Der Bruder
Er rief mich an, weil ich die letzte war. Die letzte Telefonnummer, am vierzehnten April, Samstag, um drei Uhr sechsundfünfzig frühmorgens, auf der detaillierten Rechnung, die die Telefongesellschaft dem Bruder meines lustigen Freundes geschickt hatte. Sechsundachtzig Franken und zwanzig Rappen verlangten sie für den letzten Mobiltelefonmonat meines lustigen Freundes. Rechnungen müssen bezahlt werden, selbst wenn die Welt aus den Fugen gerät, für einen kurzen Lidschlag nur, im Vergleich zu den Jahrmillionen regelmäßiger Drehung um den großen Stern. Und niemand weiß von der längeren Dauer des Nachbebens, niemand bemerkt die daraus resultierende leichte Verschiebung des Planetensystems. Der Bruder meines lustigen Freundes sprach mir auf die Mailbox, sagte, dass meine Nummer die letzte sei auf der Rechnung, um drei Uhr sechsundfünfzig, zwei Stunden vor Eintreten des Todes um sechs Uhr früh.
Ich kannte den Bruder meines lustigen Freundes nicht gut, ich hatte ihn zuvor nur auf der Beerdigung gesehen und als er die Sachen in unserer Wohnung abholte, gemeinsam mit all den weinenden und wehklagenden Frauen, die ein Kopfkissen, ein Buch, einen Pullover umklammerten und mit Tränen und Küssen übersäten. Zwischen dem Gewusel von Schwestern, Müttern und Großmüttern stand still die Freundin meines lustigen Freundes. Sie betrachtete mich misstrauisch, als könnte sie mir etwas ansehen. Das Weiß in ihren trockenen Augen leuchtete wie die Wut. Ich sagte nur, dass sie alles mitnehmen könnten, und schloss dann vorsichtig die Tür hinter ihnen.
Der Bruder sprach sehr lange, bis ein Piepston ihn unterbrach und die Computerfrauenstimme sagte, ich hätte keine weiteren Nachrichten.
Ich bin ein fröhlicher Mensch, sagte mein lustiger Freund. Wir gingen den Kiesweg entlang der Gleise; leichter Regen fiel auf die Kapuzen unserer Regenjacken. Eigentlich bin ich ein fröhlicher Mensch, sagte mein lustiger Freund, ich mag das leichte Leben. Du bist immer traurig, sagte er zu mir, nicht sehr, aber immer ein wenig, ich hingegen bin ein lustiger Mensch.
Der Hund ging vor uns her, hellbeige und struppig; alle hundert Meter blieb er stehen, schüttelte die Regentropfen aus dem Fell und drehte sich um, er konnte schlecht sehen im Dunkeln, vielleicht nahm er nur unsere Witterung auf. Der Hund wurde langsam alt. Verblassende Graffiti zogen sich über die Mauer, hinter den Gleisen lag ein Hochhaus, ein Bau aus mehreren schachtelartig zusammengefügten Klötzen, mit hellen und dunklen Fenstervierecken, kein Wolkenkratzer, dieses Haus berührte keine noch so tief liegende Wolke.
Auch wenn wir uns viel erzählten, wusste ich wenig über ihn, dachte ich. Er hatte eine Ehefrau, die er wegen der Aufenthaltsgenehmigung geheiratet hatte, eine Freundin und andere Frauengeschichten, er hatte Philosophie studiert, in Istanbul, und zitierte oft Nietzsche, warum eigentlich Nietzsche, er arbeitete in einer Firma, die Mikrochips herstellt, neben der Technischen Universität, wo er, tagelang durchs Mikroskop blickend, winzige Drähtchen zusammenlötete, zwischen unzähligen anderen, in weiße Astronautenanzüge gehüllten Angestellten; sie könnten schon bald das menschliche Gehirn nachbauen, wenn es so weitergehe, sagte er. Alle zwei Wochen traf er sich in einem Lokal mit einigen Landsleuten, politisch war er nicht aktiv, wie er sagte. Eigentlich wusste ich nichts über ihn, wusste nicht, was er in all der Zeit machte, in der ich ihn nicht sah, ihn vergaß.
Wir kamen zu dem Haus, in dem sie wohnte, die ehemalige Geliebte, die er nicht vergessen konnte. Immer und immer wieder kamen wir unter ihrem Balkon vorbei, jedes Mal, wenn wir mit dem Hund spazieren gingen. Diesmal brannte in einem der beiden Fenster Licht.
