Sidney Sheldon



Die zwölf Gebote


Roman



Deutsch von W. M. Riegel





1. KAPITEL


Reden wir mal von Wundern. Die Bibel ist voll von ihnen, und ein paar sind auch wirklich prächtig. Diese Geschichten sind über ein paar tausend Jahre immer weiter überliefert worden. Ob sie wahr sind, mag jeder selbst für sich entscheiden. Aber man muß zugeben, daß sie außerordentlich aufregend sind.

Wir kennen natürlich alle die Geschichte von Adam und Eva. Nach der Bibel hat mit ihnen die ganze Geschichte überhaupt erst angefangen. Gott schuf den Himmel und die Erde. Und er schuf die Berge und die Bäume und die Tiere. Aber dann hatte er das Gefühl, daß irgend etwas fehlte.
„Ich weiß schon, was fehlt", sagte Gott. „Ich werde noch einen Menschen machen."
Er nahm eine Handvoll Lehm, knetete ihn in die Form eines Menschen und hauchte ihm den Odem des Lebens ein. „Ich bin Gott", sprach er zu ihm, „und du bist Adam." Adam sah sich verwundert um und fragte: „Wo bin ich?" „Du bist im Paradies, im Garten Eden." „Ganz hübsch hier", sagte Adam. „Erfreue dich daran", sprach Gott.
Gott hatte also den Menschen erschaffen, aber nach wie vor hatte er so ein Gefühl, daß da noch etwas fehlte. Aber natürlich, dachte er bei sich. Eine Frau.
Während Adam schlief, entnahm ihm Gott eine Rippe und formte aus ihr eine Frau und die nannte er Eva. Adam war entzückt, als er sie sah.
„Nun freut euch mal eures Lebens, ihr beide",sprach Gott. „Nur eines dürft ihr auf keinen Fall: einen von diesen Äpfeln essen." Er deutete auf die herrlich appetitlich aussehenden Äpfel an dem Baum. „Dies ist die Frucht am Baum der Erkenntnis, und es ist euch verboten, davon zu kosten." „Verstehe", sagte Adam.
„Ist gut", sagte Eva. „Wir rühren sie nicht an."
Aber da war in diesem Garten Eden auch eine Schlange, eine böse Schlange. Die hatte der Teufel geschickt.
„Ihr wißt ja gar nicht, was euch da entgeht", sagte diese Schlange zu den beiden. „Diese Äpfel sind doch. überhaupt das Köstlichste auf eurer ganzen Welt."
„Wir haben aber versprochen", sagten Adam und Eva, „daß wir sie nicht anrühren."
„Ihr müßt doch gar nicht alle essen", sagte die Schlange. „Ihr braucht doch nur einen zu nehmen."
„Na ja", meinte Eva. „Einmal ist keinmal, oder? Einer kann doch wohl nicht schaden." Also aßen sie vom Baum der Erkenntnis.
Gott war mächtig zornig. „Ihr habt euer Versprechen gebrochen, das ihr mir gegeben habt!" donnerte er. „Ihr habt gesündigt!"
Und damit warf er sie aus dem Paradies hinaus, und sie mußten sich draußen in der weiten Welt herumtreiben.
Also jedenfalls ist das die Geschichte, wie sie in der Bibel steht, nicht?
Oder nehmen wir die Geschichte von der Arche Noah. Eines Tages fand Gott, daß es einfach zu viele Sünder auf der Welt gab.
Mit der Erschaffung des Menschen, dachte er, habe ich entschieden einen Fehler gemacht. Vielleicht sollten wir damit noch einmal ganz von vorne anfangen.
Das Problem dabei war, daß Gott nicht gut gleich alle Menschen ausrotten konnte, denn woher sollten dann die neuen Menschen kommen? Also entschied er sich dafür, einen anständigen Mann und seine Familie zu suchen, damit die die Erde neu bevölkerten.
Er sah sich sorgfältig um. Er erblickte Lügner und Diebe und Mörder und Gauner und wurde darüber sehr niedergeschlagen. Doch dann sah er eines Tages den Noah. Der war ein einfacher, aber rechtschaffener Mann, und er hatte eine Frau und Söhne und Schwiegertöchter. Tadellos, fand Gott.
Und er sprach zu Noah. „Paß mal auf, Noah, ich setze die Welt unter Wasser und ersäufe alle Menschen."
„Wieso erzählst du mir das, Gott?" fragte Noah.
„Na, weil ich beschlossen habe, daß du mit deiner Familie nicht umkommen sollst."
Das schmeichelte dem Noah natürlich schon sehr. „Nur, wie mache ich das, daß ich nicht ertrinke?" fragte er.
Da gab ihm Gott seine Anweisungen. „Paß auf, du baust eine Arche, ja? Das ist ein großes Boot oder Schiff. Und ich meine ein wirklich großes, Noah, klar? So, und dann sammelst du dir sämtliche Tierarten zusammen, zwei von jeder, ein Pärchen, und die packst du samt deiner Familie in diese Arche, ja?" „Na gut", sagte Noah.
Und er schaffte es auch. Er sammelte Zebras ein und Elefanten und Tiger und Löwen, Affen und Pferde - eine richtige Riesenmenagerie.
Und dann marschierten sie alle auf die Arche, und zuletzt kam: Noah mit seiner Familie nach, und er war bereit für alles, was nur kommen mochte.

Was kam, war, daß es zu regnen anfing. Und wenn es in der Bibel schon mal heißt, regnen, dann regnet es auch ordentlich. Das ging vierzig Tage und Nächte lang und hörte keine Sekunde auf. Kleine Städte versanken im Wasser und große Städte ebenso und ganze Länder, bis nichts mehr zu sehen war - außer Noahs Arche, die auf diesem ganzen Überschwemmungswasser schwamm und ihn und seine

Familie und seine ganze Tierauswahl sicher trug.
Am Ende der vierzig Tage, als Gott alles ertränkt hatte, ließ er die Arche auf dem Berg Ararat aufsetzen. Und das Wasser fiel wieder, und Noah und seine Familie konnten anfangen, die Erde neu zu bevölkern. Wunder!

Noch ein anderes Wunder in der Bibel war doch die Teilung des Roten Meers, nicht? Die Hebräer waren in Ägypten in der Sklaverei gehalten worden, und das gefiel ihnen natürlich gar nicht. Die konnten sich nicht frei bewegen, wie sie wollten. Sie konnten nicht wählen gehen. Bezahlt für ihre Arbeit wurden sie auch nicht. Sie waren einfach Sklaven.
Da kam dann eines Tages ein gewisser Moses, ein großer Anführer, und sagte: „Ihr müßt uns jetzt mal helfen, daß wir was dagegen unternehmen. Wir haben diese Sklaverei satt bis zum Kragen."
Zwar wußte auch Moses nicht so genau, was man denn unternehmen könnte, weil der König immerhin eine große und gutausgerüstete Armee hatte und jeder, der auch nur den kleinsten Fluchtversuch unternahm, daran glauben mußte. Aber er sagte zu ihnen: „Laßt mich nachdenken." Dabei beschloß er dann, sich mal mit Gott darüber zu unterhalten. „Also Gott", sagte er, „es ist so, unser Volk ist ziemlich unglücklich. Die Leute wollen nicht mehr wie Tiere behandelt werden. Sie wollen freie Menschen sein. Jeder, der auch nur ein Wörtchen gegen den König sagt, ist so gut wie tot. Kannst du da nichts tun und uns helfen?"
Als Gott diese Aufforderung hörte, sagte er: „Also gut, Moses, du führst unser Volk aus Ägypten hinaus und zwar in ein Land, wo sie dann frei sind."
Versteht sich, daß Moses darüber freudig erregt war. Er ging zurück zu seinem Volk und sagte: „Alles klar, Leute, ich habe
mit Gott geredet, und ich schaffe euch hier weg."
Am nächsten Morgen versammelten sich alle Hebräer heimlich an der Stelle, die Moses ausgesucht hatte, und Moses sagte zu ihnen: „Nun kommt, und zwar mucksmäuschenstill." Und so begann der lange Marsch. Sie zogen zur Grenze von Ägypten und hofften, sich aus dem Land schleichen zu können. Unglücklicherweise sah sie ein Freund des Königs, als sie schon fast am Roten Meer waren, und eilte zu ihm hin. „Die Hebräer hauen ab!" rief er. „Sie marschieren aufs Rote Meer zu. Dieser Moses ist ihr Anführer."
Der König war außer sich und ließ sofort einen seiner Generäle kommen. „Ich höre da gerade, daß Moses die Hebräer aus dem Land hinausführen will. Die müssen aufgehalten werden." Er dachte kurz nach. „Nicht nur aufgehalten, sondern getötet, alle. Verstanden?"
„Jawohl, Euer Majestät." Schon nach einer Stunde war die königliche Armee marschbereit. Und weil sie beritten war, galoppierte sie geschwind wie der Wind zum Roten Meer, wo die Hebräer zuletzt gesehen worden waren.
Mittlerweile aber hatten die Hebräer das Rote Meer bereits erreicht. Eigentlich wollten sie es ja auf Schiffen überqueren, aber zu ihrer Enttäuschung war weit und breit kein Schiff zu sehen. Außer dem endlosen Wasser erblickten sie rein gar nichts.
Da wandte sich einer an Moses: „Wie sollen wir darüber kommen?" fragte er. „Da ersaufen wir doch alle."
Moses war total sauer. Er hatte natürlich angenommen, daß Gott auch für Schiffe sorgen werde.
„Na, vielleicht bauen wir uns Schiffe", schlug er vor. Doch in dem Moment kam einer angerannt. „Moses, Moses! Die Soldaten des Königs kommen! Jeden Augenblick sind sie hier!"
Da war Moses klar, daß sie alle verratzt waren. Gott hatte sie
im Stich gelassen. Er sah hinauf zum Himmel und sagte: „Also, weißt du, Gott, ich verstehe nicht, wie du so etwas mit deinem Volk machen kannst. Du hast mir doch versprochen, daß ich es sicher aus Ägypten rausschaffe!"
Da dröhnte auf einmal Gottes Stimme. „Vertrau mir. Sag deinem Volk, es soll ins Meer marschieren."
Das leuchtete Moses ja nun gar nicht ein. Was denn, wie sollten Menschen ins Meer marschieren, ohne darin zu ertrinken? Andererseits war ihm klar, daß es gegen Gott keine Widerrede gab.
Also wandte er sich an sein Volk und sagte: „Ich habe noch mal mit Gott geredet. Wir sollen ins Meer marschieren, sagt er."
Da waren sie alle entsetzt, aber weil sie hinter sich schon die Hufe der Pferde der Soldaten donnern hörten, sagten sie sich: Mein Gott, lieber ersaufen, als von den Soldaten niedergemacht werden.
„Also dann, mir nach", sagte Moses und begann ins Wasser zu waten. Aber kaum hatte er den ersten Schritt hineingetan, als ein Wunder geschah.
Mit offenem Mund sahen sie, wie sich das Rote Meer teilte und daß sie trockenen Fußes durchmarschieren konnten. Da applaudierten sie alle begeistert, zogen durch das Rote Meer und beeilten sich, damit die Soldaten sie nicht doch noch erreichten.
Als sie auf der anderen Seite waren und sich umdrehten, sahen
sie, wie drüben gerade die Soldaten daherkamen und begriffen,
daß ihnen die Hebräer entkamen.
„Hinterher!" schrie ihr General.
Moses beobachtete, wie die Soldaten des Königs ins Meer hineinritten.
Aber als die mittendrin waren, da schloß sich das geteilte Wasser auf einmal wieder über ihnen und alle ertranken. Gott hatte sein Versprechen gehalten. Die Hebräer waren gerettet.
Dann wäre da zum Beispiel noch ein Wunder aus der Bibel. In Israel lebte ein gewisser Samson. Der war so stark, daß er mal tausend Soldaten auf einen Schlag erledigte und zwar mit nichts weiter als dem Kieferknochen eines Esels.
Die Tyrannen, die Israel damals regierten, versuchten alles, diesen Samson zu fangen, aber sie hatten kein Glück. Sooft sie Soldaten gegen ihn ausschickten, war es um sie geschehen. Nun hatte Samson eine Freundin, eine gewisse Delilah oder Dahlilah.
Zu der kamen sie und sagten: „Wir wollen den Samson fangen, könntest du uns dabei nicht helfen? Du müßtest das Geheimnis seiner Stärke herausfinden."
Na gut, also in der nächsten Nacht fragte die Delilah oder Dalilah den Samson: „Sag mal, was macht dich eigentlich so stark?"
Und Samson gab ihr bereitwillig Auskunft. „Das sind meine Haare", sagte er. „Wenn sie mir mal jemand abschnitte, wäre ich nicht mehr stärker als jeder gewöhnliche Mann auch." Noch in derselben Nacht schnitt ihm Delilah oder Dalilah, während er schlief, die Haare ab. Als er am Morgen aufwachte, war er schwach und hilflos.
Die Herrscher legten ihn in Ketten und machten ihn zum Sklaven. Sie lachten ihn aus und machten sich über ihn lustig, weil er nun nicht mehr stärker war als alle anderen auch. Damit auch sicher war, daß er nie wieder stark wurde, stachen sie ihm die Augen aus und schmiedeten ihn mit Ketten an die Tempelsäulen.
Darüber vergingen einige Wochen und dann machten sie einen Fehler, und zwar einen ganz schlimmen. Es entging ihnen völlig, daß Samsons Haare wieder nachzuwachsen begannen. Eines Nachts dann, als sie gerade eine große Party im Tempel feierten, zog Samson, der genau an die Pfeiler gekettet war, welche den Tempel trugen, kräftig an seinen Ketten, bis die Säulen umfielen und der gesamte Tempel in sich zusammenstürzte. Alle, die darin waren, kamen um. Allerdings bedauerlicherweise auch Samson selbst.

Und was, weil wir gerade von Wundern reden, ist mit Jonas und dem Wal?
Gott schickte Jonas in eine Stadt namens Ninive, aber Jonas hatte keine Lust dazu. Er sagte zu einem Freund: „Ich habe Wichtigeres zu tun."
„Da wird Gott aber böse sein", sagte der Freund.
„Ach, der", sagte Jonas, „der ist so beschäftigt, der merkt das
gar nicht."
„Du traust dich was", sagte der Freund.
„Ach Quatsch", sagte Jonas.
Und er bestieg ein Schiff, das zu einer ganz anderen Stadt fuhr. Na ja, damit hatte er natürlich einen großen Schnitzer begangen. Gott hatte es nämlich sehr wohl gemerkt und war fuchsteufelswild, Er machte einen Riesensturm, in dem das Schiff herumgeworfen wurde wie eine Nußschale.
„Wir sinken!" sagte der Kapitän. „Und alles wegen dir, Mann. Weil du nicht getan hast, was dir Gott anschaffte."
Jonas wußte schon, daß der Kapitän recht hatte. Das ganze Schiff mit Mann und Maus würde untergehen.
„Also gut", sagte er. „Dann springe ich eben ins Meer. Wenn ich vom Schiff runter bin, stoppt Gott auch den Sturm wieder, und ihr seid gerettet."
Es war ihm völlig bewußt, daß das seinen Tod bedeutete, aber er verdiente ihn auch, sah er selbst ein, weil er Gott nicht gehorcht hatte.
Kapitän und Mannschaft sahen zu, Wie er ins fürchterlich tobende Meer sprang, und es war ihnen klar, daß er ertrinken
würde.
Aber Gott tat wieder einmal ein Wunder. Als Jonas ins Wasser fiel, schnappte ihn ein großer Wal und verschluckte ihn. Tief in dessen Magen betete Jonas zu Gott um Vergebung. Er betete drei Tage und drei Nächte lang, und danach beschloß Gott, ihn zu erretten.
Nämlich, der Wal tat sein großes Maul auf und spid en Jonas ans Ufer aus.

So. Vor zweitausend Jahren war es gang und gäbe, den wilden Löwen Menschen zum Fraß vorzuwerfen. Hatte jemand, Mann oder Frau, ein Verbrechen begangen oder etwas getan, das dem König mißfiel, sagte der König kurz und schlicht: „Werft ihn, oder sie, den Löwen vor."
Da gab es eine riesige Arena, so eine Art Theater, wo die Leute sitzen und zuschauen konnten, wie die Löwen auf die armen Teufel losgingen, die man ihnen zum Fraß vorgeworfen hatte. Und da gab es einen netten, jungen Mann, der hieß Daniel. Den mochten alle gut leiden. Nur im Hofstaat des Königs waren sie eifersüchtig auf ihn, weil Daniel beim König einen Stein im Brett hatte. Also logen sie dem König etwas vor von wegen, daß Daniel hinter seinem Rücken über ihn herziehe. „Was?" sagte der König wütend. „Na, dann werft ihn mal gleich den Löwen vor!"
Das freute sie. Endlich würden sie diesen Daniel loskriegen. Sie warfen ihn also in eine Grube mit hungrigen Löwen und überließen ihn diesen zum Fraße.
Und das feierten sie groß. „Endlich brauchen wir uns wegen diesem Daniel keine Sorgen mehr zu machen."
„Jetzt können wir selbst beim König einen Stein im Brett haben."
„Gleich morgen früh sehen wir nach, was von Daniel noch übrig ist."
So gingen sie am nächsten Morgen zu der Löwengrube, aber dann blieben sie wie angewurzelt stehen und trauten ihren Augen nicht. Da saß Daniel ganz friedlich mitten unter den Löwen, und die leckten ihm das Gesicht wie kleine Hündchen. Gott hatte die Bestien gezähmt und Daniel errettet.
Da ließen sie ihn voller Furcht aus der Löwengrube heraus und gelobten, ihm niemals wieder nachzustellen oder ihm Böses zu tun.

