Sidney
Sheldon
Die
zwölf Gebote
Roman
Deutsch von W. M.
Riegel
1. KAPITEL
Reden wir mal von Wundern. Die Bibel ist voll
von ihnen, und ein paar sind auch wirklich prächtig. Diese
Geschichten sind über ein paar tausend Jahre immer weiter
überliefert worden. Ob sie wahr sind, mag jeder selbst für sich
entscheiden. Aber man muß zugeben, daß sie außerordentlich
aufregend sind.
Wir kennen natürlich alle die Geschichte von
Adam und Eva. Nach der Bibel hat mit ihnen die ganze Geschichte
überhaupt erst angefangen. Gott schuf den Himmel und die Erde. Und
er schuf die Berge und die Bäume und die Tiere. Aber dann hatte er
das Gefühl, daß irgend etwas fehlte.
„Ich weiß schon, was fehlt", sagte Gott. „Ich
werde noch einen Menschen machen."
Er nahm eine Handvoll Lehm, knetete ihn in
die Form eines Menschen und hauchte ihm den Odem des Lebens ein.
„Ich bin Gott", sprach er zu ihm, „und du bist Adam." Adam sah sich
verwundert um und fragte: „Wo bin ich?" „Du bist im Paradies, im
Garten Eden." „Ganz hübsch hier", sagte Adam. „Erfreue dich daran",
sprach Gott.
Gott hatte also den Menschen erschaffen, aber
nach wie vor hatte er so ein Gefühl, daß da noch etwas fehlte.
Aber natürlich, dachte er bei sich.
Eine Frau.
Während Adam schlief, entnahm ihm Gott eine
Rippe und formte aus ihr eine Frau und die nannte er Eva. Adam war
entzückt, als er sie sah.
„Nun freut euch mal eures Lebens, ihr
beide",sprach Gott. „Nur eines dürft ihr auf keinen Fall: einen von
diesen Äpfeln essen." Er deutete auf die herrlich appetitlich
aussehenden Äpfel an dem Baum. „Dies ist die Frucht am Baum der
Erkenntnis, und es ist euch verboten, davon zu kosten." „Verstehe",
sagte Adam.
„Ist gut", sagte Eva. „Wir rühren sie nicht
an."
Aber da war in diesem Garten Eden auch eine
Schlange, eine böse Schlange. Die hatte der Teufel
geschickt.
„Ihr wißt ja gar nicht, was euch da entgeht",
sagte diese Schlange zu den beiden. „Diese Äpfel sind doch.
überhaupt das Köstlichste auf eurer ganzen Welt."
„Wir haben aber versprochen", sagten Adam und
Eva, „daß wir sie nicht anrühren."
„Ihr müßt doch gar nicht alle essen", sagte
die Schlange. „Ihr braucht doch nur einen zu nehmen."
„Na ja", meinte Eva. „Einmal ist keinmal,
oder? Einer kann doch wohl nicht schaden." Also aßen sie vom Baum
der Erkenntnis.
Gott war mächtig zornig. „Ihr habt euer
Versprechen gebrochen, das ihr mir gegeben habt!" donnerte er. „Ihr
habt gesündigt!"
Und damit warf er sie aus dem Paradies
hinaus, und sie mußten sich draußen in der weiten Welt
herumtreiben.
Also jedenfalls ist das die Geschichte, wie
sie in der Bibel steht, nicht?
Oder nehmen wir die Geschichte von der Arche
Noah. Eines Tages fand Gott, daß es einfach zu viele Sünder auf der
Welt gab.
Mit der Erschaffung des
Menschen, dachte er, habe ich entschieden einen Fehler gemacht. Vielleicht sollten wir
damit noch einmal ganz von vorne
anfangen.
Das Problem dabei war, daß Gott nicht gut
gleich alle Menschen ausrotten konnte, denn woher sollten dann die
neuen Menschen kommen? Also entschied er sich dafür, einen
anständigen Mann und seine Familie zu suchen, damit die die Erde
neu bevölkerten.
Er sah sich sorgfältig um. Er erblickte
Lügner und Diebe und Mörder und Gauner und wurde darüber sehr
niedergeschlagen. Doch dann sah er eines Tages den Noah. Der war
ein einfacher, aber rechtschaffener Mann, und er hatte eine Frau
und Söhne und Schwiegertöchter. Tadellos,
fand Gott.
Und er sprach zu Noah. „Paß mal auf, Noah,
ich setze die Welt unter Wasser und ersäufe alle
Menschen."
„Wieso erzählst du mir das, Gott?" fragte
Noah.
„Na, weil ich beschlossen habe, daß du mit
deiner Familie nicht umkommen sollst."
Das schmeichelte dem Noah natürlich schon
sehr. „Nur, wie mache ich das, daß ich nicht ertrinke?" fragte
er.
Da gab ihm Gott seine Anweisungen. „Paß auf,
du baust eine Arche, ja? Das ist ein großes Boot oder Schiff. Und
ich meine ein wirklich großes, Noah, klar? So, und dann sammelst du
dir sämtliche Tierarten zusammen, zwei von jeder, ein Pärchen, und
die packst du samt deiner Familie in diese Arche, ja?" „Na gut",
sagte Noah.
Und er schaffte es auch. Er sammelte Zebras
ein und Elefanten und Tiger und Löwen, Affen und Pferde - eine
richtige Riesenmenagerie.
Und dann marschierten sie alle auf die Arche,
und zuletzt kam: Noah mit seiner Familie nach, und er war bereit
für alles, was nur kommen mochte.
Was kam, war, daß es zu regnen anfing. Und wenn
es in der Bibel schon mal heißt, regnen, dann regnet es auch
ordentlich. Das ging vierzig Tage und Nächte lang und hörte keine
Sekunde auf. Kleine Städte versanken im Wasser und große Städte
ebenso und ganze Länder, bis nichts mehr zu sehen war - außer Noahs
Arche, die auf diesem ganzen Überschwemmungswasser schwamm und ihn
und seine
Familie und seine ganze Tierauswahl sicher
trug.
Am Ende der vierzig Tage, als Gott alles
ertränkt hatte, ließ er die Arche auf dem Berg Ararat aufsetzen.
Und das Wasser fiel wieder, und Noah und seine Familie konnten
anfangen, die Erde neu zu bevölkern. Wunder!
Noch ein anderes Wunder in der Bibel war doch
die Teilung des Roten Meers, nicht? Die Hebräer waren in Ägypten in
der Sklaverei gehalten worden, und das gefiel ihnen natürlich gar
nicht. Die konnten sich nicht frei bewegen, wie sie wollten. Sie
konnten nicht wählen gehen. Bezahlt für ihre Arbeit wurden sie auch
nicht. Sie waren einfach Sklaven.
Da kam dann eines Tages ein gewisser Moses,
ein großer Anführer, und sagte: „Ihr müßt uns jetzt mal helfen, daß
wir was dagegen unternehmen. Wir haben diese Sklaverei satt bis zum
Kragen."
Zwar wußte auch Moses nicht so genau, was man
denn unternehmen könnte, weil der König immerhin eine große und
gutausgerüstete Armee hatte und jeder, der auch nur den kleinsten
Fluchtversuch unternahm, daran glauben mußte. Aber er sagte zu
ihnen: „Laßt mich nachdenken." Dabei beschloß er dann, sich mal mit
Gott darüber zu unterhalten. „Also Gott", sagte er, „es ist so,
unser Volk ist ziemlich unglücklich. Die Leute wollen nicht mehr
wie Tiere behandelt werden. Sie wollen freie Menschen sein. Jeder,
der auch nur ein Wörtchen gegen den König sagt, ist so gut wie tot.
Kannst du da nichts tun und uns helfen?"
Als Gott diese Aufforderung hörte, sagte er:
„Also gut, Moses, du führst unser Volk aus Ägypten hinaus und zwar
in ein Land, wo sie dann frei sind."
Versteht sich, daß Moses darüber freudig
erregt war. Er ging zurück zu seinem Volk und sagte: „Alles klar,
Leute, ich habe
mit Gott geredet, und ich schaffe euch hier
weg."
Am nächsten Morgen versammelten sich alle
Hebräer heimlich an der Stelle, die Moses ausgesucht hatte, und
Moses sagte zu ihnen: „Nun kommt, und zwar mucksmäuschenstill." Und
so begann der lange Marsch. Sie zogen zur Grenze von Ägypten und
hofften, sich aus dem Land schleichen zu können. Unglücklicherweise
sah sie ein Freund des Königs, als sie schon fast am Roten Meer
waren, und eilte zu ihm hin. „Die Hebräer hauen ab!" rief er. „Sie
marschieren aufs Rote Meer zu. Dieser Moses ist ihr
Anführer."
Der König war außer sich und ließ sofort
einen seiner Generäle kommen. „Ich höre da gerade, daß Moses die
Hebräer aus dem Land hinausführen will. Die müssen aufgehalten
werden." Er dachte kurz nach. „Nicht nur aufgehalten, sondern
getötet, alle. Verstanden?"
„Jawohl, Euer Majestät." Schon nach einer
Stunde war die königliche Armee marschbereit. Und weil sie beritten
war, galoppierte sie geschwind wie der Wind zum Roten Meer, wo die
Hebräer zuletzt gesehen worden waren.
Mittlerweile aber hatten die Hebräer das Rote
Meer bereits erreicht. Eigentlich wollten sie es ja auf Schiffen
überqueren, aber zu ihrer Enttäuschung war weit und breit kein
Schiff zu sehen. Außer dem endlosen Wasser erblickten sie rein gar
nichts.
Da wandte sich einer an Moses: „Wie sollen
wir darüber kommen?" fragte er. „Da ersaufen wir doch
alle."
Moses war total sauer. Er hatte natürlich
angenommen, daß Gott auch für Schiffe sorgen werde.
„Na, vielleicht bauen wir uns Schiffe",
schlug er vor. Doch in dem Moment kam einer angerannt. „Moses,
Moses! Die Soldaten des Königs kommen! Jeden Augenblick sind sie
hier!"
Da war Moses klar, daß sie alle verratzt
waren. Gott hatte sie
im Stich gelassen. Er sah hinauf zum Himmel
und sagte: „Also, weißt du, Gott, ich verstehe nicht, wie du so
etwas mit deinem Volk machen kannst. Du hast mir doch versprochen,
daß ich es sicher aus Ägypten rausschaffe!"
Da dröhnte auf einmal Gottes Stimme. „Vertrau
mir. Sag deinem Volk, es soll ins Meer marschieren."
Das leuchtete Moses ja nun gar nicht ein.
Was denn, wie sollten
Menschen ins Meer marschieren, ohne darin zu ertrinken? Andererseits war ihm klar, daß es gegen
Gott keine Widerrede gab.
Also wandte er sich an sein Volk und sagte:
„Ich habe noch mal mit Gott geredet. Wir sollen ins Meer
marschieren, sagt er."
Da waren sie alle entsetzt, aber weil sie
hinter sich schon die Hufe der Pferde der Soldaten donnern hörten,
sagten sie sich: Mein Gott, lieber ersaufen, als von den Soldaten
niedergemacht werden.
„Also dann, mir nach", sagte Moses und begann
ins Wasser zu waten. Aber kaum hatte er den ersten Schritt
hineingetan, als ein Wunder geschah.
Mit offenem Mund sahen sie, wie sich das Rote
Meer teilte und daß sie trockenen Fußes durchmarschieren konnten.
Da applaudierten sie alle begeistert, zogen durch das Rote Meer und
beeilten sich, damit die Soldaten sie nicht doch noch
erreichten.
Als sie auf der anderen Seite waren und sich
umdrehten, sahen
sie, wie drüben gerade die Soldaten daherkamen und
begriffen,
daß ihnen die Hebräer entkamen.
„Hinterher!" schrie ihr General.
Moses beobachtete, wie die Soldaten des
Königs ins Meer hineinritten.
Aber als die mittendrin waren, da schloß sich
das geteilte Wasser auf einmal wieder über ihnen und alle
ertranken. Gott hatte sein Versprechen gehalten. Die Hebräer waren
gerettet.
Dann wäre da zum Beispiel noch ein Wunder aus
der Bibel. In Israel lebte ein gewisser Samson. Der war so stark,
daß er mal tausend Soldaten auf einen Schlag erledigte und zwar mit
nichts weiter als dem Kieferknochen eines Esels.
Die Tyrannen, die Israel damals regierten,
versuchten alles, diesen Samson zu fangen, aber sie hatten kein
Glück. Sooft sie Soldaten gegen ihn ausschickten, war es um sie
geschehen. Nun hatte Samson eine Freundin, eine gewisse Delilah
oder Dahlilah.
Zu der kamen sie und sagten: „Wir wollen den
Samson fangen, könntest du uns dabei nicht helfen? Du müßtest das
Geheimnis seiner Stärke herausfinden."
Na gut, also in der nächsten Nacht fragte die
Delilah oder Dalilah den Samson: „Sag mal, was macht dich
eigentlich so stark?"
Und Samson gab ihr bereitwillig Auskunft.
„Das sind meine Haare", sagte er. „Wenn sie mir mal jemand
abschnitte, wäre ich nicht mehr stärker als jeder gewöhnliche Mann
auch." Noch in derselben Nacht schnitt ihm Delilah oder Dalilah,
während er schlief, die Haare ab. Als er am Morgen aufwachte, war
er schwach und hilflos.
Die Herrscher legten ihn in Ketten und
machten ihn zum Sklaven. Sie lachten ihn aus und machten sich über
ihn lustig, weil er nun nicht mehr stärker war als alle anderen
auch. Damit auch sicher war, daß er nie wieder stark wurde, stachen
sie ihm die Augen aus und schmiedeten ihn mit Ketten an die
Tempelsäulen.
Darüber vergingen einige Wochen und dann
machten sie einen Fehler, und zwar einen ganz schlimmen. Es entging
ihnen völlig, daß Samsons Haare wieder nachzuwachsen begannen.
Eines Nachts dann, als sie gerade eine große Party im Tempel
feierten, zog Samson, der genau an die Pfeiler gekettet war, welche
den Tempel trugen, kräftig an seinen Ketten, bis die Säulen
umfielen und der gesamte Tempel in sich zusammenstürzte. Alle, die
darin waren, kamen um. Allerdings bedauerlicherweise auch Samson
selbst.
Und was, weil wir gerade von Wundern reden,
ist mit Jonas und dem Wal?
Gott schickte Jonas in eine Stadt namens
Ninive, aber Jonas hatte keine Lust dazu. Er sagte zu einem Freund:
„Ich habe Wichtigeres zu tun."
„Da wird Gott aber böse sein", sagte der
Freund.
„Ach, der", sagte Jonas, „der ist so
beschäftigt, der merkt das
gar nicht."
„Du traust dich was", sagte der Freund.
„Ach Quatsch", sagte Jonas.
Und er bestieg ein Schiff, das zu einer ganz
anderen Stadt fuhr. Na ja, damit hatte er natürlich einen großen
Schnitzer begangen. Gott hatte es nämlich sehr wohl gemerkt und war
fuchsteufelswild, Er machte einen Riesensturm, in dem das Schiff
herumgeworfen wurde wie eine Nußschale.
„Wir sinken!" sagte der Kapitän. „Und alles
wegen dir, Mann. Weil du nicht getan hast, was dir Gott
anschaffte."
Jonas wußte schon, daß der Kapitän recht
hatte. Das ganze Schiff mit Mann und Maus würde
untergehen.
„Also gut", sagte er. „Dann springe ich eben
ins Meer. Wenn ich vom Schiff runter bin, stoppt Gott auch den
Sturm wieder, und ihr seid gerettet."
Es war ihm völlig bewußt, daß das seinen Tod
bedeutete, aber er verdiente ihn auch, sah er selbst ein, weil er
Gott nicht gehorcht hatte.
Kapitän und Mannschaft sahen zu, Wie er ins
fürchterlich tobende Meer sprang, und es war ihnen klar, daß er
ertrinken
würde.
Aber Gott tat wieder einmal ein Wunder. Als
Jonas ins Wasser fiel, schnappte ihn ein großer Wal und
verschluckte ihn. Tief in dessen Magen betete Jonas zu Gott um
Vergebung. Er betete drei Tage und drei Nächte lang, und danach
beschloß Gott, ihn zu erretten.
Nämlich, der Wal tat sein großes Maul auf und
spid en Jonas ans Ufer aus.
So. Vor zweitausend Jahren war es gang und
gäbe, den wilden Löwen Menschen zum Fraß vorzuwerfen. Hatte jemand,
Mann oder Frau, ein Verbrechen begangen oder etwas getan, das dem
König mißfiel, sagte der König kurz und schlicht: „Werft ihn, oder
sie, den Löwen vor."
Da gab es eine riesige Arena, so eine Art
Theater, wo die Leute sitzen und zuschauen konnten, wie die Löwen
auf die armen Teufel losgingen, die man ihnen zum Fraß vorgeworfen
hatte. Und da gab es einen netten, jungen Mann, der hieß Daniel.
Den mochten alle gut leiden. Nur im Hofstaat des Königs waren sie
eifersüchtig auf ihn, weil Daniel beim König einen Stein im Brett
hatte. Also logen sie dem König etwas vor von wegen, daß Daniel
hinter seinem Rücken über ihn herziehe. „Was?" sagte der König
wütend. „Na, dann werft ihn mal gleich den Löwen vor!"
Das freute sie. Endlich würden sie diesen
Daniel loskriegen. Sie warfen ihn also in eine Grube mit hungrigen
Löwen und überließen ihn diesen zum Fraße.
Und das feierten sie groß. „Endlich brauchen
wir uns wegen diesem Daniel keine Sorgen mehr zu machen."
„Jetzt können wir selbst beim König einen
Stein im Brett haben."