Nach seinem Anruf verging über ein halbes Jahr, bis wir uns trafen, der Bruder meines lustigen Freundes und ich, man hatte sich wieder in das normale Leben eingeklinkt, die Zahnräder drehten sich ohne zu stocken weiter. Man vergaß es immer wieder, um immer wieder erneut ungläubig zu erschrecken, wenn es einem wieder einfiel, man wusste, dass es sich nicht ändern würde, man dachte nicht mehr nur daran. Wir verabredeten uns in der Bar, in der ich arbeitete, deshalb war ich froh, dass er, als ich eintraf, gleich wieder gehen wollte. Er schien etwas länger gewartet zu haben, auf der Theke stand ein Glas mit einem Rest Rotwein.
Wir könnten auch in sein Atelier gehen, sagte er, nicht weit von hier, er habe da auch Wein und es sei ruhiger als hier. Wir gingen nebeneinander durch die abendlichen Straßen des sogenannten Rotlichtviertels, man musste aufpassen, dass sie nicht in einen hineinrannten, die blind durch die Straße laufenden Junkies und Dealer. Sugar, Cola, Methi, auf dem Asphalt zerbrochene Bierflaschen. Die Huren saßen mit groß gemalten Mündern hinter den Glasscheiben im schummrigroten Licht, ihre Brüste quollen aus den engen Tops. Die Freier blickten einem nicht in die Augen.
An einem Kebabstand kaufte ich Zigaretten. Ich gab einer alten Bettlerin mit kurzgeschorenem Haar und irren Augen etwas Kleingeld, worauf sie uns Schutz und Segen der heiligen Jungfrau versprach und dass wir in den Himmel kommen würden. Tja, sagte der Bruder meines lustigen Freundes, in den Himmel also. Er ging neben mir her, ich war sehr schweigsam, derart verwirrte mich sein Gesicht, das das Gesicht meines lustigen Freundes war, die krausen Haare, die, zwar grau durchzogen, die Haare meines lustigen Freundes waren, die lachfältchenumrandeten Augen, die immer leicht nach unten geneigten Mundwinkel und die übermäßige Betonung des Sch, wenn er sprach.
Ich überlegte, was ich ihm sagen sollte, was ich wusste, aber was wusste ich schon. Glücklicherweise sprach er viel, von seinen zwei kleinen Töchtern, von seinen Schwestern, von seiner Mutter und immer wieder von ihm.
Ich könnte die Geschichte von dem Fahrrad erzählen, das er mir geschenkt hatte, mein lustiger Freund, das Fahrrad, das er mir ausgeliehen hatte, drei Tage vor seinem Tod. Ich hatte ihm den Schlüssel zurückgeben wollen, doch er meinte, er brauche das Fahrrad nicht mehr. Vielleicht hatte er auch gesagt, ich könne den Schlüssel vorläufig behalten und das Fahrrad benutzen, vielleicht hatte er gesagt, gib mir den Schlüssel ein andermal. Wenn man sich nur erinnern könnte, was jemand gesagt hatte, an den Wortlaut, die Intonation vielleicht. Wenn es etwas festzuhalten gäbe, eine Silbe, ein Wort, eine Bedeutung.
Das Fahrrad stand danach im Keller, irgendwann einnerte ich mich daran, ohne es je vergessen zu haben, und ich fuhr einkaufen. Mit zwei Tragtaschen behangen, kämpfte ich mit der Gangschaltung, ich hatte nie solch ein gutes Fahrrad besessen. Als ich über die Eisenbahnbrücke fuhr, riss ein Mann mich vom Sattel. Ich fiel auf die Knie, die eine Papiertasche zerriss und ein paar Äpfel rollten auf die Straße. Es war der Besitzer des Rades, das ihm, einem jungen, sehr wütenden Mann, vor fünf Jahren gestohlen worden sei. Ich überließ ihm das Fahrrad kampflos, ich lag längst müde am Rand des Schlachtfeldes.
Es war eisig im Atelier, an den schlecht verglasten Fenstern Spuren von Eisblumen, und die Flasche Wein, Rioja, sei auch viel zu kalt, entschuldigte sich der Bruder meines lustigen Freundes. Er besaß ein einziges Glas, das er randvoll füllte, er selbst trank aus der Flasche und fragte mich erst nach einem großen Schluck, den Mund mit dem Ärmel abwischend, ob mich dies stören würde. Ich verneinte. Der Gasofen funktioniert nicht, sagte er, ich werde einen Elektroofen auftreiben müssen. Ich sagte, das wird teuer, und drehte an den rostigen Hebeln, worauf nichts geschah, und ich nervös schnupperte, ob auch kein Gas austrat.
