5 EINE STUNDE

»Ich mach den Wutz mim Thermometer steif.«

Okay. Ganz ruhig. Ich bin allein mit Daniel im Badezimmer, der Vorhang ist zugezogen und niemand sieht, was Daniel hier gerade mit dem Fieberthermometer macht. Ich sollte einfach nur besser aufpassen, was ich neben dem Wickeltisch liegen lasse. Komm, gib es her. Schluss mit den Faxen.

Heute bin ich ein wenig bedrückt. Nicht wegen der 7 : 6-Niederlage gegen Beckers Mannschaft vorgestern. Nein, das hab ich verdaut. Heute ist es etwas anderes. Neid. Ein ungutes Gefühl. Zerfrisst einen von innen. Sollte man eigentlich gar nicht zulassen. Vor allem wenn es Neid auf Leute ist, mit denen man sich nicht messen kann. Brad Pitt, Gunter Sachs, Zinedine Zidane. Aber genau da liegt heute mein Problem. Meine zuverlässige Pitt-Sachs-Zidane-nicht-Neid-Methode bestand immer darin, an Woody Allen zu denken. So irgendwie, okay, du bist nicht Brad Pitt, aber du bist auch nicht Woody Allen. Also entspann dich. Hätte alles viel schlimmer kommen können.

Seit gestern Abend geht das nicht mehr. Frau Baumer hat netterweise auf Daniel aufgepasst, und ich war mit Simone im Kino. Solange wir kein Kind hatten, war Kino für uns ja mehr so ein überstrapazierter Lückenbüßer gewesen: Man war zu alt für jedes Wochenende Party, aber zu jung, um zu Hause zu bleiben. Was macht man also? Kino. Es gab Zeiten, in denen uns nicht einmal der abseitigste kirgisische Avantgardefilm entgangen ist. Seit Daniel da ist, können wir aber schon froh sein, wenn wir einmal im Quartal einen Blockbuster mitnehmen.

Haben wir also gestern Matchpoint angeschaut. Nur gute Kritiken, begeisterte Freunde und, nun ja, Scarlett Johansson war auch dabei. Mit Nacktszene. Man hat natürlich nicht wirklich was gesehen. Hab ich auch nicht erwartet. Da hätte ich der ganzen Angelegenheit schon als Regisseur beiwohnen müssen.

Und wumm – da traf mich auch schon der Hammer der Erkenntnis. Regisseur: Woody Allen. Sofort habe ich angefangen, darüber nachzudenken, welche Damen dieser abgefeimte Trickser alle schon rein beruflich nackt gesehen hat, und jetzt steht Woody Allen fast ganz oben auf meiner Neidliste.

Aber sonst ist alles gut. Seit drei Tagen steht mein Wurlitzer E-Piano im Wohnzimmer. Ich hatte Glück. In der neuen Schöner Wohnen war wieder mal so eine Angeber-Fabrikloft-Fotostrecke. Irgendein Ex-Major-Label-Chef hat sich seinen 200-qm-Industriecharme-Palazzo mit alten Plattencovern und hochglanzpolierten Vintage-Instrumenten dekoriert. Und, welch Zufall, ein Wurlitzer war auch dabei. Jede Wette, dass dieser Sack noch nicht einmal Alle meine Entchen fehlerfrei in die Tasten tippen kann, aber egal. Ich hatte mit einem Schlag das beste Wurlitzer-im-Wohnzimmer-Argument, das ich mir wünschen konnte. Natürlich musste ich alle fünfunddreißig Schichten Proberaumschweiß und eingetrocknetes Bier gewissenhaft abwischen und das Ding drei Tage auslüften, bevor Simone bereit war, es in die Familie einzugliedern. Aber jetzt kann ich schön herumklimpern und von alten Zeiten träumen, wenn sie Daniel abends ins Bett bringt.

Außerdem soll es heute einen ersten Vorgeschmack auf die ersehnte Kindergartenzeit geben. Ich darf Daniel seine Erzieherin und seinen Gruppenraum zeigen, und wenn es ihm gefällt, darf ich ihn auch gleich für eine Stunde dortlassen.

Ich finde das herrlich, sich so schrittweise an das Glück heranzutasten. Erst mal eine Stunde in Ruhe allein was machen können, quasi als Einstiegsdroge. Dann zwei, dann vier … O mein Gott, man muss wirklich schön langsam anfangen, sonst bekommt man einen Rausch.

KLONG! KLONG!

