Minuten später tritt Costin in der Sendung vor die Jury. Er beginnt mit dem Song, den er eingeübt hat. Bei der zweiten Strophe vergißt er den Text und singt trotzdem weiter.
Er singt: „Lala.“
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Im Sekretariat ist doch jemand. Eine schwarze Gestalt hat sich hinter der Milchglasscheibe bewegt, jetzt wieder, obwohl Frau Beck das Gebäude schon längst verlassen hat. Sie verabschiedete sich etwa vor einer halben Stunde von ihm. Er hat sie vom Fenster aus über den Parkplatz zu ihrem silbernen Ford stöckeln sehen. Er steht auf. Ihm ist etwas mulmig. Wer wäre noch im Gebäude? Nur Breitenbacher sitzt noch in seinem Häuschen an der Pforte. Als Wallner die Tür mit einem Ruck aufreißt, hat er deutlich Schritte gehört, als ob sich jemand schnell vom Sekretariat entfernt. Wallner stürzt in den Flur, wo bereits Licht brennt. Am Ende des Flurs meint er, eine Gestalt zu sehen; Wallner kann sie nicht genau erkennen, weil die Lampe an dieser Stelle ausgefallen ist, aber es ist, das sieht er, ein Mann, vielleicht 1,85 groß, leicht untersetzt, spitze Nase, Mitte 50. Wallner kann sich nicht bewegen. Der Mann hat einen Augenblick auf der Stelle verharrt und ist dann weiter, das Treppenhaus hinunter gelaufen. Wallner schließt die Augen. Ein Geräusch ist erklungen, die Tür am Firmeneingang, die ins Schloß fällt.
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Er drückt die Klingel, mit einem Summton ist die gepanzerte Tür aufgeschnappt. Er tritt ein und bleibt im Windfang stehen.
Durch die vergitterte Glastür ist der Schalter zu sehen, dahinter ein Schreibtisch mit Computer, an dem ein Polizist sitzt. Aber was soll Wallner dem eigentlich sagen? Anzeige gegen Unbekannt? Wegen Einbruchs? Es gibt ja keine Spuren, keine zerbrochenen Fenster, keine aufgebrochenen Schlösser. Auch kein wirkliches Motiv. Nachspionieren. Was Wallner so tut. Ob er seine Arbeit ordnungsgemäß erledigt. Was für Statistiken und Finanzierungspläne er erstellt, die er Wiget nicht zeigt. Wiget. Unweigerlich würde beim Gespräch mit dem Polizisten die Sprache auch auf Wiget kommen. Soll Wallner etwa seinen jahrzehntelangen Partner, mit dem ihn, wie ganz Cham weiß, ein freundschaftliches Verhältnis verbindet, als Verdächtigen einer Tat nennen, für die Wallner jeder Beweis fehlt? Der Polizist wird ihm nicht glauben. Ana wird ihm nicht glauben. Vorerst wird er ihr nichts von all dem erzählen. Sollte er weiter verfolgt werden, wird er Beweise sammeln. Von nun an wird er einen Fotoapparat bei sich führen, um, wenn es wieder zu einer Begegnung kommt, ein Bild von seinem Verfolger machen zu können.
Wallner zieht an der gepanzerten Tür, sie ist verschlossen. Er klopft an die vergitterte Glastür, der Polizist schaut auf. Wallner deutet auf die gepanzerte Tür. „Machen Sie bitte auf?“ fragt er laut. Er versteht nicht, was der Polizist, der zu lächeln begonnen hat, antwortet. Wallner rüttelt an der gepanzerten Tür. Endlich erklingt der Summton.
47
Im Fernsehen ist nach dem Popstar-Vorspann mit der Erkennungsmelodie zur Erinnerung für die Zuschauer eine Zusammenfassung aller Kandidaten gezeigt worden, die jetzt, in der aktuellen Folge, vor der Endausscheidung stehen. Als vorletzter der zehn Kandidaten, die sich noch im Camp in Orlando befinden, wird Costin und sein Weg in die Endrunde beschrieben; es erscheinen Costin, der in der ersten Runde der Jury in München vorsingt, der als Azubi hinter dem Schalter einer Bankfiliale in Regensburg steht, Ana, die von Costins größtem Traum erzählt, schließlich noch einmal Costin, der Ausschnitt aus der letzten Folge, in dem er erfährt, daß er es in die Endrunde geschafft hat, seine Augen, die sich schließen, sein Kopf, den er in den Nacken legt, seine Arme, die er hochreißt, in Zeitlupe.
Nach der Zusammenfassung hat die Kommentatoren-Stimme aus dem Off gesagt, daß es zwar für alle Kandidaten ein großartiger Erfolg sei, es bis hierher geschafft zu haben. Daß aber für die, die am Ende ausscheiden werden, Orlando nur eine Episode in ihrem Leben gewesen sein werde. Für sie beginne in einer Woche wieder ihr Alltag; träfe es Joanne, würde sie wieder in einem Lokal kellnern, träfe es Costin, würde er wieder hinter einem Bankschalter stehen und seine Kunden über Bausparverträge informieren. Die vier aber, die am Ende der Sendung gewonnen haben, werden sich nur vage vorstellen können, was es heißt, auf unabsehbare Zeit zusammen zu sein, ein Konzert nach dem anderen zu geben, von Tausenden von Fans gehört und geliebt zu werden und und und.
Bevor Costin, der jetzt auf Vorschlag des Managements hin offiziell CO heißt, mit der Band, den PingPongs, nächste Woche die Songs für das erste Album, das in drei Wochen erscheinen wird, einsingen und danach für eine kurze inoffizielle Pre-Tour proben wird, ist er für eineinhalb Tage nach Cham gekommen. Weil Wallner nicht damit einverstanden ist, daß Costin seine Ausbildung bei der Bankfiliale abbricht und den Vertrag mit der Produktionsfirma der Popstar-Serie und dessen Leiter, einem Olaf Erdrich, unterzeichnet hat, ohne zuvor ihn, Wallner, gefragt oder auch nur informiert zu haben, haben sich Wallner und Costin beim Abendessen gestritten, das auf Wunsch Costins ohne jeden größeren Aufwand, das heißt so wie immer, als sei die Sache mit dem Popstar gar nicht geschehen, vonstatten gehen sollte.
Auf dem Sofa spürt Wallner jetzt, daß seine Wangen von dem Streit immer noch leicht brennen. Sie müssen gerötet sein.
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8. Mai
17:15 Uhr. Dr. Beierle. Brille.
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Die drei Kandidaten stehen hinter einer Theke. Die Kandidatin rechts drückt auf den Knopf vor ihr. Eine Signalhupe ertönt.
Die Stimme des Quizmasters sagt: „Birgit.“
Die anderen Kandidaten stehen im Halbdunkel.
Birgit sagt: „Burma.“
Wallner schaltet um.
Das Polizeiauto fährt mit Blaulicht über eine Kreuzung.
Die Reifen quietschen. Wachtmeister Willems fährt. Auf dem Beifahrersitz hält sich Polizeikommissarin Brigitte Weichinger am Armaturenbrett fest.
Brigitte Weichinger (vorgebeugt): „Könnt ihr noch mal die Straße und die Hausnummer wiederholen?“
Stimme aus dem Funkgerät: „Die Straße ist die Barerstraße. Die Hausnummer ist (Störgeräusch) . . .“
Brigitte Weichinger (vorgebeugt): „Hallo? Hallo? Hörts ihr mich? Was war die Hausnummer?“
Das Polizeiauto überholt eine Tram. Ein entgegenkommendes Auto weicht auf den Gehsteig aus. Ein Fußgänger springt zur Seite.
50
Wallner geht in Costins Zimmer, weil der Computer in seinem Arbeitszimmer zum dritten Mal in Folge abgestürzt ist. Wallner ist seit dem Umzug in die Villa vielleicht nur drei-, viermal hier im Keller in Costins Zimmer gewesen; nachdem Costin nach Regensburg zur Ausbildung bei der Sparkasse gegangen ist, kein einziges Mal.
Wallner hat das Zimmer für einen Moment nicht wiedererkannt. Ana stellte hier, wohl nach Costins Auszug, mehrere Möbelstücke ein, den alten Schrank aus dem Eßzimmer, den alten Tisch aus ihrem eigenen Arbeitszimmer, einige Kartons aus dem Hobbyraum, ohne Wallners Wissen. Costins altes Bett steht noch da, mit hellblauem Anstrich und dünnen roten Streifen.
Dünne rote Streifen auf hellblauem Hintergrund sind die Farben von Christopher gewesen in dem gleichnamigen Buch, das Ana auf der Schreibmaschine für Costin geschrieben und illustriert hat, als er in die erste Klasse kam. Christopher, der Held des Buches, ist ein Junge, der bei seinen Eltern wohnt – die Mutter ist Rumänin – und gerade in die erste Klasse kommt. Christopher sieht aus wie Costin. Sobald Christopher einschläft, befindet er sich in einer Traumwelt. Statt eines Schlafanzugs trägt er ein einteiliges Kostüm mit Mantel in den Christopher-Farben. Sein Lieblingsstofftier, ein Maikäfer, erwacht in der Traumwelt zum Leben. Ana hat den Maikäfer Dinu genannt. Wallner erfuhr davon erst, als ihm Ana das fertig gebundene Buch einen Tag vor Costins erstem Schultag zeigte. Wallner war gegen den Namen Dinu gewesen, aber Ana hatte gesagt, es sei zu spät, noch irgend etwas zu ändern, die Arbeit, das alles zu tippen, die Zeichnungen mit Holzfarbstift, das mache sie nicht noch einmal.
Jedes Kapitel begann ähnlich. Christopher schlief ein und erwachte, däumlingsgroß, auf dem Rücken Dinus wieder, der gerade zu neuen Abenteuern flog. Oft geschah das auf Hilferufe hin, die atemlose Heuschrecken oder Mücken mit auf ihren Stacheln befestigten schriftlichen Ersuchen aus fernen Ländern überbrachten.
Wallner konnte sich noch dunkel an ein Kapitel erinnern, in dem ein Dorf in Indien von einer Dürreperiode heimgesucht wurde. Auf einer Illustration hatten Traktoren verlassen auf den ausgetrockneten Feldern gestanden. Dinu Mai hatte sämtliche einheimische Käferarten zu einer Generalversammlung einberufen, und unter Christophers Anleitung war mit Käferschaufeln und Käferbeinen ein Schacht, ein Brunnen gegraben worden.
Ana las fast jeden Abend von Winter bis Sommer, das ganze erste Schuljahr hindurch, Costin ein Kapitel aus Christopher vor. Zu seinem Geburtstag im März hatte Costin einen Stoffmaikäfer sowie einen Mantel in den Christopher-Farben geschenkt bekommen, den er den ganzen Sommer über trug, wobei er darauf bestand, mit Christopher angeredet zu werden. Wallner hatte auf Costins Wunsch hin dessen Bett und Bücherschrank in den Christopher-Farben angemalt.
Vor Beginn der zweiten Klasse hatte dann Ana Costin, der inzwischen das Christopher-Buch stellenweise auswendig konnte, ein zweites Christopher-Buch geschenkt. Im zweiten Christopher-Buch hatte Christopher ein neues Stofftier bekommen, Marie Käfer, die Dinu Mai anfangs nicht ausstehen konnte. Dann war Dinu Mai krank geworden, er hatte eine Art Arthrose in den Fühlern bekommen, und Marie Käfer war zusammen mit Christopher in ein Land geflogen, das „Frühlingsland“ oder „Land des Frühlings“ hieß, jedenfalls hatte es einen kitschigen Namen gehabt. Nur dort hatte es so etwas wie das „Wasser des Lebens“ für Maikäfer, einen Sirup aus irgendwelchen magischen Früchten, gegeben.