Der Bruder malte mehrere Quadratmeter große Leinwände voller winziger Dächer, ganze Bezirke, die ganze Stadt aus der Vogelperspektive. Er zeigte mir das Münster und den Fluss, die Universität, die Stelle, wo wir jetzt waren, ich hätte die Stadt nicht erkannt, Städte sind für mich verwechselbar und austauschbar, aber der Bruder meines lustigen Freundes nahm es sehr genau. Jedes Haus, jede Kirche, jede Straßenkreuzung lag an der richtigen Stelle, millimetergenau ausgemessen. Ich fragte nicht, weshalb er dies tat.
Wir könnten auf den Friedhof gehen, sagte der Bruder meines lustigen Freundes. Obwohl er viel zu oft auf dem Friedhof gewesen sei, und es würde auch nichts helfen.
Ich war auch auf dem Friedhof gewesen, einmal, doch ich hatte das Grab nicht mehr gefunden. Ich ging zum Friedhof, mit dem Hund, es war erst siebzehn Uhr und wurde schon dunkel, der Himmel violettgrau. Der Friedhof war riesig, und der Tag der Beerdigung war ein heller Frühlingstag gewesen, so hell, dass das Licht die Augen blendete. Im Friedhofsteil E, wo das Grab sein sollte, gab es keine neuen Gräber, 1921–1982, 1895–1985, 1933–1989, Ruhe in Frieden, der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Dann fand ich den Hund nicht mehr, der zwischen verwitterten Grabsteinen und immergrünen Thujahecken verschwunden war. Ich lief die Gräberreihen ab, leise rufend, Hunde sind auf dem Friedhofsgelände verboten oder an der Leine zu führen. Als ich den Hund endlich fand, knurrte er mich an. Er hatte etwas ausgegraben, ich zerrte ihn auf den Gehweg und öffnete den blockierten Kiefer. Zwischen den Zähnen fand ich Fetzen Aluminiumfolie mit etwas eklig Halbverfaultem darin. Ich nahm den Hund an die Leine und verließ schnell den Friedhof.
Am helllichten Tag der Beerdigung, alle waren gekommen, rannte ich nicht weg. Wir standen am offenen Grab, die Familie näher, die Freunde und Bekannten etwas abseits, allein oder in Gruppen. In der grellen Sonne wirkten wir müde und etwas schäbig, die schwarzen Kleider, die dunklen Ringe unter den Augen. Nachdem der Sarg in der Erde verschwunden war, hob die Mutter zu einem hohen Singsang an, zu einem geschluchzten Klagelied aus dem Namen meines lustigen Freundes, und die anderen Frauen weinten mit, und wir lauschten still dem Echo von der Friedhofsmauer. Wir hatten keine Klagemauer, kein Lied.
Beim folgenden Essen kramte man Erinnerungen hervor, die rührendsten, die traurigsten, die lustigsten, die vielsagendsten Erinnerungen; eine Erinnerung jagte die nächste, und jeder war ihm plötzlich nah und näher, meinem lustigen Freund. Ich war schweigsam. Im gemeinsamen Erinnern versagte meine Erinnerung, die Geschichten, die erzählt wurden, waren nicht die meinen. Sie, unter deren Fenster wir immer vorbeigegangen waren, wenn wir mit dem Hund spazieren gingen, saß etwas abseits, und ich hätte gerne mit ihr gesprochen. Nicht über die Ungeheuerlichkeit, die er mit seinem Tod und den an sie gewandten Worten begangen hatte. Ich hätte einfach mit ihr sprechen wollen, über irgendwas, der Worte wegen. Ich habe es bis heute nicht getan.
Wir fuhren mit dem Auto auf den Hügel, auf dem die Technische Universität liegt, hoch über der Stadt, der glasstahlglänzende Tempel der Wissenschaften, im Naherholungsgebiet zwischen grünen Wiesen mit einzelnen Bäumen und Kühen darauf. In einem Nebengebäude hatte mein lustiger Freund gearbeitet, im dritten Seitenflügel, Stockwerk C, Halle C7H5G, in einem Astronautenanzug im licht- und luftleeren Raum. Etwas unterhalb gab es ein Restaurant und einen dazugehörigen Parkplatz, der schönste Aussichtspunkt der Stadt, wie der Bruder meines lustigen Freundes sagte.
