16. KAPITEL
Es war vier Uhr morgens, als Ben aufwachte und feststellte, dass January sich an ihn gekuschelt hatte. Zuerst glaubte er zu träumen. Doch dann drehte sie sich mit einem kleinen Seufzer zu ihm um, und er konnte ihren sanften Atem auf seiner Haut spüren. Da wurde ihm klar, dass dies kein Traum war – er war tatsächlich im Himmel.
Sogar im Dunkeln konnte er sehen, wie schön sie war. Ihr schwarzes Haar lag wie hingegossen auf dem weißen Kopfkissen. Und ihr Nachthemd, das über dem Bettpfosten hing, erinnerte ihn an den vollkommenen Körper, der jetzt nackt neben ihm unter der Bettdecke lag.
Während er dort lag und sie beobachtete, wurde ihm klar, wie gut und richtig es sich anfühlte, mit ihr in den Armen aufzuwachen. Es schien ihm nicht mehr nachvollziehbar, dass er sich jemals über sie geärgert oder sie gemieden hatte. Wenn es nach ihm ginge, dann würde er keine einzige Nacht mehr ohne sie verbringen.
Er schloss die Augen und versuchte wieder einzuschlafen, doch als er gerade dabei war, wegzudämmern, weckte ihn sein knurrender Magen wieder. Er wollte sich entspannen, aber das Loch in seinem Bauch meldete sich erneut mit einem grollenden Geräusch.
Er seufzte.
Wäre er jetzt zu Hause, dann hätte er seinen Kühlschrank durchforstet oder den Fernseher eingeschaltet. Er war sich sicher, dass auch January nichts dagegen gehabt hätte, wollte sie aber nicht wecken. Trotzdem kannte er sich selbst gut genug, um zu wissen, dass es mit seinem Schlaf ganz aus wäre, wenn er jetzt nichts aß.
Vorsichtig zog er seinen Arm unter ihrem Nacken weg und wartete, bis er sicher sein konnte, dass er sie nicht aufgeweckt hatte. Dann stieg er leise aus dem Bett. Da er nicht in seiner eigenen Wohnung war, beschloss er, nicht nackt in die Küche zu gehen, sondern sich lieber ein großes Badehandtuch um die Hüften zu wickeln.
Er schaffte den Weg zur Küche durch die ihm noch unbekannte Wohnung, ohne gegen ein Möbelstück zu stoßen. Dann fand er sogar einen der Lichtschalter und knipste das Küchenlicht an.
Er zog das Handtuch um seine Hüften fester, öffnete die Kühlschranktür und blickte hinein. Da gab es eine interessante Sammlung von Folienpäckchen und Plastikschüsseln, doch sie waren nicht durchsichtig verpackt. Ben musste sie erst öffnen, um herauszufinden, was sich hinter der Folie verbarg. Mit den Folien im Kühlschrank lüftete er gleichzeitig das Geheimnis von Januarys Essgewohnheiten. Unter der ersten Folie fand er ein gekochtes Ei, in zwei weiteren Schalen befanden sich schrumpelige, vergessene Würstchen, die ihre besten Zeiten längst hinter sich hatten.
Hmm. Ben war sich nicht sicher, ob er Januarys offensichtliche Neigung, alte Essensreste ewig aufzubewahren, nicht etwas zwanghaft fand. Doch dann überlegte er es sich anders und tippte eher darauf, dass sie einfach keine Lebensmittel verschwenden wollte. Diese Einstellung gefiel ihm wiederum.
Er nahm ein Folienpäckchen heraus. Es roch leicht fischig, aber bei genauerer Betrachtung tippte er eher auf Rindfleisch. Angeekelt warf er es in den Mülleimer. Ein weiteres, ebenfalls in Folie verpacktes Fundstück sah dagegen vielversprechender aus. Beim Öffnen entdeckte er vier gegrillte Rippchen.
Er schnüffelte daran.
Sie schienen noch essbar zu sein.
Er legte das Päckchen auf den Küchentresen.