So oder so ähnlich ging die Geschichte, das wußte Wallner noch. Als ihm Ana diesmal, noch bevor sie das Buch zum Binden gab, das Manuskript vorlegte, damit sie, sollte er etwas dagegen haben, noch Änderungen vornehmen konnte, hatte er wegen Marie Käfer Verdacht geschöpft, daß Ana vielleicht etwas über sein ehemaliges Verhältnis mit Lotte Müller herausgefunden haben könnte und darauf anspielen wollte. Als er aber auf die Illustration des kranken Dinu Mais mit geknickten Fühlern zeigte und fragte, ob das er, Wallner, sein solle, hatte Ana gesagt, daß er und sie ja bereits im Buch vorkämen, als Christophers Eltern nämlich, die immer nur in Aktion traten, wenn sie ihren Sohn ins Bett brachten oder ihn am Morgen aufweckten. Sie habe bei Dinu an niemand Bestimmten gedacht.
„Maikäfer werden halt auch mal krank“, hatte sie gesagt.
Ungefähr als Costin ins Gymnasium eintrat, nein, zuvor, Wallners Großmutter war bereits tot, hatte eines Tages Ana zusammen mit Costin neue Möbel für das Zimmer gekauft. Costin hatte es seitdem abgelehnt, Christopher genannt zu werden. Nur das Christopher-Bett war in Costins Zimmer stehengeblieben. Costin hatte bald angefangen, Comics zu sammeln. Wallner hatte zusammen mit Costin ein, zwei Folgen von Alf gesehen, so daß er erraten konnte, wenn Costin so tat, als wäre er, Costin, dieser Alf.
Wallner geht zwischen den Stapeln der bunten Hefte, die über den Boden verstreut liegen, zum Computer. Über dem Schreibtisch hängt das Poster einer Sängerin, blondes Haar, schief aufgesetztes weißes Cap, vermutlich aus Lack, unter dem T-Shirt sind ihre Brustwarzen erkennbar. Sie schaut Wallner ins Gesicht, er kann ihrem ernsten Blick nicht ausweichen. Wallner schaltet den Computer ein, geht online und klickt auf das Icon mit dem Briefumschlag, um zu seinem E-Mailkonto zu gelangen.
51
„Bitte verlaß mich nicht.“
„Aber warum soll ich dich denn verlassen?“
Es entsteht eine Pause.
„Ich habe so eine Angst. Ana. Ich habe so eine Scheiß-Angst.“
„Aber du mußt doch keine Angst haben.“
Es entsteht eine Pause.
„Du mußt keine Angst haben.“
52
Die Einkaufstüten in seinen Händen sind in den letzten Minuten immer schwerer geworden. Und dann das Gedränge überall und besonders auf der Rolltreppe, seine Nase berührt beinahe den Pelzmantel der Frau vor ihm, der stark süßlich riecht. Ana ist schon vorausgeeilt. Sie steht oben und studiert den Wegweiser der Etagen. Woher nimmt sie diese Energie? Wallner läßt den Blick schweifen. Die Musik – irgendein Walzer von Schostakowitsch, den er aus einem Film kennt – hat etwas Einschläferndes. Ein Mann, spitze Nase, Ende 50, leicht untersetzt, vielleicht 1,85 groß, mit rotweiß kariertem Hemd, hat ihn von gegenüber, der Rolltreppe, die nach unten fährt, angeschaut und sich sofort umgewendet, mit einem Schlag ist Wallner hellwach. Kein Zweifel, der Mann hat gemerkt, daß Wallner ihn erkannt hat. Wallner greift nach dem Fotoapparat in seiner Manteltasche, blickt dem Fremden nach, möchte „He“ rufen, bringt aber keinen Ton heraus, macht ein Foto und versucht dabei gegen die Fahrtrichtung der Rolltreppe und zwischen den Leuten hindurch, die ihm den Weg versperren, nach unten zu laufen, dem Fremden hinterher. Schon ist der Mann am Ende der Rolltreppe angekommen, eilt weg. An einem Stand für Armbanduhren ist er mit dem Rücken zu Wallner stehengeblieben, beugt sich über eine der Glasvitrinen. Er schreibt etwas auf einen Notizzettel. Wallner klopft das Herz bis zum Hals, er zögert, dann tippt er dem Mann auf den Rücken.
„Was soll das?“ fragt Wallner, außer Atem.
Der Mann hat sich umgedreht.
„Wie bitte?“ fragt der Mann.
„Warum folgen Sie mir immer? Auf der Rolltreppe eben . . .“
„Entschuldigung. Aber . . . Sie müssen mich verwechseln.“
Der Mann deutet auf das Namensschild an seinem Hemd, auf dem Herr Geiger steht.
„Aber eben auf der Rolltreppe . . .“
Wallner stutzt. Hat er den Falschen erwischt? Möglich, daß der Mann von der Rolltreppe weitergelaufen ist. Vielleicht war Wallner für einen Moment unachtsam.
„Entschuldigung . . .“, stammelt Wallner.
Langsam geht er zur Rolltreppe. Oben wartet Ana.
„Was war denn?“ fragt sie, als Wallner auf die Kante von einem der Ausstellungsbetten gesunken ist.
„Kennst du den Mann da unten, den Verkäufer in dem karierten Hemd? Kennst du den?“ fragt Wallner erschöpft. Ana reckt den Kopf.
„Aber das ist doch der, bei dem wir die Couch gekauft haben; der sich damals für uns so eingesetzt hat, daß wir das Modell in Grün bekommen. Weißt du das nicht mehr? Greier, Geiber oder so ähnlich . . .“
„Geiger“, sagt Wallner.
„Geiger, ja.“
Es entsteht eine Pause.
„Soll ich dir ein Wasser bringen? Du bist ja ganz bleich, ich bring dir ein Wasser, warte mal“, hat Ana gesagt und ist gegangen.
Während Wallner sich vorsichtig zurückfallen läßt und sein Blick auf die Neonleuchtröhren an der Decke hoch über ihm fällt, ist er beinahe erleichtert. Er hat zwar den Mann auf der Rolltreppe nicht mehr erwischt, aber Wallner weiß jetzt mit Sicherheit, daß er tatsächlich unter Beobachtung steht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man sich das nächste Mal begegnet. Wallner braucht sich keine Gedanken darüber zu machen, daß er keine Beweise dafür hat, daß man ihn verfolgt. Die Beweise für eine Verfolgung werden ihm geliefert werden.
53
Witte sitzt im Eßzimmer und ißt Suppe, Wallner stellt sich vor, daß die Wittes dasselbe Set benutzen wie die Wigets, weil ihm das tatsächliche Set der Wittes gerade nicht präsent ist: Auf der weißen Keramikfläche sind konzentrische hellgrüne Kreise aufgemalt. Das Eßzimmer mit dem Bauernschrank und dem PVC-Boden ist das der Wellenhofers. An der Wand neben dem Durchgang zur Küche hängt ein Votivbild, das die in einen blauen Mantel gehüllte Mutter Gottes zeigt. Witte trägt das gelbbraun karierte Sakko, das er angehabt hat, als er heute vormittag mit Wallner gesprochen hat. Nein. Wallner stellt sich vor, daß Witte zu Hause eine Trachtenjacke trägt. Da kommt Wittes Frau, Ines oder Vera. Wallner kann sich jetzt nicht mehr daran erinnern, wie sie aussieht. So ist es die Schauspielerin aus dem Mehrteiler über das Leben einer Familie, die in einem Dorf im Voralpenland wohnt, Wallner hat die zweite und dritte Folge ungefähr vor einem halben Jahr gesehen.
Wallner kann hören, was Witte jetzt denkt: „Vielleicht komme ich mit dem Naturell von Herrn Wallner nicht zurecht. Gut. Aber wie der die Firma führt, wie der die hochgebracht hat, das nötigt einem Respekt ab. Die Firma, die ist ein Ort, wo ich bleiben werde. Ich könnte dem Herrn Wallner schon ein bißchen öfter zeigen, wie dankbar ich ihm bin. Weil eigentlich er es ja ist, der die Firma führt. Nicht so sehr der Herr Wiget. Der Herr Wiget organisiert eher und hält den Betrieb am Laufen. Aber sein Naturell.“
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Wallner geht zum Bett. Er ist nackt. Sein Rücken und sein Gesäß wirken muskulös. Er hat dichtes schwarzes Kopfhaar. Auf dem Bett sitzt Ana mit angezogenen Beinen. Auch sie ist nackt. Wallner legt sich mit dem Rücken aufs Bett, den Kopf am Kopfende. Ana kniet über Wallner, sie nimmt sein Glied und führt es sich ein. Ana sitzt auf Wallner. Wallner reckt den Kopf und sagt etwas zu Ana.
Wallner geht zum Bett. Er ist nackt. Neben dem Bett steht Ana mit an die nackten Hüften gestützten Händen. Wallner legt das Kissen an die Längsseite des Betts und legt sich auf den Rücken, mit dem Kopf auf das Kissen. Ana setzt sich auf Wallner. Sie ist jetzt frontal zu sehen, im Unterschied zu vorhin, wo sie nur im Profil gezeigt wurde. Ana bewegt sich vor und zurück. Wallner hat ihre Brüste umfaßt. Ana schließt die Augen, schaut einmal kurz in Richtung Kamera, schließt die Augen wieder.
Wallner geht zum Bett. Ana hat auf dem Bett, den Kopf in Richtung des Kopfendes, einen Vierfüßlerstand eingenommen. Wallner kniet sich hinter sie und führt sein Glied ein. Er faßt Ana an den Hüften und bewegt sie schnell vor und zurück. Er bewegt seinen Mund, sagt etwas, ohne daß er zu verstehen wäre.
Dadurch, daß Ana das originale Super-8-Band aus den 70ern in den 80ern mit einer Videokamera abgefilmt hat, sind die Farben grautönig und die Konturen verschwommen. Wallner und Ana sitzen mit dem Rücken an das Kopfende des Betts im Schlafzimmer gelehnt und schauen auf den Fernseher.
Ana steht auf und geht zum Schlafzimmerschrank, hockt sich hin und zieht die unterste Lade heraus.
Wallner sagt: „Nicht die.“
Ana legt den einen der drei Pornofilme, die sie in den 80ern unter einem anderen Namen bei einem Versand bestellt haben, zurück in die Lade und sagt: „Toll.“ Wenn er das nicht wolle, sie wolle das. So gehe das einfach nicht weiter.