Er habe seinen Computer an sich genommen, sagte der Bruder meines lustigen Freundes, er mache seit einem halben Jahr nichts anderes, als den Inhalt dieses Computers zu analysieren, wobei ihm das Erraten des Passwortes die geringste Mühe bereitet hatte, viel schwieriger sei es, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, wobei scheinbar Bedeutungsloses plötzlich an Bedeutung gewinne, um dann doch wieder als unwichtig verworfen zu werden. Er habe nach dem Theaterstück gesucht, das sein Bruder vor Jahren, noch in seiner Studienzeit, geschrieben hätte, in welchem zwei politische Gefangene in ihrer Zelle ihren gemeinsamen Selbstmord planen. Auf die Frage des einen, wie sie es denn tun sollten, ob sie versuchen sollten, Tabletten aufzutreiben, einen scharfen Gegenstand, sagt der andere: Ich dachte immer, wir erhängen uns. Es war mir immer schon klar, dass wir uns erhängen werden. Er habe das Theaterstück aber nicht gefunden, sagte der Bruder, auch keine Briefe oder Notizen, keine wichtigen jedenfalls. Es sei jedoch beinahe unmöglich, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, das Bedeutungsvolle vom Bedeutungslosen. Man sucht nach der Wahrheit und stößt auf Nichtiges, auf Videospiele, einschlägige Internetseiten. Und man weiß nicht, ob dies die Müllberge am Rand des beschwerlichen Weges zur Wahrheit sind oder die Wahrheit selbst, wenn es denn eine gibt.
Ich überlegte, was ich ihm erzählen könnte, dem Bruder. Manchmal schauten wir zusammen fern, mein lustiger Freund und ich, in seinem Zimmer. Wir schauten merkwürdige Sportarten wie Biathlon oder Sumoringen oder dieses Spiel, in welchem die Menschen um einen Granitstein herum mit einer Art Besen auf dem Eis herumwischen und auf diese Weise die Bewegung des Steines beeinflussen. Er sagte: Komm rein, und ich setzte mich auf das Sofa, nachdem ich die Zeitungen, die Bücher und all den Ramsch, der darauf lag, beiseite geschoben hatte, und er setzte sich neben mich. Die Sumoringer krallten sich wie übergewichtige Riesenkinder ineinander fest, die Biathlonläuferinnen hetzten auf Skiern durch den Wald, um schließlich auf eine kreisrunde Zielscheibe zu schießen. Er kommentierte das Gesehene, und ich fragte nach den Spielregeln, die mich nicht im Geringsten interessierten. Ich kam nie auf die Idee, bei ihm zu bleiben, nur einmal tat ich so, als wäre ich eingeschlafen, ließ meinen Kopf auf die Seite fallen, nicht auf seine Seite, sondern auf die andere, auf die Lehne des Sofas. Nach einiger Zeit stand er auf, machte den Fernseher aus, legte eine Decke über mich, ging sich die Zähne putzen und legte sich schlafen. Ich wartete, bis sein Atem langsamer und regelmäßiger wurde, und ging dann auch schlafen.
Ich lehnte an der Brüstung und blickte auf die Stadt, hinter der sich grauviolette Bergsilhouetten mit einzelnen Lichtpunktansammlungen erhoben. Die Stadt erschien von hier aus gesehen wie eine Großstadt, obwohl das Lichtermeer überschaubar war. Wir haben uns alle in den großen Städten versucht und sind wieder zurückgekommen, sagte mein lustiger Freund, weil wir uns hier nicht aus den Augen verlieren können. Der Bruder meines lustigen Freundes war im Auto geblieben, mit der Weinflasche. Ich fragte mich einmal mehr und wieder, was ich ihm sagen sollte, was wusste ich schon. Was weiß man schon über jemanden.
Erst wenn jemand im Treppenhaus hängt, schon ein wenig gelb im Gesicht, aber ruhig, als wäre er schwebend eingeschlafen, wie sie sagten, aber das konnte ja kaum sein, bestimmt war das Gesicht grausam entstellt, wenn jemand da hängt, wie schlafend, oder mit weit aufgerissenen Augen, erst dann zerbricht man sich den Kopf und sucht nach den fehlenden Teilen des nicht zusammenpassenden Puzzles.
Den Haken auf dem halben Stockwerk im Treppenhaus, an welchem er das Seil befestigt hatte, weshalb überhaupt dieser Haken?, den Haken also haben sie nachher entfernt, als gäbe es so keine Erinnerungen oder Nachahmer, sondern nur noch ein Loch und leicht abbröckelnder Verputz an der Decke. Es müsste einen Gott geben, einen guten. Ehrliche Menschen hängen sich auf. Sagte Brecht. Oder vielleicht sagte dies auch nur mein versoffener Nachbar.