Wunder! Wißt ihr, wieso wir alle verschiedene Sprachen reden? Da gab es mal eine Zeit auf der Erde, da redeten alle dieselbe Sprache. Die Leute aus den verschiedensten Ländern konnten sich problemlos miteinander unterhalten. Und darauf waren sie auch mächtig stolz.
Einer aus der Stadt Babel hatte eine Idee. „Wißt ihr was, wenn wir alle zusammenarbeiten, könnten wir einen Turm bis in den Himmel bauen."
„Starke Idee!" sagte ein anderer. „Packen wir's an!" Gesagt, getan, sie holten sich Ziegel und Mörtel und was man sonst so braucht, um einen Turm zu bauen, und fingen an, ihn zu errichten. Es sollte das größte und wunderbarste Bauwerk der ganzen Welt werden. Doch das erforderte Jahre und Jahre, aber jedes Jahr wurde ihr Turm höher und höher.
Darüber wurden viele Arbeiter alt und starben, und ihre Söhne traten an ihre Stelle und machten weiter. Nichts konnte den Turmbau aufhalten.
Der Turm wuchs wirklich immer weiter in den Himmel hinauf. Nach vielen Jahren hatten sie den Himmel tatsächlich erreicht, genau wie geplant.
Aber als Gott das sah - daß sie ihm sogar den Himmel ankratzten -, gefiel ihm das überhaupt nicht.
Der einzige Grund, dachte er, warum sie das fertigbrachten, war, daß sie alle dieselbe Sprache redeten und deshalb auch zusammenarbeiten konnten. Das wollen wir doch mal unterbinden.
Und es gab einen Blitz, und auf der Stelle redeten alle Völker plötzlich mit verschiedenen Zungen. Die einen redeten japanisch, die anderen englisch, und es gab welche, die redeten spanisch oder schwedisch oder polnisch. Folglich verstanden sie einander nicht mehr.
Der Mann, der die Bauleitung des Turms hatte, erteilte Anweisungen, aber keiner kapierte ein Wort. Alles ging derart durcheinander, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als mit dem Turmbau aufzuhören - exakt, was Gott wollte. Sie ließen den Turm einfach stehen und zerstreuten sich in alle Welt. Und so entstanden die Sprachen.

Jetzt aber: Habt Ihr schon mal von den Zehn Geboten gehört? Die Geschichte geht so: Moses kam vom Berg herunter und hatte zwei Steintafeln unter den Armen, die ihm Gott gegeben hatte. Auf denen standen die Zehn Gebote. Ein Gebot ist eine Vorschrift, die man befolgen muß.
Ich verrate Euch ein Geheimnis. Diese Geschichte in der Bibel ist überhaupt nicht wahr. Es ist nämlich nicht allgemein bekannt, daß es in Wirklichkeit zwölf Gebote waren! Was passiert war, ist, daß Moses eigentlich mit dreien dieser Steintafeln von dem Berg herunterkam. Doch auf dem Weg fiel er einmal hin, wobei eine der Tafeln zerbrach, so daß halt nur noch zehn Gebote übrig waren. Die Sache war ihm so peinlich, daß er sie keiner Menschenseele jemals verriet. Die Zwölf Gebote lauten wie folgt:
Erstes Gebot: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Zweites Gebot: Du sollst den Namen Gottes, deines Herrn, nicht mißbrauchen.
Drittes Gebot: Du sollst den Feiertag heiligen.
Viertes Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir
wohlergehe und du lange lebest auf Erden.
Fünftes Gebot: Du sollst nicht töten.
Sechstes Gebot: Du sollst nicht ehebrechen.
Siebtes Gebot: Du sollst nicht stehlen.
Achtes Gebot: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten.
Neuntes Gebot: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut.
Zehntes Gebot: Du sollst dir kein Bildnis von mir machen. Elftes Gebot: Du sollst nicht lügen.
Zwölftes Gebot: Du sollst deinen Mitmenschen kein Leid zufügen.

Moses sagte den Leuten, jeder, der diesen Geboten zuwiderhandle, werde bestraft.
Nun, das ist die Version des Moses von der Geschichte. Aber wir wollen uns mal ein paar Geschichten von Leuten anhören, die Gottes Gebote übertraten. Und was passierte mit ihnen? Sie wurden reich und glücklich und berühmt!




2. KAPITEL


DAS ERSTE UND ZWEITE GEBOT:
Du SOLLST KEINE ANDEREN GÖTTER NEBEN MIR HABEN.
DU SOLLST DEN NAMES GOTTES, DEINES HERRN, NICHT MISSBRAUCHEN.


Die erste Geschichte handelt von einem Mann, der gleich zwei Gebote auf einmal brach, nämlich das erste: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Und das zweite: Du sollst den Namen Gottes, deines Herrn, nicht mißbrauchen.
Was die Geschichte besonders interessant macht, ist, daß dieser
Mann ausgerechnet ein Priester war.
Er hieß George.

Seit George ein kleiner Junge gewesen war, hatte er der katholischen Kirche angehören wollen. Er war sehr religiös. Er hätte nicht im Traum daran gedacht, eines der Zwölf Gebote zu brechen. Jeden Sonntag ging er zur Kirche, und er betete täglich.
Als er alt genug war, sagte er zu seinem Vater: „Ich möchte Priester werden."
Während die anderen Jungs alles mögliche anstellten, Fensterscheiben einschlugen, logen, schummelten und keinen Pfifferling auf die Gebote gaben, bemühte sich George eifrig, niemals Falsches oder Böses zu tun.
Als er achtzehn Jahre alt war, ging er, statt wie seine Schulfreunde aufs College, ins Priesterseminar und studierte Theologie.
Nun befanden sich dort natürlich alle Knaben zu dem Zweck,
Priester zu werden, und waren ohnehin schon alle gut, sanft und edelmütig, weil dies nun einmal zu Priestern so gehört. George jedoch ging selbst da allen auf die Nerven. Keiner der anderen Priesterschüler konnte ihn ausstehen, und selbst die Lehrer mochten ihn nicht. Warum? Weil er derart penetrant gut war.
Waren die anderen sanftmütig und nett, so war George noch sanftmütiger und netter.
Waren die anderen rein, so war George noch reiner. Waren die anderen heilig, so war George noch heiliger. Nicht einer hielt. es in seiner Nähe aus. Beging irgendeiner auch nur den kleinsten Fehler, war George schon an seiner Seite und sagte: „Das hättest du nicht tun dürfen. Das gefällt Gott gar nicht." Ihm konnte es keiner recht machen.
Gut, in einem Priesterseminar erwartet man nichts anderes, als daß alle mächtig heilig sind. Aber George war einfach zu heilig. Alle waren schon nervös, wenn er nur auftauchte. Jeder hatte Bammel davor, einen Fehler zu machen, wenn George nur in der Nähe war.

Als George mit seinem Studium fertig war, wurde er zum Priester geweiht. Es war der glücklichste Augenblick seines Lebens. Er reiste zu seinen Eltern zu Besuch. Sein Vater schmauchte gerade eine Zigarre.
„Du solltest nicht rauchen", sagte George. „Zigarren sind
Teufelskraut."
Seine Mutter saß vor dem Fernseher.
„Es ist Sonntag", sagte George. „Statt fernzusehen, solltest du in der Kirche sein und beten."
Sein kleiner Bruder sagte: „O Gott, ich hasse dieses Schönanziehen am Sonntag."
George war entsetzt. „Du hast das Wort >Gott< in den Mund
genommen! Niemals, nie sollst du den Namen Gottes, deines Herrn, fahrlässig aussprechen und mißbrauchen. Du wirst in der Hölle dafür bestraft werden!"
„Ich glaube nicht an die Hölle", sagte sein kleiner Bruder. „Kleiner Bruder, du bist ein Sünder! Ich werde für dich beten!" Er wandte sich an seine Eltern. „Ihr seid alle Sünder! Ich werde für euch beten!"
Sie konnten es alle gar nicht erwarten, bis George wieder wegfuhr.
Georges erste Pfarrei war in einer kleinen Stadt in Vermont. Dort gab es überhaupt nur diese einzige Kirche. Der vorige Priester war fortgegangen, und die Leute wollten rasch einen neuen haben. Der war George.
Sie freuten sich sehr darauf, ihren neuen Priester willkommen zu heißen. Aber schon nach einer Woche hätten sie ihn gern wieder losgehabt.
Zum katholischen Ritus gehört die Beichte. Die Leute knien sich in eine kleine Nische und reden mit dem Priester, der verborgen auf der anderen Seite sitzt. Sie beichten ihm ihre Sünden.
Nun war der vorige Priester ein sehr gütiger Mann gewesen. Beichtete ihm eines seiner Pfarrkinder seine Sünden, so sagte er: „Bete fünfzig Ave Maria, mein Sohn (oder meine Tochter), und deine Sünden sind dir vergeben."
Aber nicht so George. O nein. Die erste Beichte, die er hörte, war die eines jungen Mädchens, das in den Beichtstuhl kam und sagte: „Pater, ich habe gesündigt."
„Was hast du getan?" fragte George. „Mein Freund hat mich neulich zum Tanz ausgeführt, und wir haben Whisky getrunken, und dann habe ich mich von ihm anfassen lassen." George auf der anderen Seite des Beichtstuhlgitters schrie geradezu: „WAS HAST DU?"
Dem Mädchen verschlug es buchstäblich die Sprache.
„Wie konntest du das nur tun?" ereiferte sich George. „Weißt du denn nicht, daß Whisky das Getränk des Teufels ist? Und du läßt dich von einem Mann berühren? Von einem Mann, mit dem du nicht verheiratet bist? Du bist niedrig und böse! Verlasse sofort meinen Beichtstuhl!"
Das arme Mädchen war völlig verwirrt und lief weinend zu seiner Mutter nach Hause.
Der nächste, der in den Beichtstuhl kam, war ein schon älterer
Mann.
„Pater, ich habe gesündigt."
„Schande über dich!" sagte George. „Was hast du getan?" Der alte Mann war nicht daran gewöhnt, daß ein Priester so mit ihm sprach. Priester hatten mitfühlend und verständnisvoll zu sein.
„Ich bin arbeitslos", sagte der alte Mann. „Ich besitze keinen Pfennig, habe aber einen Enkel zu versorgen. Es war nichts Eßbares im Hause, und da habe ich auf dem Markt ein Brot gestohlen, damit ich meinem Enkelkind zu essen geben kann." „DU HAST BROT GESTOHLEN? DIEB!" „Aber mein Enkelkind..."
„Ich will keine Ausreden hören! Du hast das siebte Gebot gebrochen: Du sollst nicht stehlen! Ins Gefängnis muß man dich werfen!" Der alte Mann traute seinen Ohren nicht.
Das nächste Beichtkind war eine Frau. Sie sagte: „Pater, ich habe gesündigt."
George war bereits zornig. „Was ist mit euch Leuten hier eigentlich los? Habt ihr denn alle gesündigt? Warum könnt ihr nicht sein wie ich?"
Dann zwang er sich jedoch, sich zu beruhigen und sagte: „Also, erzähle mir deine Sünde. Ich hoffe nur, es ist nichts zu Ernstes."
„Nein, Pater, Ernstes ist es nicht. Ich bin verheiratet. Neulich
rief mich ein alter Freund von früher an. Aber ich wollte nicht mit ihm reden und legte auf. Als mein Ehemann fragte, wer das gewesen sei, sagte ich, falsch verbunden. Sie sehen, es war nur eine ganz kleine Sünde, aber..."
„Es gibt keine kleinen Sünden!" donnerte George. „Du bist eine Lügnerin! Gott vergibt Lügnern nicht!"
Sein Pfarrkind war geschockt. „Ich habe es doch nur um des Friedens in meiner Familie willen getan, Pater!"
„Gott kümmert nicht, warum du es getan hast. Er weiß nur, daß du gelogen hast!"

Jetzt, wo er seine eigene Pfarrei hatte, war George noch schlimmer, als er schon im Priesterseminar gewesen war. Er war derart rein und heilig, daß es nicht auszuhalten war. Bei seiner ersten Predigt von der Kanzel blickte er streng in die Runde und sagte: „Ich bin jetzt euer neuer Priester. Mein Name ist George. Ich bin ein reiner und frommer Mann. Wenn ich mir euch so ansehe, erblicke ich nichts als eine Kirche voller Sünder, ihr alle miteinander. Ihr seid böse, aber ich werde das ändern. Wenn ich erst mit euch fertig bin, werdet ihr alle gut und rein sein und im Lichte des Herrn leben."
Die nächste halbe Stunde verbrachte er damit, der versammelten Gemeinde tüchtig die Leviten zu lesen. Am Ende der Woche sehnte sich die gesamte Stadt nur noch danach, George möglichst schnell loszuwerden. Der Bürgermeister telefonierte persönlich mit dem Bischof. „Sie müssen diesen Mann hier wieder wegholen. Das ist ja ein Wahnsinniger." „Was hat er denn getan?"
„Er tut so, als wären wir alle Kriminelle. Alle lügen mal ein bißchen, stehlen mal eine Kleinigkeit, betrügen dann und wann ein klein wenig, gehen mal mit einer anderen Frau nebenhinaus oder kippen sich gelegentlich einen hinter die Binde. Aber wenn wir dann zur Beichte gehen und es diesem George gestehen, dann haben wir hinterher das Gefühl, daß wir nur noch Selbstmord begehen können. Sie müssen uns von dem Mann befreien. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie deprimiert wir alle sind."
Der Bischof bestellte George zu sich. George war über diese Ehre ganz begeistert.
Der Bischof sagte: „Setze dich, mein Sohn. Wie macht sich denn deine Priesterschaft so?"
„Ganz ausgezeichnet!" sagte George. „Ich wußte ja gar nicht, wie viele Seelen es zu retten gilt. Aber ich werde sie alle retten."
„Meinst du nicht, George", fragte der Bischof vorsichtig, „daß du vielleicht ein bißchen zu streng mit deinen Pfarrkindern umgehst?"
„Zu streng? Ich tue das Werk des Herrn! Ich werde sogar noch strenger werden! Ich werde ihnen solange im Genick sitzen, bis auch nicht eine Sünde mehr in dieser Stadt übrig ist." Der Bischof sah George nachdenklich an und wußte jetzt, warum ihn niemand ausstehen konnte. „Ich denke, mein Sohn, ich werde dich in eine kleinere Stadt versetzen", sagte er. George blickte überrascht auf. „Warum?"
„In kleinen Städten", sagte der Bischof taktvoll, „gibt es auch mehr Sünden. Sie brauchen mehr Hilfe."
Da hellte sich Georges Gesicht wieder auf. „Ah ja, gut! Wann fange ich an?"
„Auf der Stelle", sagte der Bischof und dachte kurz nach. „Da gibt es eine kleine Stadt oben in Maine. Die Pfarrei dort hat zwar nur hundert Pfarrkinder, aber sie braucht einen Priester. Dorthin schicke ich dich."
„Danke", sagte George. „Ich werde alles tun, um die Leute zu erretten."
Schon nach einer Woche bekam der Bischof auch einen Anruf vom Bürgermeister dieser kleinen Stadt in Maine.
„Der Priester, den Sie uns geschickt haben, ist ein Wahnsinniger! Holen Sie den nur ja schnell wieder weg!" Der Bischof sagte: „Was hat er denn getan?"
„Wir gehen die Woche über beichten, und er erzählt am Sonntag bei der Predigt alles, was wir gebeichtet haben! Schaffen Sie ihn weg!" Der Bischof schickte erneut nach George.
„George", fragte er ihn, „liebst du deinen Beruf?"
„O ja!" versicherte George. „Ich hatte keine Ahnung, wie viele Sünder es auf dieser Welt gibt, und ich werde nicht rasten und ruhen, bevor ich nicht auch den letzten Sünder errettet habe." Jetzt war auch dem Bischof endgültig klar, daß er es bei George mit einem hoffnungslosen Fall zu tun hatte.
„George, mein Sohn", sagte er, „ich glaube, ich habe eine bessere Verwendung für dich als in dieser kleinen Stadt in Maine. Wir haben da eine Gemeinde in einem kleinen Dorf in Afrika." „In Afrika?" sagte George stirnrunzelnd.
Der Bischof sagte: „Dort gibt es eine Menge Sünde!" Georges Gesicht hellte sich auf. „Ach so!"
„Ich schicke dich dorthin zusammen mit einem halben Dutzend weiterer Priester der Afrikahilfe. Jeder von euch bekommt eine Pfarrei in einem anderen Dorf."
George stand auf und sagte stolz: „Ich bin bereit."
„Gut", sagte der Bischof."Dein Flugzeug geht in zwei Tagen. Bis dahin kannst du noch einmal nach Hause."
„Ich freue mich auf meine Arbeit in Afrika", sagte George.
„Nur eines betrübt mich."
„Was denn?"
„Wie sehr meine Pfarrkinder hier mich vermissen werden."
George fuhr nach Hause, um sich auf die Reise nach Afrika vorzubereiten. Sein Vater sah gerade einen Pornofilm im Fernsehen an.
George sah es voller Ungläubigkeit, griff sich einen Hammer
und zertrümmerte das Fernsehgerät.
„Was hast du getan?" schrie sein Vater.
„Deine Seele vom Teufel errettet!" entgegnete George. „Oder hast du nicht gesehen, was der Mann und die Frau da gemacht haben?"
„Na selbstverständlich habe ich es gesehen", sagte sein Vater. „Was glaubst du, weshalb ich es anschaue? Was für ein Mann bist du eigentlich?"
„Ich bin mehr als ein Mann", erklärte George. „Ich bin Priester!"
„Na schön, du Priester, dann kannst du die Reparatur meines Fernsehers bezahlen. Wann reist du nach Afrika ab?" „Morgen", sagte George glücklich. „Gut!" sagte sein Vater noch glücklicher.