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Jetzt lächelt sie geschmeichelt, die blöde Sau. Herausgeputzt hat sie sich, wie könnte es anders sein, weiße Bluse, steifer Rock, Make-up. Eben hat ihr Papa ein Kompliment gemacht, sie habe gut gekocht, es habe ihnen allen sehr gut geschmeckt. Broccolisuppe, soweit sich Wallner erinnern kann. Wahrscheinlich wird in diesem Moment, wo alle schweigen, von ihm erwartet, daß auch er ihr ein Kompliment macht. Papa hat plötzlich seine Hand auf der Tischplatte auf die ihre gelegt, sie sehen sich an. Stefan spielt bei vielem mit, er hat sich auch seinen Firmlingsanzug angezogen und bisher keinen Kommentar abgegeben, und das nur, weil ihn der Papa darum gebeten hat. Er möchte ja auch, daß der Papa glücklich ist. Aber dieses peinliche Jugendlich-Gehabe ist zuviel. Er ist nämlich auch noch hier. Er steht auf und läßt laut den Löffel auf den Teller fallen. Günter und Doris, die blöde Sau, schauen ihn an, überrascht, verwirrt. Ihm wird bewußt, wie peinlich die Situation gerade ist, er hätte nicht aufstehen sollen, er wird rot, glaubt er, und trotzdem, er haßt diese Doris in diesem Augenblick und hofft, daß sie etwas von seiner Abneigung mitbekommt durch den Blick, den er ihr zuwirft, erst ihr, dann dem Papa, bevor er sich umdreht und schnell auf sein Zimmer geht. Der Fehler liegt im nachhinein betrachtet eindeutig nicht bei ihm, Wallner, wie er damals vielleicht meinte, er schrie in sein Kopfkissen, weil er sich schämte und weil er wütend war, beides zugleich, sondern bei seinem Vater und seiner damaligen Lebensgefährtin, Doris, von denen als Erwachsene zu erwarten gewesen wäre, daß sie sich in die Situation eines pubertierenden Jungen, der früh seine Mutter verloren hat, einfühlen können, auch sie waren einmal jung.
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12. Januar
Elena Todestag (4)
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März
Geburtstag Kerstin B. (37)
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Wallner geht am Fenster in seinem Büro auf und ab. Auf dem Parkplatz draußen steigt ein Mann in einen grünen VW. Soweit von oben zu erkennen ist, handelt es sich bei dem Mann um Herrn Meier.
Wallner sagt sehr laut, da erregt: „Aber das haben wir doch überhaupt nicht so besprochen.“
Wiget antwortet. Er spricht aus dem Lautsprecher des Telefons auf Wallners Schreibtisch. „Aber bitte. Stefan. Du hast doch selber gesagt, daß, was Cham angeht, nicht jedes Detail im Aufsichtsrat groß diskutiert werden muß.“
„Aber doch mit mir.“
„Aber die Speditionssachen. Das hast du doch noch nie gemacht. Das haben doch immer der Witte und ich gemacht. Haben das immer der Witte und ich gemacht?“
„Meistens haben das der Witte und du gemacht.“
Wallner hat sich auf den Schreibtischstuhl gesetzt und die Hände auf der Tischplatte gefaltet.
„Und wie bist du überhaupt auf Zentrope gekommen? Von denen hat man ja noch nie etwas gehört.“
„Wie bin ich auf Zentrope gekommen. Über Henning.“
„Über van Riet?“
„Über Henning. Das ist die Firma, die Straßburg benutzt. Henning hat da mal wegen Marckelsheim nachgesehen.“
Es entsteht eine Pause.
Wallner sagt, daß das nichts mache. Es sei ja schon gut. Er verabschiedet sich.
Wiget fragt, ob es bei Samstag abend bleibe.
Wallner sagt: „Ja“.
Wiget sagt, er freue sich und verabschiedet sich.
Wallner erwidert: „Ich auch“ und verabschiedet sich.
Er sitzt auf dem Schreibtischstuhl und hat die Hände auf der Tischplatte gefaltet.
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26. März
16:15 Uhr. Friseur.
60
Der hellrote Peugeot in seinem Rückspiegel folgt ihm bereits eine ganze Weile. Gleich nachdem Wallner, nur um zu sehen, was passiert, den Blinker setzte, blinkte auch der hellrote Peugeot hinter ihm. Als Wallner doch nicht abbog, fuhr auch der hellrote Peugeot geradeaus. Der Fremde aus dem Kaufhaus in Nürnberg und eine Frau, seine Frau?, haben darin gesessen. Aha, denkt Wallner, einer reicht nicht mehr aus.
„Wenn möglich, bitte wenden“, wiederholt die Frauenstimme des Navigationssystems.
Wallner ist es egal, ob er zu dem Termin um vier in der Leopoldstraße zu spät kommt. Er biegt in ein Wohngebiet ein, beschleunigt und behält dabei die rosa Spur, die er auf der Straßenkarte des Bildschirms zieht, sowie den Rückspiegel im Auge. Unabsichtlich ist er jetzt in eine Sackgasse gefahren, die Straße endet vor einer Hecke. Wallner hält den Wagen an.
Dann wird er nun also sehen, wer in dem roten Peugeot sitzt.
Es ist still geblieben. Wallner wartet, holt den Fotoapparat aus dem Sakko. Diesmal muß das mit dem Fotoapparat funktionieren, das letzte Mal, im Kaufhaus in Nürnberg, waren die drei Fotos, die er gemacht hatte, völlig schwarz. Er spürt wieder diesen stechenden Schmerz in seinem Kopf, in letzter Zeit hat er das Gefühl, daß dieser Kieselstein, oder was auch immer es ist, in seinem Kopf größer geworden ist, handtellergroß.
Der hellrote Peugeot ist nicht gekommen. Wallner setzt sich in den Wagen, startet und schaltet das Navigationssystem ein, um die Zielführung fortzusetzen. Auf dem Gewirr aus gelben Rechtecken und grauen Linien ist nach ein paar Momenten eine rote Linie erschienen, ein Faden.
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Bereits von weitem kann er die kleine Gruppe von Gerademal- beziehungsweise Gerade-noch-nicht-Teenagern sehen, am Gatter hängen Luftballons, davor liegen Teddys. Eigentlich müßten die Kinder schon längst die Alarmanlage ausgelöst haben. Ana wird sie wie immer ausgeschaltet haben. Sie ertrage das ständige Piepen nicht, sagt sie.
Als er mehrmals hupt und sich das Gatter automatisch öffnet, sind die Mädchen – es sind nur Mädchen, vielleicht sechs, sieben – zu den Seiten ausgewichen und haben, jetzt aber anders als eben, wütend oder traurig, wie es scheint, nicht mehr dem Haus, sondern dem Auto zugewandt, obwohl sie sehen können, daß nur er und niemand sonst darin sitzt, ihre Sprechchöre mit „C-O, C-O, C-O“ fortgesetzt. Für einen Augenblick befürchtet er, daß eines der Kinder sich an seinem Auto vorbei aufs Grundstück zwängen und bis zur Haustür laufen könnte. Zudem stellt sich die Frage, was passiert, wenn die Mädchen die zwei Tage, an denen Costin hier auf Besuch ist, weiter ihre Show abziehen und dabei womöglich noch Verstärkung bekommen sollten. Eines von ihnen könnte nachts ins Haus einbrechen, die Alarmanlage würde natürlich ausgelöst werden, jetzt lohnen sich endlich die eigentlich viel zu hohen Ausgaben für das satellitenüberwachte System. Aber allein die Vorstellung, 48 Stunden unter Belagerung zu sein, ist Wallner in diesem Moment unerträglich. Man könnte im Büro schlafen.
Er geht, die Stimmen der Mädchen im Hintergrund wie Anfeuerungsschreie, von der Garage zum Haus. Die Mädchen starren ihn mit diesen Augen an, sie glotzen regelrecht.
Als er die Tür öffnet, kommt ihm gerade im Eilschritt Costin entgegen, er trägt einen dieser ockerfarbenen Nadelstreifenanzüge mit T-Shirt darunter, das Outfit, in dem die männlichen Models auf den Werbeeinlagen in der Zeitung abgebildet sind, Costin sieht tatsächlich genauso aus wie das männliche Model aus der Werbeeinlage, er ist braungebrannt.
Wallner sagt: „Hey.“ Er kann für einen Moment nicht sprechen, er bringt kein Wort heraus. „Hast du eigentlich auch normale Fans? Die stürmen mir ja bald mein Haus. Wann bist du denn angekommen?“
Costin, der im Begriff ist, die Treppe in den Keller herunterzulaufen, sagt: „Hallo, Tata. Ich hab’s gerade super-eilig, sorry, ich habe was mit Quirin und Britney ausgemacht. Muß noch duschen und das alles. Streß, Streß, Streß. Wollen wir mal reden?“
Costin ist im Keller verschwunden.
Er hat Wallner nicht zur Begrüßung umarmt oder auf die Wangen geküßt. Wallner möchte, daß ihn Costin zur Begrüßung umarmt und auf die Wangen küßt.
Vor der Küchentür, die einen Spalt weit geöffnet ist, bleibt Wallner wie angewurzelt stehen. Am Herd kocht jemand, eine fremde Frau, vielleicht 30, klein, dürr, schulterlanges blondes Haar.
Nein.
Es ist Dolora, die Köchin. Schön öfter ist es Wallner jetzt passiert, daß er sich vor Dolora oder der Putzfrau, Eva, erschrocken hat; er hat sich noch immer nicht ganz an die neue Situation gewöhnt. Anas Bedingungen für den Umzug in die Villa nach Chammünster waren gewesen, daß sie im Haushalt entlastet werden würde und sie sich voll auf die Boutique konzentrieren könne. Wallners Einwand, daß man ja mit dem Börsengang ein hohes Risiko auf sich genommen habe und vielleicht später einmal finanzielle Polster benötige, lehnte sie ab. Sie sehe es nicht ein, auf Sachen zu verzichten, die sie sich all die Jahrzehnte – Jahrzehnte! – in Cham gewünscht habe und die sie sich nun endlich leisten könne. Wallner hatte gedacht, er könne die Diskussion um die Putzfrau und die Köchin aufschieben, indem er einfach, immer wenn ihn Ana abends fragte, was denn nun sei, welche Bewerberin in die engere Wahl komme, erwiderte, er sei sehr müde, könne heute einfach nicht mehr, ob sie das nicht später einmal besprechen könnten, am Wochenende zum Beispiel – was sie dann natürlich nicht taten.
Eines Tages aber hatte, als er nach Hause kam, Ana mit einer dicklichen Blondine, ungefähr 30, im Wohnzimmer gesessen. Sie waren lachend ins Gespräch vertieft gewesen, schienen ihn zuerst überhaupt nicht wahrzunehmen, bis Ana ihm die Blondine als die neue Putzfrau vorstellte. Ana hatte ihr einfach so, ohne Wallner noch einmal zu konsultieren, den Job gegeben, ebenso wie Dolora. Beide waren ursprünglich aus Tschechien, hatten einen leichten Akzent, möglich, daß ihnen ihre Herkunft bei Ana einen Bonuspunkt eingetragen hatte, die in ihnen Verbündete sehen mochte, die Ostblock-Connection sozusagen. Die wenigen Male, die Wallner Eva und Dolora zu Gesicht bekommt, verwechselt er sie oder geht ihnen tunlichst aus dem Weg. So sind oft das einzige, was ihm anzeigt, daß die beiden tatsächlich für Ana und ihn werktags arbeiten, der Teppich, die Fenster und Möbel, die plötzlich anders riechen, künstlich, nach Melonen oder Zitronen – Eva mußte ein anderes Reinigungsmittel als Ana verwenden –, die Speisen, die zwar aussehen wie früher – Ana und er hatten einen Speiseplan erstellt –, aber nicht so schmecken; Dolora muß bestimmte Gewürze verwenden, die ihm bis dahin unbekannt gewesen sind. Zuerst hatte Wallner Evas und Doloras regelmäßige Anwesenheit in der Villa beunruhigt. Er hatte nicht schlafen können. Seit er die Schlüssel für die Schreibtischschubladen immer bei sich trägt und seinen Laptop in den Safe sperrt, geht es etwas besser. Man kann nie wissen.
Wallner macht schnell einen Schritt zurück und geht leise den Flur entlang, zur Treppe nach oben. Dolora hat ihn nicht gesehen.
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Rhett Butler lehnt am Ende der Treppe und schaut nach oben. Den rechten Arm hat er auf den Pfosten gestützt, den linken in die Hüfte gestemmt. Seine pechschwarzen Haare sind stark pomadisiert. Er hat die Augen leicht zusammengekniffen und lächelt schlitzohrig.