Wir gingen mit dem Hund spazieren, mein lustiger Freund und ich, manchmal gingen wir auch auf eine Party oder zu einer Demo, aber meist gingen wir mit dem Hund spazieren. Ich bin ein fröhlicher Mensch, sagte er, ich bin dein lustiger Freund, wenn du mich einmal vergessen hast oder nicht mehr kennst, weil du andere Freunde hast, all diese ernsten, tiefsinnigen Freunde, mit ihren Büchern und ihren Brillen und den dunklen Ringen unter den Augen, dann kannst du zurückdenken, du wirst lachen und sagen, damals, ja damals hatte ich diesen lustigen Freund. Dann sagte er: Lass uns nach Istanbul gehen, du wirst Fotomodell, und wir werden reich; du würdest bestimmt ein berühmtes Fotomodell werden, so groß wie du bist und so weiß. Ich lachte und sagte, dass ich kein Fotomodell werden wolle, auch nicht in Istanbul. Einmal sagte er, er würde seinen Vater, wenn er ihm begegnen würde, ermorden.
Ich stieg wieder ins Auto, und wir saßen da, mit geschlossenen Türen, reichten uns stumm die Weinflasche, durch die Windschutzscheibe sah man die rot blinkenden Lichter des Turms auf dem dunkelbewaldeten Hügel, darunter die Stadt. Wie Autokino in einer amerikanischen Vorstadt, ein schlechter Film auf Großleinwand, einzelne Autos davor, darin küssende Halbwüchsige, die Popcorntüte in der einen, die andere Hand im Unergründlichen.
Er war der Jüngste, sagte der Bruder meines lustigen Freundes, er war immer mein kleiner Bruder gewesen. Unter allen Brüdern dieser eine, wollte ich sagen, aber das war eine andere Geschichte. Als er in dieses Land kam, war er noch sehr jung, sagte der Bruder, und in der Türkei – ich wartete, doch er sprach nicht weiter. Dass wir darüber gesprochen hatten, sagte ich nicht. Was bedeutet es schon, dass wir darüber sprachen. Man spricht über so vieles und denkt doch nie, dass einer es tun würde.
Ich sprach auch nicht über das Telefongespräch am vierzehnten April um drei Uhr sechsundfünfzig. Man denkt immer, man könne das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden, und plötzlich kriegt das Nichtige immense Wichtigkeit. Ich war krank und nicht zu Hause, sondern lag fiebrig im Bett des Menschen, bei dem ich kaum geblieben wäre, wäre ich damals nicht sehr krank geworden. Mein Handy klingelte, ich nahm ab, im Halbschlaf noch, er fragte irgendwas, ob ich mit zu einer Party käme oder in das besetzte Haus, ich sagte: Nein, ich bin krank. Ich sagte noch etwas und er sagte noch etwas, und nachdem ich aufgehängt hatte, dachte ich, ich hätte etwas Wichtiges vergessen. Ich wollte ihn noch fragen, ob er mit dem Hund gehen könne, morgen früh, weil ich nicht wusste, wann ich wieder aufstehen würde, er solle doch bitte den Hund nicht vergessen. So dachte ich das Gespräch weiter, wie man es eben tut, bei nicht zu Ende gebrachten Gesprächen, und später ist man sich nicht mehr sicher, was man tatsächlich gesagt hatte und was man nur weiterdachte, für sich allein.
Als er mich küssen wollte, der Bruder meines lustigen Freundes, sagte ich, dass ich nach Hause wolle. Das Gesicht meines lustigen Freundes, das das Gesicht des Bruders war, war nah an meinem, sein Atem, der Weingeruch. Ich will nach Hause, sagte ich. Zu schnell fuhren wir die steile, gewundene Straße zurück in die Stadt. Er streifte ein stehendes Auto, der Seitenspiegel brach ab. Es ist egal, sagte der Bruder meines lustigen Freundes, überhaupt alles. Wir fuhren über die Eisenbahnbrücke, unter uns die sich verzweigenden Gleise wie Spuren in die Ferne.
Angekommen, öffnete ich hastig die Tür und setzte mich an den Tisch in der dunklen Küche. Es gibt eine Stille innen, die mit keinem Frequenzzähler messbar ist. Lange saß ich da und dachte an nichts. Dann ging ich schlafen.