Zwei Jahre später
Als Arrow ihr Bett in den frühen Morgenstunden verließ, fröstelte sie. Die dicke Federdecke hatte schön warm gehalten, doch das Haus war inzwischen ausgekühlt.
Hastig streifte sie sich dicke Socken und einen schweren Mantel über, entzündete eine Laterne und schlich dann leise durch das Haus, um die Kamine einzuheizen.
Danach begab sie sich in ihre Werkstatt, die sich im obersten Geschoss unter dem Dach befand. Dort glühte die Kaminasche noch immer, denn vor wenigen Stunden erst hatte sie diesen Raum verlassen, um sich schlafen zu legen.
Kaum, dass sie den Kamin wieder eingeheizt hatte, erschien auch schon Marb. Wie immer saß sie gemütlich auf den flammenden Holzscheiten und schaute Arrow mit ihren dunklen Knopfaugen beruhigend an. Lange schon war das Moosweiblein keine Fremde mehr in diesem Haus. Ihre Gegenwart wirkte auf Arrow äußerst angenehm, und obwohl Marb noch nie ein einziges Wort gesagt oder auch nur mit der Wimper gezuckt hatte, schätzte Arrow ihre Anwesenheit in höchstem Maße. Das war nicht immer so gewesen. Ihre erste Begegnung mit der kleinen Frau hatte in ihr großes Unbehagen ausgelöst. Mit ihrer kartoffelfarbenen Haut, dem zerzausten Haar und dem Mooskleid hatte Marb nicht unbedingt eine besonders freundliche Erscheinung. Auch die Tatsache, dass sie immer sofort aufgetaucht war, sobald Arrow ein Feuer entzündet hatte, behagte ihr ganz und gar nicht – und dass sie, mitten in den Flammen sitzend, nicht selber Feuer fing, beunruhigte sie am meisten.
Da jedoch die einzige Alternative gewesen wäre, zu frieren – so ganz ohne Feuer – und Marb ohnehin nichts Anderes tat, als einfach nur da zu sein, hatte Arrow sich irgendwann mit dem Gedanken angefreundet, sie um sich zu haben. Die Sache hatte ja auch etwas Gutes – sie war nicht allein und musste sich trotzdem nicht krampfhaft um Gesprächsstoff bemühen. Vor allem bei der Arbeit in ihrer Werkstatt war dies ein überaus angenehmes Gefühl.
Arrow liebte dieses Zimmer. Es war das einzige in diesem Stockwerk. Von dort aus konnte sie das ganze Dorf beobachten, wurde dabei jedoch kaum selbst bemerkt. Mit einem kurzen Blick durch das Fenster sah sie nach, ob sie als Einzige schon auf den Beinen war. Tatsächlich brannte nirgendwo sonst ein Licht. Sogar der alte Bäcker gegenüber schien noch zu schlafen, was schon sehr ungewöhnlich war, denn er war sonst immer der Erste, der sich am Morgen an die Arbeit machte. Dass es an diesem Tag anders war, störte Arrow jedoch nicht.
Sie liebte die einsame Stille um sich herum. Zwar war es nicht so, dass sie die Gesellschaft anderer nicht mochte, doch der Reitunfall hatte sie scheu gemacht. Bei diesem Vorfall hatte sie ihr Gedächtnis verloren und jeder Versuch, auch nur die kleinste Erinnerung herbeizurufen, scheiterte kläglich. Nicht das Geringste kam ihr danach vertraut vor – kein Gesicht, keine Stimme, kein Geschmack und auch kein Geruch.
Großmutter Rose erzählte oft, dass sie vorher ganz anders gewesen war, viel aufgeschlossener und lebendiger. Je öfter Arrow dies hörte, desto mehr zog sie sich von allem zurück.
Viele Freunde hatte sie nicht, denn sie mied es, Freundschaften zu knüpfen. Zwar war sie überall gern gesehen, doch der Gedanke an den Gedächtnisverlust wurde zu ihrem ständigen Begleiter, der sich wie ein Schatten an sie heftete. Sie fühlte sich verloren und wusste nicht, wohin sie gehörte.