„Gleich morgen früh sehen wir nach, was von
Daniel noch übrig ist."
So gingen sie am nächsten Morgen zu der
Löwengrube, aber dann blieben sie wie angewurzelt stehen und
trauten ihren Augen nicht. Da saß Daniel ganz friedlich mitten
unter den Löwen, und die leckten ihm das Gesicht wie kleine
Hündchen. Gott hatte die Bestien gezähmt und Daniel
errettet.
Da ließen sie ihn voller Furcht aus der
Löwengrube heraus und gelobten, ihm niemals wieder nachzustellen
oder ihm Böses zu tun.
Wunder! Wißt ihr, wieso wir alle verschiedene
Sprachen reden? Da gab es mal eine Zeit auf der Erde, da redeten
alle dieselbe Sprache. Die Leute aus den verschiedensten Ländern
konnten sich problemlos miteinander unterhalten. Und darauf waren
sie auch mächtig stolz.
Einer aus der Stadt Babel hatte eine Idee.
„Wißt ihr was, wenn wir alle zusammenarbeiten, könnten wir einen
Turm bis in den Himmel bauen."
„Starke Idee!" sagte ein anderer. „Packen
wir's an!" Gesagt, getan, sie holten sich Ziegel und Mörtel und was
man sonst so braucht, um einen Turm zu bauen, und fingen an, ihn zu
errichten. Es sollte das größte und wunderbarste Bauwerk der ganzen
Welt werden. Doch das erforderte Jahre und Jahre, aber jedes Jahr
wurde ihr Turm höher und höher.
Darüber wurden viele Arbeiter alt und
starben, und ihre Söhne traten an ihre Stelle und machten weiter.
Nichts konnte den Turmbau aufhalten.
Der Turm wuchs wirklich immer weiter in den
Himmel hinauf. Nach vielen Jahren hatten sie den Himmel tatsächlich
erreicht, genau wie geplant.
Aber als Gott das sah - daß sie ihm sogar den
Himmel ankratzten -, gefiel ihm das überhaupt nicht.
Der einzige Grund,
dachte er, warum sie das fertigbrachten,
war, daß sie alle dieselbe Sprache redeten und
deshalb auch zusammenarbeiten konnten. Das
wollen wir doch mal unterbinden.
Und es gab einen Blitz, und auf der Stelle
redeten alle Völker plötzlich mit verschiedenen Zungen. Die einen
redeten japanisch, die anderen englisch, und es gab welche, die
redeten spanisch oder schwedisch oder polnisch. Folglich verstanden
sie einander nicht mehr.
Der Mann, der die Bauleitung des Turms hatte,
erteilte Anweisungen, aber keiner kapierte ein Wort. Alles ging
derart durcheinander, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als mit
dem Turmbau aufzuhören - exakt, was Gott wollte. Sie ließen den
Turm einfach stehen und zerstreuten sich in alle Welt. Und so
entstanden die Sprachen.
Jetzt aber: Habt Ihr schon mal von den Zehn
Geboten gehört? Die Geschichte geht so: Moses kam vom Berg herunter
und hatte zwei Steintafeln unter den Armen, die ihm Gott gegeben
hatte. Auf denen standen die Zehn Gebote. Ein Gebot ist eine
Vorschrift, die man befolgen muß.
Ich verrate Euch ein Geheimnis. Diese
Geschichte in der Bibel ist überhaupt nicht wahr. Es ist nämlich
nicht allgemein bekannt, daß es in Wirklichkeit zwölf Gebote waren!
Was passiert war, ist, daß Moses eigentlich mit dreien dieser
Steintafeln von dem Berg herunterkam. Doch auf dem Weg fiel er
einmal hin, wobei eine der Tafeln zerbrach, so daß halt nur noch
zehn Gebote übrig waren. Die Sache war ihm so peinlich, daß er sie
keiner Menschenseele jemals verriet. Die Zwölf Gebote lauten wie
folgt:
Erstes Gebot: Du sollst keine anderen Götter
neben mir haben. Zweites Gebot: Du sollst den Namen Gottes, deines
Herrn, nicht mißbrauchen.
Drittes Gebot: Du sollst den Feiertag
heiligen.
Viertes Gebot: Du sollst Vater und Mutter
ehren, auf daß es dir
wohlergehe und du lange lebest auf
Erden.
Fünftes Gebot: Du sollst nicht töten.
Sechstes Gebot: Du sollst nicht ehebrechen.
Siebtes Gebot: Du sollst nicht stehlen.
Achtes Gebot: Du sollst kein falsches Zeugnis
geben wider deinen Nächsten.
Neuntes Gebot: Du sollst nicht begehren
deines Nächsten Hab und Gut.
Zehntes Gebot: Du sollst dir kein Bildnis von
mir machen. Elftes Gebot: Du sollst nicht lügen.
Zwölftes Gebot: Du sollst deinen Mitmenschen
kein Leid zufügen.
Moses sagte den Leuten, jeder, der diesen
Geboten zuwiderhandle, werde bestraft.
Nun, das ist die Version des Moses von der
Geschichte. Aber wir wollen uns mal ein paar Geschichten von Leuten
anhören, die Gottes Gebote übertraten. Und was passierte mit ihnen?
Sie wurden reich und glücklich und berühmt!
2. KAPITEL
DAS ERSTE UND ZWEITE GEBOT:
Du SOLLST KEINE ANDEREN GÖTTER NEBEN MIR
HABEN.
DU SOLLST DEN NAMES GOTTES, DEINES HERRN,
NICHT MISSBRAUCHEN.
Die erste Geschichte handelt von einem Mann,
der gleich zwei Gebote auf einmal brach, nämlich das erste: Du
sollst keine anderen Götter neben mir haben. Und das zweite: Du
sollst den Namen Gottes, deines Herrn, nicht mißbrauchen.
Was die Geschichte besonders interessant
macht, ist, daß dieser
Mann ausgerechnet ein Priester war.
Er hieß George.
Seit George ein kleiner Junge gewesen war,
hatte er der katholischen Kirche angehören wollen. Er war sehr
religiös. Er hätte nicht im Traum daran gedacht, eines der Zwölf
Gebote zu brechen. Jeden Sonntag ging er zur Kirche, und er betete
täglich.
Als er alt genug war, sagte er zu seinem
Vater: „Ich möchte Priester werden."
Während die anderen Jungs alles mögliche
anstellten, Fensterscheiben einschlugen, logen, schummelten und
keinen Pfifferling auf die Gebote gaben, bemühte sich George
eifrig, niemals Falsches oder Böses zu tun.
Als er achtzehn Jahre alt war, ging er, statt
wie seine Schulfreunde aufs College, ins Priesterseminar und
studierte Theologie.
Nun befanden sich dort natürlich alle Knaben
zu dem Zweck,
Priester zu werden, und waren ohnehin schon
alle gut, sanft und edelmütig, weil dies nun einmal zu Priestern so
gehört. George jedoch ging selbst da allen auf die Nerven. Keiner
der anderen Priesterschüler konnte ihn ausstehen, und selbst die
Lehrer mochten ihn nicht. Warum? Weil er derart penetrant gut
war.
Waren die anderen sanftmütig und nett, so war
George noch sanftmütiger und netter.
Waren die anderen rein, so war George noch
reiner. Waren die anderen heilig, so war George noch heiliger.
Nicht einer hielt. es in seiner Nähe aus. Beging irgendeiner auch
nur den kleinsten Fehler, war George schon an seiner Seite und
sagte: „Das hättest du nicht tun dürfen. Das gefällt Gott gar
nicht." Ihm konnte es keiner recht machen.
Gut, in einem Priesterseminar erwartet man
nichts anderes, als daß alle mächtig heilig sind. Aber George war
einfach zu heilig. Alle waren schon nervös, wenn er nur auftauchte.
Jeder hatte Bammel davor, einen Fehler zu machen, wenn George nur
in der Nähe war.
Als George mit seinem Studium fertig war,
wurde er zum Priester geweiht. Es war der glücklichste Augenblick
seines Lebens. Er reiste zu seinen Eltern zu Besuch. Sein Vater
schmauchte gerade eine Zigarre.
„Du solltest nicht rauchen", sagte George.
„Zigarren sind
Teufelskraut."
Seine Mutter saß vor dem Fernseher.
„Es ist Sonntag", sagte George. „Statt
fernzusehen, solltest du in der Kirche sein und beten."
Sein kleiner Bruder sagte: „O Gott, ich hasse
dieses Schönanziehen am Sonntag."
George war entsetzt. „Du hast das Wort
>Gott< in den Mund
genommen! Niemals, nie sollst du den Namen
Gottes, deines Herrn, fahrlässig aussprechen und mißbrauchen. Du
wirst in der Hölle dafür bestraft werden!"
„Ich glaube nicht an die Hölle", sagte sein
kleiner Bruder. „Kleiner Bruder, du bist ein Sünder! Ich werde für
dich beten!" Er wandte sich an seine Eltern. „Ihr seid alle Sünder!
Ich werde für euch beten!"
Sie konnten es alle gar nicht erwarten, bis
George wieder wegfuhr.
Georges erste Pfarrei war in einer kleinen
Stadt in Vermont. Dort gab es überhaupt nur diese einzige Kirche.
Der vorige Priester war fortgegangen, und die Leute wollten rasch
einen neuen haben. Der war George.
Sie freuten sich sehr darauf, ihren neuen
Priester willkommen zu heißen. Aber schon nach einer Woche hätten
sie ihn gern wieder losgehabt.
Zum katholischen Ritus gehört die Beichte.
Die Leute knien sich in eine kleine Nische und reden mit dem
Priester, der verborgen auf der anderen Seite sitzt. Sie beichten
ihm ihre Sünden.
Nun war der vorige Priester ein sehr gütiger
Mann gewesen. Beichtete ihm eines seiner Pfarrkinder seine Sünden,
so sagte er: „Bete fünfzig Ave Maria, mein Sohn (oder meine
Tochter), und deine Sünden sind dir vergeben."
Aber nicht so George. O nein. Die erste
Beichte, die er hörte, war die eines jungen Mädchens, das in den
Beichtstuhl kam und sagte: „Pater, ich habe gesündigt."
„Was hast du getan?" fragte George. „Mein
Freund hat mich neulich zum Tanz ausgeführt, und wir haben Whisky
getrunken, und dann habe ich mich von ihm anfassen lassen." George
auf der anderen Seite des Beichtstuhlgitters schrie geradezu: „WAS
HAST DU?"
Dem Mädchen verschlug es buchstäblich die
Sprache.
„Wie konntest du das nur tun?" ereiferte sich
George. „Weißt du denn nicht, daß Whisky das Getränk des Teufels
ist? Und du läßt dich von einem Mann berühren? Von einem Mann, mit
dem du nicht verheiratet bist? Du bist niedrig und böse! Verlasse
sofort meinen Beichtstuhl!"
Das arme Mädchen war völlig verwirrt und lief
weinend zu seiner Mutter nach Hause.
Der nächste, der in den Beichtstuhl kam, war
ein schon älterer
Mann.
„Pater, ich habe gesündigt."
„Schande über dich!" sagte George. „Was hast
du getan?" Der alte Mann war nicht daran gewöhnt, daß ein Priester
so mit ihm sprach. Priester hatten mitfühlend und verständnisvoll
zu sein.
„Ich bin arbeitslos", sagte der alte Mann.
„Ich besitze keinen Pfennig, habe aber einen Enkel zu versorgen. Es
war nichts Eßbares im Hause, und da habe ich auf dem Markt ein Brot
gestohlen, damit ich meinem Enkelkind zu essen geben kann." „DU
HAST BROT GESTOHLEN? DIEB!" „Aber mein Enkelkind..."
„Ich will keine Ausreden hören! Du hast das
siebte Gebot gebrochen: Du sollst nicht stehlen! Ins Gefängnis muß
man dich werfen!" Der alte Mann traute seinen Ohren
nicht.
Das nächste Beichtkind war eine Frau. Sie
sagte: „Pater, ich habe gesündigt."
George war bereits zornig. „Was ist mit euch
Leuten hier eigentlich los? Habt ihr denn alle gesündigt? Warum
könnt ihr nicht sein wie ich?"
Dann zwang er sich jedoch, sich zu beruhigen
und sagte: „Also, erzähle mir deine Sünde. Ich hoffe nur, es ist
nichts zu Ernstes."
„Nein, Pater, Ernstes ist es nicht. Ich bin
verheiratet. Neulich
rief mich ein alter Freund von früher an.
Aber ich wollte nicht mit ihm reden und legte auf. Als mein Ehemann
fragte, wer das gewesen sei, sagte ich, falsch verbunden. Sie
sehen, es war nur eine ganz kleine Sünde, aber..."
„Es gibt keine kleinen Sünden!" donnerte
George. „Du bist eine Lügnerin! Gott vergibt Lügnern
nicht!"
Sein Pfarrkind war geschockt. „Ich habe es
doch nur um des Friedens in meiner Familie willen getan,
Pater!"
„Gott kümmert nicht, warum du es getan hast.
Er weiß nur, daß du gelogen hast!"
Jetzt, wo er seine eigene Pfarrei hatte, war
George noch schlimmer, als er schon im Priesterseminar gewesen war.
Er war derart rein und heilig, daß es nicht auszuhalten war. Bei
seiner ersten Predigt von der Kanzel blickte er streng in die Runde
und sagte: „Ich bin jetzt euer neuer Priester. Mein Name ist
George. Ich bin ein reiner und frommer Mann. Wenn ich mir euch so
ansehe, erblicke ich nichts als eine Kirche voller Sünder, ihr alle
miteinander. Ihr seid böse, aber ich werde das ändern. Wenn ich
erst mit euch fertig bin, werdet ihr alle gut und rein sein und im
Lichte des Herrn leben."
Die nächste halbe Stunde verbrachte er damit,
der versammelten Gemeinde tüchtig die Leviten zu lesen. Am Ende der
Woche sehnte sich die gesamte Stadt nur noch danach, George
möglichst schnell loszuwerden. Der Bürgermeister telefonierte
persönlich mit dem Bischof. „Sie müssen diesen Mann hier wieder
wegholen. Das ist ja ein Wahnsinniger." „Was hat er denn
getan?"
„Er tut so, als wären wir alle Kriminelle.
Alle lügen mal ein bißchen, stehlen mal eine Kleinigkeit, betrügen
dann und wann ein klein wenig, gehen mal mit einer anderen Frau
nebenhinaus oder kippen sich gelegentlich einen hinter die Binde.
Aber wenn wir dann zur Beichte gehen und es diesem George gestehen,
dann haben wir hinterher das Gefühl, daß wir nur noch Selbstmord
begehen können. Sie müssen uns von dem Mann befreien. Ich kann
Ihnen gar nicht sagen, wie deprimiert wir alle sind."
Der Bischof bestellte George zu sich. George
war über diese Ehre ganz begeistert.
Der Bischof sagte: „Setze dich, mein Sohn.
Wie macht sich denn deine Priesterschaft so?"
„Ganz ausgezeichnet!" sagte George. „Ich
wußte ja gar nicht, wie viele Seelen es zu retten gilt. Aber ich
werde sie alle retten."
„Meinst du nicht, George", fragte der Bischof
vorsichtig, „daß du vielleicht ein bißchen zu streng mit deinen
Pfarrkindern umgehst?"
„Zu streng? Ich tue das Werk des Herrn! Ich
werde sogar noch strenger werden! Ich werde ihnen solange im Genick
sitzen, bis auch nicht eine Sünde mehr in dieser Stadt übrig ist."
Der Bischof sah George nachdenklich an und wußte jetzt, warum ihn
niemand ausstehen konnte. „Ich denke, mein Sohn, ich werde dich in
eine kleinere Stadt versetzen", sagte er. George blickte überrascht
auf. „Warum?"
„In kleinen Städten", sagte der Bischof
taktvoll, „gibt es auch mehr Sünden. Sie brauchen mehr
Hilfe."
Da hellte sich Georges Gesicht wieder auf.
„Ah ja, gut! Wann fange ich an?"
„Auf der Stelle", sagte der Bischof und
dachte kurz nach. „Da gibt es eine kleine Stadt oben in Maine. Die
Pfarrei dort hat zwar nur hundert Pfarrkinder, aber sie braucht
einen Priester. Dorthin schicke ich dich."
„Danke", sagte George. „Ich werde alles tun,
um die Leute zu erretten."
Schon nach einer Woche bekam der Bischof auch
einen Anruf vom Bürgermeister dieser kleinen Stadt in
Maine.
„Der Priester, den Sie uns geschickt haben,
ist ein Wahnsinniger! Holen Sie den nur ja schnell wieder weg!" Der
Bischof sagte: „Was hat er denn getan?"
„Wir gehen die Woche über beichten, und er
erzählt am Sonntag bei der Predigt alles, was wir gebeichtet haben!
Schaffen Sie ihn weg!" Der Bischof schickte erneut nach
George.
„George", fragte er ihn, „liebst du deinen
Beruf?"
„O ja!" versicherte George. „Ich hatte keine
Ahnung, wie viele Sünder es auf dieser Welt gibt, und ich werde
nicht rasten und ruhen, bevor ich nicht auch den letzten Sünder
errettet habe." Jetzt war auch dem Bischof endgültig klar, daß er
es bei George mit einem hoffnungslosen Fall zu tun hatte.
„George, mein Sohn", sagte er, „ich glaube,
ich habe eine bessere Verwendung für dich als in dieser kleinen
Stadt in Maine. Wir haben da eine Gemeinde in einem kleinen Dorf in
Afrika." „In Afrika?" sagte George stirnrunzelnd.
Der Bischof sagte: „Dort gibt es eine Menge
Sünde!" Georges Gesicht hellte sich auf. „Ach so!"