»Nein! Nicht das Klavier hauen. Nur ganz vorsichtig drauf spielen, verflixt noch mal.«

Ich weiß nicht, wie viele Wurlitzer E-Pianos es überhaupt noch auf der Welt gibt, aber wenn ich nicht aufpasse, wird es bald eins weniger sein.

»Komm jetzt, wir müssen los.«

Wir sind um zehn mit der Gruppenleiterin verabredet. Ausgerechnet jetzt zickt Daniel herum. Ich brauche geschlagene fünf Minuten, bis die Sandalen an den Füßen sind. Blöde Nostalgiedinger mit Schnallen statt Klettverschluss. Geschenk von den Großeltern.

»Aber ich will mim Bobby-Car in das Kindergarten fahrn.«

Den Gesichtsausdruck kenn ich. Das ist die Okay-ich-spiel-dein-Spiel-und-du-spielst-meins-Nummer. Keine Chance, den autoritären Durchsetzer raushängen zu lassen, außer man will einen XXL-Eklat. Nein, heute lieber nicht. Wir ziehen mit Bobby-Car los.

Wenn ich mich vorhin beklagt habe, dass das Laufrad zu schnell ist – für das Bobby-Car gilt das Gegenteil. Es ist genauso lahm, wie es laut ist. Ich träume davon, dass endlich mal jemand ein Kinderfahrzeug erfindet, das in normaler Papafußmarschgeschwindigkeit brav neben mir dahinzuckelt und dem Fahrer freundlich mahnende Stromstöße verpasst, sobald es mehr als drei Meter vorprescht oder zurückhängt.

Wir kommen natürlich zu spät.

»Können Sie mir sagen, wo Gruppe drei ist?«

»Dritte Tür rechts.«

Ich kann mich nicht mehr genau an meinen ersten Schultag erinnern, aber ich glaube, ich bin genauso aufgeregt. Hoffentlich ist die Gruppenleiterin nett.

»Hallo, ich bin Claudia. Und das hier ist bestimmt der kleine Daniel?«

O ja, sie ist nett. Ich bin kein Menschenkenner. Bei mir reicht ein Lächeln, um mich übers Ohr zu hauen, und ich würde mir von jedem Kreisklasse-Pokerspieler das letzte Hemd ausziehen lassen. Ich kann aber irgendwie todsicher erkennen, ob jemand Kinder mag. Muss so ein angeborener Papainstinkt sein. Claudia mag Kinder über alles, sie wollte nie etwas anderes werden als Erzieherin, und sie wird Daniel gut behandeln, auch wenn er noch so nervt. Ich weiß es, und ich bin glücklich.

Daniel hat sich hinter mich gestellt und sein Gesicht in meiner rechten Pobacke vergraben. Die alte Haschmich-ich-bin-schüchtern-Nummer. Zieht immer wieder. Claudia lockt ihn mit Engelszungen, und die anderen Kinder stehen auch schon im Kreis um uns herum.

»Soll ich dir mal unsere Ritterburg zeigen?«

Nach ein paar Minuten kommt Daniel langsam aus der Deckung und lässt sich tatsächlich langsam von Claudia an der Hand zur Ritterburg führen. Sie schaut über die Schulter zurück und bedeutet mir, dass ich verschwinden soll.

Wie jetzt? Einfach so?

Ich meine, ich träume seit Monaten von so was, aber ich kann doch jetzt nicht einfach … Nein, sie meint es ernst. Ich soll verschwinden. Sie guckt schon etwas genervt. Na gut. Ich gebe mir einen Ruck und verschwinde aus dem Gruppenraum. Langsam und nachdenklich schreite ich auf die Ausgangstür zu und komme mir schäbig vor. Aber das hat wohl alles so seine Richtigkeit, versuche ich mich zu beruhigen, als ich die Klinke herunterdrücke.

Da! Daniel schreit.

Ich höre ihn durch alle Türen durch. Jetzt hat er kapiert, was los ist. Nein, das halte ich nicht aus. Sofort kehrtgemacht und im Laufschritt zurück. Er ist einfach noch zu klein.

Die Kindergartenleiterin erscheint aus dem Nichts und hält mich fest.

»Machen Sie das nicht. Geben Sie den beiden eine Chance, sich aneinander zu gewöhnen.«

Strenger Blick. Widerstand zwecklos. Ich gehe raus und setze mich auf eine Bank. Selbst hier kann ich ihn noch schreien hören. Das wollte ich nicht. Es zerreißt mir das Herz.

Die Kindergartenleiterin schaut aus dem Fenster.