Eine Weile beobachtete Arrow melancholisch, wie draußen die dicken Flocken stumm zur Erde fielen. Seit dem Abend hatte es wenigstens einen Meter Neuschnee gegeben, was jedoch nicht verblüffte, wenn man bedachte, dass es seit Jahren nichts anderes als Frost und Schnee gegeben hatte. Einen Meter konnte man hier verkraften.
Um die trüben Gedanken loszuwerden, machte Arrow sich an die Arbeit. Ganz allein konnte sie sie jedoch nicht bewältigen und so mussten zuerst die kleinen Helfer geweckt und versorgt werden. Eine kleine Handvoll Grünzeug in jeder Laterne ließ die Werkstatt zum Leben erwecken. Das Leuchten der kleinen Glühwürmchen signalisierte ihre Zufriedenheit und flutete den ganzen Raum mit Licht.
Arrow setzte sich an ihren Tisch und begann, die Krüge, die sie erst vor wenigen Stunden hergestellt hatte, zu bemalen. Im ganzen Haus gab es unzählige Gefäße, auf denen verträumte Winterlandschaften abgebildet waren. Andere Motive fand man weniger, denn der Winter war alles, was Arrow kannte.
Als sie damals damit angefangen hatte, bezog sie die Gefäße noch vom örtlichen Töpfer, doch als der mit ihren Bestellungen nicht mehr hinterherkam, stellte sie selbst einige Krüge her, inzwischen sogar aus Glas.
Derweil fand sich in jedem Haushalt des kleinen Bergdorfes mindestens eine ihrer Schöpfungen. Aber auch über das Dorf hinaus erfreute sich das bebilderte Geschirr großer Beliebtheit. Kein Motiv fand sich irgendwo ein zweites Mal.
Zusammen mit den kleinen Gewächshäusern, die Rose betrieb, hatten die beiden Frauen einen guten Verdienst für ihren Lebensunterhalt. Obwohl überall alles knapp war, mussten sie weder Hunger leiden noch frieren und auch das große Haus, das sie ihr Eigen nannten, lag gut über dem Durchschnitt.
Die Stunden flogen nur so dahin und nach einer Weile machte sich der kleine Pinsel in Arrows Hand regelrecht selbstständig, so dass sie völlig die Zeit vergaß. Auf ihrem Tisch entstand ein kleines Kunstwerk nach dem anderen und so waren schon bald alle Gefäße bemalt.
Ein Blick aus dem Fenster verriet nicht nur, dass der Bäcker bereits den Weg aus seinem Bett gefunden hatte, sondern auch alle anderen Dorfbewohner. Der Tag war schon lange angebrochen.
„Oh nein, das Frühstück!“, fiel es Arrow erschrocken ein.
Hastig stürmte sie aus dem Zimmer und lief die Treppe hinab. In der Küche war der Frühstückstisch bereits gedeckt.
„Großmutter?“, rief Arrow, doch eine Antwort blieb aus.
Ein Blick in Roses Schlafzimmer ließ lediglich die Eule aufschrecken, die darin ihr Schläfchen hielt, doch von der Großmutter fehlte jede Spur.
Arrow ließ sich am Tisch nieder und schaute aus dem Fenster. Vor dem Haus bauten Kinder einen Schneemann. Als sie damit fertig waren, begannen sie eine Schneeballschlacht. Es war sehr lustig, ihnen zuzusehen, und lieferte außerdem ein hübsches Motiv für die nächsten Krüge.
Als sich die Haustür öffnete, trat Rose mit einem Korb frisch dampfender Brötchen herein.
„Dieser verdammte Schnee“, fluchte sie. „Wenn das so weiter geht, können wir die Nachbarn bald nur noch über Tunnel erreichen. Eine geschlagene Stunde habe ich damit verbracht, alles freizuschaufeln.“
„Oh“, stammelte Arrow verlegen. „Du hättest etwas sagen sollen. Ich hätte das doch erledigen können.“
„Ist schon gut, mein Kind“, beruhigte sie Rose, während sie Arrow über die Wange strich. „Deine Unruhe habe ich gestern Abend schon bemerkt und da war mir klar, dass dies eine kurze Nacht für dich wird.“
„Ja, ich weiß. Mir ging nur die ganze Zeit deine Geschichte über den Fiedler nicht mehr aus dem Kopf. Ganz deutlich habe ich es vor mir gesehen – ihn und die Ruine im Wald.“
Während Arrow ausgiebig von ihren Ideen und deren Umsetzungen erzählte, strahlten ihre Augen. Sie liebte es, Geschichten aufzuschnappen, ihre Fantasie spielen zu lassen und ihr dann durch Bilder Ausdruck zu verleihen. So war Rose immer darum bemüht, Arrow ausgiebig mit Erzählungen zu versorgen, die sie den Alltag vergessen ließen. Sonst gab es nichts weiter, das ihre Enkelin auf andere Gedanken brachte. Das perfekte Glück war dies zwar nicht, doch wie so oft gab Rose sich damit zufrieden, dass es überhaupt etwas gab.