George traf sich voller Stolz mit den anderen sechs Priestern am Flughafen. Alle waren sehr aufgeregt und gespannt auf ihre neue Aufgabe.
„Viele dieser armen Leute dort haben nicht genug zu essen." „Zahlreiche sind krank und haben keine Ärzte, die sie behandeln."
„Sie haben unter einer Diktatur zu leiden und sind nicht frei." George aber sagte: „Hätten sie nicht die Zwölf Gebote gebrochen, wäre ihnen das alles nicht widerfahren. Sie sind alle Sünder." Die anderen Priester starrten ihn an.
Als sie das Flugzeug bestiegen, fand sich George bereits abseits und allein sitzend.
Sie flogen in einem heftigen Gewitter über die Berge am
Kilimandscharo und waren noch zwei Stunden von ihrem Zielort entfernt, als ein plötzlicher Blitzeinschlag ihr Flugzeug durch die Luft taumeln ließ. „Was ist passiert?" fragte einer der Priester. Das Flugzeug begann zur Erde zu stürzen.
„Wir stürzen ab", sagte einer der anderen Priester.
George aber erhob seine Stimme: „Ihr wollt Priester sein und habt keinen Glauben? Natürlich wird Gott uns nicht abstürzen lassen."
Zwei Minuten später waren sie abgestürzt. Das Flugzeug war in die Bäume gekracht und kam schließlich zum Stehen. Die Passagiere waren arg zerzaust, aber niemand war tot. Sie waren in einer abgelegenen Ecke des afrikanischen Dschungels in einem Kannibalengebiet heruntergekommen.
Die Kannibalen hatten noch nie ein Flugzeug gesehen. Sie sahen in Furcht erstarrt zu, wie der Riesenvogel vom Himmel fiel.
Die einzige Begegnung, die sie bisher mit einem Weißen gehabt hatten, war ein Forschungsreisender gewesen, den sie dann verspeisten, aber das war schon viele Jahre her. Er hatte ihnen zuvor noch etwas Englisch beigebracht. „Gott ist gekommen", sagte ihr Häuptling.
Sie beobachteten, wie die sieben Priester aus dem Flugzeug herauskamen. Sie wußten aber, nur einer von ihnen konnte Gott sein. Die anderen mußten seine Diener sein.
Als die Priester die Eingeborenen erblickten, waren sie hocherfreut.
George sprach zu ihnen: „Wir sind gekommen, meine Kinder, eure Seelen zu erretten. Deshalb hat Gott uns verschont. Wenn ihr uns ein Bett für die Nacht geben und uns morgen früh aus diesem Dschungel hier hinausführen wolltet, wären wir euch sehr verbunden." Die Eingeborenen starrten ihn an.
Der Häuptling winkte ihm. „Komm."
Die Priester folgten den Eingeborenen in deren winziges Dorf
aus Grashütten.
„Wir sind hungrig", sagte George.
„Wir auch", sagte der Häuptling und wandte sich an seine Leute: „Bindet sie."
Und so fanden sich die Priester zu ihrer Überraschung an Händen und Füßen gefesselt. Auf einem Dreifuß stand ein großer Kessel, in dem Wasser kochte.
Der Häuptling befühlte ihre Arme und Beine und' freute sich: „Ah, gutes Essen."
„Was reden Sie denn?" wollte George streng wissen. „Ich verlange, daß Sie uns auf der Stelle alle wieder freilassen!" Der Häuptling aber spuckte ihm nur ins Gesicht. „Du hältst den Mund, ja?" Er sah sich um. „Einer von euch ist der vom Himmel gekommene Gott und der soll uns führen und schützen. Die anderen essen wir."
„Ich erhebe Einspruch", sagte George. „Wir sind amerikanische Staatsbürger und -"
„Maul halten", wiederholte der Häuptling und spuckte ihn erneut an. Dann wandte er sich an den nächsten Priester. „Bist du der Gott, der gekommen ist, uns zu erretten?"
„Natürlich nicht", sagte der Priester. „Ich bin nur ein einfacher
Mensch, der -"
„Gut. Kochen!"
Die anderen Priester sahen mit Entsetzen zu, wie sie ihren Kollegen packten und in den großen, kochenden Kessel warfen. Seine Schreie waren schrecklich.
„Hören Sie mal", sagte George. „Sie glauben doch nicht, daß Sie damit durchkommen. Wir -"
„Maul halten." Der Häuptling spuckte und wandte sich dem
nächsten Priester zu. „Bist du Gott?"
„Nein."
„Kochen!"
Und so ging es weiter die Reihe durch. Jeden Priester fragte der Häuptling,. ob er Gott sei, und alle waren sie nicht bereit, das erste und zweite Gebot zu brechen: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben, und Du sollst den Namen Gottes, deines Herrn, nicht mißbrauchen.
Als auch der letzte zugab, nicht Gott zu sein, wurde er ebenfalls in den Kochkessel geworfen.
Jetzt war nur noch George übrig. „Bist du Gott?" fragte der Kannibalenhäuptling auch ihn.
George hatte sich die Todesschreie seiner sechs Kollegen anhören müssen. Er wollte zwar das erste und zweite Gebot nicht übertreten, aber andererseits auch nicht das Abendessen dieser Wilden werden. „Ja", sagte er also, „ich bin Gott."
Alle Eingeborenen verbeugten sich tief vor ihm. Sie schnitten seine Fesseln durch und kleideten ihn in ein prächtiges Stammesgewand.
Der Häuptling sagte: „Du sollst für immer hier bei uns leben und uns beschützen."
Und George bekam drei schöne Frauen, die bei ihm schliefen und ihm Nahrung aus dem Urwald und Obst von den Bäumen brachten. Den Rest seines Lebens verbrachte er froh und glücklich und wurde wie ein König behandelt.
Das ist die Geschichte von dem Mann, der nicht nur eines, sondern gleich zwei Gebote übertrat.
3. KAPITEL


DAS DRITTE GEBOT: DU SOLLST DEN FEIERTAG HEILIGEN.


Nun, was bedeutet das? Es bedeutet, man soll am Sonntag ruhen, an Gott denken und keine Geschäfte betreiben. Dies aber ist die Geschichte von Ralph, einem Mann, der das dritte Gebot brach und damit sehr reich wurde.
Ralph war der glückloseste Mann auf der ganzen Welt. Was er auch anpackte, ging schief. Er war ein guter Mensch, fleißig, ehrlich und anständig. Er war sehr verliebt gewesen in eine Frau, die dann mit seinem besten Freund durchging und diesen heiratete. Mit anderen, Worten, er hatte damit zugleich am selben Tag sein Mädchen und seinen besten Freund verloren. Eine Woche später überfuhr er seinen Hund, und noch ein paar Tage darauf starb seine Katze.
Er arbeitete in einer Fabrik, die bankrott machte. Danach arbeitete er in einem Textilgeschäft, das abbrannte.
Ist jetzt allmählich klar, warum ich sage, er war der glückloseste Mensch auf Gottes weiter Welt?
Es war gerade, als hätte Gott es auf den armen Ralph speziell abgesehen, um ihn für irgend etwas zu strafen.
Weil er kein Geld hatte, lebte Ralph bei seinen Eltern. Die waren sehr fromm. Sie glaubten an Gott und daran, daß man von ihm bestraft wurde, wenn man eines seiner Gebote übertrat. Und weil ihr Sohn ein solcher Pechvogel war, waren sie davon überzeugt, daß das nur daher kommen konnte, daß er die Gebote brach.
Eines Tages rief ihn sein Vater in die Bibliothek.
„Ralph, es ist nicht anders möglich, du tust offenbar Falsches
und Schlechtes. Ich habe noch keinen Menschen gesehen, der
so glücklos in seinem Leben ist wie du. Übertrittst du denn
eines der Gebote?"
„Nein, Vater."
„Bist du dessen auch sicher?' Nehmen wir doch einfach gleich
das erste Gebot: Du sollst keine anderen Götter neben mir
haben. Brichst du dieses Gebot?"
„Nein, Vater."
„Gut. Reden wir dann vom zweiten Gebot: Du sollst den
Namen Gottes, deines Herrn, nicht mißbrauchen. Hast du das
jemals getan, geflucht?"
„0 nein, Vater."
„Dann das dritte Gebot. Heiligst du den Feiertag?"
„Aber natürlich", sagte Ralph. „Jeden Sonntag gehe ich in die Kirche, und ich spiele am Sonntag nie und gehe auch nicht ins Kino oder tue sonst etwas, außer an Gott zu denken." Sein Vater nickte. „Und nun das vierte Gebot: Ehrst du Vater und Mutter?"
„Aber ja doch", bekräftigte Ralph. „Ich ehre euch alle beide." „Das fünfte Gebot", sagte sein Vater. „Du sollst nicht töten. Du hast doch wohl noch niemanden getötet, oder?"
„Aber Vater", sagte Ralph indigniert, „als würde ich jemals im Traum daran denken, jemanden zu töten!"
„Gut", sagte Ralphs Vater, „ich weiß, daß du die Wahrheit sagst, aber irgendwas mußt du falsch machen, sonst hättest du doch nicht dauernd soviel Pech! Wie steht es denn mit dem sechsten Gebot: Du sollst nicht ehebrechen? Na, das kannst du ja wohl nicht gebrochen haben, nachdem du gar nicht verheiratet bist."
Ralph dachte an seine Freundin und wie er sie verloren hatte. „Nein", bekräftigte er traurig, „bin ich nicht."
„Und was ist mit dem siebten Gebot, Du sollst nicht stehlen?" fragte der Vater unerbittlich weiter.
„Ich bin sehr ehrlich", antwortete Ralph."Ich habe in meinem ganzen Leben noch nichts gestohlen."
„Ich glaube es dir", sagte sein Vater. „Aber warum hast du dann soviel Pech?"
„Ich habe keine Erklärung dafür", sagte Ralph.
„Und das achte Gebot: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten. Wie steht es damit? Hast du je wider einen unserer Nachbarn falsches Zeugnis gegeben?" „Niemals", schwor Ralph.
Seinem Vater wurde alles noch rätselhafter. „Und was ist mit dem neunten Gebot: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus und Hab und Gut?"
Ralph war total überrascht. „Aber Vater, das Haus unseres Nachbarn ist eine heruntergekommene Bruchbude. Was sollte ich denn da begehren? Da drinnen möchte ich nicht mal wohnen."
„Und das zehnte Gebot: Du sollst dir kein Bildnis von mir machen?"
„Ich hab keinen Schimmer, wie man schnitzt oder bildhauert", sagte Ralph.
„Ich glaube dir, mein Sohn", sagte der Vater. „Wie aber steht es mit dem elften Gebot, Du sollst nicht lügen?" „Ich sagte dir doch, Vater, daß ich nie lüge."
„Nun gut, mein Sohn. Und was ist mit dem zwölften Gebot, Du sollst deinen Mitmenschen kein leid zufügen? Bist du manchmal in Schlägereien verwickelt?"
„Vater, wo ich doch keiner Fliege etwas zuleide tun kann! Ich weiß ja nicht einmal, wie man sich prügelt."
Ralphs Vater war nach diesem Gespräch nicht klüger als zuvor. Er war fest überzeugt, daß sein Sohn keines von Gottes Geboten gebrochen hatte.
Vielleicht, dachte er, war Ralph auch nur in der Vergangenheit ein Pechvogel, und es ändert sich von nun an, weil er ja alle
Gebote einhält und befolgt. Da muß er doch jetzt allmählich
mehr Glück haben.
Aber da irrte er sich.

Am nächsten Tag schüttete eine Serviererin Ralph, als er beim Essen in einem Restaurant saß, kochend heißen Kaffee über die Hand und verbrühte sie ihm. Ralph mußte in die Notaufnahme im Krankenhaus gebracht werden.
Dort rutschte er auf dem glattgebohnerten und gerade frisch gewachsten Boden im Korridor aus und brach sich ein Bein. Man legte ihn auf eine Bahre und trug ihn in ein Zimmer. Dort ließ der Pfleger die Bahre fallen und Ralph brach sich auch noch einen Arm.
Zwei Wochen lang lag er im Krankenhaus. Als er wieder heimkam, hatte er ein Gipsbein, einen Gipsarm, und seine Hand war auch noch immer verbunden.
Sein Vater war ganz verzweifelt und ging zu seinem Pfarrer. „Warum verfolgt meinen Sohn derart das Pech?" fragte er ihn. Und er erzählte dem Priester alle Mißgeschicke, die Ralph schon widerfahren waren.
Aber auch der Pfarrer schüttelte nur den Kopf. „Ich kann mir nichts anderes denken, als daß er eben eines von Gottes Geboten bricht."
„Nein", widersprach Ralphs Vater, „das kann nicht sein. Er hält jedes einzelne sorgsamst ein."
Der Pfarrer schüttelte noch einmal den Kopf. „Dann weiß ich auch keine Antwort."

Das Problem war, daß niemand eine Antwort wußte. Es stand in der Bibel geschrieben, wenn man alle Zwölf Gebote befolgte, konnte man ein glückliches und friedvolles Leben führen. Und was war? Da befolgte einer schon mal aufs Genaueste alle Zwölf Gebote, aber sein Leben war elend und

mies von vorne bis hinten!
Jeden Sonntag bestanden Ralphs Eltern darauf, daß er, obwohl nach wie vor in Gips und auf Krücken, aufstand und mit ihnen in die Kirche ging. „Wir möchten nicht", sagte seine Mutter, „daß Gott zornig auf dich wird."
„Zornig auf mich!" höhnte Ralph. „Ich bin doch schon die ganze Zeit sein Sandsack!" „Aber, aber! Sprich nicht so, mein Sohn! Und jetzt stehe auf und komme mit uns zur Kirche." Ralph hatte Schmerzen und fühlte sich überhaupt total schlecht, aber er gedachte des Gebots, daß man Vater und Mutter ehren muß, damit man lange lebe und es einem wohlergehe auf Erden, und kleidete sich in Gottes Namen an und kam mit zur Kirche. Dort saß er und hatte solche Schmerzen, daß er kaum wahrnahm, was der Pfarrer alles predigte.
Aber er gelobte: „Ich werde so lange jedes einzelne Gebot einhalten, bis diese Pechsträhne endlich einmal aufhört."