»Machen Sie es sich nicht unnötig schwer, Herr Heisenkamp. Gehen Sie doch eine Stunde spazieren. Wir haben ja Ihre Handynummer für den Notfall.«

Notfall? Hallo? Er brüllt wie am Spieß. Wie definiert sie Notfall? Ich sehe, dass sie am Fenster geblieben ist und darauf wartet, dass ich den Schuh mache. So was von abgebrüht. Wahrscheinlich hat sie das schon mit tausend Mamas und Papas durchgehechelt. Immer das Gleiche. Kind kommt, Mama/Papa geht, Kind schreit. Alles ganz normal. Wahrscheinlich hat sie recht. Hoffentlich hat sie recht.

Ich stehe langsam auf, nehme das Bobby-Car und trolle mich. Meine Füße entscheiden sich für irgendeine Richtung, und mein Körper folgt. Es ist heiß geworden. Ich könnte etwas trinken, aber meine Psyche hat sich offenbar für Laufen als Bewältigungsstrategie für das eben Durchlebte entschieden. Ich laufe. Mal rechts abbiegen, mal links. Ich kenne die Straßen, aber heute haben sie nichts mit mir zu tun. Ich laufe in einer Glaskugel, Blick geradeaus und das Bobby-Car-Lenkrad in der Hand. Warum habe ich es überhaupt mitgenommen? Ich hätte es vor dem Eingang stehenlassen können. Jetzt schlackert es mir gegen die Beine und macht mir blaue Flecken. Ich sehe immer wieder auf die Uhr, aber nicht einmal der Sekundenzeiger kommt einigermaßen flott voran. Irgendwie möchte ich das Bobby-Car an mich drücken. Was ist mit mir los?

Ich müsste schwitzen, aber meine Glaskugel hält den Sommer draußen. Neben mir bleibt eine Straßenbahn stehen. Ich steige ein. Was soll ich sonst tun? Drei Stationen fahren und dann zu Fuß wieder zurücklaufen. Vielleicht ein gutes Programm, um die Zeit rumzukriegen. Die Kastanienallee zieht vorbei. Drei Stationen sind zu viel. Lieber nur zwei. Ich steige an der Ecke Zionskirchstraße aus. Die alte Zionskirche schaut zwischen den Häusern heraus und verspricht Ruhe. Ich gehe langsam an ihr vorbei und nehme das Bobby-Car auf die Schulter, weil mein Arm weh tut.

Soll ich noch die Veteranenstraße runterlaufen? Die Uhr ist immer noch kaum vorangekommen. Also ja. Die Veteranenstraße ist nicht besonders lang, aber dafür wahrscheinlich die abschüssigste Straße der Stadt. Früher habe ich sie immer mit der Invalidenstraße verwechselt. Kann auch leicht passieren, weil die Invalidenstraße einfach die Fortsetzung am unteren Ende der Veteranenstraße ist. Aber eigentlich ist es doch ganz einfach: Veteranenstraße mit Steigung, Invalidenstraße flach. Die wackeren Veteranen kommen den Berg noch hoch, die maladen Invaliden hingegen nicht mehr.

Abschüssige Straße und Bobby-Car. Hm, ich glaube, ich kann nicht widerstehen. Ich mache es mir, so gut es geht, auf dem roten Flitzer gemütlich, strecke die Beine nach vorne in die Luft und fange an zu rollen. Weit werde ich nicht kommen. Zu schlechter Bürgersteig, zu viele Hindernisse. Wahrscheinlich bleibe ich bei der ersten Hofeinfahrt zwischen den Kopfsteinen hängen.

Rumpel, Krach.

Nein, ich rolle weiter. Über Schlaglöcher, unter einem Baugerüst hindurch, um einen Hund herum. Jetzt kommen die Cafés mit ihren Sesseln und Stühlen auf den Bürgersteigen. Hier werde ich wohl irgendjemand oder irgendetwas rammen. Kein Problem. Ich bin nicht schnell. Ist ja nur ein Bobby-Car. Wird einen guten Lacher geben. Ich schlängele mich so gut ich kann durch die Lücken zwischen den Tischen und Beinen. Die Lacher kommen. Für ein paar Sekunden bin ich der Star.

»Was war denn das?«

»Das war ein Bobby-Car.«

Diese Stimme. Ich drehe mich um. Tante Hilda.

Tante Hilda hier? Die Veteranenstraßencafés sind doch mehr das Land der Werbeagenturpraktikanten und sonstigen Möchtegerns und nichts für Leute, die es wirklich geschafft haben. Sie sitzt mit drei jungen Fotomodellen am Tisch und winkt. Ich winke matt zurück und sehe zu, dass ich weiterkomme.