Wenn Arrow ihre Werkstatt betrat, wurde sie zu einer anderen Person. Es war ihre eigene kleine Welt ohne Zweifel und ohne Sorgen.
Rose war ihr in dieser Hinsicht eine große Hilfe. Arrow vertraute ihr blind und bei ihr fühlte sie sich geborgen. Diese Gefühle waren jedoch nicht innerhalb der letzten Jahre entstanden. Arrow hatte ihr beinahe sofort nach dem Unfall getraut, noch bevor Rose auch nur ein Wort an sie gerichtet hatte. Es hatte sich angefühlt, als wäre es immer schon so gewesen.
Um ihrer Enkelin näher zu sein, hatte Rose einen eigenen Sessel in die Werkstatt stellen lassen, wo sie sehr oft verweilte. Manchmal las sie dort, gelegentlich strickte sie auch, doch die meiste Zeit verbrachte sie damit, Arrow zuzuschauen oder ihre bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Kunstwerke eingehend zu betrachten.
In Gedanken versunken nahmen die Frauen ihr Frühstück zu sich und beobachteten die Kinder beim Bau eines Schneemannes.
Schön ist es, ein Kind zu sein, dachten sie beide. Sie sind so frei von Sorgen und Schuld. Ihre Zukunft ist noch ungewiss und fern.
Als eines der Kinder einem Schneeball auswich, landete dieser genau am Küchenfenster.
Erschrocken starrten die Kinder zu den beiden Frauen, bevor sie in Windeseile davon liefen. Glücklicherweise hinterließ der Ball nicht einmal einen Kratzer. Das Frühstück war allerdings mit diesem Schrecken beendet.
Als Rose begann, das Geschirr zusammenzuräumen, schob Arrow sie zur Seite. „Lass nur. Jetzt bin ich mal dran. Gleich danach werde ich mich um das Gewächshaus kümmern.“
„Das ist schon erledigt“, antwortete Rose.
„Was?“, erwiderte Arrow verblüfft. „Na gut. Dann füttere ich eben Merlin.“
„Ein zweites Frühstück braucht dein Pferd nicht.“
Arrow war völlig sprachlos, denn sie wusste nicht, ob Rose scherzte oder es tatsächlich ernst meinte. Wie viele Dinge konnte eine Frau von gut achtzig Jahren denn vor dem Frühstück schon verrichten?
„Aber du sollst dich doch schonen! All diese Dinge kann man nicht auf einmal erledigen. Selbst ich würde das nicht schaffen!“
Mit einem liebevollen Lächeln berührte Rose ihre Enkelin am Arm. „Mach dir um mich keine Sorgen, mein Kind. In den letzten Tagen hast du so viel Arbeit im Haushalt verrichtet, dass du dir einen freien Tag verdient hast. Jeden Morgen erzählt der Bäcker mir, wie früh du auf den Beinen bist und dass du es heute sogar vor ihm warst. Außerdem fragen mich die Leute immer häufiger, wann du wieder etwas zum Verkauf anbietest.“
Roses Worte erfüllten Arrow mit tiefer Dankbarkeit. Sie spürte genau, wie stolz ihre Großmutter war und für sie war es die höchste Form der Anerkennung, die ihr zukommen konnte.
Eilig räumte Arrow die Küche auf, um Rose schnellstmöglich in der Werkstatt zeigen zu können, was sie vergangene Nacht alles erschaffen hatte.
„Einen Moment noch“, bat Rose. Nach kurzem Kramen in der Tasche ihres Mantels drückte Rose Arrow zwei Taler in die Hand.