Zwei Monate später waren Ralphs Arm und Bein verheilt, und auch den Verband von der verbrühten Hand konnte man entfernen. Er konnte wieder zur seinem Arbeitsplatz zurückkehren, einem Videoladen.
Er kam zur Tür herein und sagte: „Da bin ich wieder." Aber der Geschäftsinhaber sagte: „Sie haben zu lange gefehlt, da mußte ich jemanden anderen einstellen. Sie sind entlassen." Das war wiederum noch längst nicht alles. Als er nach Hause zurückkam, fand er den kleinen Garten, den er angelegt hatte und sehr liebte, von irgendeinem Tier verwüstet.
Am Abend, als er zum Essen ausgegangen war, wurde ihm sein Auto gestohlen. Das bemerkte er allerdings erst drei Tage später, weil der Fisch, den er in der Gaststätte gegessen hatte, nicht mehr gut gewesen war und man ihn mit einer Fischvergiftung in ein Krankenhaus bringen und ihm den Magen auspumpen mußte. Seine Eltern besuchten ihn. „Was wird als nächstes passieren?" weinte seine Mutter. „Es kann nichts mehr passieren", sagte Ralph. „Von jetzt an kann es nur noch besser werden, alles."
Er verließ das Krankenhaus zwei Tage darauf, und als er die Straße überquerte, fuhr ihn ein Bus an.
„Jetzt ist es eindeutig!" rief sein Vater. „Du tust etwas, was Gott nicht gefällt!"
Sie gingen wieder alle Zwölf Gebote durch, konnten aber nichts finden, wogegen Ralph sich verging.
„Du mußt es einfach intensiver versuchen", sagte der Vater. Aber Ralph hatte es inzwischen satt. „Nein. Ich habe es jetzt lange genug intensiv versucht. Von nun an ist mir egal, was Gott mir antut."
Sein Vater war schockiert. „Sage so etwas nicht!" Er schickte einen Blick zum Himmel hinauf. „Der Blitz wird auf dich herabfahren."
„Das wäre auch das einzige", antwortete Ralph, „was Gott mir noch nicht angetan hat."
Er blieb die ganze Woche zu Hause und weigerte sich, auszugehen, um Arbeit zu suchen. „Wozu?" sagte er. „Ihr wißt doch genau, wie glücklos ich bin. Ich finde ja doch keine Arbeit, und auf dem Weg wird mich mit Sicherheit ein Auto überfahren."
Ralphs Vater wußte nichts zu entgegnen. Er war jetzt selbst überzeugt davon, daß sein Sohn recht hatte.
Am Sonntagmorgen sagte Ralphs Mutter: „Stehe auf, mein
Schatz, es ist Zeit für die Kirche."
„Ich will nicht zur Kirche gehen."
„Was soll das heißen, du willst nicht zur Kirche gehen? Wir gehen doch jeden Sonntag zur Kirche!"
„Und was hat es mir genützt?" sagte Ralph. „Ich bleibe heute zu Hause."
„Du kannst nicht zu Hause bleiben", erklärte ihm sein Vater. „Das dritte Gebot sagt -"
„Ja, ich weiß, was im dritten Gebot steht. Du sollst den Feiertag heiligen. Aber es ist mir egal. Ich bleibe heute den ganzen Tag im Bett."
Und nichts, was sie sagten, konnte ihn dazu bringen, seine Meinung zu ändern.
Schweren Herzens gingen Ralphs Eltern ohne ihn zur Kirche. „Das wirst du noch bereuen", warnte ihn sein Vater allerdings. „Schreckliche Dinge können geschehen, wenn man eines der Gebote bricht."
Aber Ralph sagte einfach nur: „Sollen sie doch geschehen. Ich fürchte mich nicht davor."
Er sah seinen Eltern nach, wie sie. das Haus verließen. Ich hätte schon mitgehen sollen, dachte er mit Schuldgefühlen. Tatsache war, daß er durchaus etwas nervös darüber war, das dritte Gebot zu brechen. Stets war er bisher am Sonntag zur Kirche gegangen.
Er merkte, daß er einfach zu unruhig war, um im Bett zu bleiben. Vielleicht gehe ich ein wenig spazieren, dachte er. Wollen doch mal sehen, was für Knochen ich mir heute brechen werde.
Er zog sich an und ging los. Es war ein schöner Frühlingsmorgen. Die Luft war frisch und klar. Er ging die Straße entlang und sah sich ständig nervös um, weil er darauf wartete, was ihm denn nun zustoßen werde, jetzt, wo er so offen das dritte Gebot übertrat.
Er stolperte über etwas und dachte: Aha, geht schon los. Doch als er auf den Gehsteig hinunterblickte, sah er, daß er über eine Brieftasche gestolpert war, die jemand verloren hatte. Neugierig hob er sie auf und schaute hinein. Die Brieftasche war voller Hundertdollarscheine. Aber es stand kein Name und keine Adresse in der Brieftasche. Ralph war ein ehrlicher Mensch und hätte sie zurückgegeben, wenn er nur gewußt hätte, wem und wohin.
Er zählte das Geld. Es waren fünftausend Dollar. Er konnte nicht glauben, was er für ein Glück hatte. Es war das allererste Mal, solange er denken konnte, daß er tatsächlich Glück hatte. Er steckte die Brieftasche ein und ging weiter. An der nächsten Ecke war ein Zeitschriftenladen, in dem auch Sofortlose der Lotterie verkauft wurden.
Man kaufte ein Los, riß es auf, und es kam eine Nummer zum Vorschein. Der Ladenbesitzer sagte zu Ralph: „Es sind neue Lotterielose herausgekommen. Möchten Sie vielleicht welche kaufen?"
Ralph zögerte. Er spielte niemals, schon, weil er sowieso verlor. Jetzt jedoch hatte er eine Brieftasche voller Geld und sagte: „Also gut, ich kaufe zehn."
Er kaufte die zehn Lose, und der Ladenbesitzer sah zu, wie er das erste aufriß und auf die Nummer schaute.
„Das ist ein Gewinnlos!" sagte der Mann. „Hundert Dollar." Ralph riß das nächste Los auf. „Noch ein Gewinn! Zweihundert Dollar!"
Jedes seiner zehn Lose gewann. Weder er noch der Ladenbesitzer konnten es recht glauben.
„Also, so etwas von Glückspilz wie Sie habe ich noch nicht erlebt", sagte der Mann zu Ralph.
Ralph hatte jetzt alle Taschen mit Geld vollgestopft. Und er dachte: Soviel Glück habe ich im ganzen Leben noch nicht gehabt. Wenn ich aber jetzt in der Kirche wäre, hätte das alles hier nicht passieren können.
Er kam am Büro einer Fluglinie vorbei. Spontan ging er hinein. „Ich möchte einen Hin- und Rückflug nach Las Vegas, bitte." Er bezahlte das Flugticket gleich in bar, damit er auf jeden Fall schon seinen Rückflug sicher hatte, falls er alles Geld in Las Vegas beim Spielen verlor.
Der Flug dauerte zwei Stunden.

Ralph war noch nie zuvor in Las Vegas gewesen. Als er am Flughafen ankam, war er überrascht, daß es schon dort Hunderte von Spielautomaten gab. Er nahm einige Münzen und steckte sie in einige dieser Automaten. Und die spuckten alsbald Geld für ihn aus.
Er nahm sich ein Taxi zu einem der Hotels. Der Spielsaal war voller Leute, die alle mit Karten spielten oder mit Würfeln oder an den Spielautomaten.
Er setzte sich auf einen freien Platz an einem Spieltisch. „Entschuldigen Sie", sagte er zu dem Angestellten, „kann ich hier spielen?" „Selbstverständlich, ja. Haben Sie Geld?"
Ralph holte sein Bargeld aus der Tasche und zeigte es her. Das Gesicht des Angestellten hellte sich sofort auf. „Aber natürlich, Sir! Kommen Sie hierher. Ein neuer Shooter kommt sofort. Wieviel möchten Sie denn setzen?"
Ralph hatte noch nie im Leben gespielt. Er hatte keine Ahnung,
was „ein neuer Shooter" bedeutete. (Es bedeutete, daß es um
den gesamten Einsatz ging.)
„Ich setze tausend Dollar", sagte er.
Der Mann gab ihm einige Chips und zeigte tausend Dollar auf seiner Tafel an.
Er warf eine Sieben. Vor Ralph häufte sich nun ein Stapel im Wert von zweitausend Dollar.
„Heißt das, ich habe tausend Dollar gewonnen?" fragte Ralph. „Richtig. Wollen Sie sie stehen lassen?"
Ralph hatte auch keine Ahnung, was „stehen lassen" bedeutete, aber er sagte einfach: „Sicher."
Der Mann warf die Würfel wieder, und sie ergaben eine Elf. Jetzt stapelten sich schon Chips für viertausend Dollar vor Ralph.
Wollen Sie die noch einmal stehen lassen?"
„Dieses Würfelspiel gefällt mir", sagte Ralph. „Ja."
Kurz, in der folgenden Stunde gewann Ralph über hunderttausend Dollar. Es war, als könnte er nichts falsch machen. Wie er auch setzte, gerade oder krumm oder aufs ganze Feld, er gewann jedesmal.
Einer der Geschäftsführer des Casinos kam und sagte zu Ralph: „Sir, wir haben einen privaten Spielsaal, wo die Einsätze höher sind. Wenn Sie dort gerne spielen möchten?" Nun war es dem Casino-Geschäftsführer jedoch in Wirklichkeit ziemlich egal, ob Ralph dort gerne spielen wollte oder nicht. Ihm ging es nur darum, daß Ralph in das Spiel mit den höheren Einsätzen einstieg, damit das Casino eine Chance hatte, das an ihn verlorene Geld wiederzubekommen. „Klingt gut", sagte Ralph.
Er folgte dem Casino-Geschäftsführer in das Hinterzimmer, wo ein Dutzend sehr wohlhabend aussehender Männer Poker spielten.
Ralph, der ja kein Spieler war, hatte noch nie im Leben Poker gespielt und hatte nicht die blasseste Ahnung, wie es ging. Aber er setzte sich an den Spieltisch.
„Das Ante ist fünftausend Dollar", sagte der Geber. „Was ist ein Ante?"
Die anderen Spieler lachten. Sie dachten, Ralph machte einen Scherz.
„Das ist das Geld, das man vor jedem Spiel herauslegt." „Aha", sagte Ralph und legte die erforderlichen fünftausend Dollar auf den Tisch.
Das Spiel begann. Und Ralph war noch erfolgreicher als zuvor am Würfeltisch. Was er auch machte, er verlor nicht. Einer der Spieler legte seine Karten offen. „Ich habe zwei Asse hier." Und er griff schon nach dem Einsatz.
„Augenblick", sagte Ralph. „Ich habe drei Damen." Und das
zählte mehr.
Bei der nächsten Runde sagte ein Spieler: „Ich habe ein Full House."
„Entschuldigung", sagte Ralph, „aber ich habe einen Royal Flush."
Ein Royal Flush, das sind fünf aufeinanderfolgende Karten derselben Farbe, ist höher als ein Full Hause (das sind drei Karten von derselben Farbe und dazu zwei von einer anderen). So gewann er Spiel um Spiel und konnte einfach nichts falsch machen. Hatte ein anderer Spieler ein schwaches Blatt, dann er ein starkes. Hatte ein anderer ein starkes Blatt, dann er ein noch stärkeres.
Als er schließlich aufhörte, besaß er zweihunderttausend Dollar in bar. Er. ging davon wie in Trance und wunderte sich, was da mit ihm passiert war.
Er ging in die Cafeteria des Hotels. Eine Bedienung kam und fragte:
„Was kann ich für Sie tun?" Er blickte hoch und sah sich dem schönsten Mädchen gegenüber, das er im Leben je gesehen hatte. Sie war jung und blond und so hübsch, daß ihm fast das Herz stehenblieb. Sie hatte eine enganliegende Uniform an und eine tolle Figur.
„Ich - ja ...", brachte Ralph gerade noch heraus. Er studierte die Karte. „Ach, ich nehme das Haschee."
Die Bedienung sah sich um, ob auch niemand in der Nähe war, und flüsterte ihm dann zu: „Nehmen Sie es nicht. Es ist nicht frisch. Aber die gebratenen Nudeln sind sehr gut."
„Oh, danke", sagte Ralph, „gut, dann geben Sie mir die gebratenen Nudeln."
Er sah ihr nach, wie sie davon ging, und konnte den Blick nicht mehr von ihr wenden.
Und sie hatte recht gehabt. Die Nudeln waren köstlich. Als er Geld aus der Tasche holte, um zu bezahlen, und sie sah, wieviel er hatte, sagte sie: „Oh, das sollten Sie aber nicht tun, soviel Geld mit sich herumtragen. Da nimmt es Ihnen schnell einer ab. Lassen Sie sich doch von der Kasse einen Scheck auf den Betrag geben, dann ist Ihr Geld sicher."
„Das ist sehr freundlich von Ihnen", sagte Ralph, „Frau.. ." „Fräulein. Miss Sally Morgan."
„Auch ich bin nicht verheiratet", sagte Ralph.
Sie lächelte ihn an. „Dann hat irgendein Mädchen bisher eine großartige Gelegenheit versäumt. Ich wette, Sie geben einen wundervollen Ehemann ab."
„Und ich wette", sagte Ralph, „daß auch Sie eine wundervolle
Ehefrau abgeben würden. Wann sind Sie hier fertig?"
„Um sechs."
„Darf ich auf Sie warten?"
Sie lächelte. „Gerne."
Ralph wartete also, bis ihre Arbeitszeit zu Ende war. Dann führte er sie zum Essen aus, und sie redeten und redeten miteinander, und es war, als hätten sie sich schon immer gekannt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sally war das liebste und wundervollste Mädchen, das Ralph je erlebt hatte. „Jetzt kennen wir uns erst ein paar Stunden", sagte er, „und doch, auch wenn es verrückt klingt, möchte ich dich schon heiraten."
Und Sally nickte. „Auch wenn es noch verrückter klingt, aber ich sage Ja. Ich wußte vom ersten Augenblick an, wo ich dich sah, daß ich dich liebe."
Ralph umarmte sie und sagte: „Dann wollen wir doch gleich einen Priester suchen."

In Las Vegas gibt es kleine Kirchen, in denen Tag und Nacht Trauungen vorgenommen werden. In einer davon heirateten Ralph und Sally.
„Jetzt fahren wir nach Hause", sagte Ralph. „Und ich stelle
dich meinen Eltern vor."

Ralphs Eltern waren schon völlig aufgelöst gewesen. Als sie von der Kirche zurückgekommen waren, war ihr Sohn verschwunden. Es war fast Mitternacht, als er wiederkam, und bei sich hatte er ein wunderschönes junges Mädchen. „Ich stelle euch hiermit meine Frau vor", sagte Ralph. Sie wußten nicht, wie ihnen geschah.
„Deine Frau? Wie kannst du dich verheiraten? Du besitzt doch keinen Cent! Und wir unterstützen dich nicht." „Braucht ihr auch gar nicht", sagte Ralph.
Und er zeigte ihnen seinen Scheck über zweihunderttausend Dollar. „Seht ihr das? Ich fange mein eigenes Geschäft an, und es wird sehr erfolgreich sein."
Und er fing sein eigenes Geschäft an, und es wurde sehr erfolgreich.
Auch Sally erwies sich als großartige Ehefrau. Fortan war Ralphs Leben einfach perfekt. Absolut perfekt.
Und das alles, weil er das dritte Gebot gebrochen hatte.




4. KAPITEL


DAS VIERTE GEBOT:
DU SOLLST VATER UND MUTTER EHREN/AUF DASS ES DIR WOHLERGEHE UND DU LANGE LEBEST AUF ERDEN.


Edward war Waise. Als er ein neugeborenes Baby in Philadelphia war, warf ihn seine Mutter in die Mülltonne, damit er dort starb. Zum Glück aber fand ihn, ein Polizist, der ihn weinen hörte, holte ihn heraus und brachte ihn eilends in ein Krankenhaus, wo man ihn gerade noch rettete.
Niemand wußte, wo seine Mutter oder wer sein Vater war. Den einzigen Hinweis gab die Decke, in die er eingewickelt gewesen war und auf der der Name EDWARD BIXBY geschrieben stand. Die Polizei versuchte, die Eltern zu finden, um sie wegen versuchten Mordes zu belangen, aber ohne Erfolg.
Edward wurde also in ein Waisenhaus gesteckt, wo er aufwuchs. Doch es war ein sehr hartes Leben. Nie gab es genug zu essen, und die anderen Waisenkinder in dem Heim waren gemein und niederträchtig zu ihm.
Ab und zu kam ein Priester und sprach mit ihnen.
Und er brachte ihnen die Zwölf Gebote bei. Als das vierte an der Reihe war, verwirrte dies Edward einigermaßen. Wie sollte er Vater und Mutter ehren, wenn er keine blasse Ahnung hatte, wer und wo sie waren?
Als er siebzehn Jahre alt war, ließ ihn die Waisenhausdirektorin in ihr Büro kommen.
„Edward", sagte sie, „morgen ist dein siebzehnter Geburtstag." „Ja, Frau Direktor."
„In unserem Waisenhaus gilt die Regel, daß Kinder über siebzehn nicht mehr bei uns bleiben können. Wir müssen dich also jetzt in die Welt hinausschicken."
Nun hatten die meisten Kinder Angst vor diesem Tag, an dem sie in die Welt hinausgeschickt wurden, von der sie überhaupt nichts wußten und kannten. Aber nicht so Edward. Im Gegenteil, er war sehr aufgeregt und gespannt. Der Grund dafür war, daß er sich seinen lebenslangen Traum erfüllen konnte: nach seinen Eltern zu suchen und sie zu finden. „Du warst ein guter und anständiger Junge, Edward. Wir sind stolz auf dich und werden dich hier vermissen."
„Sie werden mir auch fehlen", log Edward. Denn in Wirklichkeit konnte er es kaum erwarten, daß er endlich fort durfte.
Am nächsten Tag verabschiedete Edward sich von allen und machte sich auf, seine Eltern zu suchen. Aber er wußte schon, daß es nicht leicht sein würde. Zuerst suchte er den Priester auf.
„Ich möchte ja meinen Vater und meine Mutter ehren", sagte er, „aber das kann ich nicht, weil ich nicht weiß, wer und wo sie sind. Können Sie mir da helfen?"
Der Priester dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. „Das wird sehr schwierig sein, Edward", sagte er. „Niemand hat sie je gesehen."
„Hat sie denn nicht jemand gesehen, wie sie mich zum Waisenhaus gebracht haben?" fragte Edward.
Der Priester beschloß, Edward sei alt genug, um die Wahrheit zu erfahren.
„Sie haben dich nicht ins Waisenhaus gebracht. Sie haben dich in eine Mülltonne geworfen. Dort hat dich ein Polizist gefunden und ins Krankenhaus gebracht."
Edward starrte ihn an. „In eine Mülltonne? Sie haben mich in eine Mülltonne geworfen und wollten mich dort sterben
lassen?"
„So war es wohl, ja."
Edward war völlig schockiert.
„Sicher war das nur, weil sie keine Möglichkeit hatten, dich zu behalten", versuchte ihn der Priester zu trösten. „Vermutlich waren sie sehr arm."
Aha, also sehr arm waren sie. Zumindest wußte Edward schon mal dies über sie.
„Man hat mir gesagt, mein Name war in meine Decke eingenäht. Edward Bixby."
„Ja, das stimmt. Die Polizei hat lange gesucht, um deine Eltern zu finden, aber vergeblich."
„Ich finde sie", erklärte Edward entschlossen:"Und wenn es das letzte ist, was ich tue. Aber ich finde sie."