In Windeseile hatte er die restlichen Schüsselchen und Päckchen überprüft und warf vier davon in den Abfall. Den Inhalt eines weiteren Behälters vertilgte er vollständig. Als er gerade über die Rippchen herfallen wollte, spürte er, dass er nicht mehr allein war.
Er drehte sich um und dachte schon über eine Entschuldigung nach, als January völlig entspannt und ohne einen Anflug von Überraschung darüber, ihn hier vor ihrem Kühlschrank zu finden, zum Tresen ging und einen Löffel aus einer Schublade holte. Als wäre es das Normalste auf der Welt, angelte sie eine Packung “Ben & Jerry's Chunky Monkey”-Eiscreme aus dem Gefrierfach, trug sie zum Barhocker und begann, genüsslich ihr Eis zu löffeln.
“Mmmh”, sagte sie und schloss die Augen, während sie sich das Eis auf der Zunge zergehen ließ.
“Willst du das etwa alles allein essen?”, erkundigte sich Ben.
January sah ihn an, dann warf sie einen Blick auf ihren Eisbecher und nickte.
Er grinste. Sie war also auch ein bisschen egoistisch. Nicht gerade, was er erwartet hätte, aber verflucht, sie war lustig.
“Ich hab das chinesische Zeug ganz aufgegessen.”
Sie runzelte die Stirn, während der zweite Löffel voll Eis in ihrem Mund schmolz. “Ich hatte keine Reste vom Chinesen.”
“Mist”, murmelte Ben, als er auf die leere Packung blickte, die im Abwaschbecken stand.
“Das war auch nicht drin. Es war indisches Curry mit Reis und Gemüse.”
Er lachte. “Mein Fehler, Ms. DeLena. Also … Ich habe dein indisches Curry mit Reis und Gemüse vertilgt.”
“Okay.”
Er deutete auf die Rippchen. “Möchtest du die noch länger aufbewahren?”
“Nein. Iss sie ruhig auf.”
“Danke.” Ben schnappte sich ein Rippchen und biss ab. Das Fleisch war kalt, aber zart, und ließ sich ganz leicht vom Knochen lösen. “Mmmh, die sind gut. Hast du die gemacht?”
Sie zog die Augenbrauen in die Höhe und blickte ihn über den Rand ihrer Eispackung an. “Was denkst du denn?”
Er dachte an ihr erstes gemeinsames Dinner und an das mexikanische Essen, das sie dafür eingekauft hatte. Dann grinste er schelmisch.
“Barbecue Bob's Rippchen zum Mitnehmen?”
“Das klingt schon viel intelligenter”, erwiderte sie. “Hast du den Kartoffelsalat gefunden, der dazu gehörte?”
“Ja, aber der war nicht mehr gut, den habe ich weggeworfen. Ist das in Ordnung?”
January wedelte mit dem Löffel in seine Richtung. “Ich bin wirklich stolz auf dich – ich weiß, wie viel Mut dazu gehört, meinen Kühlschrank auszumisten!”
Sie stand auf, zupfte ein paar Papiertücher von der Haushaltsrolle und reichte sie ihm als Ersatz für die nicht vorhandenen Servietten.
“Danke”, murmelte Ben mit vollem Mund.
“Gern geschehen”, erwiderte January und nahm einen weiteren Löffel voll Eis.
Erst als sie einen letzten Löffel genommen und er alle Rippchen abgenagt hatte, nahmen sie ihre Unterhaltung wieder auf.
Er wischte die Theke ab. January hatte den Rest Eiscreme ins Gefrierfach zurückgestellt und ihren Löffel ins Abwaschbecken gelegt. Danach drehte sie sich um, lehnte sich gegen den Beckenrand und beobachtete ihn einen Moment lang.
Er sah so verdammt gut aus, dass es wehtat – kein Gramm Fett zu viel und harte Muskeln. Sex mit diesem Mann war wie eine Droge, nach der sie süchtig werden konnte. Spontan legte sie ihm die Arme um die Taille und schmiegte ihre Wange an seinen Rücken.
Von dieser zärtlichen Berührung überrascht, drehte Ben sich zu ihr um.