„Ich schicke dich dorthin zusammen mit einem
halben Dutzend weiterer Priester der Afrikahilfe. Jeder von euch
bekommt eine Pfarrei in einem anderen Dorf."
George stand auf und sagte stolz: „Ich bin
bereit."
„Gut", sagte der Bischof."Dein Flugzeug geht
in zwei Tagen. Bis dahin kannst du noch einmal nach
Hause."
„Ich freue mich auf meine Arbeit in Afrika",
sagte George.
„Nur eines betrübt mich."
„Was denn?"
„Wie sehr meine Pfarrkinder hier mich
vermissen werden."
George fuhr nach Hause, um sich auf die Reise
nach Afrika vorzubereiten. Sein Vater sah gerade einen Pornofilm im
Fernsehen an.
George sah es voller Ungläubigkeit, griff
sich einen Hammer
und zertrümmerte das Fernsehgerät.
„Was hast du getan?" schrie sein Vater.
„Deine Seele vom Teufel errettet!" entgegnete
George. „Oder hast du nicht gesehen, was der Mann und die Frau da
gemacht haben?"
„Na selbstverständlich habe ich es gesehen",
sagte sein Vater. „Was glaubst du, weshalb ich es anschaue? Was für
ein Mann bist du eigentlich?"
„Ich bin mehr als ein Mann", erklärte George.
„Ich bin Priester!"
„Na schön, du Priester, dann kannst du die
Reparatur meines Fernsehers bezahlen. Wann reist du nach Afrika
ab?" „Morgen", sagte George glücklich. „Gut!" sagte sein Vater noch
glücklicher.
George traf sich voller Stolz mit den anderen
sechs Priestern am Flughafen. Alle waren sehr aufgeregt und
gespannt auf ihre neue Aufgabe.
„Viele dieser armen Leute dort haben nicht
genug zu essen." „Zahlreiche sind krank und haben keine Ärzte, die
sie behandeln."
„Sie haben unter einer Diktatur zu leiden und
sind nicht frei." George aber sagte: „Hätten sie nicht die Zwölf
Gebote gebrochen, wäre ihnen das alles nicht widerfahren. Sie sind
alle Sünder." Die anderen Priester starrten ihn an.
Als sie das Flugzeug bestiegen, fand sich
George bereits abseits und allein sitzend.
Sie flogen in einem heftigen Gewitter über
die Berge am
Kilimandscharo und waren noch zwei Stunden
von ihrem Zielort entfernt, als ein plötzlicher Blitzeinschlag ihr
Flugzeug durch die Luft taumeln ließ. „Was ist passiert?" fragte
einer der Priester. Das Flugzeug begann zur Erde zu
stürzen.
„Wir stürzen ab", sagte einer der anderen
Priester.
George aber erhob seine Stimme: „Ihr wollt
Priester sein und habt keinen Glauben? Natürlich wird Gott uns
nicht abstürzen lassen."
Zwei Minuten später waren sie abgestürzt. Das
Flugzeug war in die Bäume gekracht und kam schließlich zum Stehen.
Die Passagiere waren arg zerzaust, aber niemand war tot. Sie waren
in einer abgelegenen Ecke des afrikanischen Dschungels in einem
Kannibalengebiet heruntergekommen.
Die Kannibalen hatten noch nie ein Flugzeug
gesehen. Sie sahen in Furcht erstarrt zu, wie der Riesenvogel vom
Himmel fiel.
Die einzige Begegnung, die sie bisher mit
einem Weißen gehabt hatten, war ein Forschungsreisender gewesen,
den sie dann verspeisten, aber das war schon viele Jahre her. Er
hatte ihnen zuvor noch etwas Englisch beigebracht. „Gott ist
gekommen", sagte ihr Häuptling.
Sie beobachteten, wie die sieben Priester aus
dem Flugzeug herauskamen. Sie wußten aber, nur einer von ihnen
konnte Gott sein. Die anderen mußten seine Diener sein.
Als die Priester die Eingeborenen erblickten,
waren sie hocherfreut.
George sprach zu ihnen: „Wir sind gekommen,
meine Kinder, eure Seelen zu erretten. Deshalb hat Gott uns
verschont. Wenn ihr uns ein Bett für die Nacht geben und uns morgen
früh aus diesem Dschungel hier hinausführen wolltet, wären wir euch
sehr verbunden." Die Eingeborenen starrten ihn an.
Der Häuptling winkte ihm. „Komm."
Die Priester folgten den Eingeborenen in
deren winziges Dorf
aus Grashütten.
„Wir sind hungrig", sagte George.
„Wir auch", sagte der Häuptling und wandte
sich an seine Leute: „Bindet sie."
Und so fanden sich die Priester zu ihrer
Überraschung an Händen und Füßen gefesselt. Auf einem Dreifuß stand
ein großer Kessel, in dem Wasser kochte.
Der Häuptling befühlte ihre Arme und Beine
und' freute sich: „Ah, gutes Essen."
„Was reden Sie denn?" wollte George streng
wissen. „Ich verlange, daß Sie uns auf der Stelle alle wieder
freilassen!" Der Häuptling aber spuckte ihm nur ins Gesicht. „Du
hältst den Mund, ja?" Er sah sich um. „Einer von euch ist der vom
Himmel gekommene Gott und der soll uns führen und schützen. Die
anderen essen wir."
„Ich erhebe Einspruch", sagte George. „Wir
sind amerikanische Staatsbürger und -"
„Maul halten", wiederholte der Häuptling und
spuckte ihn erneut an. Dann wandte er sich an den nächsten
Priester. „Bist du der Gott, der gekommen ist, uns zu
erretten?"
„Natürlich nicht", sagte der Priester. „Ich
bin nur ein einfacher
Mensch, der -"
„Gut. Kochen!"
Die anderen Priester sahen mit Entsetzen zu,
wie sie ihren Kollegen packten und in den großen, kochenden Kessel
warfen. Seine Schreie waren schrecklich.
„Hören Sie mal", sagte George. „Sie glauben
doch nicht, daß Sie damit durchkommen. Wir -"
„Maul halten." Der Häuptling spuckte und
wandte sich dem
nächsten Priester zu. „Bist du Gott?"
„Nein."
„Kochen!"
Und so ging es weiter die Reihe durch. Jeden
Priester fragte der Häuptling,. ob er Gott sei, und alle waren sie
nicht bereit, das erste und zweite Gebot zu brechen: Du sollst
keine anderen Götter neben mir haben, und Du sollst den Namen
Gottes, deines Herrn, nicht mißbrauchen.
Als auch der letzte zugab, nicht Gott zu
sein, wurde er ebenfalls in den Kochkessel geworfen.
Jetzt war nur noch George übrig. „Bist du
Gott?" fragte der Kannibalenhäuptling auch ihn.
George hatte sich die Todesschreie seiner
sechs Kollegen anhören müssen. Er wollte zwar das erste und zweite
Gebot nicht übertreten, aber andererseits auch nicht das Abendessen
dieser Wilden werden. „Ja", sagte er also, „ich bin
Gott."
Alle Eingeborenen verbeugten sich tief vor
ihm. Sie schnitten seine Fesseln durch und kleideten ihn in ein
prächtiges Stammesgewand.
Der Häuptling sagte: „Du sollst für immer
hier bei uns leben und uns beschützen."
Und George bekam drei schöne Frauen, die bei
ihm schliefen und ihm Nahrung aus dem Urwald und Obst von den
Bäumen brachten. Den Rest seines Lebens verbrachte er froh und
glücklich und wurde wie ein König behandelt.
Das ist die Geschichte von dem Mann, der
nicht nur eines, sondern gleich zwei Gebote übertrat.
3. KAPITEL
DAS DRITTE GEBOT: DU SOLLST DEN FEIERTAG
HEILIGEN.
Nun, was bedeutet das? Es bedeutet, man soll
am Sonntag ruhen, an Gott denken und keine Geschäfte betreiben.
Dies aber ist die Geschichte von Ralph, einem Mann, der das dritte
Gebot brach und damit sehr reich wurde.
Ralph war der glückloseste Mann auf der
ganzen Welt. Was er auch anpackte, ging schief. Er war ein guter
Mensch, fleißig, ehrlich und anständig. Er war sehr verliebt
gewesen in eine Frau, die dann mit seinem besten Freund durchging
und diesen heiratete. Mit anderen, Worten, er hatte damit zugleich
am selben Tag sein Mädchen und seinen besten Freund verloren. Eine
Woche später überfuhr er seinen Hund, und noch ein paar Tage darauf
starb seine Katze.
Er arbeitete in einer Fabrik, die bankrott
machte. Danach arbeitete er in einem Textilgeschäft, das
abbrannte.
Ist jetzt allmählich klar, warum ich sage, er
war der glückloseste Mensch auf Gottes weiter Welt?
Es war gerade, als hätte Gott es auf den
armen Ralph speziell abgesehen, um ihn für irgend etwas zu
strafen.
Weil er kein Geld hatte, lebte Ralph bei
seinen Eltern. Die waren sehr fromm. Sie glaubten an Gott und
daran, daß man von ihm bestraft wurde, wenn man eines seiner Gebote
übertrat. Und weil ihr Sohn ein solcher Pechvogel war, waren sie
davon überzeugt, daß das nur daher kommen konnte, daß er die Gebote
brach.
Eines Tages rief ihn sein Vater in die
Bibliothek.
„Ralph, es ist nicht anders möglich, du tust
offenbar Falsches
und Schlechtes. Ich habe noch keinen Menschen
gesehen, der
so glücklos in seinem Leben ist wie du. Übertrittst du
denn
eines der Gebote?"
„Nein, Vater."
„Bist du dessen auch sicher?' Nehmen wir doch einfach
gleich
das erste Gebot: Du sollst keine anderen Götter neben mir
haben. Brichst du dieses Gebot?"
„Nein, Vater."
„Gut. Reden wir dann vom zweiten Gebot: Du sollst den
Namen Gottes, deines Herrn, nicht mißbrauchen. Hast du
das
jemals getan, geflucht?"
„0 nein, Vater."
„Dann das dritte Gebot. Heiligst du den
Feiertag?"
„Aber natürlich", sagte Ralph. „Jeden Sonntag
gehe ich in die Kirche, und ich spiele am Sonntag nie und gehe auch
nicht ins Kino oder tue sonst etwas, außer an Gott zu denken." Sein
Vater nickte. „Und nun das vierte Gebot: Ehrst du Vater und
Mutter?"
„Aber ja doch", bekräftigte Ralph. „Ich ehre
euch alle beide." „Das fünfte Gebot", sagte sein Vater. „Du sollst
nicht töten. Du hast doch wohl noch niemanden getötet,
oder?"
„Aber Vater", sagte Ralph indigniert, „als
würde ich jemals im Traum daran denken, jemanden zu
töten!"
„Gut", sagte Ralphs Vater, „ich weiß, daß du
die Wahrheit sagst, aber irgendwas mußt du falsch machen, sonst
hättest du doch nicht dauernd soviel Pech! Wie steht es denn mit
dem sechsten Gebot: Du sollst nicht ehebrechen? Na, das kannst du
ja wohl nicht gebrochen haben, nachdem du gar nicht verheiratet
bist."
Ralph dachte an seine Freundin und wie er sie
verloren hatte. „Nein", bekräftigte er traurig, „bin ich
nicht."
„Und was ist mit dem siebten Gebot, Du sollst
nicht stehlen?" fragte der Vater unerbittlich weiter.
„Ich bin sehr ehrlich", antwortete Ralph."Ich
habe in meinem ganzen Leben noch nichts gestohlen."
„Ich glaube es dir", sagte sein Vater. „Aber
warum hast du dann soviel Pech?"
„Ich habe keine Erklärung dafür", sagte
Ralph.
„Und das achte Gebot: Du sollst kein falsches
Zeugnis geben wider deinen Nächsten. Wie steht es damit? Hast du je
wider einen unserer Nachbarn falsches Zeugnis gegeben?" „Niemals",
schwor Ralph.
Seinem Vater wurde alles noch rätselhafter.
„Und was ist mit dem neunten Gebot: Du sollst nicht begehren deines
Nächsten Haus und Hab und Gut?"
Ralph war total überrascht. „Aber Vater, das
Haus unseres Nachbarn ist eine heruntergekommene Bruchbude. Was
sollte ich denn da begehren? Da drinnen möchte ich nicht mal
wohnen."
„Und das zehnte Gebot: Du sollst dir kein
Bildnis von mir machen?"
„Ich hab keinen Schimmer, wie man schnitzt
oder bildhauert", sagte Ralph.
„Ich glaube dir, mein Sohn", sagte der Vater.
„Wie aber steht es mit dem elften Gebot, Du sollst nicht lügen?"
„Ich sagte dir doch, Vater, daß ich nie lüge."
„Nun gut, mein Sohn. Und was ist mit dem
zwölften Gebot, Du sollst deinen Mitmenschen kein leid zufügen?
Bist du manchmal in Schlägereien verwickelt?"
„Vater, wo ich doch keiner Fliege etwas
zuleide tun kann! Ich weiß ja nicht einmal, wie man sich
prügelt."
Ralphs Vater war nach diesem Gespräch nicht
klüger als zuvor. Er war fest überzeugt, daß sein Sohn keines von
Gottes Geboten gebrochen hatte.
Vielleicht, dachte
er, war Ralph auch nur in der Vergangenheit
ein Pechvogel, und es ändert sich von nun an,
weil er ja alle
Gebote einhält und
befolgt. Da muß er doch jetzt allmählich
mehr Glück haben.
Aber da irrte er sich.
Am nächsten Tag schüttete eine Serviererin
Ralph, als er beim Essen in einem Restaurant saß, kochend heißen
Kaffee über die Hand und verbrühte sie ihm. Ralph mußte in die
Notaufnahme im Krankenhaus gebracht werden.
Dort rutschte er auf dem glattgebohnerten und
gerade frisch gewachsten Boden im Korridor aus und brach sich ein
Bein. Man legte ihn auf eine Bahre und trug ihn in ein Zimmer. Dort
ließ der Pfleger die Bahre fallen und Ralph brach sich auch noch
einen Arm.
Zwei Wochen lang lag er im Krankenhaus. Als
er wieder heimkam, hatte er ein Gipsbein, einen Gipsarm, und seine
Hand war auch noch immer verbunden.
Sein Vater war ganz verzweifelt und ging zu
seinem Pfarrer. „Warum verfolgt meinen Sohn derart das Pech?"
fragte er ihn. Und er erzählte dem Priester alle Mißgeschicke, die
Ralph schon widerfahren waren.
Aber auch der Pfarrer schüttelte nur den
Kopf. „Ich kann mir nichts anderes denken, als daß er eben eines
von Gottes Geboten bricht."
„Nein", widersprach Ralphs Vater, „das kann
nicht sein. Er hält jedes einzelne sorgsamst ein."
Der Pfarrer schüttelte noch einmal den Kopf.
„Dann weiß ich auch keine Antwort."
Das Problem war, daß niemand eine Antwort
wußte. Es stand in der Bibel geschrieben, wenn man alle Zwölf
Gebote befolgte, konnte man ein glückliches und friedvolles Leben
führen. Und was war? Da befolgte einer schon mal aufs Genaueste
alle Zwölf Gebote, aber sein Leben war elend und
mies von vorne bis hinten!
Jeden Sonntag bestanden Ralphs Eltern darauf,
daß er, obwohl nach wie vor in Gips und auf Krücken, aufstand und
mit ihnen in die Kirche ging. „Wir möchten nicht", sagte seine
Mutter, „daß Gott zornig auf dich wird."
„Zornig auf mich!" höhnte Ralph. „Ich bin
doch schon die ganze Zeit sein Sandsack!" „Aber, aber! Sprich nicht
so, mein Sohn! Und jetzt stehe auf und komme mit uns zur Kirche."
Ralph hatte Schmerzen und fühlte sich überhaupt total schlecht,
aber er gedachte des Gebots, daß man Vater und Mutter ehren muß,
damit man lange lebe und es einem wohlergehe auf Erden, und
kleidete sich in Gottes Namen an und kam mit zur Kirche. Dort saß
er und hatte solche Schmerzen, daß er kaum wahrnahm, was der
Pfarrer alles predigte.
Aber er gelobte: „Ich werde so lange jedes
einzelne Gebot einhalten, bis diese Pechsträhne endlich einmal
aufhört."
Zwei Monate später waren Ralphs Arm und Bein
verheilt, und auch den Verband von der verbrühten Hand konnte man
entfernen. Er konnte wieder zur seinem Arbeitsplatz zurückkehren,
einem Videoladen.
Er kam zur Tür herein und sagte: „Da bin ich
wieder." Aber der Geschäftsinhaber sagte: „Sie haben zu lange
gefehlt, da mußte ich jemanden anderen einstellen. Sie sind
entlassen." Das war wiederum noch längst nicht alles. Als er nach
Hause zurückkam, fand er den kleinen Garten, den er angelegt hatte
und sehr liebte, von irgendeinem Tier verwüstet.
Am Abend, als er zum Essen ausgegangen war,
wurde ihm sein Auto gestohlen. Das bemerkte er allerdings erst drei
Tage später, weil der Fisch, den er in der Gaststätte gegessen
hatte, nicht mehr gut gewesen war und man ihn mit einer
Fischvergiftung in ein Krankenhaus bringen und ihm den Magen
auspumpen mußte. Seine Eltern besuchten ihn. „Was wird als nächstes
passieren?" weinte seine Mutter. „Es kann nichts mehr passieren",
sagte Ralph. „Von jetzt an kann es nur noch besser werden,
alles."
Er verließ das Krankenhaus zwei Tage darauf,
und als er die Straße überquerte, fuhr ihn ein Bus an.
„Jetzt ist es eindeutig!" rief sein Vater.
„Du tust etwas, was Gott nicht gefällt!"