Er begann mit seiner Suche. Als erstes schaute er im Telefonbuch nach, ob es darin Leute mit dem Namen Bixby gab. Es standen ein halbes Dutzend Bixby darin. Der erste Bixby war ein Arzt.
Ich wette, dachte Edward, das ist mein Vater. Er war wahrscheinlich damals sehr arm und hatte kein Geld, um mich zu behalten. Aber jetzt wird er sich freuen, mich zu sehen.

Er ging in die Praxis des Arztes. „Ich möchte zu Dr. Bixby." „Haben Sie einen Termin?"
„Nein", sagte Edward, „aber er wird sich freuen, mich zu sehen. Sagen Sie ihm, sein Sohn ist da." Die Arzthelferin starrte ihn an. „Sein Sohn?" „Ja", sagte Edward. „Augenblick."
Die Arzthelferin verschwand im Sprechzimmer.
Im nächsten Augenblick kam der Doktor heraus. Er war sehr groß und sah gut aus, aber er war ein Farbiger.
Edward stand da wie angewurzelt. „Sie wollten zu mir?" fragte der Arzt.
Edward schluckte. „Äh nein, Sir, ich. " ich glaube doch nicht.
Auf Wiedersehen."
Er flüchtete.

Der nächste Bixby auf seiner Liste wohnte in einem Haus am Stadtrand. Es war ein schönes Haus, und Edward merkte, wie sein Herz schneller zu klopfen begann. Der Besitzer eines solchen Hauses mußte reich sein.
Das müssen meine Eltern sein, dachte er. Sie waren arm, als ich auf die Welt kam, aber jetzt haben sie Geld, und wahrscheinlich haben sie schon nach mir gesucht.
Er klingelte an der Haustür. Ein Hausmädchen in
Personalkleidung öffnete.
„Ja, bitte?"
„Ja ...", sagte Edward, „... ich bin hier, um meine Mutter zu besuchen."
Das Hausmädchen starrte ihn an. „Ihre Mutter?" „ Ja. Mrs. Bixby. Ich bin Edward Bixby."
„Sind Sie sicher, daß Sie an der richtigen Adresse sind?" fragte
das Hausmädchen unsicher.
„Ganz sicher", sagte Edward.
Er wußte tief im Herzen, daß er hier richtig war.
„Augenblick", sagte das Hausmädchen, „ich hole Mrs. Bixby." Edward wartete aufgeregt. Endlich würde er seiner Mutter von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.
Kurz danach erschien eine junge Frau. Sie mochte an die fünfundzwanzig sein. „Sie wollten mich sprechen?" fragte sie.
„Nein, Madame, ich möchte Mrs. Bixby sprechen." „Ich bin Mrs. Bixby."
Edward starrte sie verständnislos an. „Das kann nicht sein. Ich
meine Sie sind zu jung, um meine Mutter zu sein!" „Das würde ich auch annehmen", sagte die Frau. „Sie meinen, Sie wissen nicht, wer Ihre Mutter ist?"
„Nein", sagte Edward, „aber ich finde sie schon."

Er suchte auch alle anderen Bixby-Adressen aus dem Telefonbuch auf, aber er hatte kein Glück. Entweder waren sie zu jung oder zu alt oder hatten die falsche Hautfarbe. Aber veranlaßte dies Edward, aufzugeben? Absolut nicht! Im Gegenteil, er war nun noch entschlossener denn je, seine Eltern zu finden, damit er sie ehren konnte.

Er begann im ganzen Land herumzureisen und in allen möglichen Städten nachzuforschen. Überall schaute er ins Telefonbuch und suchte den Namen Bixby.
In Florida hatte Edward schließlich Glück. Dort stand im Telefonbuch der Name Edward Bixby. Sein Herz begann heftig zu klopfen. Wahrscheinlich hatte ihm sein Vater seinen eigenen Namen gegeben.
Er begab sich zu der Adresse, die im Telefonbuch stand. Es war ein riesiges Haus auf einem großen Grundstück.
Edward klingelte. Die Tür ging auf, und ein Butler sagte: „Ja, bitte?"
„Tag", sagte Edward."Ich möchte zu Mr. Bixby." „Treten Sie näher", sagte der Butler. Edward trat in die riesige Eingangshalle.
Gleich darauf erschien ein grauhaariger und elegant aussehender Mann.
„Guten Tag", sagte er, „was kann ich für Sie tun, junger Mann?"
„Ich suche nach meinen Eltern", sagte Edward.
Der Mann musterte ihn kurz. „Kommen Sie mit, wir gehen in die Bibliothek."
Dort setzten sie sich, und Edward erzählte Mr. Bixby seine Geschichte. Als er fertig war, sagte der alte Mann: „Ja, ich hatte einen Sohn namens Edward, aber der kam bei einem Flugzeugabsturz um. Seitdem bin ich allein." Er beugte sich zu Edward vor und sagte: „Du gefällst mir, Junge. Ich habe keinerlei Angehörige mehr. Möchtest du vielleicht den Platz meines Sohnes einnehmen ?"
Edward dachte darüber nach. Es bedeutete, daß er hier in diesem schönen Haus leben könnte und viel Geld hätte. Aber es war nicht das, was er eigentlich wollte. Er wollte seine richtigen Eltern finden.
„Vielen Dank", sagte er. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich muß meine Suche fortsetzen."
Mr. Bixby nickte. „Das verstehe ich. Viel Glück."

In Washington fand Edward im Telefonbuch einen General Bixby. Er suchte ihn in seinem Büro auf.
Eine Sekretärin im Vorzimmer fragte: „Kann ich Ihnen
helfen?"
„Ja. Ich möchte zu meinem Vater."
Die Sekretärin schien nicht weiter überrascht zu sein. „Kleinen Moment, bitte."
Sie sagte in die Sprechanlage: „Ihr Sohn ist hier, Herr General, und möchte Sie sprechen."
Die Stimme des Generals dröhnte: „Soll reinkommen!" Edward ging hinein. Hinter dem Schreibtisch saß ein grauhaariger Mann mit einem Schnurrbart. „Wer sind Sie?" fragte er. „Edward Bixby." „Guten Tag, mein Sohn. Willkommen."
Also habe ich ihn nun doch endlich gefunden, dachte Edward.
Sein Herz klopfte wild.
„Guten Tag, Vater. Danke."
„Setz dich."
Edward setzte sich in den Sessel vor dem Schreibtisch. „So, also lernen wir uns nun endlich kennen." „Ja, Sir."
„Und wie geht es deiner Mutter?" erkundigte sich der General. „Meiner Mutter? Ich ... ich weiß nichts von ihr, gar nichts." „War sie diese Französin? Oder die Italienerin?" „Ich verstehe nicht", sagte Edward.
„Als ich im Krieg und danach in Europa war", sagte der General, „war ich in vielen Ländern stationiert, und da kannte ich viele Frauen. Es gibt vermutlich Kinder von mir in Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, Rumänien und Ungarn. Es ist ganz einfach, herauszufinden, wer deine Mutter war. Welche von diesen Sprachen sprichst du?" Edward starrte ihn an. „Gar keine."
„Was denn? Du bist in keinem von diesen Ländern
aufgewachsen?"
„Nein", sagte Edward.
„Dann bist du auch nicht mein Sohn", stellte der General kühl fest. „Sondern ein Hochstapler. Scher dich hinaus!"
Edward war am Boden zerstört, aber er blieb eisern entschlossen, seinen Vater und seine Mutter zu finden, damit er sie ehren konnte.

Eines Abends vergaß er, wie deprimiert er war, und ging ins Kino. Im Vorspann des Films tauchte ein Name „Alan Bixby" auf. Edward war sofort wieder elektrisiert. Der Schauspieler, den er dann sah, glich ihm fast aufs Haar. Er hatte das gleiche Kinn, die gleiche Nase und den gleichen Mund wie er. Das ist mein Vater, dachte er. Endlich habe ich ihn gefunden. Gleich am nächsten Morgen reiste er nach Hollywood, fand heraus, bei welcher Filmgesellschaft Alan Bixby arbeitete und ging dorthin.

Aber der Pförtner wollte ihn nicht hineinlassen. „Mr. Bixby empfängt keine Besuche", sagte er.
„Mich schon", erklärte Edward. „Er ist mein Vater." Da wurde der Pförtner sofort freundlich. „Das tut mir leid, das ist natürlich etwas anderes", sagte er. „Ich sage ihm Bescheid, Augenblick."
Gleich danach wurde Edward zu Alan Bixbys Garderobe geführt. Bixby war gerade dabei, sich zu schminken. Er hatte einen purpurroten Seidenmorgenrock an.
„Mein lieber Junge", sagte er, „was kann ich für dich tun?" In natura klang seine Stimme sehr viel schriller und höher als auf der Kinoleinwand.
„Ich glaube, ich bin dein Sohn", sagte Edward.
Der Schauspieler musterte ihn kurz und sagte dann: „Wie nett. Das kann gut sein."
Edward war begeistert. „Überall, Vater, habe ich nach dir gesucht."
Der Schauspieler sagte munter: „Wie schön. Und jetzt hast du
mich gefunden."
„Ja."
Alan Bixby sah auf die Uhr. „Ich muß in ein paar Minuten die nächste Szene drehen, aber du kannst es dir ja inzwischen bequem machen. Sobald ich fertig bin heute nachmittag, nehme ich dich mit zu mir nach Hause. Gefällt dir das?" „O ja, natürlich!" sagte Edward glücklich.
„Wir werden uns prächtig amüsieren miteinander", versprach ihm Alan Bixby.
Die Tür ging auf, und ein junger Mann kam herein. Er hatte
Lidschatten auf den Augen und küßte Alan Bixby auf den
Mund.
„Tag, Liebling."
„Du bist spät dran", beklagte sich Alan Bixby. „Du schlimmer, schlimmer Junge!"
Edward traute seinen Augen nicht. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen, daß Alan Bixby ganz bestimmt noch nie ein Kind gezeugt hatte.
Der Schauspieler wandte sich an ihn. „Also, ich muß jetzt los, aber warte hier, bis ich wiederkomme."
Doch als Alan Bixby wiederkam, war Edward längst fort. Zum erstenmal begann Edward das Gefühl zu haben, daß er wohl doch niemals an sein Ziel gelangen werde. Jetzt war er schon kreuz und quer durchs Land gezogen, aber er hatte keine Spur von seinem Vater und seiner Mutter gefunden.
Und dann kam ihm doch unerwartet das Schicksal zu Hilfe. Er saß in einer Gaststätte beim Essen, als er am Nebentisch Stimmen hörte. Er wandte sich um und sah hin. An dem Tisch saß ein halbes Dutzend Männer. Sie wirkten wie rauhe Gesellen und redeten ungeniert und laut.
Einer sagte: „Dann haben sie mich eingebuchtet, aber sie konnten mir nichts nachweisen. Bixby hat schon recht gehabt, das Ding war bombensicher."
Als Edward den Namen Bixby hörte, riß es ihn, und er beugte sich weit vor, um besser zu hören.
„Die Beute von dem Ding muß uns eine coole halbe Million gebracht haben. Und die Bankleute haben gar nicht recht mitgekriegt, wie ihnen geschah."
Edward lauschte angestrengt, aber der Name Bixby fiel nicht mehr.
Als die Männer fertiggegessen hatten und sich zum Gehen anschickten, eilte Edward an ihren Tisch.
„Entschuldigung", sagte er zu dem Mann, der die meiste Zeit geredet hatte, „könnte ich Sie wohl einen Augenblick sprechen?"
Der Mann war groß und sah gefährlich aus. „Nein", sagte er und ging.
„Warten Sie doch", rief Edward verzweifelt. „Sie haben den
Namen Bixby erwähnt."
Der Mann fixierte ihn. „Und?"
„Ich heiße auch Bixby", sagte Edward.
„Das kann schon sein."
„Ich suche meinen Vater, wissen Sie", sagte Edward drängend. „Ich dachte mir, daß der Mann, von dem Sie gesprochen haben, vielleicht mein Vater ist."
„Zweipistolen-Bixby dein Vater? Junge, du hast sie nicht alle." „Ich weiß ja, daß es weit hergeholt scheint", räumte Edward ein, „aber sehen Sie, es war so, meine Mutter und mein Vater ließen mich vor achtzehn Jahren im Waisenhaus." (Er wollte nicht gleich zugeben, daß sie ihn in eine Mülltonne geworfen hatten.)
Der große Kerl musterte ihn eindringlich. „Vor achtzehn Jahren?" Er wandte sich an seine Kumpane. „War das nicht vor achtzehn Jahren, als Zweipistolen und Molly einen Bankert hatten?"
„Ja", sagte einer. „Den haben sie dann irgendwo liegen lassen." Der Große sah Edward nun mit anderen Augen an. „Und woher weißt du, daß du Bixby heißt?" fragte er.
„Weil man mich in eine Decke eingewickelt fand, in der dieser Name stand."
„O Gott", sagte der Große, „ich glaube fast, wir haben tatsächlich den Bankert von Zweipistole vor uns."
„Sind meine Mutter und mein Vater noch am Leben?" fragte Edward eifrig.
„Ja, sind sie. Wenn ich mir dich so anschaue, könnte es glatt sein, daß du von deinem Vater die Nase und von deiner Mutter die Augen hast."
Edward konnte sein Glück nicht fassen. Da hatte er am Ende doch noch seine Eltern gefunden! Und konnte sie nun ehren. „Könnten Sie mich wohl zu ihnen bringen?" fragte er. Der Große zögerte. „Ich weiß nicht recht", sagte er. „Vielleicht
zeige ich dir besser erst mal ein Foto von ihnen." Edward nickte eifrig. „O ja, bitte."
Der Große wandte sich an die anderen. „Geht schon mal voraus. Ich komme später. Und sorgt dafür, daß der Wächter erst ausgeschaltet ist, bevor ihr reingeht."
Edward war nicht so ganz klar, wovon da die Rede war. Der Große wandte sich wieder ihm zu. „Na los, komm." Zu Edwards Überraschung führte ihn der Mann in ein Postamt. „Arbeitet mein Vater denn bei der Post?" fragte Edward. Da lachte der Große. „Nein."
Er führte ihn zu einer Wand, an der Steckbriefe hingen. Dazwischen war auch einer von einem Mann und einer Frau. Und darunter stand ein Text.

Edward „Zweipistole" Bixby und Molly Bixby, gesucht in sieben Staaten wegen Mordes und in zehn Staaten wegen Raubüberfällen auf Postämter.
250000 Dollar Belohnung.