“Hallo, Süße”, sagte er leise und legte die Arme um sie.
“Auch Hallo”, erwiderte sie und umarmte ihn noch fester.
Ben fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar, dann hob er ihr Kinn an, um sie zu küssen.
“Mmmh … Chunky Monkey”, sagte er.
“Mmmh … Barbecue Bob”, erwiderte sie.
Er küsste sie erneut und umfasste ihr Gesicht.
Seine Hände fühlten sich so sicher und stark an. January hatte sich nicht mehr so behütet gefühlt, seit sie ihr Elternhaus vor vielen Jahren verlassen hatte.
“Ben?”
“Was ist?”
“Ich muss wirklich immer wieder an das eine Wort denken.”
“An das eine Wort? Was meinst du … Ach, das Wort.”
Sie seufzte. “Bin ich verrückt?”
“Ich weiß nicht, wie das bei dir ist, aber ich bin es ganz sicher: verrückt vor Liebe.”
Sie nickte. “Ja … Ich auch.”
Bens Kehle zog sich plötzlich zusammen. Er wollte etwas sagen, aber die Worte wollten nicht herauskommen. Er berührte ihr Gesicht, ihr Haar, dann zeichnete er die Linie ihrer Lippen mit dem Daumen nach.
“January.”
“Was?”
“Nichts, ich habe nur deinen Namen ausgesprochen.” In diesem Moment erinnerte er sich an Rodrigos Spitze, als er sich über ihren Namen ausgelassen hatte. “He, Süße, du hast mir immer noch nicht deinen vollständigen Namen verraten. Und mach dir keine Sorgen. Wenn es so was wie Hortense sein sollte, kann ich das auch verschmerzen.”
January lächelte zwar, aber Ben merkte trotzdem, dass sie nervös wurde. Er runzelte die Stirn.
“Was ist los? Sag jetzt bitte nicht 'gar nichts', denn ich sehe etwas in deinen Augen.”
“Lass uns ins Bett gehen”, schlug January vor. “Es ist fast fünf. Wir haben immer noch zwei Stunden Zeit, bevor wir aufstehen müssen.”
“Wir können doch schlafen, so lange wir wollen, es ist Wochenende!”
January runzelte die Stirn. “Bitte. Ich bin wirklich müde. Wir können im Bett weiterreden, okay?”
Jetzt war er sich sicher, dass etwas nicht stimmte. Er nahm ihre Hand und zog sie fast aus der Küche, unterwegs schaltete er das Licht aus. Als sie wieder in ihrem Schlafzimmer waren, wartete er, während sie ins Bad ging, und stand immer noch da, als sie zurückkam.
“Warum hast du dich nicht hingelegt?”, erkundigte sie sich.
“Ich warte.”
January seufzte, dann setzte sie sich auf den Bettrand und knipste die Lampe an.
Ben setzte sich neben sie.
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und presste sie in den Schoß, damit sie nicht zitterten. Sie hatte diese nagende Angst, die sie seit Wochen verfolgte, nie in Worte gefasst. Doch jetzt wollte sie es Ben wissen lassen, und wenn es nur dazu diente, dass er ihre Bedenken wegwischte und als übertrieben abtat.
“Ich weiß nicht, warum das so ein Thema ist. Tatsächlich gefällt mir mein Name. Ein Produktionsleiter, für den ich mal in Arizona gearbeitet habe, war derjenige, der ihn abgekürzt hat. Er meinte, der wäre zu lang und die Leute könnten ihn sich nicht so leicht merken.”
Ben sagte nichts dazu.
January holte tief Luft.
“Mein voller Name lautet January Maria Magdalena. Mein Boss hatte den mittleren Namen gestrichen und den letzten so abgekürzt, dass er leichter auszusprechen ist, und dabei ist es geblieben.”
Ben runzelte die Stirn. “Der Name ist schön. Ich verstehe die Geheimnistuerei gar nicht. Ist doch klar, dass sie den ausgefallenen Namen January besser finden. Maria Magdalena ist doch …”
Er stockte abrupt.
January konnte in seinen Augen sehen, wie es ihm plötzlich dämmerte.