Sie gingen wieder alle Zwölf Gebote durch,
konnten aber nichts finden, wogegen Ralph sich verging.
„Du mußt es einfach intensiver versuchen",
sagte der Vater. Aber Ralph hatte es inzwischen satt. „Nein. Ich
habe es jetzt lange genug intensiv versucht. Von nun an ist mir
egal, was Gott mir antut."
Sein Vater war schockiert. „Sage so etwas
nicht!" Er schickte einen Blick zum Himmel hinauf. „Der Blitz wird
auf dich herabfahren."
„Das wäre auch das einzige", antwortete
Ralph, „was Gott mir noch nicht angetan hat."
Er blieb die ganze Woche zu Hause und
weigerte sich, auszugehen, um Arbeit zu suchen. „Wozu?" sagte er.
„Ihr wißt doch genau, wie glücklos ich bin. Ich finde ja doch keine
Arbeit, und auf dem Weg wird mich mit Sicherheit ein Auto
überfahren."
Ralphs Vater wußte nichts zu entgegnen. Er
war jetzt selbst überzeugt davon, daß sein Sohn recht
hatte.
Am Sonntagmorgen sagte Ralphs Mutter: „Stehe
auf, mein
Schatz, es ist Zeit für die Kirche."
„Ich will nicht zur Kirche gehen."
„Was soll das heißen, du willst nicht zur
Kirche gehen? Wir gehen doch jeden Sonntag zur Kirche!"
„Und was hat es mir genützt?" sagte Ralph.
„Ich bleibe heute zu Hause."
„Du kannst nicht zu Hause bleiben", erklärte
ihm sein Vater. „Das dritte Gebot sagt -"
„Ja, ich weiß, was im dritten Gebot steht. Du
sollst den Feiertag heiligen. Aber es ist mir egal. Ich bleibe
heute den ganzen Tag im Bett."
Und nichts, was sie sagten, konnte ihn dazu
bringen, seine Meinung zu ändern.
Schweren Herzens gingen Ralphs Eltern ohne
ihn zur Kirche. „Das wirst du noch bereuen", warnte ihn sein Vater
allerdings. „Schreckliche Dinge können geschehen, wenn man eines
der Gebote bricht."
Aber Ralph sagte einfach nur: „Sollen sie
doch geschehen. Ich fürchte mich nicht davor."
Er sah seinen Eltern nach, wie sie. das Haus
verließen. Ich hätte
schon mitgehen sollen, dachte er mit Schuldgefühlen. Tatsache
war, daß er durchaus etwas nervös darüber war, das dritte Gebot zu
brechen. Stets war er bisher am Sonntag zur Kirche
gegangen.
Er merkte, daß er einfach zu unruhig war, um
im Bett zu bleiben. Vielleicht gehe ich ein wenig spazieren, dachte
er. Wollen doch mal sehen, was für Knochen ich mir heute brechen
werde.
Er zog sich an und ging los. Es war ein
schöner Frühlingsmorgen. Die Luft war frisch und klar. Er ging die
Straße entlang und sah sich ständig nervös um, weil er darauf
wartete, was ihm denn nun zustoßen werde, jetzt, wo er so offen das
dritte Gebot übertrat.
Er stolperte über etwas und dachte: Aha, geht
schon los. Doch als er auf den Gehsteig hinunterblickte, sah er,
daß er über eine Brieftasche gestolpert war, die jemand verloren
hatte. Neugierig hob er sie auf und schaute hinein. Die Brieftasche
war voller Hundertdollarscheine. Aber es stand kein Name und keine
Adresse in der Brieftasche. Ralph war ein ehrlicher Mensch und
hätte sie zurückgegeben, wenn er nur gewußt hätte, wem und
wohin.
Er zählte das Geld. Es waren fünftausend
Dollar. Er konnte nicht glauben, was er für ein Glück hatte. Es war
das allererste Mal, solange er denken konnte, daß er tatsächlich
Glück hatte. Er steckte die Brieftasche ein und ging weiter. An der
nächsten Ecke war ein Zeitschriftenladen, in dem auch Sofortlose
der Lotterie verkauft wurden.
Man kaufte ein Los, riß es auf, und es kam
eine Nummer zum Vorschein. Der Ladenbesitzer sagte zu Ralph: „Es
sind neue Lotterielose herausgekommen. Möchten Sie vielleicht
welche kaufen?"
Ralph zögerte. Er spielte niemals, schon,
weil er sowieso verlor. Jetzt jedoch hatte er eine Brieftasche
voller Geld und sagte: „Also gut, ich kaufe zehn."
Er kaufte die zehn Lose, und der
Ladenbesitzer sah zu, wie er das erste aufriß und auf die Nummer
schaute.
„Das ist ein Gewinnlos!" sagte der Mann.
„Hundert Dollar." Ralph riß das nächste Los auf. „Noch ein Gewinn!
Zweihundert Dollar!"
Jedes seiner zehn Lose gewann. Weder er noch
der Ladenbesitzer konnten es recht glauben.
„Also, so etwas von Glückspilz wie Sie habe
ich noch nicht erlebt", sagte der Mann zu Ralph.
Ralph hatte jetzt alle Taschen mit Geld
vollgestopft. Und er dachte: Soviel Glück habe
ich im ganzen Leben noch nicht gehabt. Wenn
ich aber jetzt in der Kirche wäre, hätte das alles hier nicht passieren können.
Er kam am Büro einer Fluglinie vorbei.
Spontan ging er hinein. „Ich möchte einen Hin- und Rückflug nach
Las Vegas, bitte." Er bezahlte das Flugticket gleich in bar, damit
er auf jeden Fall schon seinen Rückflug sicher hatte, falls er
alles Geld in Las Vegas beim Spielen verlor.
Der Flug dauerte zwei Stunden.
Ralph war noch nie zuvor in Las Vegas
gewesen. Als er am Flughafen ankam, war er überrascht, daß es schon
dort Hunderte von Spielautomaten gab. Er nahm einige Münzen und
steckte sie in einige dieser Automaten. Und die spuckten alsbald
Geld für ihn aus.
Er nahm sich ein Taxi zu einem der Hotels.
Der Spielsaal war voller Leute, die alle mit Karten spielten oder
mit Würfeln oder an den Spielautomaten.
Er setzte sich auf einen freien Platz an
einem Spieltisch. „Entschuldigen Sie", sagte er zu dem
Angestellten, „kann ich hier spielen?" „Selbstverständlich, ja.
Haben Sie Geld?"
Ralph holte sein Bargeld aus der Tasche und
zeigte es her. Das Gesicht des Angestellten hellte sich sofort auf.
„Aber natürlich, Sir! Kommen Sie hierher. Ein neuer Shooter kommt
sofort. Wieviel möchten Sie denn setzen?"
Ralph hatte noch nie im Leben gespielt. Er
hatte keine Ahnung,
was „ein neuer Shooter" bedeutete. (Es bedeutete, daß es
um
den gesamten Einsatz ging.)
„Ich setze tausend Dollar", sagte er.
Der Mann gab ihm einige Chips und zeigte
tausend Dollar auf seiner Tafel an.
Er warf eine Sieben. Vor Ralph häufte sich
nun ein Stapel im Wert von zweitausend Dollar.
„Heißt das, ich habe tausend Dollar
gewonnen?" fragte Ralph. „Richtig. Wollen Sie sie stehen
lassen?"
Ralph hatte auch keine Ahnung, was „stehen
lassen" bedeutete, aber er sagte einfach: „Sicher."
Der Mann warf die Würfel wieder, und sie
ergaben eine Elf. Jetzt stapelten sich schon Chips für viertausend
Dollar vor Ralph.
Wollen Sie die noch einmal stehen
lassen?"
„Dieses Würfelspiel gefällt mir", sagte
Ralph. „Ja."
Kurz, in der folgenden Stunde gewann Ralph
über hunderttausend Dollar. Es war, als könnte er nichts falsch
machen. Wie er auch setzte, gerade oder krumm oder aufs ganze Feld,
er gewann jedesmal.
Einer der Geschäftsführer des Casinos kam und
sagte zu Ralph: „Sir, wir haben einen privaten Spielsaal, wo die
Einsätze höher sind. Wenn Sie dort gerne spielen möchten?" Nun war
es dem Casino-Geschäftsführer jedoch in Wirklichkeit ziemlich egal,
ob Ralph dort gerne spielen wollte oder nicht. Ihm ging es nur
darum, daß Ralph in das Spiel mit den höheren Einsätzen einstieg,
damit das Casino eine Chance hatte, das an ihn verlorene Geld
wiederzubekommen. „Klingt gut", sagte Ralph.
Er folgte dem Casino-Geschäftsführer in das
Hinterzimmer, wo ein Dutzend sehr wohlhabend aussehender Männer
Poker spielten.
Ralph, der ja kein Spieler war, hatte noch
nie im Leben Poker gespielt und hatte nicht die blasseste Ahnung,
wie es ging. Aber er setzte sich an den Spieltisch.
„Das Ante ist fünftausend Dollar", sagte der
Geber. „Was ist ein Ante?"
Die anderen Spieler lachten. Sie dachten,
Ralph machte einen Scherz.
„Das ist das Geld, das man vor jedem Spiel
herauslegt." „Aha", sagte Ralph und legte die erforderlichen
fünftausend Dollar auf den Tisch.
Das Spiel begann. Und Ralph war noch
erfolgreicher als zuvor am Würfeltisch. Was er auch machte, er
verlor nicht. Einer der Spieler legte seine Karten offen. „Ich habe
zwei Asse hier." Und er griff schon nach dem Einsatz.
„Augenblick", sagte Ralph. „Ich habe drei
Damen." Und das
zählte mehr.
Bei der nächsten Runde sagte ein Spieler:
„Ich habe ein Full House."
„Entschuldigung", sagte Ralph, „aber ich habe
einen Royal Flush."
Ein Royal Flush, das sind fünf
aufeinanderfolgende Karten derselben Farbe, ist höher als ein Full
Hause (das sind drei Karten von derselben Farbe und dazu zwei von
einer anderen). So gewann er Spiel um Spiel und konnte einfach
nichts falsch machen. Hatte ein anderer Spieler ein schwaches
Blatt, dann er ein starkes. Hatte ein anderer ein starkes Blatt,
dann er ein noch stärkeres.
Als er schließlich aufhörte, besaß er
zweihunderttausend Dollar in bar. Er. ging davon wie in Trance und
wunderte sich, was da mit ihm passiert war.
Er ging in die Cafeteria des Hotels. Eine
Bedienung kam und fragte:
„Was kann ich für Sie tun?" Er blickte hoch
und sah sich dem schönsten Mädchen gegenüber, das er im Leben je
gesehen hatte. Sie war jung und blond und so hübsch, daß ihm fast
das Herz stehenblieb. Sie hatte eine enganliegende Uniform an und
eine tolle Figur.
„Ich - ja ...", brachte Ralph gerade noch
heraus. Er studierte die Karte. „Ach, ich nehme das
Haschee."
Die Bedienung sah sich um, ob auch niemand in
der Nähe war, und flüsterte ihm dann zu: „Nehmen Sie es nicht. Es
ist nicht frisch. Aber die gebratenen Nudeln sind sehr
gut."
„Oh, danke", sagte Ralph, „gut, dann geben
Sie mir die gebratenen Nudeln."
Er sah ihr nach, wie sie davon ging, und
konnte den Blick nicht mehr von ihr wenden.
Und sie hatte recht gehabt. Die Nudeln waren
köstlich. Als er Geld aus der Tasche holte, um zu bezahlen, und sie
sah, wieviel er hatte, sagte sie: „Oh, das sollten Sie aber nicht
tun, soviel Geld mit sich herumtragen. Da nimmt es Ihnen schnell
einer ab. Lassen Sie sich doch von der Kasse einen Scheck auf den
Betrag geben, dann ist Ihr Geld sicher."
„Das ist sehr freundlich von Ihnen", sagte
Ralph, „Frau.. ." „Fräulein. Miss Sally Morgan."
„Auch ich bin nicht verheiratet", sagte
Ralph.
Sie lächelte ihn an. „Dann hat irgendein
Mädchen bisher eine großartige Gelegenheit versäumt. Ich wette, Sie
geben einen wundervollen Ehemann ab."
„Und ich wette", sagte Ralph, „daß auch Sie
eine wundervolle
Ehefrau abgeben würden. Wann sind Sie hier fertig?"
„Um sechs."
„Darf ich auf Sie warten?"
Sie lächelte. „Gerne."
Ralph wartete also, bis ihre Arbeitszeit zu
Ende war. Dann führte er sie zum Essen aus, und sie redeten und
redeten miteinander, und es war, als hätten sie sich schon immer
gekannt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sally war das liebste
und wundervollste Mädchen, das Ralph je erlebt hatte. „Jetzt kennen
wir uns erst ein paar Stunden", sagte er, „und doch, auch wenn es
verrückt klingt, möchte ich dich schon heiraten."
Und Sally nickte. „Auch wenn es noch
verrückter klingt, aber ich sage Ja. Ich wußte vom ersten
Augenblick an, wo ich dich sah, daß ich dich liebe."
Ralph umarmte sie und sagte: „Dann wollen wir
doch gleich einen Priester suchen."
In Las Vegas gibt es kleine Kirchen, in denen
Tag und Nacht Trauungen vorgenommen werden. In einer davon
heirateten Ralph und Sally.
„Jetzt fahren wir nach Hause", sagte Ralph.
„Und ich stelle
dich meinen Eltern vor."
Ralphs Eltern waren schon völlig aufgelöst
gewesen. Als sie von der Kirche zurückgekommen waren, war ihr Sohn
verschwunden. Es war fast Mitternacht, als er wiederkam, und bei
sich hatte er ein wunderschönes junges Mädchen. „Ich stelle euch
hiermit meine Frau vor", sagte Ralph. Sie wußten nicht, wie ihnen
geschah.
„Deine Frau? Wie kannst du dich verheiraten?
Du besitzt doch keinen Cent! Und wir unterstützen dich nicht."
„Braucht ihr auch gar nicht", sagte Ralph.
Und er zeigte ihnen seinen Scheck über
zweihunderttausend Dollar. „Seht ihr das? Ich fange mein eigenes
Geschäft an, und es wird sehr erfolgreich sein."
Und er fing sein eigenes Geschäft an, und es
wurde sehr erfolgreich.
Auch Sally erwies sich als großartige
Ehefrau. Fortan war Ralphs Leben einfach perfekt. Absolut
perfekt.
Und das alles, weil er das dritte Gebot
gebrochen hatte.
4. KAPITEL
DAS VIERTE GEBOT:
DU SOLLST VATER UND MUTTER EHREN/AUF DASS ES
DIR WOHLERGEHE UND DU LANGE LEBEST AUF ERDEN.
Edward war Waise. Als er ein neugeborenes
Baby in Philadelphia war, warf ihn seine Mutter in die Mülltonne,
damit er dort starb. Zum Glück aber fand ihn, ein Polizist, der ihn
weinen hörte, holte ihn heraus und brachte ihn eilends in ein
Krankenhaus, wo man ihn gerade noch rettete.
Niemand wußte, wo seine Mutter oder wer sein
Vater war. Den einzigen Hinweis gab die Decke, in die er
eingewickelt gewesen war und auf der der Name EDWARD BIXBY
geschrieben stand. Die Polizei versuchte, die Eltern zu finden, um
sie wegen versuchten Mordes zu belangen, aber ohne
Erfolg.
Edward wurde also in ein Waisenhaus gesteckt,
wo er aufwuchs. Doch es war ein sehr hartes Leben. Nie gab es genug
zu essen, und die anderen Waisenkinder in dem Heim waren gemein und
niederträchtig zu ihm.
Ab und zu kam ein Priester und sprach mit
ihnen.
Und er brachte ihnen die Zwölf Gebote bei.
Als das vierte an der Reihe war, verwirrte dies Edward
einigermaßen. Wie sollte er Vater und Mutter ehren, wenn er keine
blasse Ahnung hatte, wer und wo sie waren?
Als er siebzehn Jahre alt war, ließ ihn die
Waisenhausdirektorin in ihr Büro kommen.
„Edward", sagte sie, „morgen ist dein
siebzehnter Geburtstag." „Ja, Frau Direktor."
„In unserem Waisenhaus gilt die Regel, daß
Kinder über siebzehn nicht mehr bei uns bleiben können. Wir müssen
dich also jetzt in die Welt hinausschicken."
Nun hatten die meisten Kinder Angst vor
diesem Tag, an dem sie in die Welt hinausgeschickt wurden, von der
sie überhaupt nichts wußten und kannten. Aber nicht so Edward. Im
Gegenteil, er war sehr aufgeregt und gespannt. Der Grund dafür war,
daß er sich seinen lebenslangen Traum erfüllen konnte: nach seinen
Eltern zu suchen und sie zu finden. „Du warst ein guter und
anständiger Junge, Edward. Wir sind stolz auf dich und werden dich
hier vermissen."
„Sie werden mir auch fehlen", log Edward.
Denn in Wirklichkeit konnte er es kaum erwarten, daß er endlich
fort durfte.
Am nächsten Tag verabschiedete Edward sich
von allen und machte sich auf, seine Eltern zu suchen. Aber er
wußte schon, daß es nicht leicht sein würde. Zuerst suchte er den
Priester auf.
„Ich möchte ja meinen Vater und meine Mutter
ehren", sagte er, „aber das kann ich nicht, weil ich nicht weiß,
wer und wo sie sind. Können Sie mir da helfen?"
Der Priester dachte kurz nach und schüttelte
dann den Kopf. „Das wird sehr schwierig sein, Edward", sagte er.
„Niemand hat sie je gesehen."
„Hat sie denn nicht jemand gesehen, wie sie
mich zum Waisenhaus gebracht haben?" fragte Edward.