Edward stand wie angewurzelt vor dem Plakat.
„Das sind deine Mutter und dein Vater", sagte der Große. „Willst du sie jetzt immer noch sehen?" Edward schluckte nervös. „Aber natürlich."
„Na gut, meinetwegen, dann bringe ich dich jetzt zu ihrem Versteck." Das Versteck war eine Hütte in den Bergen.
Als der Große mit Edward ankam, machte ein Mann die Tür auf, dessen Foto Edward in dem Postamt gesehen hatte. Er hielt eine Pistole in der Hand.
„Wen zum Teufel schleppst du denn da an?" sagte er zu dem
Großen.
„Deinen Sohn, glaube ich."
„Meinen was?" Zweipistole starrte Edward verwundert an.
„Wie heißt du?"
„Edward."
„Wie alt bist du?"
„Achtzehn."
„Vor langer Zeit habe ich mal gesehen, daß die Bullen dich gefunden und in ein Waisenhaus gebracht haben. Stimmt das?" „Ja, ganz genau. Dieses Jahr bin ich dort ausgeschieden." „Da kriegst du doch die Tür nicht zu", sagte Zweipistole und klopfte Edward auf die Schulter. „Na, dann willkommen, Sohn. Komm rein."
Aus einem anderen Raum kam Molly. Sie war fett und häßlich,
und ihre Haare waren schmutzig und zerzaust. Und betrunken
war sie obendrein.
„Wer ist'n das?" wollte sie wissen.
„Unser Bankert", sagte Edwards Vater.
Das Wiedersehen war nicht unbedingt so, wie Edward es sich die ganze Zeit über vorgestellt hatte, aber immerhin hatte er seine wirklichen Eltern gefunden, und er wußte, ganz gleich, wer und wie sie waren, daß sie ihn damals ausgesetzt hatten, weil sie dazu gezwungen waren. Wahrscheinlich waren sie auf der Flucht vor der Polizei gewesen und in Gefahr und wollten nicht, daß ihrem Kind etwas passierte. Indem sie ihn verließen, brachten sie sicher ein großes Opfer. Also war Edward bereit, sie zu lieben und zu ehren, wie es die Bibel verlangte. „Ich kann mir denken, wie schwer es für euch gewesen sein muß", sagte er zu ihnen, „mich auszusetzen. Es muß ein großes Opfer für euch gewesen sein, mich aufzugeben und -" „Was war es?" platzte seine Mutter lachend heraus. „Ein Opfer? Dir geht's wohl nicht gut, was? Junge, ein Unfall warst du, sonst nichts. Ich wollte dich von Anfang an nicht haben. Und deshalb habe ich dich gleich nach der Geburt in die nächste Mülltonne abgeladen. Was willst du hier? Kommst
hier angetanzt und fällst uns auf den Wecker!"
„Wahrscheinlich will er Geld", sagte Zweipistole.
„Nein, nein", sagte Edward, „ich habe euch nur überall gesucht, weil ich meine Mutter und meinen Vater kennenlernen wollte."
„Na gut, jetzt hast du sie kennengelernt", sagte seine Mutter. „Und jetzt kannst du wieder abzischen. Und laß uns in Zukunft in Ruhe."
Zweipistole wandte sich an den Großen. „Schaff ihn weg." Edwards gesamte Welt brach zusammen. Jetzt hatte er endlich, endlich seine Eltern ausfindig gemacht und versuchte das vierte Gebot zu befolgen, und was hatte er davon? Gar nichts. Nun ja, nicht so ganz. Denn nachdem er die Hütte verlassen hatte, ging er zurück zu dem Postamt und sagte den Leuten, wo Zweipistole und Molly sich versteckt hielten. Und kassierte die Viertelmillion Belohnung dafür. Damit ging er nach Frankreich und führte dort fortan das schönste Leben.




5. KAPITEL


DAS FÜNFTE GEBOT: DU SOLLST NICHT TÖTEN.


Roger Jones war ein frommer Mann. Er war sogar sehr fromm. Er ging jeden Sonntag in die Kirche und befolgte alle Zwölf Gebote. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, jemals eines zu übertreten, ganz besonders nicht das sechste: Du sollst nicht töten.
Das heißt, er hätte niemals im Traum daran gedacht zu töten - bis er verheiratet war. Seine Frau Louise war sehr nett. Sie liebte Roger, und Roger liebte sie. Das Problem in seiner Ehe war nicht Louise. Sondern ihre Mutter.
Seine Schwiegermutter hieß Sarah, und sie war der allerunmöglichste Mensch, den Roger je erlebt hatte. Sarah hatte nicht gewollt, daß ihre Tochter Roger heiratete. Sie hatte vielmehr gewollt, daß ihre Tochter einen bedeutenden Mann heiratete, und das war Roger nicht.
Am Tag ihrer Hochzeit sagte Sarah zu ihrer Tochter: „Ich habe es mir überlegt und werde zu euch ziehen. Ich will sichergehen, daß Roger dich auch gut behandelt."
Roger war nicht glücklich über diese Neuigkeit. „Wir haben doch nur ein kleines Häuschen", sagte er. „Wo sollen wir sie da denn unterbringen ?"
„Wir geben ihr das Gästezimmer", sagte Louise.
Noch am selben Nachmittag zog seine Schwiegermutter Sarah ein. Sie warf einen Blick in das Gästezimmer und sagte: „Das ist zu klein für mich. Ich nehme das große Schlafzimmer." „Und wo schlafen wir?" fragte Roger. „Im Gästezimmer", sagte Sarah.
Das war erst der Anfang.

Rogers Schwiegermutter kritisierte buchstäblich alles, was er tat. Beim Frühstück sagte sie: „Du solltest keine Eier mit Speck essen. Das ist ungesund für dich." „Aber ich mag Eier mit Speck."
„Von jetzt an", sagte Sarah, „wirst du nur gesunde Speisen essen." Und Roger bekam nie mehr Eier mit Speck.
Sarah gefiel auch nicht, wie sich Roger anzog.
„Von jetzt an gehst du im dunklen Anzug ins Büro und mit Hemd und Krawatte."
„Aber alle kleiden sich bei uns leger", sagte Roger. „Keiner trägt Krawatten." „Aber du wirst sie tragen", entschied Sarah.
Also ging Roger fortan mit weißem Hemd und Krawatte ins Büro.
Als sich Roger eines Abends einen Scotch mit Soda genehmigte, sagte Sarah: „Ab sofort wird in diesem Haus nicht mehr getrunken." Und sie schaffte sämtliche Flaschen mit Alkohol fort.
Das war noch lange nicht das Schlimmste. Sarah wurde nicht müde, ihrer Tochter unaufhörlich vorzuwerfen, was für eine schlechte Wahl sie doch getroffen habe.
„Du hättest leicht einen heiraten können, der besser aussieht
und reicher ist und bedeutender."
„Aber ich liebe Roger", sagte Louise.
„Ach, du weißt doch gar nicht, was Liebe ist, Kind. Ich muß einen besseren Mann für dich finden."
„Was redest du denn da, Mutter? Ich bin mit Roger verheiratet."
„Na und? Man kann sich scheiden lassen", sagte ihre Mutter. „Ich will mich aber nicht scheiden lassen."
„Papperlapapp. Das werden wir schon sehen."

Sobald Roger aus dem Büro nach Hause kam, begann seine Schwiegermutter, an ihm herumzunörgeln.
„Warum verdienst du nicht mehr Geld?" fragte sie.
„Ich habe doch ein gutes Gehalt. Louise und ich sind ganz zufrieden."
„Aber ich nicht! Ich möchte in einem größeren Haus wohnen. Du solltest dir überlegen, ob du nicht eine andere Stellung brauchst."
„Ich will keine andere", sagte Roger. „Mir gefällt es da, wo ich bin."
„Weil du nichts anderes kennst", nölte seine Schwiegermutter. Keinen Moment lang ließ Sarah die beiden allein.
Immer war sie da und redete und redete, und sie hatten keinen Augenblick ihre Ruhe.
Louise war genauso unglücklich über alles wie Roger. „Wir sollten sie vielleicht doch überreden, daß sie wieder auszieht", sagte Roger.
„Das kann ich nicht machen, Schatz. Sie ist schließlich meine Mutter."
„Dann laß es mich wenigstens versuchen", sagte Roger. Er ging zu Sarah. „Was würdest du davon halten", fragte er, „eine eigene Wohnung für dich allein zu haben? Ich bezahle gerne die Miete dafür."
Sarah schüttelte heftig den Kopf. „Nein, nein, nein, kommt gar nicht in Frage. Ich bleibe hier, wo ich ein Auge auf meine Tochter haben kann. Sie braucht mich."
„Sie ist ein erwachsener Mensch", wandte Roger ein. „Sie
braucht dich nicht mehr."
„Das zu beurteilen, überlasse mir!"

Als Roger zu dem Urteil gelangt war, nun könne es nicht mehr

schlimmer werden, wurde es erst recht schlimm.
Er hatte seinen Chef zum Essen eingeladen. Roger war stolz auf seine Kochkünste und wollte dieses Essen selbst zubereiten. Er machte eine wundervolle Gemüsesuppe, einen Hackbraten mit Kartoffelbrei und backte einen Apfelkuchen. Er war sehr zufrieden mit seinem Essen.
Sein Chef kam pünktlich. Er sah sich um und sagte: „Da haben
Sie aber ein hübsches Haus, Roger."
„Es ist zu klein", sagte Sarah.
„Jetzt wäre etwas zu trinken recht", sagte der Chef. „Es tut mir leid", antwortete Roger, „aber wir haben keine Alkoholika im Haus." Der Chef zeigte sich überrascht. „Was?"
„Es ist angerichtet", erklärte Roger. „Darf ich zu Tisch bitten." Louise servierte, was Roger gekocht hatte. Es begann mit der Suppe. Der Chef probierte sie. „Ganz köstlich."
„Sie ist zu salzig", beschwerte sich Sarah. „Roger salzt alles, was er macht, viel zuviel.."
Der nächste Gang war der Hackbraten mit dem Kartoffelbrei. „Das ist wirklich der beste Hackbraten, den ich je gegessen habe", sagte der Chef.
„Dann wissen Sie aber nichts über gutes Essen", sagte Sarah.
„Es schmeckt doch scheußlich."
„Der Kartoffelbrei ist sehr gut."
„Er ist viel zu klumpig."
So ging es das ganze Essen hindurch. Sarah machte einfach alles herunter.
Ich bringe sie um, dachte Roger. Und er erschrak über seinen eigenen Gedanken. Töten verstieß doch gegen das Fünfte Gebot. Und trotzdem...
Jeden Nachmittag ging Sarah aus und kaufte Sachen ein, Kleider und Taschen und Schals und Schuhe, und gab eine Menge Geld dafür aus. Das wäre Roger an sich egal gewesen, wenn sie nicht alles von seinem Geld bezahlt hätte. Sein Bankkonto schmolz immer mehr zusammen. Er stellte sie schließlich zur Rede.
„Du hast in letzter Zeit viel Geld ausgegeben", sagte er, „und "
„Was denn, du willst dich beschweren? Hat meine Tochter einen Geizhals geheiratet? Kann ich mir nicht einmal ein paar kleine Freuden im Leben erlauben?"
„Selbstverständlich doch", sagte Roger. „Ich wollte auch nicht -"
„Nun, dann sprich auch gefälligst nie wieder über Geld mit mir! Ich habe meine Tochter ja davor gewarnt, dich zu heiraten, du Pfennigfuchser!"
Roger sprach mit seiner Frau darüber. „Es ist kaum noch etwas auf unserem Sparkonto übrig", sagte er. „Deine Mutter gibt alles Geld aus."
„Schatz, Mutter ist eine alte Frau. Laß ihr doch ihr Vergnügen."
„Alte Frau? Die überlebt uns noch beide!" entfuhr es Roger zornig."Die bringt nichts um. Die könntest du in einen Löwenkäfig schicken, und als nächstes wäre der Löwe tot. Sie würde ihn totreden!"
„Das ist aber nicht nett, Roger. Sie ist doch meine Mutter!"

Roger liebte seine Frau sehr und hatte sich auf eine glückliche Ehe mit ihr gefreut, aber seine Schwiegermutter hatte die Hölle aus ihrer Ehe gemacht.
Das Faß zum Überlaufen brachte schließlich der Samstagabend, an dem Sarah sagte: „Ich habe jemand zum Essen bei uns eingeladen."
Roger versuchte freundlich zu sein. „Ist in Ordnung", sagte er. „Kennen wir sie?"
„Es ist ein Mann", erklärte Sarah.
Der Gast kam um sieben Uhr. Er war groß und sehr reich und sah gut aus.
„Das ist meine Tochter Louise", sagte Sarah zu ihm. Und vergaß einfach, auch Roger vorzustellen.
Roger hielt dem Mann seine Hand hin. „Ich bin Roger." „Guten Tag, Roger. Ich heiße Ken."
Ken sah Louise an. „Sie sind keinen Hauch weniger hübsch,
als Ihre Mutter Sie beschrieben hat."
„Ken ist nicht verheiratet", sagte Sarah.
Roger begriff plötzlich. Sie hatte diesen Mann für Louise eingeladen!
Das ganze Essen hindurch redeten Louise und Ken miteinander.
„Ich besitze eine große Spedition", sagte Ken. „Und ich verdiene eine Million im Jahr. Das einzige Problem ist, daß ich keine Herzensdame habe, mit der ich das ganze Geld teilen könnte." Und er sah zu Roger hin. „Sie aber haben wirklich Glück."
„Ja", sagte Roger, „das habe ich." Und, dachte er im stillen dazu, ich gedenke es auch zu behalten.
„Ken liebt die Oper", sagte Sarah. „Und du doch auch, Louise, nicht? Aber Roger mag keine Opern." Sie sah Roger an. „Ken hat Opernkarten für nächsten Mittwoch. Wäre es nicht nett, wenn er Louise mitnähme?" Was sollte Roger dazu sagen?
„Aber sicher", sagte er, doch mit zusammengebissenen Zähnen.
„Dann ist es abgemacht", sagte Sarah. „Ihr beide geht zusammen aus und macht euch einen netten Abend." Roger hätte sie umbringen können. Umbringen, da ist das Wort schon wieder, erschrak er. Zumal es diesmal nicht mehr nur einfach ein Wort war. Aber jetzt war ihm klar, daß er noch nie jemanden so sehr gehaßt hatte. Sie zerstörte ihm seine Ehe! Als Ken gegangen war, sagte Roger: „Sarah, ich habe nachgedacht. Es wäre wirklich am besten, wenn du in eine Wohnung für dich allein ziehen würdest."
Sarah sah ihm direkt in die Augen und sagte: „Kommt nicht in Frage. Abgesehen davon, daß ich nicht überrascht wäre, wenn Louise sich von dir scheiden ließe und Ken heiratete. Dann könnte ich zu ihnen ziehen."
Noch in dieser Nacht beschloß Roger, das Gift zu kaufen.

Am nächsten Morgen begab sich Roger in einen Drugstore. „Ich habe da so Schwierigkeiten mit meinen Pflanzen", sagte er. „Führen Sie Arsen?"
„Ja", sagte der Drogist, „aber Sie müssen unterschreiben." „Schon gut." Roger hatte sich entschlossen. Seine Schwiegermutter mußte sterben, und wenn er selbst dafür auf den elektrischen Stuhl wanderte. Sie war die böseste Person, die er je gekannt hatte.
Er steckte das Arsen in die Tasche und ging am Abend, als Louise und Sarah im Eßzimmer saßen, in die Küche, um ihnen Kaffee zu holen. Er schüttete sorgfältig das Arsen in die Tasse seiner Schwiegermutter und rührte um.
Dann kam er zurück ins Eßzimmer. „Hier." Er stellte die vergiftete Tasse seiner Schwiegermutter hin. „Hat lange genug gedauert", nörgelte sie.
Sie trank einen kleinen Schluck und beschwerte sich: „Schmeckt bitter."
„Es ist eine neue Marke", sagte Roger. „Na, dann nimm wieder die alte."
Er sah zu, wie sie noch einen Schluck trank, und dann noch einen.
Dafür gehe ich gerne ins Gefängnis, dachte er. Dafür gehe ich sogar auf den elektrischen Stuhl. Wen kümmert es noch. Es ist es wert, wenn man dafür dieses Ungeheuer los wird.

Er tat in dieser Nacht kein Auge zu. Er stellte sich vor, wie es am Morgen wäre. Louise fand ihre Mutter tot im Bett und kam schreiend zu ihm gelaufen. Dann kam die Polizei, und es gab eine Autopsie. Dabei entdeckten sie das Arsen und fanden heraus, daß er es gekauft hatte.
„Haben Sie Ihre Schwiegermutter vergiftet?" würde man ihn
bei der Polizei fragen.
„Jawohl", würde er sagen.
Und seine Strafe wie ein Mann entgegennehmen.

Am nächsten Morgen sah Roger zu, wie Louise aufstand und sich anzog.
Jeden Moment nun, dachte er, geht sie ins Zimmer zu ihrer Mutter und entdeckt, was passiert ist. Bis dahin tue ich so, als wäre gar nichts.
Er stand ebenfalls auf, zog sich an und ging ins Eßzimmer. Da saß Sarah bereits am Tisch. „Du kommst schon wieder zu spät", keifte sie. „Ich mag es nicht, wenn ich warten muß." Roger traute seinen Augen nicht. Er hatte doch selbst gesehen, wie sie den vergifteten Kaffee trank!
„Ich habe fürchterlich schlecht geschlafen", sagte Sarah. „Ich hatte entsetzliches Kopfweh."
Sie ist eine Hexe, dachte Roger. Ich muß mir etwas anderes ausdenken.

Roger war sehr geschickt mit elektrischen Sachen. An diesem Abend, als Sarah ausgegangen war, ging er in ihr Bad und entfernte die Isolierung vom Kabel ihrer Bettlampe, so daß sie einen tödlichen Stromschlag bekommen mußte, wenn sie sie anschaltete.
Er blieb die ganze Nacht auf und wartete auf Sarahs Schrei,
wenn der Stromschlag sie durchfuhr.
Er hörte, wie Sarah in ihr Zimmer ging und die Türe zumachte. Er setzte sich auf. Aber er hörte nichts. Wahrscheinlich ist sie schon tot, dachte er.
Am Morgen stand er auf, zog sich an und ging ins Eßzimmer. Am Tisch saß Sarah und zeterte sogleich wieder los.. „Dieses Haus beginnt auseinanderzufallen", sagte sie. „Die Isolierung meiner Bettlampe war kaputt, und ich mußte das Kabel reparieren." Roger war sprachlos.
„Scheußlich, die Krawatte, die du umhast", sagte Sarah. Nimm eine andere." Ich halte es nicht mehr aus, dachte Roger.