“Maria Magdalena … Gott im Himmel, January, und du hast es nicht für notwendig gehalten, mir das früher zu sagen? Wer kennt diesen Namen sonst noch? Ist er in deiner Branche allgemein bekannt? Kannst du …”
“Sei still!”, rief sie und hielt sich die Ohren zu. “Aufhören, aufhören! Du erzählst mir nichts Neues! Mein vollständiger Name ist nicht allgemein bekannt, weder in meiner Branche noch sonst wo, deshalb gibt es auch keinen Grund, mich vor dem Sünder zu fürchten.”
“Warum ist er dann so auf dich fixiert?”
“Ich war diejenige, die hinter ihm her war, schon vergessen? Ich habe seine Aufmerksamkeit selbst auf mich gezogen. Es ist nur natürlich, dass er neugierig auf mich ist.”
Ben dachte einen Augenblick darüber nach, dann nickte er. “Okay, ich verstehe deinen Standpunkt. Trotzdem ist es doch ein merkwürdiger Zufall, findest du nicht?”
January wusste selbst nicht mehr, was sie noch denken sollte. “Ich glaube, nichts von all dem ist Zufall, so wie du das meinst.”
“Aber …”
“Warte. Lass mich mal erklären.” Sie atmete noch einmal tief durch, bevor sie weitersprach. “Ich glaube, dass Gott das Leben auf merkwürdige Weise lenkt. Dass es Vorsehung war, uns beide – den Sünder und mich – zusammenzubringen. Ich weiß noch nicht, wie das alles zusammenpasst, aber ich glaube ganz fest daran, dass es so ist.”
Ben sah sie an. Wieder wollte er etwas sagen, aber ihr überzeugter Gesichtsausdruck hielt ihn zurück. Schließlich musste er sich geschlagen geben.
“Verdammt.”
“Ja, ich weiß”, sagte sie, “es ist zum Verrücktwerden, wenn man sich da hineinsteigert.”
“Aber das ist nicht deine Art, was?”
“Nein.”
Ben umarmte sie und zog sie an sich. “Und das ist nur einer von vielen Gründen, warum ich dich liebe.”
Sie schob die Nase in die Mulde seines Halses. “Liebst du mich wirklich?”
Ben nickte. “Ja, wirklich. Und wenn du die ganze Wahrheit erfahren willst, muss ich dir sagen, dass mich das zu Tode ängstigt. Du wirst von einem Verrückten verfolgt, der, wenn deine Theorie stimmt, meint, dass er in den Himmel kommt, wenn er Leute entführt und umbringt. Nach dem, was du mir gerade erzählt hast, mache ich mir ernsthafte Sorgen.”
January spürte, wie ihn ein Schauer erzittern ließ. Im Grunde ging es ihr genauso. Sie hatte diese Ängste wochenlang allein mit sich herumgetragen. Es war ein gutes Gefühl, sie jetzt mit Ben teilen zu können.
“Danke, dass du mir vertraust und an mich glaubst”, sagte sie leise.
“Komm jetzt ins Bett. Ich will dich ganz fest halten. Wenigstens weiß ich im Moment, wo du dich rumtreibst.”
January kuschelte sich in seine Arme, während er sie mit sich aufs Bett zog.
“Die Frage ist nicht, wo ich mich herumtreibe”, sagte sie. “Sondern, wo er sich gerade aufhält. Ben, wir müssen ihn so schnell wie möglich finden.”
Ben hielt sie fest. “Wir tun alles, was wir können, Süße. Wir tun weiß Gott alles dafür.”
Jay schlief, während seine Jünger heulten, flehten und ihn auf jede erdenkliche Weise verfluchten. Ihr Zustand verschlechterte sich. Durch den Dreck, in dem sie lagen, begannen sich die wunden Stellen zu infizieren. Auf Matthews Kopf hatte das Blut an den Stellen, wo er sich die Haarbüschel ausgerissen hatte, dicke Krusten gebildet. Eine Stelle war sogar schon von Maden befallen. Die Männer hatten versucht zu fliehen. Sie hatten um ihre Freiheit gebettelt. Doch das war vorbei. Jetzt bettelten sie nur noch um ein schnelles und sanftes Ende.