Der Priester beschloß, Edward sei alt genug,
um die Wahrheit zu erfahren.
„Sie haben dich nicht ins Waisenhaus
gebracht. Sie haben dich in eine Mülltonne geworfen. Dort hat dich
ein Polizist gefunden und ins Krankenhaus gebracht."
Edward starrte ihn an. „In eine Mülltonne?
Sie haben mich in eine Mülltonne geworfen und wollten mich dort
sterben
lassen?"
„So war es wohl, ja."
Edward war völlig schockiert.
„Sicher war das nur, weil sie keine
Möglichkeit hatten, dich zu behalten", versuchte ihn der Priester
zu trösten. „Vermutlich waren sie sehr arm."
Aha, also sehr arm waren sie. Zumindest wußte
Edward schon mal dies über sie.
„Man hat mir gesagt, mein Name war in meine
Decke eingenäht. Edward Bixby."
„Ja, das stimmt. Die Polizei hat lange
gesucht, um deine Eltern zu finden, aber vergeblich."
„Ich finde sie", erklärte Edward
entschlossen:"Und wenn es das letzte ist, was ich tue. Aber ich
finde sie."
Er begann mit seiner Suche. Als erstes
schaute er im Telefonbuch nach, ob es darin Leute mit dem Namen
Bixby gab. Es standen ein halbes Dutzend Bixby darin. Der erste
Bixby war ein Arzt.
Ich wette, dachte
Edward, das ist mein Vater. Er war
wahrscheinlich damals sehr arm und hatte kein
Geld, um mich zu behalten. Aber jetzt wird
er sich freuen, mich zu sehen.
Er ging in die Praxis des Arztes. „Ich möchte
zu Dr. Bixby." „Haben Sie einen Termin?"
„Nein", sagte Edward, „aber er wird sich
freuen, mich zu sehen. Sagen Sie ihm, sein Sohn ist da." Die
Arzthelferin starrte ihn an. „Sein Sohn?" „Ja", sagte Edward.
„Augenblick."
Die Arzthelferin verschwand im
Sprechzimmer.
Im nächsten Augenblick kam der Doktor heraus.
Er war sehr groß und sah gut aus, aber er war ein
Farbiger.
Edward stand da wie angewurzelt. „Sie wollten
zu mir?" fragte der Arzt.
Edward schluckte. „Äh nein, Sir, ich. " ich
glaube doch nicht.
Auf Wiedersehen."
Er flüchtete.
Der nächste Bixby auf seiner Liste wohnte in
einem Haus am Stadtrand. Es war ein schönes Haus, und Edward
merkte, wie sein Herz schneller zu klopfen begann. Der Besitzer
eines solchen Hauses mußte reich sein.
Das müssen meine Eltern
sein, dachte er. Sie waren arm, als
ich auf die Welt kam, aber jetzt haben sie
Geld, und wahrscheinlich haben sie schon
nach mir gesucht.
Er klingelte an der Haustür. Ein Hausmädchen
in
Personalkleidung öffnete.
„Ja, bitte?"
„Ja ...", sagte Edward, „... ich bin hier, um
meine Mutter zu besuchen."
Das Hausmädchen starrte ihn an. „Ihre
Mutter?" „ Ja. Mrs. Bixby. Ich bin Edward Bixby."
„Sind Sie sicher, daß Sie an der richtigen
Adresse sind?" fragte
das Hausmädchen unsicher.
„Ganz sicher", sagte Edward.
Er wußte tief im Herzen, daß er hier richtig
war.
„Augenblick", sagte das Hausmädchen, „ich
hole Mrs. Bixby." Edward wartete aufgeregt. Endlich würde er seiner
Mutter von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.
Kurz danach erschien eine junge Frau. Sie
mochte an die fünfundzwanzig sein. „Sie wollten mich sprechen?"
fragte sie.
„Nein, Madame, ich möchte Mrs. Bixby
sprechen." „Ich bin Mrs. Bixby."
Edward starrte sie verständnislos an. „Das
kann nicht sein. Ich
meine Sie sind zu jung, um meine Mutter zu
sein!" „Das würde ich auch annehmen", sagte die Frau. „Sie meinen,
Sie wissen nicht, wer Ihre Mutter ist?"
„Nein", sagte Edward, „aber ich finde sie
schon."
Er suchte auch alle anderen Bixby-Adressen
aus dem Telefonbuch auf, aber er hatte kein Glück. Entweder waren
sie zu jung oder zu alt oder hatten die falsche Hautfarbe. Aber
veranlaßte dies Edward, aufzugeben? Absolut nicht! Im Gegenteil, er
war nun noch entschlossener denn je, seine Eltern zu finden, damit
er sie ehren konnte.
Er begann im ganzen Land herumzureisen und in
allen möglichen Städten nachzuforschen. Überall schaute er ins
Telefonbuch und suchte den Namen Bixby.
In Florida hatte Edward schließlich Glück.
Dort stand im Telefonbuch der Name Edward Bixby. Sein Herz begann
heftig zu klopfen. Wahrscheinlich hatte ihm sein Vater seinen
eigenen Namen gegeben.
Er begab sich zu der Adresse, die im
Telefonbuch stand. Es war ein riesiges Haus auf einem großen
Grundstück.
Edward klingelte. Die Tür ging auf, und ein
Butler sagte: „Ja, bitte?"
„Tag", sagte Edward."Ich möchte zu Mr.
Bixby." „Treten Sie näher", sagte der Butler. Edward trat in die
riesige Eingangshalle.
Gleich darauf erschien ein grauhaariger und
elegant aussehender Mann.
„Guten Tag", sagte er, „was kann ich für Sie
tun, junger Mann?"
„Ich suche nach meinen Eltern", sagte
Edward.
Der Mann musterte ihn kurz. „Kommen Sie mit,
wir gehen in die Bibliothek."
Dort setzten sie sich, und Edward erzählte
Mr. Bixby seine Geschichte. Als er fertig war, sagte der alte Mann:
„Ja, ich hatte einen Sohn namens Edward, aber der kam bei einem
Flugzeugabsturz um. Seitdem bin ich allein." Er beugte sich zu
Edward vor und sagte: „Du gefällst mir, Junge. Ich habe keinerlei
Angehörige mehr. Möchtest du vielleicht den Platz meines Sohnes
einnehmen ?"
Edward dachte darüber nach. Es bedeutete, daß
er hier in diesem schönen Haus leben könnte und viel Geld hätte.
Aber es war nicht das, was er eigentlich wollte. Er wollte seine
richtigen Eltern finden.
„Vielen Dank", sagte er. „Das ist sehr
freundlich von Ihnen, aber ich muß meine Suche
fortsetzen."
Mr. Bixby nickte. „Das verstehe ich. Viel
Glück."
In Washington fand Edward im Telefonbuch
einen General Bixby. Er suchte ihn in seinem Büro auf.
Eine Sekretärin im Vorzimmer fragte: „Kann
ich Ihnen
helfen?"
„Ja. Ich möchte zu meinem Vater."
Die Sekretärin schien nicht weiter überrascht
zu sein. „Kleinen Moment, bitte."
Sie sagte in die Sprechanlage: „Ihr Sohn ist
hier, Herr General, und möchte Sie sprechen."
Die Stimme des Generals dröhnte: „Soll
reinkommen!" Edward ging hinein. Hinter dem Schreibtisch saß ein
grauhaariger Mann mit einem Schnurrbart. „Wer sind Sie?" fragte er.
„Edward Bixby." „Guten Tag, mein Sohn. Willkommen."
Also habe ich ihn nun
doch endlich gefunden, dachte Edward.
Sein Herz klopfte wild.
„Guten Tag, Vater. Danke."
„Setz dich."
Edward setzte sich in den Sessel vor dem
Schreibtisch. „So, also lernen wir uns nun endlich kennen." „Ja,
Sir."
„Und wie geht es deiner Mutter?" erkundigte
sich der General. „Meiner Mutter? Ich ... ich weiß nichts von ihr,
gar nichts." „War sie diese Französin? Oder die Italienerin?" „Ich
verstehe nicht", sagte Edward.
„Als ich im Krieg und danach in Europa war",
sagte der General, „war ich in vielen Ländern stationiert, und da
kannte ich viele Frauen. Es gibt vermutlich Kinder von mir in
Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, Rumänien und Ungarn. Es
ist ganz einfach, herauszufinden, wer deine Mutter war. Welche von
diesen Sprachen sprichst du?" Edward starrte ihn an. „Gar
keine."
„Was denn? Du bist in keinem von diesen
Ländern
aufgewachsen?"
„Nein", sagte Edward.
„Dann bist du auch nicht mein Sohn", stellte
der General kühl fest. „Sondern ein Hochstapler. Scher dich
hinaus!"
Edward war am Boden zerstört, aber er blieb
eisern entschlossen, seinen Vater und seine Mutter zu finden, damit
er sie ehren konnte.
Eines Abends vergaß er, wie deprimiert er war,
und ging ins Kino. Im Vorspann des Films tauchte ein Name „Alan
Bixby" auf. Edward war sofort wieder elektrisiert. Der
Schauspieler, den er dann sah, glich ihm fast aufs Haar. Er hatte
das gleiche Kinn, die gleiche Nase und den gleichen Mund wie er.
Das ist mein Vater, dachte er. Endlich habe ich ihn gefunden. Gleich am nächsten
Morgen reiste er nach Hollywood, fand heraus, bei welcher
Filmgesellschaft Alan Bixby arbeitete und ging dorthin.
Aber der Pförtner wollte ihn nicht
hineinlassen. „Mr. Bixby empfängt keine Besuche", sagte
er.
„Mich schon", erklärte Edward. „Er ist mein
Vater." Da wurde der Pförtner sofort freundlich. „Das tut mir leid,
das ist natürlich etwas anderes", sagte er. „Ich sage ihm Bescheid,
Augenblick."
Gleich danach wurde Edward zu Alan Bixbys
Garderobe geführt. Bixby war gerade dabei, sich zu schminken. Er
hatte einen purpurroten Seidenmorgenrock an.
„Mein lieber Junge", sagte er, „was kann ich
für dich tun?" In natura klang seine Stimme sehr viel schriller und
höher als auf der Kinoleinwand.
„Ich glaube, ich bin dein Sohn", sagte
Edward.
Der Schauspieler musterte ihn kurz und sagte
dann: „Wie nett. Das kann gut sein."
Edward war begeistert. „Überall, Vater, habe
ich nach dir gesucht."
Der Schauspieler sagte munter: „Wie schön.
Und jetzt hast du
mich gefunden."
„Ja."
Alan Bixby sah auf die Uhr. „Ich muß in ein
paar Minuten die nächste Szene drehen, aber du kannst es dir ja
inzwischen bequem machen. Sobald ich fertig bin heute nachmittag,
nehme ich dich mit zu mir nach Hause. Gefällt dir das?" „O ja,
natürlich!" sagte Edward glücklich.
„Wir werden uns prächtig amüsieren
miteinander", versprach ihm Alan Bixby.
Die Tür ging auf, und ein junger Mann kam
herein. Er hatte
Lidschatten auf den Augen und küßte Alan Bixby auf den
Mund.
„Tag, Liebling."
„Du bist spät dran", beklagte sich Alan
Bixby. „Du schlimmer, schlimmer Junge!"
Edward traute seinen Augen nicht. Es fiel ihm
wie Schuppen von den Augen, daß Alan Bixby ganz bestimmt noch nie
ein Kind gezeugt hatte.
Der Schauspieler wandte sich an ihn. „Also,
ich muß jetzt los, aber warte hier, bis ich wiederkomme."
Doch als Alan Bixby wiederkam, war Edward
längst fort. Zum erstenmal begann Edward das Gefühl zu haben, daß
er wohl doch niemals an sein Ziel gelangen werde. Jetzt war er
schon kreuz und quer durchs Land gezogen, aber er hatte keine Spur
von seinem Vater und seiner Mutter gefunden.
Und dann kam ihm doch unerwartet das
Schicksal zu Hilfe. Er saß in einer Gaststätte beim Essen, als er
am Nebentisch Stimmen hörte. Er wandte sich um und sah hin. An dem
Tisch saß ein halbes Dutzend Männer. Sie wirkten wie rauhe Gesellen
und redeten ungeniert und laut.
Einer sagte: „Dann haben sie mich
eingebuchtet, aber sie konnten mir nichts nachweisen. Bixby hat
schon recht gehabt, das Ding war bombensicher."
Als Edward den Namen Bixby hörte, riß es ihn,
und er beugte sich weit vor, um besser zu hören.
„Die Beute von dem Ding muß uns eine coole
halbe Million gebracht haben. Und die Bankleute haben gar nicht
recht mitgekriegt, wie ihnen geschah."
Edward lauschte angestrengt, aber der Name
Bixby fiel nicht mehr.
Als die Männer fertiggegessen hatten und sich
zum Gehen anschickten, eilte Edward an ihren Tisch.
„Entschuldigung", sagte er zu dem Mann, der
die meiste Zeit geredet hatte, „könnte ich Sie wohl einen
Augenblick sprechen?"
Der Mann war groß und sah gefährlich aus.
„Nein", sagte er und ging.
„Warten Sie doch", rief Edward verzweifelt.
„Sie haben den
Namen Bixby erwähnt."
Der Mann fixierte ihn. „Und?"
„Ich heiße auch Bixby", sagte Edward.
„Das kann schon sein."
„Ich suche meinen Vater, wissen Sie", sagte
Edward drängend. „Ich dachte mir, daß der Mann, von dem Sie
gesprochen haben, vielleicht mein Vater ist."
„Zweipistolen-Bixby dein Vater? Junge, du
hast sie nicht alle." „Ich weiß ja, daß es weit hergeholt scheint",
räumte Edward ein, „aber sehen Sie, es war so, meine Mutter und
mein Vater ließen mich vor achtzehn Jahren im Waisenhaus." (Er
wollte nicht gleich zugeben, daß sie ihn in eine Mülltonne geworfen
hatten.)
Der große Kerl musterte ihn eindringlich.
„Vor achtzehn Jahren?" Er wandte sich an seine Kumpane. „War das
nicht vor achtzehn Jahren, als Zweipistolen und Molly einen Bankert
hatten?"
„Ja", sagte einer. „Den haben sie dann
irgendwo liegen lassen." Der Große sah Edward nun mit anderen Augen
an. „Und woher weißt du, daß du Bixby heißt?" fragte er.
„Weil man mich in eine Decke eingewickelt
fand, in der dieser Name stand."
„O Gott", sagte der Große, „ich glaube fast,
wir haben tatsächlich den Bankert von Zweipistole vor
uns."
„Sind meine Mutter und mein Vater noch am
Leben?" fragte Edward eifrig.
„Ja, sind sie. Wenn ich mir dich so anschaue,
könnte es glatt sein, daß du von deinem Vater die Nase und von
deiner Mutter die Augen hast."
Edward konnte sein Glück nicht fassen. Da
hatte er am Ende doch noch seine Eltern gefunden! Und konnte sie
nun ehren. „Könnten Sie mich wohl zu ihnen bringen?" fragte er. Der
Große zögerte. „Ich weiß nicht recht", sagte er.
„Vielleicht
zeige ich dir besser erst mal ein Foto von
ihnen." Edward nickte eifrig. „O ja, bitte."
Der Große wandte sich an die anderen. „Geht
schon mal voraus. Ich komme später. Und sorgt dafür, daß der
Wächter erst ausgeschaltet ist, bevor ihr reingeht."
Edward war nicht so ganz klar, wovon da die
Rede war. Der Große wandte sich wieder ihm zu. „Na los, komm." Zu
Edwards Überraschung führte ihn der Mann in ein Postamt. „Arbeitet
mein Vater denn bei der Post?" fragte Edward. Da lachte der Große.
„Nein."
Er führte ihn zu einer Wand, an der
Steckbriefe hingen. Dazwischen war auch einer von einem Mann und
einer Frau. Und darunter stand ein Text.
Edward „Zweipistole"
Bixby und Molly Bixby, gesucht in sieben
Staaten wegen Mordes und in zehn Staaten
wegen Raubüberfällen auf
Postämter.
250000 Dollar
Belohnung.
Edward stand wie angewurzelt vor dem
Plakat.
„Das sind deine Mutter und dein Vater", sagte
der Große. „Willst du sie jetzt immer noch sehen?" Edward schluckte
nervös. „Aber natürlich."
„Na gut, meinetwegen, dann bringe ich dich
jetzt zu ihrem Versteck." Das Versteck war eine Hütte in den
Bergen.
Als der Große mit Edward ankam, machte ein
Mann die Tür auf, dessen Foto Edward in dem Postamt gesehen hatte.
Er hielt eine Pistole in der Hand.
„Wen zum Teufel schleppst du denn da an?"
sagte er zu dem
Großen.
„Deinen Sohn, glaube ich."
„Meinen was?" Zweipistole starrte Edward
verwundert an.
„Wie heißt du?"
„Edward."
„Wie alt bist du?"
„Achtzehn."
„Vor langer Zeit habe ich mal gesehen, daß
die Bullen dich gefunden und in ein Waisenhaus gebracht haben.
Stimmt das?" „Ja, ganz genau. Dieses Jahr bin ich dort
ausgeschieden." „Da kriegst du doch die Tür nicht zu", sagte
Zweipistole und klopfte Edward auf die Schulter. „Na, dann
willkommen, Sohn. Komm rein."
Aus einem anderen Raum kam Molly. Sie war
fett und häßlich,
und ihre Haare waren schmutzig und zerzaust. Und
betrunken
war sie obendrein.
„Wer ist'n das?" wollte sie wissen.
„Unser Bankert", sagte Edwards Vater.