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„Ja Moment. Es geht doch hier vor allem um unser Profil. Es geht doch hier auch darum, wie, ja, und vor allem wo wir uns in den nächsten Jahren sehen. Sind wir das Unternehmen aus Cham, das national reüssiert, meinetwegen, oder sind wir das europäische Unternehmen mit Tochterfirmen dort und dort und dort. Ich höre da jetzt immer: Das ist doch ein Risiko, schau dir Rosenheim an, 20 Jahre schwarze Zahlen und innerhalb von zwei Jahren Insolvenz, laß uns warten, laß uns die sein, die wir sind und so weiterfahren wie bisher, laß uns noch fünf Jahre warten, bis es auch an der Börse besser läuft, und dann können wir überlegen, ob so etwas wie Marckelsheim überhaupt ein Thema ist. Und jetzt sage ich auch mal etwas. Wir werden an der Börse nicht punkten, wenn wir nicht expandieren. Wir werden nicht weiter die Aufträge bekommen, wenn wir uns nicht andere Märkte erschließen. Und, ja, darf ich mal etwas fragen: Wie kann es sein, daß meine Unterlagen sagen, die Maschinen in Marckelsheim seien erst vor fünf Jahren erneuert worden, das Gebäude sei saniert worden, und der Leiter sagt mir am Telefon, die Angestellten haben ein Durchschnittsalter von unter 40 und Straßburg werde in spätestens einem Jahr Probleme mit Zentrope bekommen? Und das erklärt ihr mir jetzt erst einmal.“
„Dazu kann ich nur sagen: Der Uli und ich sind ja dagewesen und haben uns das angeschaut. Und wir haben auch den Rost an den Kränen gesehen. Buchstäblich. Rost. Und den Putz, der von der Werkhalle gebröckelt ist. Da kann der Monsieur Aimard Ihnen noch soviel versichern, und in den Unterlagen kann stehen, daß das ja eigentlich eine schnieke Firma sei und nigelnagelneu und so weiter. Der Uli und ich sind aber da gewesen. Marckelsheim ist die Katze im Sack. Das sage ich jetzt. Wenn wir das machen, brauchen wir gar nicht die nächsten zwei Jahre abwarten, sondern können gleich die Insolvenz anmelden. Und ich stehe da mit meiner Meinung auch nicht allein da. Der Uli sieht das ganz genauso, und Herr Resch wird sicher so seine Probleme bekommen, seinen Aktionären zu verklickern, daß sie ihr Geld in eine Bruchbude investieren sollen, nur weil es Herr Wallner so wünscht. Uli?“
„Ja, das stimmt schon so, wie das der Henning sagt.“
„Also ich muß auch sagen, daß mir das mit Marckelsheim, ich sage jetzt mal, als nicht ganz realistisch erscheint. Nach dem, was da Herr van Riet und Herr Wiget so erzählen, ist das schon sehr schwer, den Aktionären zu sagen: Sagt ja.“
Es entsteht eine Pause.
Wallner schaut auf die Pappeln vor dem Fenster, deren Blätter in der Sonne glitzern.
Er sagt: „Wir machen das jetzt einfach so. Sollte sich der Rat nicht für Marckelsheim entscheiden, trete ich als Vorstand zurück, bitte schreiben Sie das mit, Frau Beck.“
„Aber da hat doch jetzt niemand was davon, wenn du jetzt ausrastest, Stefan. Du kannst uns doch jetzt nicht zu drohen anfangen, Stefan.“
„Na, wir stimmen jetzt einfach ab. Wir stimmen jetzt einfach ab. Und dann sehen wir schon.“
„Ich glaube, wenn ich das sagen darf, wir sollten das Ganze vertagen.“
„Also wir stimmen dann ab. Bitte die Stimmen dafür.“
Wallner hat die Hand beim Sprechen gehoben.
„Ich stimme jetzt nicht ab, Stefan.“
„Uli, laß uns einfach abstimmen, und wir haben das Ganze hinter uns.“
„Ich stimme nicht ab.“
„Dann zählt das als Enthaltung, du hast doch Herrn van Riet gehört, oder sollen wir jetzt erst darüber abstimmen, ob wir abstimmen sollen. Also noch einmal. Die, die dafür sind, sagen jetzt: Ich bin dafür. Ich bin dafür.“
Es entsteht eine Pause.
„Und jetzt bitte die Gegenstimmen. Herr van Riet?“
„Dagegen.“
„Herr Resch?“
„Ich votiere dagegen. Ja.“
„Uli?“
„Stefan.“
„Uli?“
„Dagegen.“
„Gut. Dann schreiben Sie jetzt bitte, Frau Beck. Vorschlag der Übernahme der Firma in Marckelsheim mit einer zu drei Stimmen abgelehnt. Gleichzeitig tritt Stefan Wallner mit sofortiger Wirkung als Vorstand des Aufsichtsrats zurück. Punkt.“
Wallner öffnet die Tür und tritt auf den Flur. Jemand ist ihm gefolgt und faßt ihn am Arm. Es ist Wiget.
Wiget sagt zu Stefan: „Was soll denn das Ganze? Das ist doch alles nicht dein Ernst, Stefan.“
Er hat die Augen weit aufgerissen.
Wallner bleibt stehen und sagt: „Ja Moment. Es geht doch hier um unser Profil, Ulrich. Es geht doch hier darum, wie, ja und vor allem, wo wir uns in den nächsten, sagen wir, drei bis sechs Jahren sehen, bis wir abtreten, Uli, und wie es danach mit der Firma weitergeht. Darum geht es. Sind und bleiben wir, bis wir abtreten, Uli, die Firma aus Cham, die national reüssiert oder werden wir das europäische Unternehmen mit Tochterfirmen dort und dort und dort.“
64
Wallner sperrt die Haustür auf, schlüpft aus seinen Halbschuhen, indem er mit der Fußspitze das Fersenende des jeweils anderen Schuhs festhält, er hängt seinen Übergangsmantel auf einen der Kleiderbügel im Einbauschrank, zupft den rechten Ärmel glatt, weil sich eine Falte gebildet hatte.
Wallner verspürt großen Hunger auf Brot, Wurst und Gewürzgurken.
Er öffnet im Flur die Küchentür und versucht den Gesichtsausdruck von Wut und Trauer noch mal deutlicher werden zu lassen, weil er Ana im Eßzimmer nebenan hört und weiß, daß sie in wenigen Sekunden in die Küche kommen wird, um ihn zu begrüßen.
Er beißt seine Zähne fester zusammen, damit seine Wangenknochen stärker hervortreten und verengt seine Augen, zudem schiebt er die Unter- gegen die Oberlippe, so daß seine Mundwinkel nach unten zeigen müßten.
Ana ist nach wenigen Sekunden in die Küche eingetreten. Wallner kann an ihrem vergrößerten Bewegungsradius, dem Gestikulieren mit den Händen, dem breiteren Tonumfang der Stimme, lauter als gewöhnlich, umgehend erkennen, daß Ana sehr gut gelaunt ist, sie habe mit Costin telefoniert, setzt sie an.
Wallner unterbricht Ana, er dreht sich ihr jetzt frontal zu, damit sie sein Gesicht sieht, er sagt mittellaut: „Bitte, laß mich damit zufrieden“, Ana faßt ihn an den Schultern, sie sagt mittellaut: „Nix böse sein, nix Gesicht machen, Stefan lustig sein, einmal lächeln bitte, Herr Wallner, habe ich da nicht eben etwas gesehen, war das nicht, doch das war, Ohhhh! Herr Wallner hat doch gerade gelächelt, oder?“
Wallner sagt laut: „Laß mich in Frieden damit, ja? Fünf Minuten. Ja? Siehst du denn nicht, daß ich das jetzt nicht haben kann?“
Das Öffnen der Haustür und das Stehen, fröstelnd, auf der Matte, der Blick dabei auf das gegenüberliegende Zweifamilienhaus mit den heruntergelassenen Rolläden, hinter deren Spalten Licht brennt, ist der Ersatz für einen Schlag mit der Faust in Anas Gesicht, so daß sie kurz vor Überraschung und Schmerz aufschreit.
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12. September
Nigeria. Vorbereitung.
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13. September
Nigeria. Vorbereitung.
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14. September
Nigeria. Vorbereitung. Angst.
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Als Wallner Ndou aus seiner Hütte folgt, haben sich die Gläser der Brille, die er gegen seine zunehmende Weitsichtigkeit vor seiner ersten Reise zum Kinderdorf bei Port Harcourt bei dem von Witte empfohlenen Optiker Brunner in Regensburg gekauft hat, wegen des grellen Sonnenlichts schnell eingedunkelt. Wallners Augen flimmern ein wenig. Er hatte noch ein persönliches Schreiben aufgesetzt, das später vom Verwaltungsgebäude des Kinderdorfes aus an eine von ihm zusammengestellte Adressenliste früherer Geschäftspartner gefaxt werden soll, um bei diesen wegen Praktikumsplätzen für die Jugendlichen im Dorf anzufragen, die nächstes Jahr mit der Schule fertig sind. Das Schreiben hatte Wallner an einem der Computer aufgesetzt, die er dem neuen alleinigen Leiter der Firma Wallner & Wiget, Wiget, durch Anas Vermittlung letztes Jahr verbilligt abgekauft hatte, nachdem in der Firma auf eine speziell für Unternehmen im Wirtschaftssektor entwickelte Software umgestiegen und im Zuge dessen auch gleich die gesamte Hardware ausgewechselt worden war. Die anderen acht Computer stehen im Verwaltungsgebäude und in der Schule des Kinderdorfes, im Hobbyraum in Cham ein zehnter, der eigentlich für Costin vorgesehen war, von diesem aber, da er sich nur selten meldet und auch nicht seine Handynummer weitergegeben hat, geschweige denn auf Besuch kommt, nie abgeholt worden war. Das grüne Polster der Rückenlehne des Stuhls, den Wallner aus dem Eßzimmer in Cham bei seiner letzten Fahrt mitgenommen hatte, muß einen Abdruck auf seinem Rücken hinterlassen haben, Wallner spürt das.
Bei dem Treffen mit einem Vertreter des Verkehrsministeriums aus Port Harcourt und dem Leiter des Kinderdorfes im Verwaltungsgebäude möchte Wallner noch einmal den Ausbau der Straßen zum Dorf ansprechen. Er weiß, daß es sinnlos ist, dieses Thema anzusprechen, da seitens der Regierung ohnehin keine Gelder vorhanden sind. Aber zu irgendwas muß er doch gut sein hier. Ihm ist kurz schwarz vor Augen geworden. Es kann nicht sein, daß er die Hitze derart schlecht verträgt. So alt ist er noch nicht. Er muß das wegstecken können.
Er trägt ein weißes Hemd, das gerade frisch gebügelt aus der von den Kindern betriebenen Wäscherei des Dorfes gekommen ist. Es riecht nach Akazien.