Am nächsten Tag schlüpfte Roger mitten in der Nacht heimlich aus dem Bett und schlich sich in das große Schlafzimmer, in dem Sarah schlief. Er hatte ein Kissen in der Hand, beugte sich über das Bett und drückte es auf Sarahs Gesicht, bis sie nicht mehr atmete.
So, jetzt habe ich einen Mord begangen, dachte er bei sich. Ich habe das Fünfte Gebot gebrochen. Du sollst nicht töten. Ich werde dafür bestraft werden, aber das war es wert. Er kehrte in sein Bett zurück und schlief zum erstenmal seit Wochen wieder tief und fest.
Als er am Morgen erwachte, fühlte er sich großartig. Er wußte, etwas Bedeutsames hatte sich ereignet. Dann erst erinnerte er sich, was es war. Er hatte seine Schwiegermutter umgebracht! Er zog sich an, lächelte fröhlich und ging ins Eßzimmer hinüber.
Am Tisch saß Sarah und wartete. Er stand da wie angewurzelt und glaubte es nicht.
„Mein Gott", jammerte Sarah, „hatte ich einen entsetzlichen Traum! Ich träumte, daß mich jemand ersticken wollte!" Es hat keinen Wert, dachte Roger. Gegen die ist kein Kraut gewachsen. Die ist buchstäblich nicht umzubringen. Ich bin verdammt, sie auf ewig ertragen zu müssen.
Er ging an diesem Tag sehr deprimiert ins Büro.
„Was ist denn mit Ihnen?" fragte ihn sein Chef. „Sie sehen in letzter Zeit sehr unglücklich aus. Haben Sie Kummer und Sorgen?"
Was sollte Roger darauf antworten? Er konnte nicht über sein Problem reden. Und etwas dagegen tun konnte er auch nicht. „Nein, nein", versicherte er. „Es ist alles in Ordnung." Dann wurde ihm schlagartig klar, warum er gerade heute so bedrückt war. Heute war Mittwoch, eben der Tag, an dem Louise mit diesem gutaussehenden jungen Millionär, der sich nach einer Frau umsah, in die Oper gehen sollte.
Wahrscheinlich, sagte er sich, wird sie ihn mir vorziehen. Sarah hat schon recht. Ich bin nichts, und ich habe nichts, und besonders gut sehe ich auch nicht aus. Vielleicht hat Louise wirklich einen Fehler gemacht, als sie mich heiratete. Er sah es schon genau vor sich, was passieren würde. Louise würde nach der Oper heimkommen und sagen: „Roger, ich muß dir etwas sagen."
„Du brauchst es mir gar nicht erst zu sagen, Louise, ich weiß es
auch so."
„Ich habe mich in Ken verliebt."
„Ich kann es dir nicht verdenken. Er ist besser als ich." „Ich mag dich, Roger, aber Mutter hatte recht. Ich hätte einen Besseren heiraten sollen. Ich verlasse dich noch heute abend. Ken und ich werden unsere Flitterwochen in Paris verbringen." „Kommt deine Mutter mit?" „O nein. Sie will hier bei dir bleiben."

Am Abend zog Louise ihr hübschestes Kleid an. „Du machst dir ja nichts aus Opern, nicht, Roger?" fragte sie.

„Nein", log Roger. „Aber ich weiß, wie sehr du Opern liebst.
Ich wünsche dir viel Vergnügen."
„Danke, Liebling!" Und sie küßte ihn.
Das war wahrscheinlich das letzte Mal, daß sie mich küßte, dachte Roger.
Da klingelte es auch schon an der Tür. Es war Ken, er war in Abendkleidung und sah phantastisch aus.
Er gab Roger die Hand. „Vielen Dank, daß Sie mir Ihre Frau ausleihen."
„Keine Ursache", sagte Roger. Schon bald wird sie sowieso deine sein.
Er sah ihnen nach, wie sie gingen, und das Herz war ihm schwer.
„Spül das Geschirr!" kommandierte Sarah. „Ich gehe schlafen.."
Roger spülte das Geschirrt trocknete es ab, putzte die Küche
und ging ebenfalls zu Bett. Aber er konnte natürlich nicht
schlafen. Er wartete auf Louises Rückkehr und daß sie ihm
sagte, es sei zu Ende mit ihrer Ehe.
Um elf war sie immer noch nicht da.
Und auch um Mitternacht noch nicht.
Roger stand auf und lief ruhelos im Flur auf und ab. Endlich, um ein Uhr morgens, kam Louise. „Ich habe Neuigkeiten für dich", sagte sie.
Roger wußte, was käme. Ich werde nicht weinen, dachte er. Auf
keinen Fall lasse ich mir anmerken, daß sie mir das Herz
gebrochen hat.
„Fang an", sagte er.
Louise legte die Arme um ihm. „Ich habe den langweiligsten Abend meines Lebens hinter mir, kann ich dir sagen. Dieser Ken hat pausenlos gequasselt. Und hinterher, nach der Oper, schleppte er mich noch zu einer sterbensfaden Party." Sie lachte. „Ich will den Kerl nie im Leben wiedersehen, sage ich dir. Du bist der einzige Mann, mit dem ich zusammen sein möchte."
Roger glaubte nicht richtig zu hören. Dann stammelte er: „Aber das ist ja wundervoll!"
Sarah kam aus ihrem Zimmer. „Werdet ihr zwei endlich still sein? Ich kann nicht schlafen!"
Am nächsten Morgen stieg Roger in sein Auto und war wieder ein sehr, sehr glücklicher Mann. Er war dabei, rückwärts aus der Einfahrt hinauszurangieren, als er im Rückspiegel seine Schwiegermutter direkt hinter dem Auto sah. Sie beugte sich gerade hinunter, um die Zeitung aufzuheben.
Bis auf diesen Tag ist Roger sich nicht sicher, ob nun sein Fuß abrutschte und irrtümlich auf das Gaspedal trat statt auf die Bremse, oder ob seine unterbewußte Absicht dahinter stand. Sicher ist nur, er fuhr seine Schwiegermutter nieder, und sie war auf der Stelle tot.
Die Kirche ist der Ansicht, daß eine Sünde, auch wenn man sie nur im Herzen und in Gedanken begeht, genauso schlimm ist wie die wirkliche Ausführung einer sündigen Tat. Demzufolge hatte Roger bereits gesündigt, als er versuchte, seine Schwiegermutter zu vergiften, mit Strom zu töten und zu ersticken. Also hatte er, so oder so, das Fünfte Gebot gebrochen: Du sollst nicht töten.

Die Polizei zeigte sich Roger gegenüber sehr mitfühlend. „Ein ganz tragischer Unfall, kein Zweifel."
So kam es, daß Roger und Louise schließlich doch noch allein leben und sich der Million Dollar erfreuen konnten, die Louises Mutter hinterlassen hatte.
6. KAPITEL


DAS SECHSTE GEBOT: DU SOLLST NICHT EHEBRECHEN.


Joe Smith war ein Gauner. Keiner von den ganz großen Ganoven, nur so ein kleiner Gauner. Seit er zehn Jahre alt war, hatte er es schon mit der Mafia zu tun. Als Jugendlicher besorgte er Botengänge, als er älter. wurde, bekam er dann allmählich Größeres zu tun. Er wurde Eintreiber, also einer von denen, die den Leuten, die nicht rechtzeitig ihre Schulden zurückzahlten, auch schon mal die Hand brachen und dergleichen…Joe gefiel seine Tätigkeit. Er war gern Mitglied der Mafia.
Als er siebzehn war, hatte er seine Freundin geschwängert und war gezwungen worden, sie zu heiraten. Aber Tatsache war, daß er sie nicht besonders mochte. Sie war nicht sehr hübsch, und sie war streitsüchtig und kommandierte dauernd herum, aber Joe hatte sie halt nun mal auf dem Hals.
Obwohl Joe ein Gangster war, war er dabei doch ziemlich fromm. Niemals hätte er auch nur im Traum daran gedacht, Ehebruch zu begehen und mit der Frau eines anderen Mannes zu schlafen.
Der Capo - der Mafia-Chef - war ein gewisser Fred „Eispickel" Bulgatti. „Eispickel" hieß man ihn, weil er seine Opfer tötete, indem er ihnen einen Eispickel zwischen die Ohren hackte. Das ging lautlos und war schmerzhaft. Er war ein Schrank von Mann, über einszweiundachtzig groß, ein Kerl wie ein Gorilla. Man erzählte sich, er sei imstande, einen Mann mit den bloßen Händen auseinanderzureißen. Er war der Schrecken aller. Fred Bulgatti hatte seinerseits eine Ehefrau und drei Kinder, außerdem eine Geliebte, eine gewisse Angela. Diese Angela war aber keineswegs ein Engel. Doch schön war sie. Sie hatte eine sinnliche, sexy Figur und ein Gesicht wie ein Filmstar. Fred konnte den jungen Joe Smith gut leiden. Er sagte zu ihm: „Joe, eines Tages mache ich einen gemachten Mann aus dir." Ein gemachter Mann war jemand, der schon mal jemanden totgemacht hatte. War man erst einmal „gemacht", dann gehörte man auf ewig zur Mafia.
Joes größter Ehrgeiz war es denn auch, so ein gemachter Mann zu werden. Alle seine besten Freunde waren gemachte Männer, und die meisten hatten sogar schon mehrere Morde begangen. Joe wollte unbedingt in ihren Kreis aufgenommen werden. Seine Chance kam eines Tages im Sommer, als Fred ihn zu sich in das italienische Restaurant kommen ließ, wo er immer aß.
„Joe", sagte er, „hier ist deine große Chance. Wie würde es dir gefallen, ein gemachter Mann zu werden?"
Joe war ganz begeistert. „Ich bin bereit", sagte er.
„Gut. Irgend so ein ganz Kluger hat meine Angela angerufen und sie um ein Date gebeten. Dem Kerl schneidest du die Finger ab, mit denen er ihre Nummer gewählt hat. Und dann seine Ohren, mit denen er hörte, wie sie Nein sagte. Und dann schießt du ihm in den Mund, mit dem er das Date verlangt hat. Schaffst du das?"
„Klar, Chef", sagte Joe und war sehr stolz über den ehrenvollen Auftrag.
Fred gab Joe ein Schießeisen und ein Messer. „Da. Und zum Beweis bringst du mir seine Finger und auch die Ohren von dem Kerl. Niemand - niemand - macht sich ungestraft an meine Angela heran."
Timothy Brown - oder, wie er später dann immer nur genannt wurde, der arme Timothy Brown - war Versicherungsvertreter. Er war es, der Angela angerufen hatte, um einen Termin mit ihr wegen einer Versicherung zu vereinbaren. Angela, die nicht gerade die Intelligenteste von der Welt war, hatte das total mißverstanden und gedacht, er wolle ein Date mit ihr ausmachen, ein Rendezvous. Und das hatte sie Fred erzählt. Deswegen hatte Fred nach Joe geschickt.
Timothy Brown war in seiner Wohnung, als es an der Tür
klopfte. Er machte auf. Draußen stand Joe Smith und fragte:
„Mr. Brown?"
„Ja? Was kann ich für Sie tun?"
„Umgekehrt. Ich komme, um Ihnen etwas anzutun. Haben Sie gestern mit einer jungen Dame namens Angela telefoniert?" „Ja, richtig. Wir haben einen Termin ausgemacht. Kommt sie?"
„Sie hat mich statt dessen geschickt", sagte Joe.
Wir wollen uns die Einzelheiten dessen, was dann geschah, ersparen, weil sonst selbst aus diesen Seiten hier das Blut heraustriefen würde. Kurzum, zwei Stunden später lieferte Joe bei Fred die Finger und Ohren des armen Timothy Brown ab. Fred saß noch immer beim Essen, als Joe ihm diese Trophäen anbrachte.
Fred besah sie sich genau und sagte: „Ordentliche Arbeit,
Junge. Hast du gut gemacht. Hast du ihn auch in den Mund
geschossen?"
„Ja, Chef."
„Gut. Dann bist du jetzt ein gemachter Mann. Von jetzt an bist du einer von uns."
Es war Joes glücklichster Tag in seinem ganzen bisherigen Leben.
Fortan war Joe also einer von den Jungs. Er gehörte zur Mafia und war bei Überfällen auf Banken und Tankstellen dabei und beim Verwalten von Spielhallen und Prostituiertenringen, mit einem Wort, er führte ein prächtiges Leben.
Leute umbringen, das machte er nur, wenn es unbedingt
notwendig war. Aber es machte ihm auch nichts aus. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht erklären konnte, war aber das einzige Gebot, das er niemals übertrat, das sechste: Du sollst nicht ehe- brechen.
Die anderen Gangster rund um ihm taten es dauernd, aber Joe rühmte sich der Tatsache, noch niemals mit der Frau eines anderen Mannes geschlafen zu haben. Er prahlte sogar richtig damit, beging aber eben damit einen schweren Fehler. Eines Tages nämlich kam Angela herein und hörte, wie Joe gerade sagte: „Solange ich verheiratet bin, werde ich niemals mit einer anderen Frau .schlafen. Der Herr sagt >Du sollst nicht ehebrechen<. Ich finde, jeder, der das tut, sollte direkt in die Hölle kommen."
Angela hörte sich das mit großem Interesse an, weil sie davon überzeugt war, daß es nicht einen einzigen Mann auf der ganzen Welt gab, der sich weigern würde, mit ihr zu schlafen. Tatsächlich war Angela auch so schön, daß sie damit sogar vermutlich recht hatte.
„Ich wette", sagte sie zu Joe, „wenn die richtige Frau käme,
würdest du schon mit ihr schlafen."
Joe war, schockiert. „Niemals!"
Mehr brauchte Angela nicht zu hören. Die Sache weckte ihren gesamten Ehrgeiz. Kein Mann kann mir widerstehen, dachte sie, der da schon gar nicht.
Und sie beschloß, zu beweisen, daß sie recht hatte. Eines Tages sagte sie zu Fred: „Schatz, ich glaube, es verfolgt mich einer. Ich fühle mich nicht sicher."
„Wer?" bellte Fred sofort los. „Den reiße ich in Stücke!" „Ich bin mir nicht sicher", sagte Angela. „Ich habe einfach nur dieses Gefühl, daß da einer hinter mir her ist. Ich würde mich sehr viel besser fühlen, wenn du stets an meiner Seite bleiben würdest."
„Du weißt genau", sagte Fred, „daß das nicht geht. Ich muß
mich schließlich um meine Geschäfte kümmern."
Angela tat eine Weile nachdenklich. „Nun ja, aber vielleicht könntest du einen deiner Jungs zu meinem Schutz abstellen? Das würde mich schon sehr beruhigen."
„Klar", sagte Fred, „das geht. Welchen möchtest du denn haben?"
Sie tat wieder so, als denke sie lange nach. „Ach, ist ganz egal. Joe Smith würde es schon tun."
„In Ordnung. Joe ist ein guter Mann. Ich sage ihm, daß er ein Auge auf dich haben soll."
„Danke dir, Liebling. Vielleicht ja nur für eine oder zwei Wochen. Dann hat es der, der da um mich herumspioniert, sicher schon aufgegeben."
Am nächsten Morgen ließ Fred sich Joe kommen. „Angela hat da ein kleines Problem", sagte er. „Sie glaubt, es ist einer hinter ihr her. Du wirst auf sie aufpassen und sie beschützen." „Klar, Fred", sagte Joe. „Wird gemacht."
„Ich danke dir. Wenn du herauskriegst, was das für ein Kerl ist, dann schnappst du ihn dir und zersäbelst ihn Zentimeter um Zentimeter. Ich will seine Arme, seine Beine und seinen Kopf haben. Ist das klar?"
„Völlig klar, Boß. Wird mir ein Vergnügen sein."
„Niemand", brüllte Fred, „absolut niemand rührt mir meine Angela an!"

Joe begab sich am selben Nachmittag zu Angela. Sie war in der schönen Wohnung, die ihr Fred eingerichtet hatte, und sie hatte nichts an außer einem hauchdünnen und praktisch durchsichtigen Neglige. Joe konnte gar nicht glauben, wie schön sie war.
„Komm herein, mein Süßer", sagte Angela. „Wie ich höre, bist du jetzt mein Leibwächter."
„Ja," sagte Joe. „Haben Sie irgendeine Ahnung, wer das ist, der
hinter Ihnen her ist?"
„Nein. Aber jetzt, wo du da bist, habe ich keine Angst mehr." Sie kam etwas näher. „Wie wäre es mit einem kleinen Drink?" Er schluckte schwer. Er konnte ihr Parfüm riechen, das ihm schier den Kopf vernebelte. „O nein, danke", sagte er. „Wie man mir sagte, gehen Sie heute nachmittag einkaufen." „Ja", sagte Angela.
Joe konnte die Augen nicht mehr von Angelas Figur wenden. „Sie... sollten sich dann jetzt besser anziehen."
Sie strich ihm mit der Hand über den Arm. „Wenn du das unbedingt willst", schmelzte sie.
Joe dachte daran, was Fred zu ihm gesagt hatte: Du schnappst ihn dir und zersäbelst ihn Zentimeter um Zentimeter. „Wir gehen lieber.". „Na gut. Es dauert nur ein paar Minuten."
Joe sah ihr nach, wie sie in ihr Schlafzimmer verschwand. Nach einer Weile hörte er sie rufen: „Kannst du mal kommen, bitte?"
Joe eilte in das Schlafzimmer. Dort stand Angela, erst halb angezogen. „Mein Reißverschluß klemmt", sagte sie. „Kannst du mir mal helfen?"
Er kam zu ihr. Ihr Rücken war völlig nackt. Und es war der aufregendste Rücken, den er je gesehen hatte.
Er war stark in Versuchung, ihn zu küssen, doch er riß sich
zusammen, weil er sich gerade noch rechtzeitig sagte, daß er
keinen Wert darauf legte, von Fred seine eigenen Lippen
abgeschnitten zu bekommen.
Er machte den Reißverschluß zu.
„Danke", sagte Angela.