Das Wiedersehen war nicht unbedingt so, wie
Edward es sich die ganze Zeit über vorgestellt hatte, aber immerhin
hatte er seine wirklichen Eltern gefunden, und er wußte, ganz
gleich, wer und wie sie waren, daß sie ihn damals ausgesetzt
hatten, weil sie dazu gezwungen waren. Wahrscheinlich waren sie auf
der Flucht vor der Polizei gewesen und in Gefahr und wollten nicht,
daß ihrem Kind etwas passierte. Indem sie ihn verließen, brachten
sie sicher ein großes Opfer. Also war Edward bereit, sie zu lieben
und zu ehren, wie es die Bibel verlangte. „Ich kann mir denken, wie
schwer es für euch gewesen sein muß", sagte er zu ihnen, „mich
auszusetzen. Es muß ein großes Opfer für euch gewesen sein, mich
aufzugeben und -" „Was war es?" platzte seine Mutter lachend
heraus. „Ein Opfer? Dir geht's wohl nicht gut, was? Junge, ein
Unfall warst du, sonst nichts. Ich wollte dich von Anfang an nicht
haben. Und deshalb habe ich dich gleich nach der Geburt in die
nächste Mülltonne abgeladen. Was willst du hier? Kommst
hier angetanzt und fällst uns auf den
Wecker!"
„Wahrscheinlich will er Geld", sagte
Zweipistole.
„Nein, nein", sagte Edward, „ich habe euch
nur überall gesucht, weil ich meine Mutter und meinen Vater
kennenlernen wollte."
„Na gut, jetzt hast du sie kennengelernt",
sagte seine Mutter. „Und jetzt kannst du wieder abzischen. Und laß
uns in Zukunft in Ruhe."
Zweipistole wandte sich an den Großen.
„Schaff ihn weg." Edwards gesamte Welt brach zusammen. Jetzt hatte
er endlich, endlich seine Eltern ausfindig gemacht und versuchte
das vierte Gebot zu befolgen, und was hatte er davon? Gar nichts.
Nun ja, nicht so ganz. Denn nachdem er die Hütte verlassen hatte,
ging er zurück zu dem Postamt und sagte den Leuten, wo Zweipistole
und Molly sich versteckt hielten. Und kassierte die Viertelmillion
Belohnung dafür. Damit ging er nach Frankreich und führte dort
fortan das schönste Leben.
5. KAPITEL
DAS FÜNFTE GEBOT: DU SOLLST NICHT
TÖTEN.
Roger Jones war ein frommer Mann. Er war
sogar sehr fromm. Er ging jeden Sonntag in die Kirche und befolgte
alle Zwölf Gebote. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, jemals
eines zu übertreten, ganz besonders nicht das sechste: Du sollst
nicht töten.
Das heißt, er hätte niemals im Traum daran
gedacht zu töten - bis er verheiratet war. Seine Frau Louise war
sehr nett. Sie liebte Roger, und Roger liebte sie. Das Problem in
seiner Ehe war nicht Louise. Sondern ihre Mutter.
Seine Schwiegermutter hieß Sarah, und sie war
der allerunmöglichste Mensch, den Roger je erlebt hatte. Sarah
hatte nicht gewollt, daß ihre Tochter Roger heiratete. Sie hatte
vielmehr gewollt, daß ihre Tochter einen bedeutenden Mann
heiratete, und das war Roger nicht.
Am Tag ihrer Hochzeit sagte Sarah zu ihrer
Tochter: „Ich habe es mir überlegt und werde zu euch ziehen. Ich
will sichergehen, daß Roger dich auch gut behandelt."
Roger war nicht glücklich über diese
Neuigkeit. „Wir haben doch nur ein kleines Häuschen", sagte er. „Wo
sollen wir sie da denn unterbringen ?"
„Wir geben ihr das Gästezimmer", sagte
Louise.
Noch am selben Nachmittag zog seine
Schwiegermutter Sarah ein. Sie warf einen Blick in das Gästezimmer
und sagte: „Das ist zu klein für mich. Ich nehme das große
Schlafzimmer." „Und wo schlafen wir?" fragte Roger. „Im
Gästezimmer", sagte Sarah.
Das war erst der Anfang.
Rogers Schwiegermutter kritisierte
buchstäblich alles, was er tat. Beim Frühstück sagte sie: „Du
solltest keine Eier mit Speck essen. Das ist ungesund für dich."
„Aber ich mag Eier mit Speck."
„Von jetzt an", sagte Sarah, „wirst du nur
gesunde Speisen essen." Und Roger bekam nie mehr Eier mit
Speck.
Sarah gefiel auch nicht, wie sich Roger
anzog.
„Von jetzt an gehst du im dunklen Anzug ins
Büro und mit Hemd und Krawatte."
„Aber alle kleiden sich bei uns leger", sagte
Roger. „Keiner trägt Krawatten." „Aber du wirst sie tragen",
entschied Sarah.
Also ging Roger fortan mit weißem Hemd und
Krawatte ins Büro.
Als sich Roger eines Abends einen Scotch mit
Soda genehmigte, sagte Sarah: „Ab sofort wird in diesem Haus nicht
mehr getrunken." Und sie schaffte sämtliche Flaschen mit Alkohol
fort.
Das war noch lange nicht das Schlimmste.
Sarah wurde nicht müde, ihrer Tochter unaufhörlich vorzuwerfen, was
für eine schlechte Wahl sie doch getroffen habe.
„Du hättest leicht einen heiraten können, der
besser aussieht
und reicher ist und bedeutender."
„Aber ich liebe Roger", sagte Louise.
„Ach, du weißt doch gar nicht, was Liebe ist,
Kind. Ich muß einen besseren Mann für dich finden."
„Was redest du denn da, Mutter? Ich bin mit
Roger verheiratet."
„Na und? Man kann sich scheiden lassen",
sagte ihre Mutter. „Ich will mich aber nicht scheiden
lassen."
„Papperlapapp. Das werden wir schon
sehen."
Sobald Roger aus dem Büro nach Hause kam,
begann seine Schwiegermutter, an ihm herumzunörgeln.
„Warum verdienst du nicht mehr Geld?" fragte
sie.
„Ich habe doch ein gutes Gehalt. Louise und
ich sind ganz zufrieden."
„Aber ich nicht! Ich möchte in einem größeren
Haus wohnen. Du solltest dir überlegen, ob du nicht eine andere
Stellung brauchst."
„Ich will keine andere", sagte Roger. „Mir
gefällt es da, wo ich bin."
„Weil du nichts anderes kennst", nölte seine
Schwiegermutter. Keinen Moment lang ließ Sarah die beiden
allein.
Immer war sie da und redete und redete, und
sie hatten keinen Augenblick ihre Ruhe.
Louise war genauso unglücklich über alles wie
Roger. „Wir sollten sie vielleicht doch überreden, daß sie wieder
auszieht", sagte Roger.
„Das kann ich nicht machen, Schatz. Sie ist
schließlich meine Mutter."
„Dann laß es mich wenigstens versuchen",
sagte Roger. Er ging zu Sarah. „Was würdest du davon halten",
fragte er, „eine eigene Wohnung für dich allein zu haben? Ich
bezahle gerne die Miete dafür."
Sarah schüttelte heftig den Kopf. „Nein,
nein, nein, kommt gar nicht in Frage. Ich bleibe hier, wo ich ein
Auge auf meine Tochter haben kann. Sie braucht mich."
„Sie ist ein erwachsener Mensch", wandte
Roger ein. „Sie
braucht dich nicht mehr."
„Das zu beurteilen, überlasse mir!"
Als Roger zu dem Urteil gelangt war, nun könne
es nicht mehr
schlimmer werden, wurde es erst recht
schlimm.
Er hatte seinen Chef zum Essen eingeladen.
Roger war stolz auf seine Kochkünste und wollte dieses Essen selbst
zubereiten. Er machte eine wundervolle Gemüsesuppe, einen
Hackbraten mit Kartoffelbrei und backte einen Apfelkuchen. Er war
sehr zufrieden mit seinem Essen.
Sein Chef kam pünktlich. Er sah sich um und
sagte: „Da haben
Sie aber ein hübsches Haus, Roger."
„Es ist zu klein", sagte Sarah.
„Jetzt wäre etwas zu trinken recht", sagte
der Chef. „Es tut mir leid", antwortete Roger, „aber wir haben
keine Alkoholika im Haus." Der Chef zeigte sich überrascht.
„Was?"
„Es ist angerichtet", erklärte Roger. „Darf
ich zu Tisch bitten." Louise servierte, was Roger gekocht hatte. Es
begann mit der Suppe. Der Chef probierte sie. „Ganz
köstlich."
„Sie ist zu salzig", beschwerte sich Sarah.
„Roger salzt alles, was er macht, viel zuviel.."
Der nächste Gang war der Hackbraten mit dem
Kartoffelbrei. „Das ist wirklich der beste Hackbraten, den ich je
gegessen habe", sagte der Chef.
„Dann wissen Sie aber nichts über gutes
Essen", sagte Sarah.
„Es schmeckt doch scheußlich."
„Der Kartoffelbrei ist sehr gut."
„Er ist viel zu klumpig."
So ging es das ganze Essen hindurch. Sarah
machte einfach alles herunter.
Ich bringe sie um, dachte Roger. Und er
erschrak über seinen eigenen Gedanken. Töten verstieß doch gegen
das Fünfte Gebot. Und trotzdem...
Jeden Nachmittag ging Sarah aus und kaufte
Sachen ein, Kleider und Taschen und Schals und Schuhe, und gab eine
Menge Geld dafür aus. Das wäre Roger an sich egal gewesen, wenn sie
nicht alles von seinem Geld bezahlt hätte. Sein Bankkonto schmolz
immer mehr zusammen. Er stellte sie schließlich zur Rede.
„Du hast in letzter Zeit viel Geld
ausgegeben", sagte er, „und "
„Was denn, du willst dich beschweren? Hat
meine Tochter einen Geizhals geheiratet? Kann ich mir nicht einmal
ein paar kleine Freuden im Leben erlauben?"
„Selbstverständlich doch", sagte Roger. „Ich
wollte auch nicht -"
„Nun, dann sprich auch gefälligst nie wieder
über Geld mit mir! Ich habe meine Tochter ja davor gewarnt, dich zu
heiraten, du Pfennigfuchser!"
Roger sprach mit seiner Frau darüber. „Es ist
kaum noch etwas auf unserem Sparkonto übrig", sagte er. „Deine
Mutter gibt alles Geld aus."
„Schatz, Mutter ist eine alte Frau. Laß ihr
doch ihr Vergnügen."
„Alte Frau? Die überlebt uns noch beide!"
entfuhr es Roger zornig."Die bringt nichts um. Die könntest du in
einen Löwenkäfig schicken, und als nächstes wäre der Löwe tot. Sie
würde ihn totreden!"
„Das ist aber nicht nett, Roger. Sie ist doch
meine Mutter!"
Roger liebte seine Frau sehr und hatte sich
auf eine glückliche Ehe mit ihr gefreut, aber seine Schwiegermutter
hatte die Hölle aus ihrer Ehe gemacht.
Das Faß zum Überlaufen brachte schließlich
der Samstagabend, an dem Sarah sagte: „Ich habe jemand zum Essen
bei uns eingeladen."
Roger versuchte freundlich zu sein. „Ist in
Ordnung", sagte er. „Kennen wir sie?"
„Es ist ein Mann", erklärte Sarah.
Der Gast kam um sieben Uhr. Er war groß und
sehr reich und sah gut aus.
„Das ist meine Tochter Louise", sagte Sarah
zu ihm. Und vergaß einfach, auch Roger vorzustellen.
Roger hielt dem Mann seine Hand hin. „Ich bin
Roger." „Guten Tag, Roger. Ich heiße Ken."
Ken sah Louise an. „Sie sind keinen Hauch
weniger hübsch,
als Ihre Mutter Sie beschrieben hat."
„Ken ist nicht verheiratet", sagte Sarah.
Roger begriff plötzlich. Sie hatte diesen
Mann für Louise eingeladen!
Das ganze Essen hindurch redeten Louise und
Ken miteinander.
„Ich besitze eine große Spedition", sagte
Ken. „Und ich verdiene eine Million im Jahr. Das einzige Problem
ist, daß ich keine Herzensdame habe, mit der ich das ganze Geld
teilen könnte." Und er sah zu Roger hin. „Sie aber haben wirklich
Glück."
„Ja", sagte Roger, „das habe ich." Und,
dachte er im stillen dazu, ich gedenke es auch zu
behalten.
„Ken liebt die Oper", sagte Sarah. „Und du
doch auch, Louise, nicht? Aber Roger mag keine Opern." Sie sah
Roger an. „Ken hat Opernkarten für nächsten Mittwoch. Wäre es nicht
nett, wenn er Louise mitnähme?" Was sollte Roger dazu
sagen?
„Aber sicher", sagte er, doch mit
zusammengebissenen Zähnen.
„Dann ist es abgemacht", sagte Sarah. „Ihr
beide geht zusammen aus und macht euch einen netten Abend." Roger
hätte sie umbringen können. Umbringen, da ist das Wort schon
wieder, erschrak er. Zumal es diesmal nicht mehr nur einfach ein
Wort war. Aber jetzt war ihm klar, daß er noch nie jemanden so sehr
gehaßt hatte. Sie zerstörte ihm seine Ehe! Als Ken gegangen war,
sagte Roger: „Sarah, ich habe nachgedacht. Es wäre wirklich am
besten, wenn du in eine Wohnung für dich allein ziehen
würdest."
Sarah sah ihm direkt in die Augen und sagte:
„Kommt nicht in Frage. Abgesehen davon, daß ich nicht überrascht
wäre, wenn Louise sich von dir scheiden ließe und Ken heiratete.
Dann könnte ich zu ihnen ziehen."
Noch in dieser Nacht beschloß Roger, das Gift
zu kaufen.
Am nächsten Morgen begab sich Roger in einen
Drugstore. „Ich habe da so Schwierigkeiten mit meinen Pflanzen",
sagte er. „Führen Sie Arsen?"
„Ja", sagte der Drogist, „aber Sie müssen
unterschreiben." „Schon gut." Roger hatte sich entschlossen. Seine
Schwiegermutter mußte sterben, und wenn er selbst dafür auf den
elektrischen Stuhl wanderte. Sie war die böseste Person, die er je
gekannt hatte.
Er steckte das Arsen in die Tasche und ging
am Abend, als Louise und Sarah im Eßzimmer saßen, in die Küche, um
ihnen Kaffee zu holen. Er schüttete sorgfältig das Arsen in die
Tasse seiner Schwiegermutter und rührte um.
Dann kam er zurück ins Eßzimmer. „Hier." Er
stellte die vergiftete Tasse seiner Schwiegermutter hin. „Hat lange
genug gedauert", nörgelte sie.
Sie trank einen kleinen Schluck und
beschwerte sich: „Schmeckt bitter."
„Es ist eine neue Marke", sagte Roger. „Na,
dann nimm wieder die alte."
Er sah zu, wie sie noch einen Schluck trank,
und dann noch einen.
Dafür gehe ich gerne ins
Gefängnis, dachte er. Dafür gehe ich
sogar auf den elektrischen Stuhl. Wen kümmert
es noch. Es ist es wert, wenn man dafür
dieses Ungeheuer los wird.
Er tat in dieser Nacht kein Auge zu. Er
stellte sich vor, wie es am Morgen wäre. Louise fand ihre Mutter
tot im Bett und kam schreiend zu ihm gelaufen. Dann kam die
Polizei, und es gab eine Autopsie. Dabei entdeckten sie das Arsen
und fanden heraus, daß er es gekauft hatte.
„Haben Sie Ihre Schwiegermutter vergiftet?"
würde man ihn
bei der Polizei fragen.
„Jawohl", würde er sagen.
Und seine Strafe wie ein Mann
entgegennehmen.
Am nächsten Morgen sah Roger zu, wie Louise
aufstand und sich anzog.
Jeden Moment nun,
dachte er, geht sie ins Zimmer zu ihrer
Mutter und entdeckt, was passiert ist. Bis
dahin tue ich so, als wäre gar
nichts.
Er stand ebenfalls auf, zog sich an und ging
ins Eßzimmer. Da saß Sarah bereits am Tisch. „Du kommst schon
wieder zu spät", keifte sie. „Ich mag es nicht, wenn ich warten
muß." Roger traute seinen Augen nicht. Er hatte doch selbst
gesehen, wie sie den vergifteten Kaffee trank!
„Ich habe fürchterlich schlecht geschlafen",
sagte Sarah. „Ich hatte entsetzliches Kopfweh."
Sie ist eine Hexe,
dachte Roger. Ich muß mir etwas anderes
ausdenken.
Roger war sehr geschickt mit elektrischen
Sachen. An diesem Abend, als Sarah ausgegangen war, ging er in ihr
Bad und entfernte die Isolierung vom Kabel ihrer Bettlampe, so daß
sie einen tödlichen Stromschlag bekommen mußte, wenn sie sie
anschaltete.
Er blieb die ganze Nacht auf und wartete auf
Sarahs Schrei,
wenn der Stromschlag sie durchfuhr.
Er hörte, wie Sarah in ihr Zimmer ging und
die Türe zumachte. Er setzte sich auf. Aber er hörte nichts.
Wahrscheinlich ist sie schon tot, dachte er.
Am Morgen stand er auf, zog sich an und ging
ins Eßzimmer. Am Tisch saß Sarah und zeterte sogleich wieder los..
„Dieses Haus beginnt auseinanderzufallen", sagte sie. „Die
Isolierung meiner Bettlampe war kaputt, und ich mußte das Kabel
reparieren." Roger war sprachlos.
„Scheußlich, die Krawatte, die du umhast",
sagte Sarah. Nimm eine andere." Ich halte es
nicht mehr aus, dachte Roger.