„Die sind für Sam. Heute morgen habe ich bei ihm keinen Schinken mehr bekommen, doch er sagte, heute Abend hätte er wieder welchen, da habe ich gleich einen bei ihm bestellt.“
Arrow guckte völlig entgeistert. Sie sollte raus gehen? Heute? – Die typische Reaktion, wenn Arrow sich unter Leute begeben sollte. Normalerweise beanspruchte sie einen Tag, um sich mit dem Gedanken anzufreunden, doch Roses Beobachtungen hatten ergeben, dass dies Arrows Begeisterung nicht im Geringsten steigerte und auch ihr Unwillen wurde dadurch nicht wirklich gebremst.
„Ich sehe deine Gedanken ganz genau, mein Kind, aber die frische Luft wird dir gut tun. Außerdem habe ich bei Sam auch wieder etwas für dein Kelpie bestellt. Ich habe ihm gesagt, dass du es vor Einbruch der Dunkelheit abholen wirst.“
Arrow fühlte sich überrumpelt. In regelmäßigen Abständen versuchte Rose sie unter Leute zu bringen. Doch Arrow konnte ihr kaum böse sein. Immerhin hatte ihre Großmutter an diesem Tag den gesamten Haushalt erledigt und dann gab es da auch noch die Gelegenheit, Stone einen Besuch abzustatten. Nach einer zweiten Überlegung gefiel ihr die Idee dann doch noch ganz gut.
Den Rest des Tages verbrachte Arrow in ihrer Werkstatt, während Rose sich am Vormittag um ihre Pflanzen kümmerte und ihrer Enkelin dann am Nachmittag Gesellschaft leistete. Wie immer staunte ihre Großmutter über alles bereits Gesehene und auch Ungesehene, bevor sie später über ihrem Buch einnickte.
Völlig in ihrer Arbeit aufgehend, merkte Arrow einmal mehr nicht, wie es draußen immer dunkler wurde.
Ein leises Klopfgeräusch holte sie aus ihren Gedanken zurück in die Realität.
Arrow schreckte auf, als sie sah, dass es draußen schon fast finster war. Eilig griff sie nach ihrem Mantel und öffnete die Tür.
Mit einem noch größeren Schrecken stolperte sie rückwärts, als ihr eine völlig muntere Schleiereule entgegen flatterte. Sie landete auf Roses Schoß und stupste die alte Frau sanft wach.
„Oh, wie spät ist es?“, fragte sie benommen.
„Die Abenddämmerung hat vor einer Weile eingesetzt. Ich wollte gerade zu Sam aufbrechen.“
Noch bevor Arrow aus dem Zimmer stürmen konnte, rief Rose sie zurück. „Warte bitte, mein Kind! Sei doch so gut und nimm Grey mit. Sie muss ohnehin auf die Jagd gehen.“
Ihr Einverständnis bekundend hob Arrow ihren Arm, auf dem die Eule landete. Dann machten sich beide auf den Weg.
Das Dorf war wunderschön anzusehen. Der frostüberzogene Schnee funkelte im Schein der Fackel, und obwohl die eisige Kälte Arrow in die Wangen biss, trübte es das Bild nicht.
Nach einigen Schritten flatterte Grey zur Jagd davon.
Arrow wickelte ihren Schal um das halbe Gesicht, so dass nur noch ihre Augen und einige blonde Haarsträhnen zu sehen waren. Dann lief sie eilig zu Sam.
Obwohl es dem Fleischer nicht das Geringste ausmachte, dass Arrow später aufgetaucht war als verabredet, war es ihr furchtbar unangenehm. Während Sam sogar sehr erfreut über ihren Besuch war, entschuldigte Arrow sich ununterbrochen bei ihm.
Dankend nahm sie die bestellten Sachen entgegen und verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war.
Ihr Weg führte sie in das direkt angrenzende Wäldchen. Nach einem kurzen Spaziergang gelangte sie zu einem kleinen See, der völlig zugefroren und eingeschneit in die Nacht hinein schlummerte.
