4.
Ich fühlte keinen Drang danach, in meine Bude zurückzukehren, um meinem Körper beim Verwesen zuzusehen. Also lungerte ich auf dem Boden des Liftschachtes herum. Es gab dort eine seltsame Auswahl an Müll: ein paar gebrauchte Kondome, leere Schnapsflaschen, ein Stück Stahlkabel, einen Männerhut und einen Teddybär. Ein Teddybär. Ich verbrachte fünfzehn oder zwanzig Minuten damit, meine Hand in die Füllung zu stecken, dann den Bär mit Leben zu erfüllen und ihn lustige Tänzchen veranstalten zu lassen.
Schließlich wurde ich wieder klarer im Kopf. Durch das Puppenspiel hatte ich eine der Regeln der Geisterexistenz gelernt. Gestaltannehmen brauchte eine Menge Willenskraft und je mehr ich nachdachte, wenn ich in Gestalt war, desto weniger Saft hatten meine metaphysischen Batterien. Aus diesem Grund hatte mein Treffen mit Bailey DeBussey nur wenige Minuten gedauert: Sie hatte meine kombinatorischen Fähigkeiten auf die Probe gestellt, während sie gleichzeitig unterschwellige und zweifelsohne anstößige sexuelle Fantasien ausgelöst hatte.
Die andere Sache war, dass Dinge, die ich mit mir herumtrug, wie die Fotos und meine Kleider, sich ein wenig von meiner Geisterhaftigkeit anzueignen schienen, denn sie kamen mit mir durch die Wände. Ich schickte sogar den Teddybär ein paar Mal durch die Wand, aber dazu benötigte ich eine Menge Willenskraft. Vielleicht war es so, dass je größer das Objekt war, es umso schwieriger war, es zu "vergeistigen".
Ich studierte die Fotos. Auf den ersten Blick gab es nichts Besonderes. Zwei von ihnen zeigten Bailey und einen Mann, den ich nicht kannte, wie sie am Strand standen, im Hintergrund der Pier von Santa Monica. Bailey füllte einen Bikini ebenso gut wie ein Kleid aus Leopardenfell, vielleicht sogar besser. Der Kerl neben ihr sah so aus wie ein Komparse in einem dieser TV-Dramen über unsichere kalifornische Jugendliche, komplett mit Schaumfestiger-Frisur und Bizepsen in der Größe von Grapefruits. Auf jedem der Fotos trug er den gleichen schmierigen Gesichtsausdruck zur Schau, sein "Dollarlächeln".
Auf dem dritten Foto war Bailey auf einem Fischerboot zu sehen, die Art von Boot, die reiche Menschen halbtageweise mieten, damit sie auch noch ein ernsthaftes Besäufnis einschieben können. Ein weißhaariger Mann mit Kapitänsmütze in einem kurzärmeligen Feinripphemd hatte einen Arm um sie gelegt, seine Faust geballt wie bei einer kumpelhaften Umarmung. Im Hintergrund konnte man gerade noch die Golden Gate Brücke erkennen, während die Wand der Kommandobrücke von der Aufschrift S.S. Lady Slipper geschmückt wurde.
Was hatte das alles mit Lee zu tun? Warum hatte Bailey ihren Namen gerufen? Und was sollte die blödsinnige Inszenierung mit der Behauptung, dass sie mich liebt? Sie konnte nichts von Diana wissen – allenfalls, dass meine Frau Selbstmord begangen hatte, aber bestimmt nicht, dass sie von den Toten zurückgekehrt war und ein paar Meter von uns entfernt einen Espresso schlürfte.
Ich spielte die Szene im Café noch einmal in Gedanken durch. Das schwule Pärchen in der Ecknische, der dürre Punk in Schlabberjeans mit dem Skateboard, das braunhaarige Mädchen, das ihr Kurt-Vonnegut-Hardcoverbuch zur Schau stellte, um alle mit ihrem Intellekt zu beeindrucken. Dann fiel der Groschen. Auf einem der Barhocker saß eine Frau in einem Trenchcoat, dessen Kragen bis zu ihren Ohren hochgeschlagen war. Ich hatte mir nicht viel dabei gedacht, weil so nahe an Hollywood jeder entweder ein Schauspieler, Pornograph, Drehbuchautor oder ganz einfach eine Ausgeburt seiner eigenen schizophrenen Fantasie ist.