Am nächsten Tag schlüpfte Roger mitten in der
Nacht heimlich aus dem Bett und schlich sich in das große
Schlafzimmer, in dem Sarah schlief. Er hatte ein Kissen in der
Hand, beugte sich über das Bett und drückte es auf Sarahs Gesicht,
bis sie nicht mehr atmete.
So, jetzt habe ich einen
Mord begangen, dachte er bei sich. Ich
habe das Fünfte Gebot gebrochen. Du sollst
nicht töten. Ich werde dafür bestraft
werden, aber das war es wert. Er kehrte in sein Bett zurück und
schlief zum erstenmal seit Wochen wieder tief und fest.
Als er am Morgen erwachte, fühlte er sich
großartig. Er wußte, etwas Bedeutsames hatte sich ereignet. Dann
erst erinnerte er sich, was es war. Er hatte seine Schwiegermutter
umgebracht! Er zog sich an, lächelte fröhlich und ging ins Eßzimmer
hinüber.
Am Tisch saß Sarah und wartete. Er stand da
wie angewurzelt und glaubte es nicht.
„Mein Gott", jammerte Sarah, „hatte ich einen
entsetzlichen Traum! Ich träumte, daß mich jemand ersticken
wollte!" Es hat keinen Wert, dachte Roger.
Gegen die ist kein Kraut gewachsen. Die ist buchstäblich nicht umzubringen. Ich
bin verdammt, sie auf ewig ertragen zu
müssen.
Er ging an diesem Tag sehr deprimiert ins
Büro.
„Was ist denn mit Ihnen?" fragte ihn sein
Chef. „Sie sehen in letzter Zeit sehr unglücklich aus. Haben Sie
Kummer und Sorgen?"
Was sollte Roger darauf antworten? Er konnte
nicht über sein Problem reden. Und etwas dagegen tun konnte er auch
nicht. „Nein, nein", versicherte er. „Es ist alles in Ordnung."
Dann wurde ihm schlagartig klar, warum er gerade heute so bedrückt
war. Heute war Mittwoch, eben der Tag, an dem Louise mit diesem
gutaussehenden jungen Millionär, der sich nach einer Frau umsah, in
die Oper gehen sollte.
Wahrscheinlich, sagte
er sich, wird sie ihn mir vorziehen.
Sarah hat schon recht. Ich bin nichts, und ich
habe nichts, und besonders gut sehe ich
auch nicht aus. Vielleicht hat Louise wirklich einen Fehler gemacht, als sie mich
heiratete. Er sah es schon genau vor sich, was passieren würde.
Louise würde nach der Oper heimkommen und sagen: „Roger, ich muß
dir etwas sagen."
„Du brauchst es mir gar nicht erst zu sagen,
Louise, ich weiß es
auch so."
„Ich habe mich in Ken verliebt."
„Ich kann es dir nicht verdenken. Er ist
besser als ich." „Ich mag dich, Roger, aber Mutter hatte recht. Ich
hätte einen Besseren heiraten sollen. Ich verlasse dich noch heute
abend. Ken und ich werden unsere Flitterwochen in Paris
verbringen." „Kommt deine Mutter mit?" „O nein. Sie will hier bei
dir bleiben."
Am Abend zog Louise ihr hübschestes Kleid an.
„Du machst dir ja nichts aus Opern, nicht, Roger?" fragte sie.
„Nein", log Roger. „Aber ich weiß, wie sehr
du Opern liebst.
Ich wünsche dir viel Vergnügen."
„Danke, Liebling!" Und sie küßte ihn.
Das war wahrscheinlich
das letzte Mal, daß sie mich küßte, dachte Roger.
Da klingelte es auch schon an der Tür. Es war
Ken, er war in Abendkleidung und sah phantastisch aus.
Er gab Roger die Hand. „Vielen Dank, daß Sie
mir Ihre Frau ausleihen."
„Keine Ursache", sagte Roger. Schon bald wird sie sowieso deine sein.
Er sah ihnen nach, wie sie gingen, und das
Herz war ihm schwer.
„Spül das Geschirr!" kommandierte Sarah. „Ich
gehe schlafen.."
Roger spülte das Geschirrt trocknete es ab,
putzte die Küche
und ging ebenfalls zu Bett. Aber er konnte natürlich
nicht
schlafen. Er wartete auf Louises Rückkehr und daß sie ihm
sagte, es sei zu Ende mit ihrer Ehe.
Um elf war sie immer noch nicht da.
Und auch um Mitternacht noch nicht.
Roger stand auf und lief ruhelos im Flur auf
und ab. Endlich, um ein Uhr morgens, kam Louise. „Ich habe
Neuigkeiten für dich", sagte sie.
Roger wußte, was käme. Ich werde nicht weinen, dachte er. Auf
keinen Fall lasse ich mir anmerken, daß sie mir
das Herz
gebrochen hat.
„Fang an", sagte er.
Louise legte die Arme um ihm. „Ich habe den
langweiligsten Abend meines Lebens hinter mir, kann ich dir sagen.
Dieser Ken hat pausenlos gequasselt. Und hinterher, nach der Oper,
schleppte er mich noch zu einer sterbensfaden Party." Sie lachte.
„Ich will den Kerl nie im Leben wiedersehen, sage ich dir. Du bist
der einzige Mann, mit dem ich zusammen sein möchte."
Roger glaubte nicht richtig zu hören. Dann
stammelte er: „Aber das ist ja wundervoll!"
Sarah kam aus ihrem Zimmer. „Werdet ihr zwei
endlich still sein? Ich kann nicht schlafen!"
Am nächsten Morgen stieg Roger in sein Auto
und war wieder ein sehr, sehr glücklicher Mann. Er war dabei,
rückwärts aus der Einfahrt hinauszurangieren, als er im Rückspiegel
seine Schwiegermutter direkt hinter dem Auto sah. Sie beugte sich
gerade hinunter, um die Zeitung aufzuheben.
Bis auf diesen Tag ist Roger sich nicht
sicher, ob nun sein Fuß abrutschte und irrtümlich auf das Gaspedal
trat statt auf die Bremse, oder ob seine unterbewußte Absicht
dahinter stand. Sicher ist nur, er fuhr seine Schwiegermutter
nieder, und sie war auf der Stelle tot.
Die Kirche ist der Ansicht, daß eine Sünde,
auch wenn man sie nur im Herzen und in Gedanken begeht, genauso
schlimm ist wie die wirkliche Ausführung einer sündigen Tat.
Demzufolge hatte Roger bereits gesündigt, als er versuchte, seine
Schwiegermutter zu vergiften, mit Strom zu töten und zu ersticken.
Also hatte er, so oder so, das Fünfte Gebot gebrochen: Du sollst
nicht töten.
Die Polizei zeigte sich Roger gegenüber sehr
mitfühlend. „Ein ganz tragischer Unfall, kein Zweifel."
So kam es, daß Roger und Louise schließlich
doch noch allein leben und sich der Million Dollar erfreuen
konnten, die Louises Mutter hinterlassen hatte.
6. KAPITEL
DAS SECHSTE GEBOT: DU SOLLST NICHT
EHEBRECHEN.
Joe Smith war ein Gauner. Keiner von den ganz
großen Ganoven, nur so ein kleiner Gauner. Seit er zehn Jahre alt
war, hatte er es schon mit der Mafia zu tun. Als Jugendlicher
besorgte er Botengänge, als er älter. wurde, bekam er dann
allmählich Größeres zu tun. Er wurde Eintreiber, also einer von
denen, die den Leuten, die nicht rechtzeitig ihre Schulden
zurückzahlten, auch schon mal die Hand brachen und dergleichen…Joe
gefiel seine Tätigkeit. Er war gern Mitglied der Mafia.
Als er siebzehn war, hatte er seine Freundin
geschwängert und war gezwungen worden, sie zu heiraten. Aber
Tatsache war, daß er sie nicht besonders mochte. Sie war nicht sehr
hübsch, und sie war streitsüchtig und kommandierte dauernd herum,
aber Joe hatte sie halt nun mal auf dem Hals.
Obwohl Joe ein Gangster war, war er dabei
doch ziemlich fromm. Niemals hätte er auch nur im Traum daran
gedacht, Ehebruch zu begehen und mit der Frau eines anderen Mannes
zu schlafen.
Der Capo - der Mafia-Chef - war ein gewisser
Fred „Eispickel" Bulgatti. „Eispickel" hieß man ihn, weil er seine
Opfer tötete, indem er ihnen einen Eispickel zwischen die Ohren
hackte. Das ging lautlos und war schmerzhaft. Er war ein Schrank
von Mann, über einszweiundachtzig groß, ein Kerl wie ein Gorilla.
Man erzählte sich, er sei imstande, einen Mann mit den bloßen
Händen auseinanderzureißen. Er war der Schrecken aller. Fred
Bulgatti hatte seinerseits eine Ehefrau und drei Kinder, außerdem
eine Geliebte, eine gewisse Angela. Diese Angela war aber
keineswegs ein Engel. Doch schön war sie. Sie hatte eine sinnliche,
sexy Figur und ein Gesicht wie ein Filmstar. Fred konnte den jungen
Joe Smith gut leiden. Er sagte zu ihm: „Joe, eines Tages mache ich
einen gemachten Mann aus dir." Ein gemachter Mann war jemand, der
schon mal jemanden totgemacht hatte. War man erst einmal „gemacht",
dann gehörte man auf ewig zur Mafia.
Joes größter Ehrgeiz war es denn auch, so ein
gemachter Mann zu werden. Alle seine besten Freunde waren gemachte
Männer, und die meisten hatten sogar schon mehrere Morde begangen.
Joe wollte unbedingt in ihren Kreis aufgenommen werden. Seine
Chance kam eines Tages im Sommer, als Fred ihn zu sich in das
italienische Restaurant kommen ließ, wo er immer aß.
„Joe", sagte er, „hier ist deine große
Chance. Wie würde es dir gefallen, ein gemachter Mann zu
werden?"
Joe war ganz begeistert. „Ich bin bereit",
sagte er.
„Gut. Irgend so ein ganz Kluger hat meine
Angela angerufen und sie um ein Date gebeten. Dem Kerl schneidest
du die Finger ab, mit denen er ihre Nummer gewählt hat. Und dann
seine Ohren, mit denen er hörte, wie sie Nein sagte. Und dann
schießt du ihm in den Mund, mit dem er das Date verlangt hat.
Schaffst du das?"
„Klar, Chef", sagte Joe und war sehr stolz
über den ehrenvollen Auftrag.
Fred gab Joe ein Schießeisen und ein Messer.
„Da. Und zum Beweis bringst du mir seine Finger und auch die Ohren
von dem Kerl. Niemand - niemand - macht sich ungestraft an meine
Angela heran."
Timothy Brown - oder, wie er später dann
immer nur genannt wurde, der arme Timothy Brown - war
Versicherungsvertreter. Er war es, der Angela angerufen hatte, um
einen Termin mit ihr wegen einer Versicherung zu vereinbaren.
Angela, die nicht gerade die Intelligenteste von der Welt war,
hatte das total mißverstanden und gedacht, er wolle ein Date mit
ihr ausmachen, ein Rendezvous. Und das hatte sie Fred erzählt.
Deswegen hatte Fred nach Joe geschickt.
Timothy Brown war in seiner Wohnung, als es
an der Tür
klopfte. Er machte auf. Draußen stand Joe Smith und
fragte:
„Mr. Brown?"
„Ja? Was kann ich für Sie tun?"
„Umgekehrt. Ich komme, um Ihnen etwas
anzutun. Haben Sie gestern mit einer jungen Dame namens Angela
telefoniert?" „Ja, richtig. Wir haben einen Termin ausgemacht.
Kommt sie?"
„Sie hat mich statt dessen geschickt", sagte
Joe.
Wir wollen uns die Einzelheiten dessen, was
dann geschah, ersparen, weil sonst selbst aus diesen Seiten hier
das Blut heraustriefen würde. Kurzum, zwei Stunden später lieferte
Joe bei Fred die Finger und Ohren des armen Timothy Brown ab. Fred
saß noch immer beim Essen, als Joe ihm diese Trophäen
anbrachte.
Fred besah sie sich genau und sagte:
„Ordentliche Arbeit,
Junge. Hast du gut gemacht. Hast du ihn auch in den Mund
geschossen?"
„Ja, Chef."
„Gut. Dann bist du jetzt ein gemachter Mann.
Von jetzt an bist du einer von uns."
Es war Joes glücklichster Tag in seinem
ganzen bisherigen Leben.
Fortan war Joe also einer von den Jungs. Er
gehörte zur Mafia und war bei Überfällen auf Banken und Tankstellen
dabei und beim Verwalten von Spielhallen und Prostituiertenringen,
mit einem Wort, er führte ein prächtiges Leben.
Leute umbringen, das machte er nur, wenn es
unbedingt
notwendig war. Aber es machte ihm auch nichts
aus. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht erklären konnte,
war aber das einzige Gebot, das er niemals übertrat, das sechste:
Du sollst nicht ehe- brechen.
Die anderen Gangster rund um ihm taten es
dauernd, aber Joe rühmte sich der Tatsache, noch niemals mit der
Frau eines anderen Mannes geschlafen zu haben. Er prahlte sogar
richtig damit, beging aber eben damit einen schweren Fehler. Eines
Tages nämlich kam Angela herein und hörte, wie Joe gerade sagte:
„Solange ich verheiratet bin, werde ich niemals mit einer anderen
Frau .schlafen. Der Herr sagt >Du sollst nicht ehebrechen<.
Ich finde, jeder, der das tut, sollte direkt in die Hölle
kommen."
Angela hörte sich das mit großem Interesse
an, weil sie davon überzeugt war, daß es nicht einen einzigen Mann
auf der ganzen Welt gab, der sich weigern würde, mit ihr zu
schlafen. Tatsächlich war Angela auch so schön, daß sie damit sogar
vermutlich recht hatte.
„Ich wette", sagte sie zu Joe, „wenn die
richtige Frau käme,
würdest du schon mit ihr schlafen."
Joe war, schockiert. „Niemals!"
Mehr brauchte Angela nicht zu hören. Die
Sache weckte ihren gesamten Ehrgeiz. Kein Mann
kann mir widerstehen, dachte sie, der da
schon gar nicht.
Und sie beschloß, zu beweisen, daß sie recht
hatte. Eines Tages sagte sie zu Fred: „Schatz, ich glaube, es
verfolgt mich einer. Ich fühle mich nicht sicher."
„Wer?" bellte Fred sofort los. „Den reiße ich
in Stücke!" „Ich bin mir nicht sicher", sagte Angela. „Ich habe
einfach nur dieses Gefühl, daß da einer hinter mir her ist. Ich
würde mich sehr viel besser fühlen, wenn du stets an meiner Seite
bleiben würdest."
„Du weißt genau", sagte Fred, „daß das nicht
geht. Ich muß
mich schließlich um meine Geschäfte
kümmern."
Angela tat eine Weile nachdenklich. „Nun ja,
aber vielleicht könntest du einen deiner Jungs zu meinem Schutz
abstellen? Das würde mich schon sehr beruhigen."
„Klar", sagte Fred, „das geht. Welchen
möchtest du denn haben?"
Sie tat wieder so, als denke sie lange nach.
„Ach, ist ganz egal. Joe Smith würde es schon tun."
„In Ordnung. Joe ist ein guter Mann. Ich sage
ihm, daß er ein Auge auf dich haben soll."
„Danke dir, Liebling. Vielleicht ja nur für
eine oder zwei Wochen. Dann hat es der, der da um mich
herumspioniert, sicher schon aufgegeben."
Am nächsten Morgen ließ Fred sich Joe kommen.
„Angela hat da ein kleines Problem", sagte er. „Sie glaubt, es ist
einer hinter ihr her. Du wirst auf sie aufpassen und sie
beschützen." „Klar, Fred", sagte Joe. „Wird gemacht."
„Ich danke dir. Wenn du herauskriegst, was
das für ein Kerl ist, dann schnappst du ihn dir und zersäbelst ihn
Zentimeter um Zentimeter. Ich will seine Arme, seine Beine und
seinen Kopf haben. Ist das klar?"
„Völlig klar, Boß. Wird mir ein Vergnügen
sein."
„Niemand", brüllte Fred, „absolut niemand
rührt mir meine Angela an!"
Joe begab sich am selben Nachmittag zu
Angela. Sie war in der schönen Wohnung, die ihr Fred eingerichtet
hatte, und sie hatte nichts an außer einem hauchdünnen und
praktisch durchsichtigen Neglige. Joe konnte gar nicht glauben, wie
schön sie war.
„Komm herein, mein Süßer", sagte Angela. „Wie
ich höre, bist du jetzt mein Leibwächter."
„Ja," sagte Joe. „Haben Sie irgendeine
Ahnung, wer das ist, der
hinter Ihnen her ist?"
„Nein. Aber jetzt, wo du da bist, habe ich
keine Angst mehr." Sie kam etwas näher. „Wie wäre es mit einem
kleinen Drink?" Er schluckte schwer. Er konnte ihr Parfüm riechen,
das ihm schier den Kopf vernebelte. „O nein, danke", sagte er. „Wie
man mir sagte, gehen Sie heute nachmittag einkaufen." „Ja", sagte
Angela.
Joe konnte die Augen nicht mehr von Angelas
Figur wenden. „Sie... sollten sich dann jetzt besser
anziehen."
Sie strich ihm mit der Hand über den Arm.
„Wenn du das unbedingt willst", schmelzte sie.
Joe dachte daran, was Fred zu ihm gesagt
hatte: Du schnappst ihn dir und zersäbelst ihn Zentimeter um
Zentimeter. „Wir gehen lieber.". „Na gut. Es dauert nur ein paar
Minuten."
Joe sah ihr nach, wie sie in ihr Schlafzimmer
verschwand. Nach einer Weile hörte er sie rufen: „Kannst du mal
kommen, bitte?"