Doch es fehlte noch immer einer in der Schar der Jünger, das war auch allen durchaus bewusst.
Der Jünger, der für den Weg ihres Entführers am wichtigsten war, musste noch gefunden werden.
Judas.
Der Verräter.
Judith Morris war dreiunddreißig Jahre alt, einen Meter siebenundachtzig groß und einhundertdreißig Kilo schwer. Auf dem Kopf trug sie einen Bürstenhaarschnitt, und der Ohrring in ihrem linken Ohr war aus Stacheldraht. Um den Hals schlängelte sich tätowierter Stacheldraht, und weitere passende Tattoos befanden sich auf ihren Unterarmen. Sie konnte fast einhundertachtzig Kilo stemmen, und ihr fehlte ein oberer Eckzahn.
Sie verdiente sich etwas Geld mit dem Verkauf von Lottoscheinen in einer kleinen Gasse zwischen einem italienischen Restaurant und einem griechischen Feinkostladen. Zusätzlich arbeitete sie ab und zu als Rausschmeißerin im Club Lesbo. Tatsächlich wusste kaum jemand, dass Judith als Frau zur Welt gekommen war. Es wäre auch keiner auf die Idee gekommen, sie für eine Frau zu halten: Ihre Nase war einmal gebrochen gewesen, und auf ihrem Kinn prangte eine Narbe.
Wie eine Frau sah sie bestimmt nicht aus.
Und sie wurde Jude genannt.
Jay fühlte sich wie ein Betrüger. Obwohl er glaubte, dass seine Verwandlung eine direkte Botschaft Gottes war, fühlte er sich nicht wohl. Doch seine Würfel waren gefallen, und jetzt musste er mit seiner Entscheidung leben. Trotzdem fiel es ihm immer schwerer, den Alltag zu ertragen. Zusätzlich zu dem Schmerz, der in den vergangenen Monaten sein ständiger Begleiter geworden war begann bereits der Verfall seines Körpers.
Gestern Morgen musste er nur kurze Zeit nach seinem Frühstück bei einer Tankstelle Halt machen, um sich zu übergeben. Seine Organe versagten langsam ihren Dienst. Die Erkenntnis, dass sein Körper ihm nicht mehr gehorchte, war niederschmetternd. Und jetzt, wo sein Haar kurzgeschnitten war, fand er wunde Stellen und Knoten in seinem Nacken. Nachdem er panisch den ganzen Körper untersucht hatte, war ihm noch eine Verdickung unter dem Arm aufgefallen.
Die Lymphknoten. Die Schnellstraße für den Krebs auf dem Weg durch seinen Körper.
Offensichtlich blieb ihm noch weniger Zeit als erwartet. Sein wichtigstes Ziel war es jetzt, Judas zu finden. Aber das Telefonbuch hatte ihm keinen Judas offenbart.
Jude kam verkatert und schlecht gelaunt aus ihrem Einzimmer-Apartment. Dieses Miststück von Hure war über Nacht abgehauen, nachdem sie sich beschwert hatte, ständig herumgestoßen zu werden. Jude war sauer, dass sie nicht diejenige gewesen war, die Schluss gemacht hatte, aber eigentlich konnte sie froh sein, dass diese Verliererin verschwunden war.
Ihr Blick war angriffslustig, die Hände fast ununterbrochen zu Fäusten geballt. Heute war ein Tag wie jeder andere. Sie machte sich wie jeden Morgen auf den Weg zum Kiosk an der Ecke, um zu frühstücken, bevor sie ihre Runde drehte. Es wurde Zeit, diese Verlierer, die ihr noch Geld schuldeten, zur Rede zu stellen. Sie würde nicht davor zurückschrecken, dem einen oder anderen einen Arm zu brechen, um es auch zu bekommen.