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„Gestern haben wir noch einmal ein Gespräch mit jemandem vom Verkehrsministerium gehabt. Ein Arsch. Zuerst macht der die großen Versprechungen. Habe ich dir doch alles erzählt vorgestern. ‚Ich sehe kein Problem mit den Straßen. Ich organisiere die Gelder. Ich bin auf Ihrer Seite.‘ Was stellt sich heraus? Er hat überhaupt nicht die Befugnisse. Die Entscheidungsgewalt. Jetzt müssen wir wieder warten und betteln beim Ministerium, und dann sieht man weiter. Ja. Das war gestern. Und heute sitzen wir eigentlich den ganzen Tag schon an dieser Lehrer-Geschichte.“
„Dieser Lehrer-Geschichte?“
„Habe ich dir doch schon erzählt.“
„Hast du mir nicht schon einmal erzählt. Du erzählst mir nie was.“
„Bitte, Ana. Das ist doch jetzt egal. Ich habe jetzt wirklich nicht die Zeit, daß wir jetzt hier über so etwas reden. Ich muß auch gleich wieder rüber. Wir haben nicht genügend Lehrer, können nicht soviel zahlen wie sonstwo, die Lehrer müssen hier wohnen und so weiter und so weiter.“
„Weißt du, wie es mir geht?“
„Wie geht es dir?“
„Interessiert dich das? Spielt das überhaupt irgendeine Rolle? Für dich gibt’s doch nur noch dieses Dorf. Seit einem Monat sitzt du da.“
„Das hatten wir doch schon alles einmal. Ich komme in zwei Wochen. In zwei Wochen. Das Dorf braucht mich. Die brauchen mich.“
„Ich fahre weg.“
„Du fährst weg? Wohin?“
„Nach Wien. Nach Budapest. Nach Prag. Ich weiß es nicht. Aber ich werde morgen fahren. Was mache ich denn die ganze Zeit in diesem Kaff? Was ist denn schon in Cham?“
„Ganz genau dasselbe hast du doch schon einmal gesagt. Weißt du das? Als du wegwolltest. Und wäre es anderswo anders geworden? Wäre es das? Nein. Es ist gut gewesen. Daß wir geblieben sind. Aber über all das haben wir wirklich schon zur Genüge geredet.“
Das Hintergrundrauschen, das die ganze Zeit über in der Leitung gewesen ist, ist plötzlich in Piepsen übergegangen. Ana muß schon vorher aufgelegt haben. Wallner legt das Handy auf den Nachttisch, geht auf die andere Seite des Schlafzimmers und schaltet den Fernseher ein. In den Nachrichten wird gerade von einer Gesetzes-Debatte im Europa-Parlament berichtet. Wallner öffnet zuerst die Flügel der Innen-, dann die der Außenfenster des Schlafzimmers. Während unten, vier Stockwerke tiefer, die Straße schon im Dunkeln liegt, fällt auf die Grande Arche, deren Bogen in der Ferne über den Häusern zu sehen ist, noch Abendlicht.
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12. Mai
Kinderdorf. Gespräche mit Laurent (Fiasko!). Fax an Gieske, Gottschalk und Lange schicken! Starke Rückenschmerzen. Sonnenbrand. Kreislaufprobleme. Wieder das Gefühl im Kopf.
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Man kann einen Teil des Geldes, das für die Unterstützung eines Kinderdorfes bei Port Harcourt vorgesehen ist, auf ein Extra-Konto bei einer Bank in der Rue Morgue abzweigen, für die Ausgaben, die in Paris anfallen. Man kann die Kommodität des Zimmers, in dem man sich in seinem Apartment die meiste Zeit aufhält, also des Schlafzimmers, optimieren, indem man a) Einrichtungsgegenstände der anderen Zimmer – Küche mit Eßzimmer und Wohnzimmer – dem Schlafzimmer zuführt, b) für die Einrichtungsgegenstände von a) die Kriterien „günstig“, „robust“ und gleichzeitig „ästhetisch“ geltend macht. Sind a) und b) erfüllt – a) und b) sind erfüllt –, können vom Handy aus Telefonate mit Ana geführt werden, in denen ihr vom Kinderdorf bei Port Harcourt erzählt wird, können Nachforschungen angestellt werden, um zu erfahren, was die Firma macht, wie es ihr geht. Es können Modelle gebaut werden. Man verspürt hin und wieder den Drang, neben dem Satellitenfernsehen und dem Lesen von französischen Kriminalromanen etwas zu bauen. Modelle.
Solange die Putzfrau, für die man bei jedem Aufenthalt in Paris alle zwei bis drei Monate von neuem inseriert, ihre Arbeit verrichtet, bleibt man in der Wohnung und überprüft, daß nichts gestohlen wird. Man tut so, als wäre man beschäftigt. Man hat eine weitere Wohnung im Auge. Die Nachbarwohnung. Man braucht die Wohnung nicht. Die meiste Zeit während der drei bis vier Wochen, die man im Apartment zubringt, hält man sich ja im Schlafzimmer auf. Bis auf die Küche stehen die anderen Zimmer, Eß- und Wohnzimmer also, leer. Man möchte sich aber vergrößern. Nach zwei Jahren, die man regelmäßig hierherkommt, ist das natürlich. Die Nachbarwohnung wird von einer alten Frau, alleinstehend, bewohnt, die nie Besuch erhält. Der Hausmeister hat zugesagt, beim Todesfall der alten Frau sofort Wallner zu benachrichtigen und sich für ein Trinkgeld dann auch um die Adresse des möglichen Maklers der Nachbarwohnung zu bemühen.
Im Quartier Latin hat man sich die kürzesten Routen zu den günstigsten Geschäften erschlossen. Ebenso Fluchtwege, Abkürzungen, sollte man zur Vermutung Anlaß haben, man werde beobachtet, einer folge einem. Für den Fall, daß man sich nicht, wie in den letzten Monaten häufiger, vor oder nach Paris im Kinderdorf bei Port Harcourt aufhält, ist ein Geschäft mit authentischen Gegenständen aus Afrika sowie ein Bräunungsstudio ausgemacht worden. Ana erhält nach jeder Nigeria-Reise beziehungsweise jeder Paris-Reise, die als Nigeria-Reise ausgegeben wird, einen authentischen Afrika-Gegenstand aus diesem Geschäft als Andenken. Geschäfte in Paris, in denen deutsche Zeitungen, Bücher und Filme zu erwerben sind, kennt man. Manchmal erkundigt man sich nach den Bahnfahrplänen, und man macht einen Ausflug. Man fährt entweder aufs Land oder Richtung Norden ans Meer. Manchmal bleibt man länger und nimmt sich ein Zimmer in einer Pension.
Man geht Feldwege entlang zwischen Wiesen.
Man geht durch den Wald.
Man läßt die Füße ins Wasser baumeln.
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12. Februar
Traum: A. und ich an Küste in Portugal. Schön.
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Es gilt, zufällige Begegnungen wie überhaupt jeden Kontakt mit den Wigets und insbesondere Wiget zu vermeiden. Das ist schwierig. Man wohnt im selben Viertel. Aber: Man kennt die Gewohnheiten der Wigets, insbesondere die Wigets. Seine Wege und die von ihm frequentierten Orte gilt es zu umgehen. Rigoletto, wo sich die Ehepaare hin und wieder trafen, das italienische Restaurant, Kieser, das Fitneßstudio, Tengelmann, den Supermarkt im Gewerbepark, wo beide Ehepaare am Samstag ihren Großeinkauf machten, der Mann hilft der Frau. Für den Fall einer zufälligen Begegnung mit Wiget oder Astrid hat man sich Möglichkeiten zurechtgelegt.
A) Man grüßt kurz und höflich und fährt mit der Tätigkeit fort, mit der man gerade beschäftigt ist.
B) Man beginnt ein Gespräch und tut so, als hätte es die letzten Jahre nie gegeben, man erkundigt sich, man vereinbart.
C) Man beginnt ein Gespräch und beharrt auf dem, was vorgefallen ist, man stellt Wiget oder Astrid zur Rede wegen intrigantem Verhalten und Verrat an der vormals mehr als freundschaftlichen Beziehung.
Hin und wieder ruf Wiget oder Astrid an. Deswegen hat man seine Handynummer geändert und geht auch zu Hause nicht mehr ans Telefon. Ana hebt dann ab. Früher hat sie, weil man sie darum bat, gesagt, man sei gerade nicht zu Hause, man sei in Nigeria. Jetzt scheinen Wiget und Astrid nicht mehr nach einem zu fragen, sondern unterhalten sich mit Ana einfach so, über alltägliche Probleme, Urlaubspläne, die Kinder. Man fragt da nicht nach. Man schnappt hin und wieder etwas auf. Ana trifft sich ja mit Astrid, vielleicht auch mit Wiget regelmäßig. Das ist bekannt. Solange sie erzählt, daß Nigeria ein Erfolg ist, ist es gut. Patrick studiert Maschinenbau in München. Maximilian arbeitet bei einer Bank in Erlangen und ist verheiratet, Wiget und Astrid fahren noch immer regelmäßig in die Türkei, der Wert der Aktien der Firma stagniert seit Jahren, wie man ja auch aus dem täglichen Studium der Aktienkurse in der Zeitung weiß. Witte ist inzwischen in Pension, er hatte die ersten beiden Weihnachten nach dem Ausstieg vor der Tür gestanden und einen Freßkorb als Geschenk mitgebracht; insbesondere die Becks, die Breitenbachers sowie weitere Teile der Belegschaft schicken zum Geburtstag und zu Weihnachten Karten mit Vordruck und eigenhändiger Unterschrift. Das ist alles.
Wichtig ist: Es gilt auszuharren. Ana hatte nach seinem Ausstieg vorgeschlagen umzuziehen, nach Regenburg oder München zum Beispiel, man könnte auch nach Bukarest gehen. Bukarest sei nach dem EU-Beitritt wirklich eine schöne Stadt geworden.
Ein Umzug wäre die Offenlegung der eigenen inneren Verfassung.
Manchmal stehen Autos in der Einfahrt der Wiget-Villa, der rote Golf der Wittes zum Beispiel, und sind im Vorbeifahren die Umrisse von Gestalten in den Fenstern des Wohnzimmers und der Küche zu sehen, bei denen es sich um van Riet, Resch sowie um Angestellte von Wallner & Wiget handeln könnte. Witte wird selbstgebackenes Brot zum Verzehr beim gemeinsamen Abendessen mitgebracht haben. Frau Beck wird Fotos ihres Sohnes Justin und seiner Familie vorzeigen. Man wird zusammen essen, trinken und lachen. In solchen Momenten sieht man klarer. Vormals nicht als solche wahrgenommene Intrigen und Täuschungsmanöver der Vergangenheit werden jetzt entlarvt.
Der Anfang der Freundschaft im Wohnheim: höchstwahrscheinlich echt, aber zweckbedingt, da Wiget sonst keine Freunde (gute) besaß.
Die Übernahme der insolventen Firma in Ulrich Wigets Heimatstadt dank des über Wallners Großeltern beschafften Kredits: von Anfang an vom Gedanken bestimmt, den eigentlichen Kopf (Wallner) des Projektes nur so lange zu gebrauchen, bis die Firma auf eigenen Beinen stehen und somit auch von weniger kompetenten Kräften (Wiget, van Riet, Resch) übernommen werden kann.
Die Pläne zur Fusionierung und zum Gang an die Börse: nur mitgetragen, um Verbündete gegen Wallner zu formieren.
Die Einbindung in die Familie Wiget inklusive gemeinsamer als harmonisch empfundene Abende und Ausflüge: der Gewinn von Wallners Vertrauen, um einen besseren Einblick in seine Gedankenwelt, Pläne, Wünsche plus Gefühle zu erhalten.
Zu diesem Komplex gehörend: das Arm-auf-die-Schulter-Legen, ein Ausstellen der Zuneigung, das es im Falle der Echtheit der Freundschaft nicht gebraucht hätte.
Resch: der Mitläufer.
Van Riet: der Adjutant.
Marckelsheim: der Enthauptungsschlag.