Arrow betrat den See. Als sie in seiner Mitte stehen blieb, schaute sie beunruhigt nach allen Seiten, um sich zu vergewissern, dass ihr auch niemand gefolgt war. Seltsamerweise hatte die Angst, gesehen zu werden, nie nachgelassen, obwohl ihre Besuche am See schon so oft ohne Zwischenfälle verlaufen waren.
Als Arrow sicher war, allein zu sein, schob sie auf einer Stelle den Schnee beiseite, bis die dicke Eisschicht darunter zu erkennen war. Anschließend schwenkte sie die Fackel einige Male über dem Boden hin und her.
Danach schaute sie wartend zum Himmel hinauf und betrachtete die Sterne. Schön waren sie anzusehen und so magisch. Nacht für Nacht schauten sie zur Erde hinab. Welche Geheimnisse sie wohl für sich behielten? Vielleicht ja sogar das Geheimnis ihrer Vergangenheit?
Großmutter Rose hatte Arrow viel über ihre Kindheit erzählt, doch für sie waren es nur leere Geschichten. Nichts von alledem kam ihr vertraut vor oder weckte gar irgendein Erinnerungsgefühl. Sie erzeugten nur endlose Gedanken, die ins Nirgendwo führten.
Plötzlich bebte der Boden. Dann folgte Stille.
Geduldig blickte Arrow zum Ufer des Sees. Auf einmal erzitterte die Erde erneut, woraufhin wiederum Stille folgte.
Mit der nächsten Erschütterung explodierte die Eisschicht in Ufernähe. Unzählige Eisstücke wurden durch die Luft geschleudert, dicke Schollen schlitterten in alle Richtungen.
Arrow sprang zur Seite, um nicht von einem Eisbrocken zu Fall gebracht zu werden. Als sich das Gepolter beruhigt hatte, kletterte eine gewaltige dunkle Kreatur aus dem Loch des Sees, die sich die Wassertropfen aus dem eigenwilligen Fell schüttelte. Die wenigen Tropfen, die darin hängen blieben, gefroren dort schon nach wenigen Sekunden.
Etwas benommen schaute sich das Wesen um.
„Ich bin hier hinten, Stone!“, rief Arrow ihm zu.
Als das struppige Wesen sie erblickte, trabte es gemütlich zu ihr hinüber.
In der Dunkelheit hätte man meinen können, dass es sich bei dieser Kreatur um ein überaus großes, heruntergekommenes Pferd handelte. Seine Silhouette und Bewegungen wirkten exakt wie die eines Ackergauls. Doch was auf den ersten Blick so harmlos aussah, brachte im Schein der Fackel etwas ganz Anderes zum Vorschein, denn Stone war ein Kelpie.
Selbst Arrow konnte nicht behaupten, dass es sich bei Stone um ein eigenwillig schönes Wesen handelte. Sein Aussehen könnte man vielmehr als eine Laune der Natur bezeichnen mit den leuchtend grünen Augen und den zwei Reihen messerscharfer Zähne, die selbst einen Wolf vor Neid erblassen lassen würden. Auch hatte er eine ziemlich zottelige Erscheinung und aus seinem stinkenden Maul quoll unentwegt zähflüssiger Schaum.
Zur Begrüßung beschnupperte Stone Arrows Gesicht und sabberte dabei ihren ganzen Schal voll. Ein Ritual, das Arrow nicht wirklich als angenehm empfand, doch er war nun mal, was er war, und traurigerweise hatte die Erfahrung gezeigt, dass Stone gewiss sein musste, wen er vor sich hatte.
Arrow streifte einen Handschuh ab und tätschelte dem Kelpie den Kopf. Er liebte das und wie sein Aussehen vermuten ließ, gab es niemanden sonst, der den Mut aufgebracht hätte, sich einem Kelpie auf diese Art und Weise zu nähern.
Arrow breitete die in einem Tuch eingewickelten Gedärme vor Stone aus, der sich sogleich über die Reste hermachte. Zwar war es keine besonders gute Mahlzeit und genauso wenig war sie sonderlich groß, doch trotz alledem war es eine Mahlzeit und mehr als willkommen in dieser trostlosen Winterwelt.