Sie betrat den Laden mit hoch erhobenem Kopf, schob einen geschniegelten Anzugträger zur Seite und stellte sich an seinen Platz in der Schlange. Eine alte Frau schimpfte irgendetwas auf Russisch. Aber Jude lachte ihr nur ins Gesicht und brüllte ihre Bestellung.
“Warte, bis du dran bist, Jude!”, rief der Angestellte und winkte sie zurück.
“Leck mich”, sagte Jude. Sie schnappte sich zwei Bagels aus einem Korb auf der Fleischtheke, dann warf sie eine Fünf-Dollar-Note auf den Fußboden. “Der Rest ist für dich.” Auf dem Weg nach draußen schnappte sie sich eine Flasche Orangensaft aus der Kühlbox.
“He, Jude! Komm zurück, verdammt noch mal! Ich kriege noch einen Dollar!”, rief der Verkäufer ihr nach.
“Die Bagels sind kalt, dafür ist der Saft warm, und du kriegst einen Scheiß!”, schrie sie zurück und lief weiter.
Jay hatte schon etliche Minuten in der gleichen Schlange angestanden. Als er aber hörte, wie der Angestellte den Mann beim Namen rief, war sein Hunger vergessen. Er trat aus der Schlange heraus und folgte dem großen Mann nach draußen. Er wusste nicht, wie er diesen riesigen Typen in sein Taxi bekommen sollte, doch er hatte gebetet, um seinen Judas zu bekommen, und Gott hatte ihn erhört.
Jude hatte schon die Hälfte der Straße hinter sich und aß im Laufen. Sie schritt genauso energisch aus, wie sie von ihrem Bagel abbiss. In Gedanken plante sie ihre Tagestour.
Als Jay merkte, wie schnell sich dieser Typ bewegte, sprang er in sein Taxi und folgte ihm im Auto, immer auf Abstand bedacht. Mehrere Male musste er am Straßenrand warten, weil Jude verschiedene Läden betrat. Jay wunderte sich, dass Jude in der letzten Stunde in mindestens fünf Geschäften gewesen war, ohne irgendetwas gekauft zu haben.
Es war schon fast Mittag, als Jude sich an einer Straßenecke nach einem Taxi umschaute. Jay musste sich zurückhalten, um nicht laut zu rufen. Doch als er in den Rückspiegel blickte und ein anderes Taxi entdeckte, das auf die Kreuzung zufuhr, verfiel Jay in Panik. Er biss die Zähne zusammen, scherte so rasant aus der Parklücke, als gelte es, ein Formel-1-Rennen zu gewinnen, und schnappte dem anderen Taxi so diesen Fahrgast vor der Nase weg.
Der Taxifahrer hupte wild und schrie Jay irgendetwas Unflätiges zu, als er vorbeifuhr.
Jude öffnete die hintere Tür des Wagens und stieg ein.
“Wohin, Mister?”, fragte Jay.
Jude runzelte die Stirn, dann schnaubte sie leise.
“Wissen Sie, wo das Little China Tea House ist?”, erkundigte sie sich.
Jay hatte nie davon gehört, aber das machte ja wohl nichts. “Sicher”, erwiderte er knapp.
“Bringen Sie mich in zehn Minuten dorthin, dann zahle ich auch entsprechend”, grunzte Jude.
Die Stimme des Mannes war ungewöhnlich hoch, aber Jay dachte sich nichts dabei. Es war egal, wie Jude redete. Was zählte, war allein der Name.
Er trat aufs Gas und fuhr vom Straßenrand weg. Jude war ohnmächtig, noch bevor sie den zweiten Straßenblock erreicht hatten.
Jay blickte in seinen Rückspiegel zum hinteren Sitz, um sich zu vergewissern, dass der große Typ wirklich nicht mehr wach war, dann machte er sich auf den Weg zum Lagerhaus. In dem alten Hochofen gab es keine freie Stelle mehr für ihn, aber das war egal. Für Judas hatte er sich nämlich etwas ganz Besonderes ausgedacht.