Aber nun erinnerte ich mich daran, wie sie ihren heißen und dampfenden Kaffee von der Kellnerin bekommen hatte, ihn hinunterstürzte, als ob es Limonade wäre, und dann mit einem Ausdruck der Befriedigung ausgeatmet hatte, ohne ein Anzeichen von Dampf oder Schmerz an den Tag zu legen. Als ob sie die Hitze aufgesogen hatte. Ich überlegte mir, ob sie irgendetwas unter dem Trenchcoat getragen hatte, denn das Wenige, was von ihrem Haar zu sehen gewesen war, war leicht lockig und dunkel. Genau wie der Stil, den sich Diana offenbar im Jenseits zugelegt hatte.
Nein. Ganz sicher hätte ich sie allein schon an ihren Manierismen erkannt. Wenn man jemanden kennt, wenn man mit ihr geschlafen, sie gehalten und sie beobachtet hat, wenn man sie sogar ein bisschen in seine Seele gelassen hat, dann kennt man ihre Gesten, die Art, wie sie ihre Finger bewegt, die Art, wie sie sich vorbeugt, wenn sie sitzt. Das war nicht Diana gewesen.
Trotzdem, die Menschen ändern sich. Und der Tod war die größte aller möglichen Änderungen. Wenn es Diana gewesen war, dann hatte sie sich wirklich gut verkleidet. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie ruhig dort sitzen würde, während ich mit einer attraktiven Frau schäkerte. Das war die Art von Ereignis, die während unserer Ehe ihre Eifersucht entfacht hätte. Sie hätte uns beide mit kochend heißem Kaffee übergossen, den Tisch umgeworfen und versucht, mich mit einem Buttermesser zu erstechen. Im Anschluss an diese Aufwärmübungen wäre sie wirklich unangenehm geworden. Unserer ersten Begegnung im Jenseits nach zu urteilen, hatte sie diesen speziellen Charakterzug nicht abgelegt.
Ich wollte mir eine Zigarette anzünden, beschloss dann aber, dass es vielleicht besser war, meinen Ether nicht mit Zigarettenrauch zu vermischen. Ich studierte die Fotos, bis mein Kopf müde wurde. Man sollte nicht denken, dass ein Geist müde werden könnte, oder? Ich vermutete, dass das wieder nur ein Teil der Aufgabe war. Zur Hölle, wenn es leicht wäre, ein Geist zu sein, würde es jeder sein wollen.
Tatsächlich wunderte ich mich darüber, dass mir keine anderen verlorenen Seelen begegnet waren, die zurückgeschickt wurden, um ihre eigenen Aufträge zu erledigen. Nicht für einen Moment glaubte ich, dass mir die Götter irgendeine Art von besonderer Behandlung zu teil werden ließen. Vielleicht waren wir alle für einander unsichtbar. Im täglichen Leben gehen die Leute in totaler Unkenntnis und Gleichgültigkeit aneinander vorbei, als Geister in ihrem eigenen Leben. Bis zu einem gewissen Grad erschaffen wir uns als Atmende unsere eigene Wirklichkeit, warum sollte das dann im Tod anders sein?
Ich tippe, dass ich trotz des nörgelnden Gequietsches des Lifts einschlummerte. Als ich wieder zu mir kam, war mein Kopf klar und ich stellte fest, dass ich meinen ersten Fehler begangen hatte. Ich hätte zum Hollywood Hype schweben sollen, als die Spuren des Attentäters noch frisch waren. Jetzt hatten die Cops schon alles abgegrast und eingepudert und die Patronenhülsen eingesammelt – wenn der Killer dumm genug gewesen war, sie herumliegen zu lassen. Wahrscheinlich versuchten sie herauszufinden, warum und wann die Schüsse abgegeben worden waren. Bislang gab es keine Leiche, also war es offiziell noch keine Mordermittlung. Außer für mich.