Der ewige Schnee machte es ohnehin unmöglich, im Wohlstand zu leben. Überall war ständig alles knapp. Man konnte zwar über die Runden kommen, musste dabei jedoch äußerst sparsam vorgehen. Verlor man die Kontrolle, so hatte man das bitter zu bezahlen. Eine Erfahrung, die vor allem Stone vor einigen Monaten machen musste. In einer Zeit, als es für Raubtiere immer schwieriger wurde, zu jagen, entlief einem Bewohner des Bergdorfes ein junges Lamm. Leider hatte es das Pech, Stone über den Weg gelaufen zu sein, der schon damals ein alter Herr war und dem die Jagd somit ohnehin schwer fiel. Trotz allem war er ein Raubtier, das im schlimmsten Fall auch vor Menschen keinen Halt machte.
Als jedoch ein gutes Dutzend Dorfbewohner, die auf der Suche nach dem verschwundenen Lamm waren, mit ansahen, wie Stone es verspeiste, ohne auch nur einen Knochen übrig zu lassen, wurde er zum Gejagten.
Die Männer prügelten ihn in jener Nacht fast zu Tode und überließen ihn dann in der Kälte seinem Schicksal. Niemand hatte damals mitbekommen, dass Arrow hinter einem Baum alles mit angesehen hatte.
Mit einem Geschirr hatte sie das halb tote Tier seinerzeit hinter Merlin gespannt, der Stone zu ihnen nach Hause gebracht hatte. Über viele Wochen hatte Arrow ihn dort wieder gesund gepflegt. Weder Tier noch Mensch dieses Haushaltes hatte er je ein Haar gekrümmt. Für Arrow wurde er zu einem Teil der Familie und sie liebte ihn sehr.
Als Stone dann wieder völlig genesen war, war er zu seinem See zurückgekehrt.
Arrow versprach, weiterhin für ihn zu Sorgen, und ermahnte ihn im Gegenzug, nicht mehr in diesem Gebiet zu jagen. Zu gefährlich wäre es, wenn jemand mitbekäme, dass er noch immer lebte. Sollten die Dorfbewohner ihn abermals fangen, würden sie sicher gründlicher sein.
Nachdem das Kelpie sein Mahl verspeist hatte, schaute es Arrow enttäuscht an. Offenbar war er noch nicht satt und prüfte schnuppernd, was sie noch Köstliches vor ihm zu verbergen hatte.
„Was? Nein Stone!“ Arrow drehte sich in alle Richtungen und versuchte mit allen Mitteln den Schinken vor ihm zu schützen. „Großmutter hat ihn extra bestellt. Wenn ich mit leeren Händen nach Hause komme, wird sie sicher furchtbar wütend sein. So leid es mir auch tut – es geht nicht.“
Enttäuscht schaute das Kelpie sie mit seinen großen Augen an, während das Knurren seines Magens durch den Wald hallte. Liebevoll umarmte Arrow ihn zum Abschied und machte sich dann auf den Heimweg. Ein letztes Mal drehte sie sich noch zu ihm um. Da stand er nun mit gesenktem Kopf und noch größeren Augen, von denen man hätte meinen können, dass sie ihm beinahe heraus fielen.
Diesen Anblick konnte selbst sie jetzt nicht mehr ertragen. In der Gewissheit, dass sie es die ganze Nacht bereuen und kein Auge zutun würde, sah sie bereits in Gedanken vor sich, wie sie am nächsten Tag einen doppelt so großen Schinken bei Sam kaufen würde, um diesen dann in einer roten Schleife gewickelt zu ihrem Kelpie zu bringen. Welch ein Aufwand im Gegensatz zu Großmutters Verärgerung.
Und so lief sie, so gar nicht von sich selbst überrascht, kopfschüttelnd zu Stone zurück und gab ihm den wunderbar schmackhaften Schinken, der auch umgehend am Stück verspeist wurde. Dankbar stupste er Arrow gegen ihre Schulter, bevor sie sich beruhigt auf den Heimweg machte.
Das Kelpie verschwand mit einem Satz wieder durch das Loch im See.
Zusammen mit Grey kam Arrow wenig später zu Hause an, wo bereits das Abendessen auf sie wartete. Erstaunt bemerkte Arrow den großen Schinken auf dem Tisch.
„Was?“, fragte Rose forsch. „Er hat schon die letzten drei aufgefressen, da konnte ich wohl unmöglich annehmen, dass er diesen verschonen würde.“