Als Jude zu sich kam und eine Ratte über ihren Bauch kriechen sah, stieß sie einen spitzen Schrei aus. Das war das erste Mal seit Jahren, dass sie wie eine Frau kreischte, und selbst in ihren Ohren klang es fremd. Als das Tier von ihrer Brust heruntersprang, zitterte sie am ganzen Körper und versuchte, sich aufrecht hinzusetzen. Sie konnte nicht glauben, was sie da sah. Wo kamen die Ketten her, mit denen ihre Hände gefesselt waren? Das alles konnte nur ein Albtraum sein, aus dem sie hoffentlich bald wieder aufwachen würde! Doch als sie mit voller Wucht an den Fesseln riss und ihr der Schmerz den Arm hochschoss, wurde ihr endgültig klar, dass dieser Albtraum sehr real war.
Mit einiger Anstrengung brachte sie es schließlich fertig, sich aufrecht hinzusetzen. Nichts von dem, was sie hier sah, kam ihr bekannt vor. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, wie sie hierher gekommen war. Das Letzte, was sie getan hatte, war … In ihrem Kopf herrschte Leere. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern, nachdem sie aus Lees Chinesischem Waschsalon gekommen war.
Denk nach. Denk nach. Aus der Wäscherei. Dann die Straße runter.
Das Taxi! An der Ecke hatte ein Taxi gestanden.
“Ich habe ein Taxi genommen”, murmelte Jude und erschrak, als die Wände das Echo ihrer Stimme zurückwarfen. “Wo zum Teufel bin ich?” Dann begann sie zu schreien. “Hilfe! Hilfe! Hilfe! Ist da jemand? Helft mir doch! Ich brauche Hilfe!”
Niemand antwortete.
Aus dem Loch in einer Ecke steckte eine zweite Ratte ihren Kopf heraus.
“Mach, dass du wegkommst!”, schrie Jude und versuchte, sie mit dem Fuß zu verscheuchen. Das Tier rührte sich nicht einmal. “Verdammt”, schimpfte sie, dann stöhnte sie auf und versuchte sich so hinzusetzen, dass der Druck etwas nachließ.
Sie musste dringend pinkeln. Der Drang war kaum noch zu unterdrücken. Dies war wieder so eine der Gelegenheiten, die sie daran erinnerten, dass sie eine Frau war. Obwohl sie so stark war, hatte sie eine ganz schwache Blase. Dieser Druck, den sie spürte, war ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie nicht mehr länger warten konnte.
“Hallo!”, schrie sie. “Ich muss mal!”
Niemand kam.
Niemand kümmerte sich darum.
Sie hielt den Drang zurück, bis ihr Tränen in die Augen traten und der Druck kaum noch auszuhalten war.
“Verdammt noch mal!”, schrie sie. “Verdammt noch mal!”
Das Loslassen war gleichzeitig erleichternd und schrecklich demütigend. Seit ihrer Kindheit hatte sie sich nicht mehr in die Hosen gemacht. Einerseits wurde sie von Scham und andererseits von einer unbändigen Wut überwältigt. Jude begann zu zittern. Sie wusste nicht, ob sie fluchen oder weinen sollte, während sie in ihrer eigenen Urinlache saß. Sie war ins Netz gegangen, ohne überhaupt eine Spinne entdeckt zu haben.
Drei Tage später
Rick war beim Zahnarzt und kam etwas später zur Arbeit. Am Empfangstresen war die Hölle los, der diensthabende Sergeant hatte hektische rote Flecken im Gesicht und schien kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen. Rick tat der Kiefer weh. Er sagte nichts, als er eintrat, sondern winkte dem Sergeant im Vorbeigehen nur zu. Als er fast an der Treppe war, legte ihm jemand die Hand auf den Arm.
Es war eine Frau. Eine sehr kleine, zierliche Frau.
“Hallo, Mister, sind Sie Polizist?”, fragte sie.
Ben nickte.
“Keiner hört mir hier zu, aber ich möchte eine Person als vermisst melden.”
“Da müssen Sie zur Vermisstenabteilung gehen”, murmelte Rick und zuckte zusammen. “Tschuldigung, komme gerade vom Zahnarzt.”
Sie sah ihn mitfühlend an, ließ sich aber trotzdem nicht abwimmeln.