Ich ging im Geiste die Fälle durch, an denen ich zum Zeitpunkt meines Todes gearbeitet hatte. Ein paar angebliche Versicherungsbetrügereien, Väter, die ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkamen, geringfügige Unterschlagung in Form einer Kassiererin, die Kleingeld aus der Kasse stibitzte. Nichts darunter, was einen Mord rechtfertigen würde. Eine vermisste Person, ein Mädchen aus North Dakota, das von zu Hause weggelaufen war, um sein Glück beim Film zu machen. Dieser Fall war weniger dringlich. Selbst wenn man die Ausreißerin fand, würde sie einem sowieso nicht glauben wollen, dass die einzigen Filme, in denen sie jemals eine Rolle bekommen würde, diejenigen sind, für die man sein Kleingeld in einen Schlitz werfen muss.
Keiner meiner aktiven Vorgänge hatte eine Verbindung zu diesem Fall, zumindest soweit ich das sehen konnte. Aber warum sollte mich jemand für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich Bailey DeBussey behilflich sein konnte, ausschalten? Schließlich war ich nicht der einzige Schnüffler in der Stadt, auch wenn ich vermutlich zu den besten zählte.
Gut, es gab keinen Grund mehr, mir etwas vorzumachen. In meinem neuen Zustand war Aufrichtigkeit die beste Taktik, leider. In Wirklichkeit war ich nämlich verdammt mittelprächtig. Sam Spade, du kannst beruhigt sein, wo immer du auch im Himmelsfriedhof der erfundenen Figuren ruhst.
Wie üblich brachte mich das Nachdenken auch nicht weiter. Nach ein paar weiteren Minuten mit den Fotos machte ich mich auf den Weg zum Hollywood Hype auf der anderen Straßenseite. Vielleicht hatte die Polizei etwas übersehen. Vielleicht nicht mal nur vielleicht. Die Polizei war ungefähr so mittelmäßig wie ich, und in dieser wunderbarsten Zeit des Jahres war der Kopf eines normalen Sterblichen sowieso mit Geschenkideen und Weihnachtsglöckchengebimmel bis zum Bersten gefüllt.
Das Schweben ist eine heikle Sache. In den Filmen sieht es immer sehr würdig aus, wenn die Geister nebelhaft und schwermütig herumschweben. Für das Dahindriften benötigt man eine besondere Art von Willenskraft, die in gewisser Weise noch anstrengender ist, als seine Beinmuskeln ruckweise zu bewegen. Auch konnte ich die alte Gewohnheit, auf den Verkehr zu achten, nicht ablegen. Ich hatte schon ungefähr zwei Minuten vergeudet, als mir endlich klar wurde, dass ich geradewegs durch die Taxis, Limousinen, Touristenbusse, tiefer gelegten Autos und Obdachlosen mit ihren Einkaufswägen hindurchschweben konnte.
Der Empfangsbereich des Hype war groß wie eine Höhle und mindestens ebenso muffig, mit einer Reihe verblichener roter Weihnachtssocken, die an der Rezeption angebracht waren. Auf dem Fernseher in der Ecke lief "Ist das Leben nicht schön?". Ich wollte Jimmy Stewart erklären, dass der einzige Unterschied zwischen lebendig und tot die Höhe der Kreditkartenrechnung ist. Aber das war die Denkweise meines alten, zynischen Ichs. Mein neues Ich, das tot, aber voller Hoffnung war, ließ sich nicht beirren und setzte seinen Weg fort.
Ich hätte einfach direkt in den zweiten Stock hochschweben können, aber stattdessen nahm ich die Treppe. Es war eine Nachbildung der Treppe, auf der Clark Gable Vivien Leigh in "Vom Winde verweht" hochgetragen hatte. Der Rest des Hype war genauso kitschig. Gemalte Sterne wie die auf dem Hollywood Boulevard zierten den Boden des Gangs, aber die Sterne waren so abgetreten, dass man die Namen nicht mehr lesen konnte. Die Wände waren geschmückt mit gerahmten Filmplakaten und Erinnerungsstücken, die sicherlich nicht von den Filmstudios lizensiert waren.
Ich nahm alle Zimmer mit nach Norden gerichteten Fenstern in Augenschein. Im ersten war das Bettzeug derart am Rotieren, dass ich zuerst dachte, einen anderen Geist getroffen zu haben. Dann dämmerte mir, dass ich auf ein Liebespärchen gestoßen war. Ich spanne nur, wenn ich dafür bezahlt werde, also warf ich einen kurzen Blick auf das Fensterbrett, um nach Überbleibseln oder sonstigen Spuren zu suchen. Nichts.