Aber es ist in Ordnung. Wirklich. Tante Hilda gehört zu den wenigen Leuten, in deren Ansehen man steigt, wenn man auf einem Bobby-Car die Veteranenstraße herunterfährt.

*

Nach gefühlten fünf Stunden ist die eine Stunde Kindergartentestzeit vorbei. Ich sause auf den Eingang zu. Nichts zu hören. Daniel hat also aufgehört zu schreien. Aber das heißt gar nichts. Wahrscheinlich hatte er nach einer Viertelstunde keine Kraft mehr und sitzt jetzt wimmernd auf Claudias Schoß. Wir werden ein Eis essen gehen. Dann wird vielleicht alles wieder gut. Ich gehe den Flur entlang. Die Kindergartenleiterin sieht mich und grinst. Ich klopfe und öffne die Tür zum Gruppenraum. Daniel liegt in der Ecke auf dem Boden. Zwei größere Mädchen knien daneben und machen irgendwas mit ihm. Halt durch, ich komme!

»Daniel! Alles klar mit dir?«

Er hört mich gar nicht. Claudia zupft mich am Arm und hält beide Daumen nach oben.

»Sie spielen Vater, Mutter, Kind. Schon seit einer halben Stunde. Jetzt gucken sie nach der Windel.«

Ach so. Doch kein Folterspiel. Gut.

Daniel dreht den Kopf und sieht mich. Mein geliebter kleiner dritter Planet. Ich beginne allmählich zu ahnen, wie sehr ich herumeiern würde, wenn du unser Sonnensystem auf einmal wieder verlassen würdest.

»Na, Dicker? Wie wärs mit einem großen Eis?«

»Nein, du sollst noch mal weggehn!«

*

Simone bringt Daniel ins Bett. Ich sitze vor der Tagesschau, aber ich höre nicht hin.

Du sollst noch mal weggehn.

Das hat gesessen. Aber da muss ich mit klarkommen. Ist ja gut, wenn die Kleinen auch irgendwann mal flügge werden. Hat nichts mit mir zu tun, oder? Ich muss an was anderes denken. Meine Feelgoood-Präsentation steckt immer noch in den Anfängen. Wenn ich nicht bald den Hintern hochkriege, kommen womöglich noch andere auf die gleiche Idee. Ich mache das irgendwie falsch. Ich muss erst mal einen Brief schreiben. Nur ein paar Sätze. »Es geht um Gefühle«, und dann noch zwei, drei Andeutungen, die das Projekt in die Nähe von eBay und Amazon rücken. Das schicke ich dann an alle Venture-Capital-Gesellschaften, die ich im Internet finden kann. Und sobald die erste mich dann einlädt, schraube ich wie der Blitz die Präsentation zusammen. So geht das.

»Die Lage im Nahen Osten bleibt angespannt. Nach der jüngsten Anschlagserie …«

Was mich viel mehr beunruhigt, ist die Lage im nahen Westen. Mein geliebter Bruder Hubert hat aus heiterem Himmel beschlossen, sich mit seiner Freundin Dörte zu verloben. Kann ja eigentlich sehr nett werden, so eine Verlobungsfeier. Aber ausgerechnet mit dieser blassen, verhuschten Dörte? Außerdem muss es dabei natürlich wieder zwanghaft unkonventionell zugehen. Strictly Rock ’n’ Roll steht auf der Einladung. Da werden wir im Endeffekt dreimal länger über unsere Garderobe nachgrübeln müssen als bei Tante Ernas goldener Hochzeit. Aber vielleicht kann ich noch irgendwo einen Grippevirus für mich klarmachen.

»Jan Ullrich widersprach heute erneut allen gegen ihn gerichteten Dopingvorwürfen. In einem Interview mit …«

»So, jetzt schläft er endlich.«

Simone wirft sich zu mir aufs Sofa. Endlich. Zeit für uns. Jetzt an nichts mehr denken, was irgendwie anstrengend ist oder schlechte Laune macht. Einfach nur zu zweit sein und im Hinterkopf das beruhigende Gefühl haben, dass man sich um den Dritten gerade keine Sorgen machen muss. Ich mag die Tagesschauschlussfanfare In den Siebzigern war sie zwar noch schöner, so mit Querflöten am Ende, aber die neue ist auch okay.

Fernbedienung. Oh, ein alter Münsteraner Tatort im Dritten. Wie schön. Simone legt den Kopf auf meinen Bauch. Daniel, wag es bloß nicht, jetzt noch mal aufzuwachen.

»Ach Markus, geht mir nur gerade so durch den Kopf, weißt du eigentlich schon, was du zu Huberts Verlobung anziehst?«