“Dieser Cop am Tresen hat mir das Gleiche gesagt. Er hat mir aber nicht erklärt, wo das ist. Können Sie mir nicht helfen?”
“Sicher. Kommen Sie mit. Ich bringe sie hoch. Wie heißen Sie?”
“Mitzi Fontaine.”
“Nett, Sie kennenzulernen, Miss Fontaine. Mal sehen, ob wir Ihnen helfen können.”
“Danke. Das ist echt nett.”
Rick zuckte mit den Schultern. “Keine Ursache. Wie heißt die vermisste Person?”
“Jude.”
Rick stolperte über eine Stufe, konnte sich aber noch rechtzeitig festhalten, um nicht zu fallen.
“Verdammte Schmerzspritzen. Machen mich immer ganz benebelt”, sagte er, doch durch den Kopf ging ihm etwas ganz anderes. Zuletzt hatten Ben und er sich ausgerechnet, dass der Straßenprediger immer noch einen Judas brauchte. Das war ziemlich abenteuerlich, aber dieser ganze Fall war sowieso so verrückt, dass man selbst die abwegigste Spur nicht ignorieren sollte.
“Was macht denn dieser Jude so?”
“Oh, Jude ist kein Typ, sondern eine Frau. Aber das sieht man eigentlich nicht. Sie ist Rausschmeißerin im Club Lesbo, wo ich tanze. Sie war jetzt schon drei Tage nicht mehr da, und das sieht ihr gar nicht ähnlich. Wirklich nicht.”
Ricks Hoffnung schwand. Eine Lesbe. Das passte überhaupt nicht.
“Also eine Frau, ja?” Dann fiel ihm ein, was sie noch gesagt hatte. “Was meinten Sie damit, dass man es eigentlich nicht sieht?”
“Das ist wirklich so”, entgegnete Mitzi. “Ich mag sie echt gern. Sie war immer nett zu mir, aber ich möchte sie nicht zum Feind haben. Sie ist ziemlich groß, wissen Sie?”
“Wie groß?”
“Na … Über eins fünfundachtzig. Und ihr Körperbau … Na ja, wie ein Mann. Ich glaube, sie macht Bodybuilding oder so was. Sie hat gar keinen Busen, na jedenfalls ist er nicht zu erkennen. Sie sieht aus wie ein Gewichtheber. Kurze Haare, einen schrecklichen Stacheldraht-Ohrring und Stacheldraht-Tätowierungen.”
“Sie haben nicht zufällig ein Foto dabei, oder?”, fragte Rick.
Mitzi nickte und wühlte in ihrer Tasche.
“Habe ich. Ich bin vorbereitet. Es sieht Jude absolut nicht ähnlich, dass sie nicht zur Arbeit kommt, ohne vorher Bescheid zu sagen. Deshalb bin ich sicher, dass ihr was passiert ist.”
Mitzi blieb auf der Treppe stehen und reichte Rick das Bild. Es zeigte vier Leute, die in einer Bar am Tisch saßen.
“Und wer von denen ist es?”, wollte Rick wissen.
“Die da. Die ganz rechts.”
Rick wäre nie auf die Idee gekommen, dass es sich bei der Person um eine Frau handelte. “Sie machen Witze.”
“Nein. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie wie ein Mann aussieht. Deshalb mache ich mir ja auch solche Sorgen. Sie wissen ja, wie sehr die Leute Lesben hassen.”
“Ich finde, sie sieht ziemlich robust aus.”
“Stimmt, aber wir bluten wie jeder andere auch.”
“Wir?”
Sie hob das Kinn ein wenig. “Ja. Wir.”
Rick betrachtete sie neugierig. Sie sah nicht aus wie eine, die auf Frauen stand. Aber er verstand davon sowieso nichts.
“Kommen Sie mit”, sagte er. “Ich möchte, dass Sie mit meinem Kollegen sprechen.”
“Warum?”
“Nur so.”
Mitzi zuckte mit den Schultern. “Ich möchte nur, dass mir jemand hilft, meine Freundin zu finden.”