Das zweite und das dritte Zimmer waren leer, aber Koffer auf den Betten bezeugten, dass kürzlich Gäste angekommen waren. Das vierte war auch leer und mit einem gelben Plastikband abgesperrt. Warum hatte ich nicht daran gedacht, danach Ausschau zu halten? Ehrlich gesagt, mein Hirn wurde immer benebelter, je länger ich tot war. Wenn ich diesen Fall nicht bald lösen konnte, würde ich nicht mehr genug Hirn besitzen, um zu meiner eigenen Beerdigung zu finden. Jenseits-Alzheimer zählt zu der härtesten Sorte.
Ich durchsuchte das Zimmer, fand aber nichts, das der Rede wert war. Die Polizei hatte es gründlich abgegrast. Sie hatten sich sogar die Schokolade auf dem Kopfkissen geschnappt, wobei ich vermute, dass die niemals unter den Beweisstücken gelandet ist. Ich war gerade dabei, mich wieder zu meinem Liftschacht zu verdrücken, als ich den Spiegel bemerkte.
Es ging mir nicht darum, mich selbst zu bewundern, denn ich wollte die Willenskraft, die ich benötigte, um ein Gesicht aufzusetzen, nicht vergeuden. Aber der Spiegel auf der Kommode war sorgfältig so eingestellt, dass jemand, der am Tisch saß, einen klaren Blick auf mein Zimmer hatte. Der Attentäter hatte mich vielleicht schon seit Tagen beobachtet. Aber wenn das so war, warum hatte er dann mit dem Abdrücken gewartet, bis kurz bevor ich Bailey treffen sollte? Oder vielleicht war Bailey auch nur ein Zufall, eine jener Finten, mit denen einen das Leben beglückt, um Verwirrung zu stiften.
Wenn mich mein Mörder beobachtet hatte, dann wusste er – oder sie –, dass ich ein Gewohnheitstier war. Wenn ich eine Verabredung hatte, erschien ich nie zu früh auf der Bildfläche. Ich versuchte es so zu arrangieren, dass ich genau in dem Moment eintraf, in dem die Person, die ich treffen sollte, auf ihre Uhr blickte. Meiner Meinung nach verschaffte mir das einen Vorteil gegenüber der Person.
Nachdem ich schnell zur Rezeption hinunter geschwebt war, brachte ich im Lagerraum ein paar Kisten zum Umfallen. Während die Rezeptionistin losrannte, um die Ursache des Tumults zu ergründen, verdinglichte ich meine Hände, damit sie das Gästebuch durchblättern konnten. Zimmer 217 war von einem gewissen Mr. Raymond Chandler gebucht worden. Um Himmels Willen. Mein Killer war ein verdammter Witzbold.
Der Name war zwar falsch, aber immerhin hatte ich in Erfahrung gebracht, dass das Zimmer zwei Tage vor meinem Tod bezogen worden war. "Chandler" hatte für eine Woche bezahlt, im Voraus und in bar. Die Polizei besaß diese ganzen Informationen natürlich auch und war bestimmt gerade dabei, in ihren Datenbanken nach Chandler-Decknamen zu suchen, aber sie hatten immer noch keine Leiche.
Ich erinnerte mich an eine von Lees kleinen Zärtlichkeiten, etwas, das sie mir nachts ins Ohr flüsterte, wenn wir gemeinsam unter der Bettdecke lagen und unser Schweiß trocknete.
"Habeas corpus, Baby", sagte sie. "Du hast den Körper." Noch nie hatte sich ein Rechtsbegriff so sexy angehört. Was würde ich nicht dafür geben, wenn ich noch eine Nacht mit ihrem süßen Flüstern genießen könnte.
Lee. Würde ich sie jemals wiedersehen? Ich hatte Angst, dass ich es nicht quer durch die Stadt zu ihr schaffen würde, so sehr wie mein Seelensaft schon angezapft war. Ich hatte keine Spuren und mir lief die Zeit davon. Ich war deprimiert und fühlte mich so tief unten, wie sich das nur eine andere tote Person vorstellen kann. Da unten kann es ziemlich dunkel werden.
Im Gefühl, meinen Vorrat an Hoffnung aufgebraucht zu haben, schwebte ich zu meinem Apartment zurück.
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