Es ist bekannt, daß Wiget und van Riet Stammkunden verloren haben. Verloren: Kaiser, Qualtinger, Erl, Konrad. Ana hat es gesagt. Sie muß es von Wiget oder Astrid wissen. Witte hat es gesagt. Später bei einem Telefonat, in dem es um den Plan ging, Jugendliche aus Nigeria für den Zeitraum der Hopfenernte nach Deutschland kommen zu lassen, hat Erl selbst gesagt, er sei zu Maier in Rosenheim gewechselt, weil er ja immer mit Wallner zu tun gehabt habe, mit van Riet nicht klargekommen sei – und, wie sich herausstellt, hat er sich ohnehin schon länger überlegt, die Firma zu wechseln, er sei mit der Lieferzeit unzufrieden gewesen. Es gibt Solidarität. Es gibt Treue.
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„Wo bist du?“
„Ich bin in Bukarest. Und du?“
„Du bist in Bukarest. Du hast doch gewußt, daß ich heute komme. Ich bin drei Wochen in Nigeria, ich komme am Flughafen an, niemand da, ich komme nach Hause, niemand da. Keine Nachricht. Gar nichts. Ich warte. Nichts. Du bist in Bukarest.“
„Du hast es nicht für nötig gehalten, mich die letzten zehn Tage anzurufen. Ich habe dir mehrere Nachrichten auf deine Mailbox gesprochen. Du hast dich nicht gemeldet. Warum soll ich mich also melden? Ich habe das hier gebraucht, ich brauche das hier.“
„Ich glaube das alles nicht. Daß du so was tust. Daß du in Bukarest bist. Jetzt. Wohin soll denn das alles führen? Was bezweckst du mit so was?“
„Ich komme übermorgen wieder. Eva und Dolora habe ich freigegeben. Bis dahin wirst du dich selbst versorgen müssen. Du wirst dich ja selbst versorgen können. Da kannst du mal sehen, wie das ist da. Allein. In dem Haus da.“
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In seinem Kopf befinden sich grüne, blaue und rote Flekken.
Er beugt sich mit der Leselupe über den Ausdruck der letzten PET-Aufnahme, den er von Dr. Kaduk angefordert hat. In dem roten Fleck ist ein schwarzes Loch, soviel steht fest. Wallner sieht es ganz deutlich. Allerdings. So klein ist es, daß es sich auch um eine Unregelmäßigkeit im Druck handeln könnte. Dr. Kaduk hat doch alles genau untersucht. In der Regel konnte man sich auf Dr. Kaduk verlassen. Vielleicht aber ist das Loch in Wallners Kopf, sofern es tatsächlich existierte, in der Zwischenzeit gewachsen und wäre nun auch für Dr. Kaduk sichtbar.
Das Loch ist in der Zwischenzeit gewachsen.
Er braucht Dr. Kaduk gar nicht aufzusuchen. Wallner weiß es ohnehin.
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Wie gut, daß Ana in Bukarest ist. Man kann nur gewinnen. Dies ist eine Win-win-Situation. Am Ende liegt die Schuld bei Ana, Bukarest ist eine Ungeheuerlichkeit, jetzt ist sie es, die ausgebrochen ist, nicht man selbst. In der nahen Zukunft wird die anklagende Haltung, die sie im Moment noch an den Tag legt, einer rechtfertigenden weichen, dann einer zerknirschten. Man wird beleidigt sein können. Man wird vergeben können. Und Ana wird davon absehen, einem erneut Vorwürfe zu machen; geschweige denn, daß sie überprüfen wird, ob man tatsächlich in Nigeria war beziehungsweise ist. Man wird ihr Andenken mitbringen, sie wird sich freuen müssen, weil die Situation nach ihrer Ungeheuerlichkeit und der eigenen Großmütigkeit dies mehr denn je erfordert. Ana hat sich selber eine Grube gegraben. Sie fällt.
Außerdem kann man, woran man in Paris schon öfters dachte, Anas Sachen im Schlafzimmerschrank durchsuchen. Selbst wenn Ana umgehend in Bukarest in den Flieger steigt und nach Nürnberg fliegt, braucht sie mindestens fünf Stunden, bis sie hier eintrifft. Man hat Zeit.
Wallner öffnet die Glastüren des obersten Regals, des Costin-Regals. Neben den Videokassetten mit den Mitschnitten sämtlicher Folgen der Popstar-Staffel mit Costin befinden sich darin zwei Fotoalben, eines für die PingPongs, eines für Costin beziehungsweise CO. Ana hat manchmal am Wochenende neben einem Packen Zeitschriften gesessen, Bravo, Popcorn, Mädchen, hat Fotos und Artikel ausgeschnitten und eingeklebt. Wallner hat gefragt, was sie mache, obwohl er es genau wußte. Ana hat dann manchmal „Ich mach’ so ein Album für Costin“, manchmal „Nichts“ gesagt. Seit ihrem Streit darüber, daß Costin einfach so, ohne seine Eltern vorher zu fragen, diesen Vertrag bei dieser Produktionsfirma unterschrieben hatte, haben sie eigentlich, wenn Wallner jetzt überlegt, nicht mehr wirklich kommuniziert; die ein, zwei Male, die Costin kurz dagewesen war, war er eigentlich die ganze Zeit über mit seinen Freunden unterwegs gewesen; auch Ana, mit der Costin zuerst noch regelmäßig telefoniert hatte, hat im letzten halben Jahr, seit dem zweiten Album der PingPongs, nur noch indirekt Kontakt mit Costin, über die Managerin der Band, eine Melanie Zoitke, mit der sie sich aber tatsächlich gut zu verstehen scheint. Ana hat öfters gesagt, mit Melanie Zoitke könne man gut reden und sie, Melanie Zoitke, kenne Costin inzwischen erstaunlich gut.
Obwohl Wallner demonstrativ aus dem Zimmer ging oder sich etwas anderem zuwandte, wenn Ana die neueste Popstar-Folge ansah, hatte er am Wochenende, wenn Ana einkaufen war, Anas Mitschnitte oft insgeheim im Schnellverfahren angeschaut, hatte den Vorlauf gestoppt, wenn Costin ins Bild kam. Hin und wieder, wenn er in letzter Zeit den Flieger nach Paris genommen hatte, hatte er auch in den Zeitschriftengeschäften am Flughafen in Nürnberg in Teenager-Zeitschriften geblättert, Bravo, Popcorn, Mädchen, um das Neueste über Costin beziehungsweise CO und die PingPongs zu erfahren. Wallner hatte gelesen, daß sich Costin von Henriette getrennt habe und mit der Sängerin einer anderen Band zusammen sei; daß sich das erste Album der PingPongs eine Woche lang auf Platz zwei der deutschen Albumcharts hielt. Costin hatte in einem Interview folgende Aussagen gemacht: „Mein Lieblingsgericht ist Sarmale, weil es mich daran erinnert, wo ich herkomm.“ Und: „Ich hab ein Herz für Pferde.“ In abgedruckten Fanbriefen hatte ein Mädchen, das 11, 12 oder 13 war, geschrieben, es sei in CO verliebt, es sei ihr größter Wunsch, ihn einmal zu treffen. Auf den Fotos, den Videos und den ausfaltbaren DIN-A 3-Postern in der Mitte der Zeitschriften, in die Wallner, am Stand in Geschäften stehend, hineinlugte, wurden aus Costins schwarzen Naturlocken kurze rote Stifteln, diese zu einer Glatze und diese zu schulterlangen, glatten blonden Haaren, trug Costin einen Ziegenbart, dann Monsterkoteletten, dann einen Dreitagebart, war glattrasiert und nahm im Lauf der Jahre deutlich zu.
Wallner zieht die Videokassette aus dem Schrank, die Ana mit Konzert beschriftet hat, und legt sie ein. Es ist ein Konzert mit vielen früheren und späteren Popstar-Gruppen, ziemlich in der Mitte des Konzerts kündigt der Moderator die PingPongs mit einer Single aus ihrem neuen Album an. Obwohl die Musik der PingPongs nie die seine gewesen ist – wenn er Musik hört, dann vielleicht seine alten LPs aus den 70ern, Pink Floyd, Simon & Garfunkel, die Beatles, die Großen eben –, kann selbst Wallner hören, daß die neue Single keinerlei Zug besitzt. Zudem singen die PingPongs jetzt auf deutsch. Die Songs auf dem ersten Album waren auf englisch gewesen, was die Banalität der Texte zumindest zu einem gewissen Teil kaschierte.
Wäre Wallner Costin, er würde sich weigern, zusammen mit diesem Wylie, der sich immerzu in den Vordergrund drängt – er ist ja viel öfter zu sehen als Costin –, den Refrain „Dann möchte ich dein Boy sein“ (direkt daran angeschlossen die Zeile der Mädchen, der immer attraktiver werdenden Seema und der grauen Maus, dieser Uschi, „Und ich dein Girl“) zu singen. Wäre Wallner der Manager der PingPongs und nicht Melanie Zoitke, er würde die Lieder mit größter Sorgfalt und natürlich in Rücksprache mit der Band auswählen. Man würde sich treffen. Man würde diskutieren. Wäre Wallner der Choreograph der PingPongs, er würde sie nicht dieses Affentheater machen lassen. Costin kann hervorragend tanzen. Wallner weiß das. Wäre Wallner Costin, er würde Wallner um Verzeihung plus finanzielle Hilfe bitten, um diesem ganzen Popbusiness zu entkommen, wo einem vorgeschrieben wird, was man zu tun hat. Man ist unfrei. Man hat sich mit Unterschreiben des Vertrags der Produktionsfirma überantwortet.
Wallner legt den Kopf zur Seite, um die Titel der Videos in den anderen Regalen zu lesen. Die Videos sind chronologisch geordnet. Während Wallners Blick über die Videos mit den Aufnahmen aus der Anfangszeit hier in Cham schweift, sieht er Sequenzen aus Filmen vor sich, an die er sich erinnert. Wie sich Wiget und Astrid nach ihrer Trauung vor dem Eingang der Kirche zum Gruppenbild mit Verwandten aufstellen, für die Fotografen stillstehen. Wie Ana mit der Kamera durch das erste Haus in Cham geht, die viel zu dunklen Bilder wegen der schlechten Beleuchtung. Costin als Baby in der Wiege. Costin als kleiner Junge auf einer Schaukel, auf die Kamera zu schaukelnd und zurück, er, Wallner, dahinter, anschubsend, mit Schnauzer, hat er damals den Schnauzer gehabt oder erst später beziehungsweise schon früher? All diese Aufnahmen sind ohne Ton, man kann nur raten und aus der Erinnerung zu rekonstruieren versuchen, was die Leute sagen, wenn sie den Mund bewegen.
Wallner legt das Video mit der Aufschrift Abitur Costin ein. Costin steigt auf die Bühne. Durch den Zoom ist sein lachendes kalkweißes Gesicht zu sehen.
Wallner weiß, was folgt.
Costin holt sich sein Abiturzeugnis beim Rektor ab, wendet sich zum Publikum, tippt sich an die Stirn, lacht, tritt von der Bühne; dann er selbst, Wallner, wie er sich den Weg durch die Menge nach vorne bahnt, wie er Costin von hinten umarmt, überschwenglich, glücklich, sie beide, wie sie in die auf sie zuzoomende Kamera winken, aufstehen und Arm in Arm nach hinten, ausgelassen redend, zu Ana, zum Buffet gehen.
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Stefan Wallner sagt, dies sei jetzt das dritte Jahr, in dem die Firma schwarze Zahlen schreibe. Die Firma habe jetzt eine Bonität.
Günter Wallner sagt, daß ihn dies freue.