Angela begann an ihrem Plan mit Joe zu arbeiten. Und wenn Angela einmal an einem Mann zu arbeiten begann, gab es in dieser Hinsicht keine Bessere als sie. Zuerst kamen diese versteckten Hinweise darauf, wie einsam sie doch sei. Dann redete sie davon, wie gemein Fred Bulgatti zu ihr war und wie gut Joe aussah.

Sie forderte Joe auf, sie in ihrer Wohnung abzuholen, ließ dann die Tür unverschlossen, und wenn er hereinkam, rief sie ihm zu, daß sie im Schlafzimmer sei, und dort fand er sie splitternackt vor. Er rannte sofort hastig ins Wohnzimmer zurück. Die ganze Situation war viel zu verführerisch. Und viel zu gefährlich.
Joe hatte zwei Probleme damit. Erstens hatte er Angst, daß Gott ihn auf der Stelle tot umfallen ließe, wenn er das sechste Gebot übertrat. Und zweitens wußte er positiv und absolut, daß Fred ihn zu Hackfleisch verarbeitete, wenn er Angela auch nur anfaßte.
Andererseits wandte Angela wirklich alle Tricks an, um Joe zu sich ins Bett zu kriegen. Die Frage war also: wer würde gewinnen?
Die Antwort war natürlich furchtbar einfach: Angela selbstverständlich.

Fred „Eispickel" Bulgatti saß beim Essen mit Angela. Er fragte: „Na, kommst du gut aus mit Joe?"
„Ja, ja", machte Angela achselzuckend, „er ist ganz in Ordnung. Sehr helle ist er nicht, und besonders gut sieht er auch nicht aus."
„Soll ich dir vielleicht einen anderen als Leibwächter schicken?" fragte Fred.
."Nein, nein", sagte Angela, „das ist nun auch nicht notwendig. Joe macht seine Sache ja ganz gut."
„Denkst du immer noch, es ist einer hinter dir her?" „Da bin ich ganz sicher. Wir haben zwar noch keinen gesehen, aber ich spüre es einfach genau. Jedenfalls fühle ich mich mit Joe sehr viel sicherer."
„Gut", sagte Fred. „Dann lasse ich ihn dir noch drei Tage, und dann wechseln wir ihn gegen einen anderen aus. Ich brauche Joe sowieso für eine Sache in Chicago."
Drei Tage, dachte Angela. Da muß ich mich jetzt aber beeilen.

Am nächsten Morgen rief Angela bei Joe zu Hause an. Joes
Frau war am Telefon.
„Ist Joe da?"
„Wer spricht denn da?"
„Hier ist Angela."
„Oh, Sie sind das. Sie hatten meinen Mann ja in letzter Zeit viel um sich."
Joes Frau machte sich aber nicht wirklich etwas daraus. Sie fand Joe schon seit geraumer Zeit langweilig und hätte alles mögliche getan, nur um ihn loszuwerden. „Augenblick", sagte sie. „Ich hole ihn." Joe kam ans Telefon. „Ja?"
Angela sprach mit schwacher Stimme: „Joe, mir geht es nicht gut. Könntest du gleich mal kommen? Ich glaube, ich brauche einen Doktor."
„Ja, sicher. Soll ich gleich mal einen Arzt rufen?" „Nein, nein, komm nur erst mal her."
„In Ordnung", sagte Joe. „Ich bin gleich da." Er legte auf und sagte zu seiner Frau: „Sie hört sich ja wirklich schlimm an."

Fünf Minuten später war er auf dem Weg zu Angela. Als er dort ankam, war die Tür wie üblich offen. Er dachte, daß es doch eigentlich recht seltsam sei, wenn jemand, der Angst vor Verfolgung hatte, die ganze Zeit die Tür nicht absperrte. Er hörte Angelas Stimme aus dem Schlafzimmer. „Ich bin hier, Joe." Er ging hinein. Angela lag im Bett.
„Komm her zu mir", sagte sie mit schwacher Stimme.
Joe war beunruhigt. Sie klang wirklich besorgniserregend. „Mir ist so heiß", sagte Angela. „Fühl mal meine Stirn." Er kam an ihre Bettseite und legte seine Hand auf ihre Stirn. Sie fühlte sich tatsächlich heiß an. „Sie haben Fieber, glaube ich", sagte Joe.
„Ich habe Angst", flüsterte Angela. „Ich mag nicht allein sein, wenn ich krank bin. Fred läßt mich dauernd allein. Er macht sich nicht wirklich etwas aus mir:"
„Das dürfen Sie nicht sagen", widersprach Joe. „Das tut er sehr wohl." Er hätte ihr erzählen können, wie sehr Fred sich etwas aus ihr machte, indem er Sorge trug, daß jeder, der überhaupt nur an Angela dachte, so peinvoll wie nur möglich umgebracht wurde.
Angela nahm Joes Hand und zog ihn zu sich auf das Bett nieder. „Du bist nicht wie Fred", flüsterte sie ihm zu. „Du bist gefühlvoll und wunderbar und siehst gut aus." Und sie führte seine Hand an ihre Brust. Er versuchte, sie wegzuziehen.
„Was ist, magst du mich nicht?" fragte Angela. „Weißt du denn nicht, daß ich ganz schrecklich verliebt in dich bin?" „Angela", sagte Joe ganz nervös, „Sie können doch nicht in mich verliebt sein, Sie gehören Fred."
„Ich gehöre gar keinem", sagte Angela. „Dir möchte ich gehören."
„Aber das ist unmöglich! Fred brächte uns beide um, würden wir etwas miteinander anfangen. Das weiß ich ganz genau. Er zerstückelt gern Leute in kleine Scheiben."
Er versuchte, sich aufzurichten. „Ich muß weg hier." Aber sie hielt ihn zurück. „Du willst wirklich gehen?" Sie zog ihre Bettdecke weg, und da lag sie ohne etwas an. Absolut nichts hatte sie an.
Joe betrachtete sie und alles begann sich um ihn zu drehen. Sie streichelte ihn jetzt sogar noch und zog ihn immer näher. „Mein Liebling. Ich bin verrückt nach dir. Nimm mich!" Na ja, und bedauerlicherweise war Joe nun auch nicht aus Holz. Sein Widerstand war total gebrochen. Er riß sich in Windeseile die Kleider vom Leib.
Zum Teufel damit, dachte er, Fred erfährt es ja nicht.. Und was das Übertreten des sechsten Gebots angeht, so wird Gott ja wohl mit anderen Sündern genug zu tun haben, daß er nicht ständig nur auf mich aufpaßt.
In fünf Sekunden war er bei Angela im Bett, und sie schlang die Arme um ihn. Und er dachte: Das ist das Tollste jetzt, was ich jemals erlebt habe.
Aber in diesem Moment donnerte die Stimme von Fred „Eispickel" Bulgatti hinter ihnen: „Aha! Also habe ich euch erwischt!"
Joe fuhr hoch, und da stand Fred neben dem Bett und sah zornig auf ihn herab.
Man sagt, daß, wenn jemand ertrinkt, sein ganzes Leben noch einmal blitzschnell an ihm vorüberzieht. Joe war nicht am Ertrinken, aber trotzdem begann sein ganzes Leben noch einmal blitzschnell an ihm vorüberzuziehen. Und er fragte sich, was ihm Fred wohl als erstes abschneiden würde. Er war sich allerdings auch ziemlich sicher, was es wäre.
Fred stand da und war puterrot im Gesicht vor Wut. „Zieht euch an", schrie er, „alle beide."
Angela hatte Todesangst. Sie wußte gut genug, wozu Fred fähig war. Aber ihr Entsetzen war nichts verglichen mit dem, was Joe empfand. Er war kaum imstande, aus dem Bett zu taumeln und sich anzuziehen.
Fred behielt sie beide unentwegt im Auge. „Mein Mädchen und mein bester Freund!" sagte er.
Joe beschloß bei sich, daß er, wenn er schon sterben mußte, dann genausogut wie ein Mann sterben konnte... „Gib Angela keine Schuld", sagte er, „es war allein meine Schuld. Ich habe
sie gezwungen.. ."
„Halt den Mund!" fuhr ihn Fred an. „Du redest nur, wenn du gefragt wirst."
Und er wandte sich an Angela. „Du kleine Schlampe, du! Nach allem, was ich für dich getan habe!"
Als sie beide angezogen waren, sagte Fred drohend: „Mein Wagen steht draußen. Wir machen eine Fahrt."
Joe war durchaus klar, daß dies das Ende bedeutete. Gott tötete ihn nun tatsächlich dafür, daß er das sechste Gebot gebrochen hatte. Nichts konnte ihn jetzt mehr retten.
Angela sagte: „Fred, Liebling, es ist doch alles anders, als es aussieht. Wir wollten doch nur..."
„Ich habe gesehen, was ihr getan habt", sagte Fred. , „Aber -"
„Und du hältst jetzt ebenfalls den Mund. Los jetzt." Er ging hinaus zu seinem .Wagen, einer langen, schwarzen Limousine. Am Steuer saß einer von seinen Mafialeuten. Fred schob Joe und Angela hinein auf den Rücksitz. „Los", sagte er zum Fahrer.
Joe zitterte vor Angst. Es war ihm klar daß dies seine letzten Augenblicke auf Erden waren und daß er in kleine Stücke zerhackt und den Fischen zum Fraß vorgeworfen würde. Aber er brachte doch noch einige Worte heraus. „Wohin bringst du mich?"
„Du sollst das Maul halten, habe ich gesagt", fuhr ihn Fred an. Der Rest der Fahrt verlief in Schweigen. Joe schien, als, führen sie stundenlang, und er war sehr überrascht, als er merkte, daß sie in Las Vegas ankamen. Was denn, sollte er in Las Vegas umgebracht werden?
Der Wagen hielt vor einer der Hochzeitskapellen. Joe wurde
immer verwirrter.
„Aussteigen!" kommandierte Fred.
Angela und Joe stiegen aus. „So", sagte Fred, „jetzt will ich
euch die Situation erklären."
Er blickte Joe in die Augen. „Ich sollte dich eigentlich umbringen", sagte er. „Du warst mein Freund und ich habe dir vertraut. Aber weil ich ein weichherziger Mensch bin, lasse ich dich leben." Joe traute seinen Ohren nicht.
Nun wandte Fred sich an Angela. „Auch dir", sprach er, „habe ich vertraut, aber du warst mir untreu. Doch auch dir vergebe ich. Weißt du aber auch, warum? Weil ich tief im Herzen überzeugt bin, daß ihr alle beide nicht anders konntet. Ihr habt euch verliebt und konntet dem, was geschah, einfach nicht widerstehen."
Auch Angela starrte Fred nun völlig ungläubig an. „Weil ich also, wie gesagt, so ein weiches Herz habe, schenke ich euch beiden das Leben."
Er wandte sich wieder an Joe. „Ihr beide werdet jetzt heiraten." „Aber ich kann Angela nicht heiraten", sagte Joe. „Ich habe doch schon eine Frau."
„Darüber mach dir mal keine Sorgen" informierte ihn Fred. „Die ist gerade jetzt eben bei Gericht und läßt sich von dir scheiden."
Joe war derart in Panik, daß er sich nicht einmal fragte, wie denn das zuging, daß alles so rasch arrangiert war, und wieso seine Frau eine Scheidung bekommen konnte, während er gleichzeitig bereits Angela heiratete.
Er hätte das alles sehr viel besser verstanden, wenn er von dem Gespräch gewußt hätte, das am Tag zuvor stattgefunden hatte. An diesem Tag zuvor sprach Fred in seinem Büro mit einem seiner sogenannten Leutnants.
„Ich muß dieses Weib, die Angela, loswerden", hatte Fred gesagt. „Die treibt mich zum Wahnsinn. Ständig verlangt sie mehr und mehr. Jetzt hat sie schon allen Schmuck und alle Pelze der Welt und immer noch kriegt sie den Hals nicht voll." „Ja, aber wie soll man sie loswerden, ohne ihre Gefühle zu verletzen r"
Doch Fred wußte die Antwort darauf schon. „Dazu benutze ich
Joe", sagte er. „Ich ahne nämlich, daß Angela versucht, ihn zu
sich ins Bett zu kriegen."
„Denkst du denn, er tut es?"
„Spinnst du oder was? Selbstverständlich tut er es. Den Mann, den Angela nicht herumkriegen würde, gibt es nicht. Ich habe ein Auge auf ihre Wohnung, und sobald es passiert, überrasche ich sie beide. Dann zwinge ich ihn, sie zu heiraten und veranlasse seine Frau, sich von ihm scheiden zu lassen, und alles ist in bester Butter. Außerdem habe ich eine neue Freundin, eine tolle Schönheit."
So kam es, daß Joe Smith sich mit der schönen Angela verheiratet und von seiner Frau, die er haßte, geschieden fand. Und das alles, wenn man es sich überlegt, dachte Joe, weil ich das sechste Gebot übertrat: Du sollst nicht ehebrechen.




7. KAPITEL


DAS SIEBTE GEBOT: DU SOLLST NICHT STEHLEN.


Er hieß Tom. Tom Warner. Er arbeitete als Angestellter in einer Bank, und sein Gehalt war hundertfünfzig Dollar die Woche. Wäre er Junggeselle gewesen und hätte allein gelebt, dann hätte das wohl zum Leben gereicht. Aber Tom war verheiratet und hatte drei Jungs. Wie soll man mit so einem Hungerlohn eine Frau und drei Söhne ernähren und kleiden, ihnen Schuhe kaufen und sie auf die Schule schicken? Völlig unmöglich.
Als Tom noch jünger war, dachte er an nichts anderes, als daß er einmal ungeheuer erfolgreich sein wollte und vielleicht sogar eines Tages seine eigene Bank haben würde. Als er dann seine Frau Mary kennenlernte, dachte er an nichts anderes, als daß er ihr ein wunderschönes Zuhause schaffen wollte. Und als seine Jungs auf die Welt kamen, dachte er an nichts anderes, als daß er mit ihnen später auf einer großen Jacht um die Welt reisen wollte.
Nun, mit fünfundvierzig, dachte er an nichts anderes als Geld. Der Stapel seiner unbezahlten Rechnungen wuchs immer weiter an, und es schien ihm, als verginge überhaupt kein Tag mehr, an dem nicht eine Rechnung kam. Wie sehr sie sich auch bemühten zu sparen, Tom und Mary kamen einfach nicht mehr nach mit dem Bezahlen.
Die lronie dabei war, daß Tom bei seiner Arbeit in der Bank jeden Tag mit Millionen umging. Sein Problem war nur, daß es halt nicht seine Millionen waren.
Eines Morgens beim Frühstück sagte Mary: „Liebling, die Kinder brauchen neue Schuhe."
„Wir haben ihnen doch erst vor zwei Monaten neue gekauft." „Ja, ich weiß. Aber sie gehen schnell kaputt. Außerdem ist der Fleischer noch nicht bezahlt. Ich habe versucht, erneut auf Kredit Fleisch von ihm zu bekommen, aber er sagte, es geht nicht mehr." „Wieviel sind wir ihm denn schuldig?" „Zweihundert Dollar."
Was Tom betraf, hätten ihn auch zweitausend Dollar nicht mehr aus der Ruhe gebracht als zweihundert.
„Wir haben kein Geld, um Ihn zu bezahlen"., sagte er zu seiner Frau.
Es war ihr unangenehm, das auch noch zur Sprache bringen zu müssen, aber sie sagte es dennoch. „Und auch der Bäcker, Liebling, will sein Geld von uns haben."
„Schon wieder?" sagte Tom. Es waren ohnehin nicht nur der Fleischer und der Bäcker. Auch der Mann von der Versicherung wollte Geld haben und der Mechaniker und ein Elektriker, der einiges im Haus gerichtet hatte, und der Zahnarzt der Kinder und der Fernsehreparaturdienst und überhaupt am dringendsten ihr Hausherr. Toms Wohnung kostete dreihundert Dollar Miete im Monat, dabei war es nur eine winzige Wohnung, in der alle lebten. Aber jeden Monat hatte er Schwierigkeiten, die Miete zu bezahlen. Als sie eingezogen waren, hatte er noch geglaubt, er werde in seiner Bank bald befördert und bekomme ein höheres Gehalt. Mary sagte: „Warum gehst du nicht zu Mr. Gable und bittest ihn um Gehaltsaufbesserung?"
Mr. Gable gehörte die Bank, bei der Tom arbeitete. „Er hat sie dir schon seit Jahren versprochen."
„Ich weiß", sagte Tom. „Aber es ist mir unangenehm, ihn immer danach zu fragen."