Joe eilte in das Schlafzimmer. Dort stand
Angela, erst halb angezogen. „Mein Reißverschluß klemmt", sagte
sie. „Kannst du mir mal helfen?"
Er kam zu ihr. Ihr Rücken war völlig nackt.
Und es war der aufregendste Rücken, den er je gesehen
hatte.
Er war stark in Versuchung, ihn zu küssen,
doch er riß sich
zusammen, weil er sich gerade noch rechtzeitig sagte, daß
er
keinen Wert darauf legte, von Fred seine eigenen Lippen
abgeschnitten zu bekommen.
Er machte den Reißverschluß zu.
„Danke", sagte Angela.
Angela begann an ihrem Plan mit Joe zu
arbeiten. Und wenn Angela einmal an einem Mann zu arbeiten begann,
gab es in dieser Hinsicht keine Bessere als sie. Zuerst kamen diese
versteckten Hinweise darauf, wie einsam sie doch sei. Dann redete
sie davon, wie gemein Fred Bulgatti zu ihr war und wie gut Joe
aussah.
Sie forderte Joe auf, sie in ihrer Wohnung
abzuholen, ließ dann die Tür unverschlossen, und wenn er hereinkam,
rief sie ihm zu, daß sie im Schlafzimmer sei, und dort fand er sie
splitternackt vor. Er rannte sofort hastig ins Wohnzimmer zurück.
Die ganze Situation war viel zu verführerisch. Und viel zu
gefährlich.
Joe hatte zwei Probleme damit. Erstens hatte
er Angst, daß Gott ihn auf der Stelle tot umfallen ließe, wenn er
das sechste Gebot übertrat. Und zweitens wußte er positiv und
absolut, daß Fred ihn zu Hackfleisch verarbeitete, wenn er Angela
auch nur anfaßte.
Andererseits wandte Angela wirklich alle
Tricks an, um Joe zu sich ins Bett zu kriegen. Die Frage war also:
wer würde gewinnen?
Die Antwort war natürlich furchtbar einfach:
Angela selbstverständlich.
Fred „Eispickel" Bulgatti saß beim Essen mit
Angela. Er fragte: „Na, kommst du gut aus mit Joe?"
„Ja, ja", machte Angela achselzuckend, „er
ist ganz in Ordnung. Sehr helle ist er nicht, und besonders gut
sieht er auch nicht aus."
„Soll ich dir vielleicht einen anderen als
Leibwächter schicken?" fragte Fred.
."Nein, nein", sagte Angela, „das ist nun
auch nicht notwendig. Joe macht seine Sache ja ganz gut."
„Denkst du immer noch, es ist einer hinter
dir her?" „Da bin ich ganz sicher. Wir haben zwar noch keinen
gesehen, aber ich spüre es einfach genau. Jedenfalls fühle ich mich
mit Joe sehr viel sicherer."
„Gut", sagte Fred. „Dann lasse ich ihn dir
noch drei Tage, und dann wechseln wir ihn gegen einen anderen aus.
Ich brauche Joe sowieso für eine Sache in Chicago."
Drei Tage, dachte
Angela. Da muß ich mich jetzt aber
beeilen.
Am nächsten Morgen rief Angela bei Joe zu
Hause an. Joes
Frau war am Telefon.
„Ist Joe da?"
„Wer spricht denn da?"
„Hier ist Angela."
„Oh, Sie sind das. Sie hatten meinen Mann ja
in letzter Zeit viel um sich."
Joes Frau machte sich aber nicht wirklich
etwas daraus. Sie fand Joe schon seit geraumer Zeit langweilig und
hätte alles mögliche getan, nur um ihn loszuwerden. „Augenblick",
sagte sie. „Ich hole ihn." Joe kam ans Telefon. „Ja?"
Angela sprach mit schwacher Stimme: „Joe, mir
geht es nicht gut. Könntest du gleich mal kommen? Ich glaube, ich
brauche einen Doktor."
„Ja, sicher. Soll ich gleich mal einen Arzt
rufen?" „Nein, nein, komm nur erst mal her."
„In Ordnung", sagte Joe. „Ich bin gleich da."
Er legte auf und sagte zu seiner Frau: „Sie hört sich ja wirklich
schlimm an."
Fünf Minuten später war er auf dem Weg zu
Angela. Als er dort ankam, war die Tür wie üblich offen. Er dachte,
daß es doch eigentlich recht seltsam sei, wenn jemand, der Angst
vor Verfolgung hatte, die ganze Zeit die Tür nicht absperrte. Er
hörte Angelas Stimme aus dem Schlafzimmer. „Ich bin hier, Joe." Er
ging hinein. Angela lag im Bett.
„Komm her zu mir", sagte sie mit schwacher
Stimme.
Joe war beunruhigt. Sie klang wirklich
besorgniserregend. „Mir ist so heiß", sagte Angela. „Fühl mal meine
Stirn." Er kam an ihre Bettseite und legte seine Hand auf ihre
Stirn. Sie fühlte sich tatsächlich heiß an. „Sie haben Fieber,
glaube ich", sagte Joe.
„Ich habe Angst", flüsterte Angela. „Ich mag
nicht allein sein, wenn ich krank bin. Fred läßt mich dauernd
allein. Er macht sich nicht wirklich etwas aus mir:"
„Das dürfen Sie nicht sagen", widersprach
Joe. „Das tut er sehr wohl." Er hätte ihr erzählen können, wie sehr
Fred sich etwas aus ihr machte, indem er Sorge trug, daß jeder, der
überhaupt nur an Angela dachte, so peinvoll wie nur möglich
umgebracht wurde.
Angela nahm Joes Hand und zog ihn zu sich auf
das Bett nieder. „Du bist nicht wie Fred", flüsterte sie ihm zu.
„Du bist gefühlvoll und wunderbar und siehst gut aus." Und sie
führte seine Hand an ihre Brust. Er versuchte, sie
wegzuziehen.
„Was ist, magst du mich nicht?" fragte
Angela. „Weißt du denn nicht, daß ich ganz schrecklich verliebt in
dich bin?" „Angela", sagte Joe ganz nervös, „Sie können doch nicht
in mich verliebt sein, Sie gehören Fred."
„Ich gehöre gar keinem", sagte Angela. „Dir
möchte ich gehören."
„Aber das ist unmöglich! Fred brächte uns
beide um, würden wir etwas miteinander anfangen. Das weiß ich ganz
genau. Er zerstückelt gern Leute in kleine Scheiben."
Er versuchte, sich aufzurichten. „Ich muß weg
hier." Aber sie hielt ihn zurück. „Du willst wirklich gehen?" Sie
zog ihre Bettdecke weg, und da lag sie ohne etwas an. Absolut
nichts hatte sie an.
Joe betrachtete sie und alles begann sich um
ihn zu drehen. Sie streichelte ihn jetzt sogar noch und zog ihn
immer näher. „Mein Liebling. Ich bin verrückt nach dir. Nimm mich!"
Na ja, und bedauerlicherweise war Joe nun auch nicht aus Holz. Sein
Widerstand war total gebrochen. Er riß sich in Windeseile die
Kleider vom Leib.
Zum Teufel damit,
dachte er, Fred erfährt es ja nicht.. Und
was das Übertreten des sechsten Gebots
angeht, so wird Gott ja wohl mit anderen
Sündern genug zu tun haben, daß er nicht ständig nur auf mich aufpaßt.
In fünf Sekunden war er bei Angela im Bett,
und sie schlang die Arme um ihn. Und er dachte: Das ist das Tollste
jetzt, was ich jemals erlebt habe.
Aber in diesem Moment donnerte die Stimme von
Fred „Eispickel" Bulgatti hinter ihnen: „Aha! Also habe ich euch
erwischt!"
Joe fuhr hoch, und da stand Fred neben dem
Bett und sah zornig auf ihn herab.
Man sagt, daß, wenn jemand ertrinkt, sein
ganzes Leben noch einmal blitzschnell an ihm vorüberzieht. Joe war
nicht am Ertrinken, aber trotzdem begann sein ganzes Leben noch
einmal blitzschnell an ihm vorüberzuziehen. Und er fragte sich, was
ihm Fred wohl als erstes abschneiden würde. Er war sich allerdings
auch ziemlich sicher, was es wäre.
Fred stand da und war puterrot im Gesicht vor
Wut. „Zieht euch an", schrie er, „alle beide."
Angela hatte Todesangst. Sie wußte gut genug,
wozu Fred fähig war. Aber ihr Entsetzen war nichts verglichen mit
dem, was Joe empfand. Er war kaum imstande, aus dem Bett zu taumeln
und sich anzuziehen.
Fred behielt sie beide unentwegt im Auge.
„Mein Mädchen und mein bester Freund!" sagte er.
Joe beschloß bei sich, daß er, wenn er schon
sterben mußte, dann genausogut wie ein Mann sterben konnte... „Gib
Angela keine Schuld", sagte er, „es war allein meine Schuld. Ich
habe
sie gezwungen.. ."
„Halt den Mund!" fuhr ihn Fred an. „Du redest
nur, wenn du gefragt wirst."
Und er wandte sich an Angela. „Du kleine
Schlampe, du! Nach allem, was ich für dich getan habe!"
Als sie beide angezogen waren, sagte Fred
drohend: „Mein Wagen steht draußen. Wir machen eine
Fahrt."
Joe war durchaus klar, daß dies das Ende
bedeutete. Gott tötete ihn nun tatsächlich dafür, daß er das
sechste Gebot gebrochen hatte. Nichts konnte ihn jetzt mehr
retten.
Angela sagte: „Fred, Liebling, es ist doch
alles anders, als es aussieht. Wir wollten doch nur..."
„Ich habe gesehen, was ihr getan habt", sagte
Fred. , „Aber -"
„Und du hältst jetzt ebenfalls den Mund. Los
jetzt." Er ging hinaus zu seinem .Wagen, einer langen, schwarzen
Limousine. Am Steuer saß einer von seinen Mafialeuten. Fred schob
Joe und Angela hinein auf den Rücksitz. „Los", sagte er zum
Fahrer.
Joe zitterte vor Angst. Es war ihm klar daß
dies seine letzten Augenblicke auf Erden waren und daß er in kleine
Stücke zerhackt und den Fischen zum Fraß vorgeworfen würde. Aber er
brachte doch noch einige Worte heraus. „Wohin bringst du
mich?"
„Du sollst das Maul halten, habe ich gesagt",
fuhr ihn Fred an. Der Rest der Fahrt verlief in Schweigen. Joe
schien, als, führen sie stundenlang, und er war sehr überrascht,
als er merkte, daß sie in Las Vegas ankamen. Was denn, sollte er in
Las Vegas umgebracht werden?
Der Wagen hielt vor einer der
Hochzeitskapellen. Joe wurde
immer verwirrter.
„Aussteigen!" kommandierte Fred.
Angela und Joe stiegen aus. „So", sagte Fred,
„jetzt will ich
euch die Situation erklären."
Er blickte Joe in die Augen. „Ich sollte dich
eigentlich umbringen", sagte er. „Du warst mein Freund und ich habe
dir vertraut. Aber weil ich ein weichherziger Mensch bin, lasse ich
dich leben." Joe traute seinen Ohren nicht.
Nun wandte Fred sich an Angela. „Auch dir",
sprach er, „habe ich vertraut, aber du warst mir untreu. Doch auch
dir vergebe ich. Weißt du aber auch, warum? Weil ich tief im Herzen
überzeugt bin, daß ihr alle beide nicht anders konntet. Ihr habt
euch verliebt und konntet dem, was geschah, einfach nicht
widerstehen."
Auch Angela starrte Fred nun völlig ungläubig
an. „Weil ich also, wie gesagt, so ein weiches Herz habe, schenke
ich euch beiden das Leben."
Er wandte sich wieder an Joe. „Ihr beide
werdet jetzt heiraten." „Aber ich kann Angela nicht heiraten",
sagte Joe. „Ich habe doch schon eine Frau."
„Darüber mach dir mal keine Sorgen"
informierte ihn Fred. „Die ist gerade jetzt eben bei Gericht und
läßt sich von dir scheiden."
Joe war derart in Panik, daß er sich nicht
einmal fragte, wie denn das zuging, daß alles so rasch arrangiert
war, und wieso seine Frau eine Scheidung bekommen konnte, während
er gleichzeitig bereits Angela heiratete.
Er hätte das alles sehr viel besser
verstanden, wenn er von dem Gespräch gewußt hätte, das am Tag zuvor
stattgefunden hatte. An diesem Tag zuvor sprach Fred in seinem Büro
mit einem seiner sogenannten Leutnants.
„Ich muß dieses Weib, die Angela, loswerden",
hatte Fred gesagt. „Die treibt mich zum Wahnsinn. Ständig verlangt
sie mehr und mehr. Jetzt hat sie schon allen Schmuck und alle Pelze
der Welt und immer noch kriegt sie den Hals nicht voll." „Ja, aber
wie soll man sie loswerden, ohne ihre Gefühle zu verletzen
r"
Doch Fred wußte die Antwort darauf schon.
„Dazu benutze ich
Joe", sagte er. „Ich ahne nämlich, daß Angela versucht, ihn
zu
sich ins Bett zu kriegen."
„Denkst du denn, er tut es?"
„Spinnst du oder was? Selbstverständlich tut
er es. Den Mann, den Angela nicht herumkriegen würde, gibt es
nicht. Ich habe ein Auge auf ihre Wohnung, und sobald es passiert,
überrasche ich sie beide. Dann zwinge ich ihn, sie zu heiraten und
veranlasse seine Frau, sich von ihm scheiden zu lassen, und alles
ist in bester Butter. Außerdem habe ich eine neue Freundin, eine
tolle Schönheit."
So kam es, daß Joe Smith sich mit der schönen
Angela verheiratet und von seiner Frau, die er haßte, geschieden
fand. Und das alles, wenn man es sich überlegt, dachte Joe, weil
ich das sechste Gebot übertrat: Du sollst nicht
ehebrechen.
7. KAPITEL
DAS SIEBTE GEBOT: DU SOLLST NICHT
STEHLEN.
Er hieß Tom. Tom Warner. Er arbeitete als
Angestellter in einer Bank, und sein Gehalt war hundertfünfzig
Dollar die Woche. Wäre er Junggeselle gewesen und hätte allein
gelebt, dann hätte das wohl zum Leben gereicht. Aber Tom war
verheiratet und hatte drei Jungs. Wie soll man mit so einem
Hungerlohn eine Frau und drei Söhne ernähren und kleiden, ihnen
Schuhe kaufen und sie auf die Schule schicken? Völlig
unmöglich.
Als Tom noch jünger war, dachte er an nichts
anderes, als daß er einmal ungeheuer erfolgreich sein wollte und
vielleicht sogar eines Tages seine eigene Bank haben würde. Als er
dann seine Frau Mary kennenlernte, dachte er an nichts anderes, als
daß er ihr ein wunderschönes Zuhause schaffen wollte. Und als seine
Jungs auf die Welt kamen, dachte er an nichts anderes, als daß er
mit ihnen später auf einer großen Jacht um die Welt reisen
wollte.
Nun, mit fünfundvierzig, dachte er an nichts
anderes als Geld. Der Stapel seiner unbezahlten Rechnungen wuchs
immer weiter an, und es schien ihm, als verginge überhaupt kein Tag
mehr, an dem nicht eine Rechnung kam. Wie sehr sie sich auch
bemühten zu sparen, Tom und Mary kamen einfach nicht mehr nach mit
dem Bezahlen.
Die lronie dabei war, daß Tom bei seiner
Arbeit in der Bank jeden Tag mit Millionen umging. Sein Problem war
nur, daß es halt nicht seine Millionen waren.
Eines Morgens beim Frühstück sagte Mary:
„Liebling, die Kinder brauchen neue Schuhe."
„Wir haben ihnen doch erst vor zwei Monaten
neue gekauft." „Ja, ich weiß. Aber sie gehen schnell kaputt.
Außerdem ist der Fleischer noch nicht bezahlt. Ich habe versucht,
erneut auf Kredit Fleisch von ihm zu bekommen, aber er sagte, es
geht nicht mehr." „Wieviel sind wir ihm denn schuldig?"
„Zweihundert Dollar."
Was Tom betraf, hätten ihn auch zweitausend
Dollar nicht mehr aus der Ruhe gebracht als zweihundert.
„Wir haben kein Geld, um Ihn zu bezahlen".,
sagte er zu seiner Frau.
Es war ihr unangenehm, das auch noch zur
Sprache bringen zu müssen, aber sie sagte es dennoch. „Und auch der
Bäcker, Liebling, will sein Geld von uns haben."
„Schon wieder?" sagte Tom. Es waren ohnehin
nicht nur der Fleischer und der Bäcker. Auch der Mann von der
Versicherung wollte Geld haben und der Mechaniker und ein
Elektriker, der einiges im Haus gerichtet hatte, und der Zahnarzt
der Kinder und der Fernsehreparaturdienst und überhaupt am
dringendsten ihr Hausherr. Toms Wohnung kostete dreihundert Dollar
Miete im Monat, dabei war es nur eine winzige Wohnung, in der alle
lebten. Aber jeden Monat hatte er Schwierigkeiten, die Miete zu
bezahlen. Als sie eingezogen waren, hatte er noch geglaubt, er
werde in seiner Bank bald befördert und bekomme ein höheres Gehalt.
Mary sagte: „Warum gehst du nicht zu Mr. Gable und bittest ihn um
Gehaltsaufbesserung?"
Mr. Gable gehörte die Bank, bei der Tom
arbeitete. „Er hat sie dir schon seit Jahren
versprochen."
„Ich weiß", sagte Tom. „Aber es ist mir
unangenehm, ihn immer danach zu fragen."