Stefan Wallner sagt, er sei froh, daß er in der Lage war, letztes Jahr, noch bevor die Großmutter gestorben ist, ihr den Rest des geliehenen Geldes zurückzuzahlen.
Günter Wallner sagt, auch er sei froh. Er freue sich für Stefan Wallner. Er müsse es ganz offen gestehen. Am Anfang, wie Stefan Wallner vor zehn Jahren angefangen habe, da habe er Zweifel gehabt.
Stefan Wallner fragt, was Günter Wallner gedacht habe. Günter Wallner könne offen sein.
Günter Wallner sagt, wenn er ganz offen sei, habe er gedacht, der Kredit der Großeltern sei für immer fort. Die Firma halte sich vielleicht zwei Jahre. Maximal drei. Er habe ja noch gedacht, er könne Stefan Wallner von seinem Unglück abhalten.
Stefan Wallner fragt, wie Günter Wallner das meine.
Günter Wallner sagt, er habe doch Stefan Wallner das immer wieder auszureden versucht. Jetzt im nachhinein sei man natürlich schlauer. Er, Günter Wallner, sei stolz auf Stefan Wallner, er sei sehr stolz. Das sei natürlich eine Glückssache gewesen, daß die andere Firma in der Gegend gleich am Anfang zugemacht habe.
Stefan Wallner sagt, er staune, daß Günter Wallner sich das gemerkt habe.
Günter Wallner sagt, es tue ihm leid, er müsse das einmal sagen, daß er Stefan Wallner damals nicht unterstützt habe.
Stefan Wallner sagt, es müsse Günter Wallner nicht leid tun, er habe doch das Geld und den Kreditspielraum damals nicht gehabt. Er, Stefan Wallner, wisse das doch.
Es entsteht eine Pause.
Stefan Wallner fragt, ob das stimme.
Günter Wallner sagt nichts.
Stefan Wallner sagt, Günter Wallner habe das Geld und den Kreditspielraum gehabt, habe aber trotzdem Stefan Wallners Großeltern mütterlicherseits zahlen lassen, die damit die eigene Existenz aufs Spiel setzten, es seien ja eben nur Nowottnys und nicht Wallners, und da sei es ja egal.
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2. August
Das Kinderdorf soll mich in Frieden lassen. Ich wünsche keine Anrufe mehr von wegen „Wir benötigen Ihre Vermittlung“ oder „Ist es in Ordnung, wenn wir das Geld für das und das verwenden?“ Ich vermittle nicht. Und: Ja, es ist in Ordnung.
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Da ist Ndou. Er trägt ein langes hellgrünes Hemd und weiße Kniehosen aus Leinen. Er streckt den rechten Arm aus, die Goldreife daran klimpern. Er fragt, lächelnd, „Monsieur?“ und zeigt seine strahlend weißen Zähne.
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Van Riet sitzt neben Wiget auf dem Sofa im Wohnzimmer der Wigets, ihm gegenüber sitzt Astrid auf einem Stuhl. Sie hat sich vorgebeugt und hört van Riet und Wiget konzentriert zu, die, sobald das Gespräch auf die Firma gekommen ist, begonnen haben, leiser zu sprechen. Astrid trägt den weißen oder rosafarbenen Bademantel, den sie anhatte, als Wallner und Wiget zusammen den Film über den Bundeswehreinsatz in Nigeria angeschaut hatten, dessen Titel Wallner jetzt vergessen hat. Wallner stellt sich vor, daß Patrick in seinem Zimmer im ersten Stock sitzt und fürs Abitur lernt. Er hat die blaue Matrosenmütze aufgesetzt, die ihm van Riet aus Hamburg mitgebracht hat.
81
Das Gesicht des Türstehers ist für einen Moment im Guckkasten der metallenen Tür erschienen, kurz nachdem Wallner den Klingelknopf gedrückt hatte, ohne daß jedoch ein Klingeln zu hören gewesen wäre. Die Wände des Korridors sind mit Spiegeln belegt. Wo sie an die Decke und den glatten Fußboden anschließen, sind kleine Christbaumlämpchen befestigt, rot, weiß, blau. Wallner steigt die Treppe am Ende des Korridors herunter. Es hat ihm niemand gesagt, aber er vermutet, daß dies der Weg ist, möglich, daß die Spiegel zugleich Türen sind. Das Dröhnen des Basses wird mit jeder Windung der Treppe lauter.
Der Raum, in den Wallner tritt, liegt im Halbdunkel. Nur das Glitzern der Discokugel an der Decke wandert langsam über die Tische in den Nischen, die leere Tanzfläche, die Stange in der Mitte, die von einem Spotlight erhellt wird. Im Schwarzlicht, das von irgendwoher kommen muß, von der Lampe über der Bar, aus der Bar heraus, sind die Fusseln auf der Kleidung, die Zähne der Gestalten, die an der Bar sitzen, zu erkennen. Wallner tritt näher heran, bestimmt. Die Frauen drehen zuerst die Köpfe nach ihm um, dann stehen sie auf.
Eine ist mittelgroß, schlank, brünett, eine asiatisch, athletisch, eine schwarz, kräftiger, eine klein, schwarzhaarig, kräftiger, eine klein, blond.
Wallner geht langsam an ihnen entlang, bleibt stehen, geht weiter, geht zurück. Er deutet auf die kleine schwarzhaarige Frau.
Sie legt den Arm um seine Hüfte, zusammen gehen sie langsam quer durch den Raum, auf einen Treppenaufgang zu, bei dem es sich aber nicht um jenen handeln kann, über den Wallner hier hereingekommen ist. Die kleine schwarzhaarige Frau flüstert Wallner etwas ins Ohr, etwas auf französisch. Auf der Treppe ist sie vorausgegangen, Wallner ist zurückgefallen.
82
Bei Chez Robert kann man wunderbar draußen sitzen, Kaffee trinken, Zeitung lesen oder einfach nur das Treiben auf dem Platz beobachten. Philippe, der Kellner, kennt einen schon. An guten Tagen, wenn man keine Schmerzen hat, das Wetter schön ist und man noch die ganze Woche vor sich hat, genießt man es hier richtig. Die Passanten, die spielenden Kinder, die Tauben. Man ist glücklich. Man hat keine Last. An schlechten Tagen, wenn man Schmerzen hat, das Wetter nicht so gut ist, man nur noch wenige Tage bis zur Abreise nach Cham hat plus Ana wieder am Telefon Vorwürfe erhoben hat, hat der Platz etwas Bedrückendes. Man sieht müde von der Zeitung auf. Die Passanten und die spielenden Kinder lärmen. Und diese Gedanken regen sich in einem: Was wäre, wenn einem jemand hier auf die Schliche käme, wenn es jemandem einfiele, einen zu erpressen.
Im Juni war beispielsweise plötzlich ein mittelgroßer Herr aufgetaucht, circa 50, kurzes blondes Haar, gut gekleidet. Kurz nachdem man sich selbst vors Chez Robert gesetzt hatte, hatte auch er an einem Nebentisch Platz genommen, Zeitung gelesen und ab und zu hinübergesehen, manchmal nickend, wie es einem vorkam. Als Ana am Telefon eine Andeutung machte, aus der zu schließen war, daß sie einem nicht glaube, ja, daß sie möglicherweise genau wisse, wo man sich in Wirklichkeit befinde, konnte man davon ausgehen, daß sie ihre Informationen von ebendiesem Herrn hatte, bei dem es sich demnach um eine Art auf einen selbst angesetzten Privatdetektiv, vielleicht auch um einen Bekannten oder Freund oder Liebhaber Anas handelte, der ihr einen Gefallen tun beziehungsweise sich einschmeicheln wollte, und wie war da die Überführung des Ehemannes noch zu übertreffen?
Als Ana sich später in Cham für ihre Ausfälligkeiten am Telefon entschuldigte und sagte, sie wolle nicht, daß diese Ehe in die Brüche gehe, sie wolle das nicht, vielleicht sei es ja nicht mehr so wie früher, aber man könne doch die Jahre, die einem bleiben, noch mit Würde und Respekt dem anderen gegenüber verbringen, und als man sie in die Arme genommen und man die Tränen in ihren Augen gesehen und selbst zu weinen begonnen hatte, man wußte nicht mehr, was tun, was denken, und als sich dann beim nächsten Parisaufenthalt der Herr nicht mehr blicken ließ, erwies sich der vormalige Verdacht als gegenstandslos und damit auch die bereits im Kopf ausgearbeiteten Pläne, den Herrn entweder auflaufen zu lassen, indem man so tat, als wüßte man nicht, daß man beobachtet werde, nur um falsche Fährten zu legen, oder aber, die Flucht zu ergreifen, Paris zu verlassen und sich in einer anderen Stadt eine zweite Existenz aufzubauen (vielleicht Prag; man kennt Prag von Geschäftsreisen), als überflüssig.
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14. Juni
Im Apartment rechts wohnt Monsieur Damiens, circa 1,80, graues Haar, Bürstenschnitt, drahtig. Um 8:15 Uhr geht er zum Bäcker, Baguette holen. Um 9 Uhr verläßt er das Haus mit einem schwarzen Aktenkoffer, um zur Arbeit zu gehen. Um 17 Uhr kommt er zurück. Von 19 bis 23 Uhr sieht er fern, oft auch Spielfilme auf englisch, wie ich durch die Schlafzimmerwand hören kann. Selten Besuch. Samstags um 19 Uhr verläßt er mit einer Sporttasche das Haus und kommt erst nach 0 Uhr zurück. Zu unregelmäßigen Zeiten, zumeist abends, hört man rhythmisches Quietschen. Es ist davon auszugehen, daß Monsieur Damiens eine Rudermaschine, ein Rad oder ähnliches in seinem Zimmer aufgestellt hat.
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Wallner sitzt am Schreibtisch über sein Notizbuch gebeugt. Die Beine hat er übereinandergeschlagen. Seine Ellbogen ruhen auf der Tischfläche. Er schreibt sehr schnell mit dem Bleistift, der auf dem Papier ein kratzendes Geräusch erzeugt.
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Christian Aimard, Anfang 60, circa 1,85 groß, leicht untersetzt, spitze Nase, sich lichtendes brünettes Haar, kennt alle Wege Wallners, weiß, wo er essen, wo er einkaufen, wo er ins Sonnenstudio geht. Er kennt alle bisherigen Putzfrauen Wallners in Paris, tatsächlich hat er sie auf die Anzeigen aufmerksam gemacht, die Putzfrauen sind alle Bekannte Aimards. Aimard ist in Wallners Apartment gewesen. Er hat Wallners Computer und Fernseher angeschaltet, die Kriminalromane gelesen, die Toilette benutzt und sich ein Rumpsteak mit Petersilkartoffeln zubereitet. Wüßte Wallner etwas von Aimard, hätte er bereits seine Route durch das Viertel geändert und sich vielleicht, trotz der Pläne, die Nachbarwohnung zu kaufen, ein anderes Apartment gesucht. Wallner weiß nichts von Aimard.
Tagsüber ist Aimard in einem Fotolabor eines Supermarchés angestellt. Aimard entwickelt Fotos innerhalb einer Stunde, die Abzüge von digitalen Bildern kann man sofort mitnehmen. Wallner folgt er am Wochenende oder in der Mittagspause, oder er nimmt sich extra frei. Außer es regnet. Aimard haßt Regen, nicht nur spannt er bei Regen einen XXL-Regenschirm mit dem Aufdruck der Sehenswürdigkeiten von Paris auf, sondern er trägt auch neongelbe Regenkleidung mit Extraverschluß an Armen und Beinen, so daß kein Wasser auf seine Haut gelangt. Aimard ist alleinstehend. Er hatte einmal eine Beziehung zu einer jungen Frau, Claire, in Nantes, als er 28 war und noch im Fotolabor seines Vaters arbeitete. Aber Claire heiratete einen anderen.
Abends steht Aimard auf einer Leiter an der nördlichen Wand seines Schlafzimmers. Die Wand ist fast vollständig mit Fotos von Wallner bedeckt. Während Wallners Aufenthalten in Paris steht Aimard hier an der Wand und klebt die Fotos auf, die er am Tag von Wallner gemacht hat. Bald wird Aimard beginnen, auch an der westlichen und östlichen Wand Fotos aufzukleben.
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Aimard hat eine Freundin, Anne-Catherine Moureau. Sie ist schlank, ja mager, trägt eine Nickelbrille und hat das blonde Haar mit den grauen Strähnen stets zu einem Zopf geflochten. Nie trägt sie Hosen, immer Röcke mit T-Shirts oder Blusen, weiß. Aimard kannte Moureau vom Sehen, sie kaufte ab und zu im Supermarché ein. Vor zwei Monaten war sie dann zum ersten Mal zu Aimards Theke gekommen, hatte ihm eine Filmrolle übergeben und ihm ihren Namen gesagt, Moureau, wobei sie auf einen Punkt neben Aimards rechtem Ohr schaute. Auf dem 36er-Film waren nur sechs Fotos gewesen: drei von einer weißen Katze mit schwarzen Flecken am Kopf, drei von einer sehr aufgeräumten Wohnung mit Möbeln, die nach IKEA aussahen. Moureau war am Ende der Woche noch mals mit einer Filmrolle zum Fotolabor gekommen, die Woche darauf jeden zweiten, die übernächste Woche fast jeden Tag. Hatten die Fotos zunächst immer ähnliche Ansichten von derselben Katze und derselben Wohnung gezeigt, war auf den Bildern bald gar nichts mehr zu sehen gewesen, das heißt, Moureau hatte Aimard unbelichtete Filmrollen zum Entwickeln gegeben. Wenn Aimard Moureau die Taschen mit den schwarzen Fotos, die sich an den Rändern grau aufhellten, über die Theke reichte, ließen weder er noch sie sich etwas anmerken. Dann war Moureau ein paar Tage lang nicht zum Fotolabor gekommen, und Aimard, der inzwischen wußte, zu welchen Zeiten Moureau einkaufte, welche Produkte sie bevorzugte, welche Gesten sie beim Artikel-in-den-Einkaufskorb- und Artikel-aufs-Band-Legen machte, hatte untertags umsonst seine Theke verlassen, um nachzusehen, ob Moureau nicht vielleicht gerade in einem der Gänge im Supermarché vor den Kompottdosen oder in der Fleischabteilung stand. Nach vier Tagen hatte sich aber Moureau Punkt 12 Uhr an der Theke des Fotolabors eingefunden und sich Bilderrahmen angesehen, die zu einem Sonderpreis angeboten wurden. Aimard, der eigentlich zum ersten Mal nach drei Wochen wieder Wallner durch die Stadt hatte folgen wollen, war unschlüssig gewesen, was er tun sollte. Schließlich hatte er sich, während ihn sein Lehrling vertrat, an einen der Tische in der Bäckereiabteilung neben dem Fotolabor gestellt und sich ein Croissant sowie Kaffee gekauft. Auch Moureau hatte sich bei der Bäckereiabteilung einen Croissant sowie Kaffee gekauft, und weil auf dem anderen Tisch Brösel und eine Lache waren, hatte sie Aimard gefragt, ob sie sich an seinen Tisch stellen dürfe.
Bald treffen sich Aimard und Moureau regelmäßig in einem Café, dann auch abends in einem chinesischen Restaurant, Einladungen zu Aimard und Moureau, deren Wohnung und Katze Aimard schon von den Fotos her genau kannte, folgen. Aimard und Moureau entdecken Gemeinsamkeiten: Moureau, die als Sekretärin in einer Firma für Landmaschinen arbeitet, ist ordentlich, führt Buch über die anderen Mieter in ihrem Haus. Schon seit längerem hat sie Aimard beim Einkaufen bemerkt. Die Filmrollen sind natürlich nur ein Vorwand gewesen, Kontakt mit ihm herzustellen. Aimard erzählt Moureau von Wallner, dem Verdacht, daß etwas mit ihm nicht stimme; nicht nur verberge er etwas, auch scheine er ein schwaches Herz und angegriffene Nerven zu haben. Er fasse sich oft an den Kopf. Aimard zeigt Moureau die Wände in seinem Schlafzimmer mit den Fotos Wallners.
Beim Sex hat Moureau sehr laut und schrill gerufen. Aimard und Moureau beschließen, fortan nicht nur gemeinsam über die Mieter in Moureaus Haus Buch zu führen, sondern auch gemeinsam Wallner auf die Schliche zu kommen. Abwechselnd beschatten sie Wallner, der noch immer keinen Verdacht schöpft. Sie zapfen seine Telefonleitung an, sie mieten sich in der Wohnung im Haus gegenüber ein und betrachten Wallner durch ein Fernrohr auf einem Stativ, sie kennen sein E-Mail-Paßwort, obwohl er es regelmäßig ändert. Am Anfang und am Ende der Fluchtwege, die sich Wallner in seinem Quartier zurechtgelegt hat und die er hin und wieder zur Verwirrung eventueller Detektive oder Verfolger oder Erpresser einschlägt, stehen sie immer schon, wartend.
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Aimard und Moureau haben Wiget und Astrid kontaktiert! Wallner hat für einen Moment den Eindruck gemacht, als hätte er die vier auf der Strandpromenade in Le Havre erkannt, scheint aber zum Glück zu glauben, sich getäuscht zu haben, da er ganz ruhig weitergegangen ist, sich später ein Tretboot gemietet hat, mit dem er für ein paar Stunden raus aufs Meer gefahren ist, später ist er wieder in seine Pension zurückgekehrt und hat nicht ausgecheckt.
Aimard, Moureau, Wiget und Astrid haben sich in einem Landhaus etwas außerhalb der Stadt einquartiert. Aimard hat Wiget und Astrid die Fotos von seiner Schlafzimmerwand gezeigt, Moureau hat ihnen Kopien von Wallners Telefonrechnung vorgelegt. Wiget und mit ihm auch Astrid hatten seit Wallners Ausscheiden aus der Firma gegenüber Wallner Schuldgefühle gehabt, deren Besänftigung Wallner aber durch nicht angenommene Telefonate, nicht beantwortete E-Mails und die durch Ana abgelehnten Einladungen zu verhindern gewußt hatte. Wallner hatte Wigets und Astrids Pläne einer Versöhnung durchkreuzt. Durch Aimard und Moureau hat sich Wigets und Astrids Bild von Wallner verändert. Wiget und Astrid fühlen bezüglich Wallner Enttäuschung, die mit jedem weiteren Bericht des beharrlichen Aimards und der aufrichtigen Moureau sich in Wut verwandelt. Drängend steht die Frage im Raum, wie sich Wiget und Astrid an Wallner rächen können. Noch wollen sie abwarten. Sie wollen morgens zu viert nach Paris fahren und mit Aimards und Moureaus Hilfe Wallners Apartment betreten. Am Abend stoßen die Wigets mit Aimard und Moureau mit einem Glas Rotwein an. Man versteht sich. Im Landhaus schlafen die Wigets im Ehebett im Schlafzimmer im ersten Stock, Aimard und Moureau im Ehebett im Schlafzimmer im Erdgeschoß. Wallner stellt sich vor, daß beide Schlafzimmer wie sein eigenes Schlafzimmer in Cham aussehen.
Am Donnerstag wird Wiget mit Eva telefonieren. Er kennt sie schon länger. Er hat sie gebeten, Wallners Arbeitszimmer in dessen Villa nach brauchbaren Unterlagen zu durchsuchen. Wiget bezahlt Eva.
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Butter: € 1, 20
Brot: € 2, 70
Tomaten: € 3
Gewürzgurken: € 2, 20
Cidre: € 2, 30
Pizza (3): € 8, 76
Käse: € 4, 23
Zeitung: € 2, 10
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Man geht spazieren. Nur vereinzelt kommen einem Passanten entgegen. Die Bäume der Allee haben vom Wind zu rascheln begonnen. Man stellt den Mantelkragen hoch. In der Ferne ist über den Dächern die Spitze des Eiffelturms aufgetaucht.
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Man liegt mit geschlossenen Augen auf dem Rücken im Bett. Durch das gekippte Fenster dringt der Straßenlärm von draußen, eine Autoalarmanlage, Kinder, die rufen. Man legt den rechten Arm über den Kopf.
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Man hat einen stechenden Schmerz in der Seite.
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Man geht spazieren. Nur vereinzelt kommen einem Passanten entgegen. Die Bäume der Allee haben vom Wind zu rascheln begonnen. Man stellt den Mantelkragen hoch. In der Ferne ist über den Dächern die Spitze des Eiffelturms aufgetaucht.
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Ist der Wunsch nach Flucht vorhanden?
Ja.
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Man liegt mit geschlossenen Augen auf dem Rücken im Bett. Durch das gekippte Fenster dringt der Straßenlärm von draußen, eine Autoalarmanlage, Kinder, die rufen. Man verschränkt die Arme auf der Brust.
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Kundenfrequenz der Bäckerei gegenüber (gezählt wurden die Personen, die das Geschäft betraten, Kinder inklusive):
7–9 Uhr: 138
9–12 Uhr: 97
12–15 Uhr: 88
15–17 Uhr: 95
17–20 Uhr: 127
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Er streift die Beete am Zaun entlang. Hinten, auf der Terrasse, essen Oma, Opa und Papa Kuchen. Er reckt den Kopf und schaut auf die großen gelben Blüten, die sich auf seiner Augenhöhe befinden. Ob Bienen darauf sind. Viele sind darauf. Er nimmt die Flasche, stülpt sie über die Blüte, er versperrt die Öffnung mit dem Zeigefinger, die Biene ist gefangen. Die Biene fliegt nach oben, stößt an, krabbelt auf der Innenseite der Flaschenwand entlang. An den Hinterbeinen der Biene sind kleine orangenfarbene Säckchen. Die Biene sitzt auf seiner Fingerkuppe. Das kitzelt. Die Biene hat ihn gestochen. Ihr Hinterteil hat gewackelt. Er hat geweint. Die Flasche ist ins Gras gefallen. Die Biene ist weg. Sein Zeigefinger ist angeschwollen. Oma, Opa und Papa haben nach ihm gerufen und sind aufgestanden. Er ist zu ihnen gelaufen. Opa und Papa stehen vor den Korbstühlen und sagen etwas wie „Hat dich eine Biene gestochen“, Oma ist in die Hocke gegangen und hat, während sie etwas Beruhigendes sagt, irgend etwas, seine Hand ergriffen. Sie steckt seinen Zeigefinger in ihren Mund, saugt daran, spuckt aus, saugt weiter.
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An den Bäumen in den Alleen und Parkanlagen kann man schon die ersten Knospen sehen.
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Vor dem Wohnhaus ist eine Baustelle. Ein Loch wurde gegraben, darüber ein gelbes Zelt aufgestellt. Bauarbeiter, die meisten Marokkaner, stehen in ihren orangenen Anzügen drumherum und unterhalten sich sehr laut. Manchmal verschwindet einer von ihnen im Zelt, im Loch. Ein beinahe unerträgliches Bohrgeräusch ist zu hören, das den ganzen Körper mitvibrieren läßt. Man könnte fast denken, die Lärmquelle komme von innen.