4. Road to Nowhere

Ich saß im Warti. »Take me out tonight …« – neben mir auf dem Beifahrersitz lag Ankes Kassettenrekorder und spielte mein The-Smiths-Tape. »Take me anywere I don’t care« – wie passend.

Draußen war es Nacht und in den Wagen kroch langsam die Kälte. Ich hatte mich auf dem Fahrersitz in meinen Schlafsack eingepackt. Seit Stunden ging es nur Stop-and-go auf beiden Spuren der Autobahn, und es waren noch etwa vierzig Kilometer bis zur bayrischen Grenze. Weil ich Benzin sparen wollte, startete ich den Motor nur, wenn es vorwärts ging. Die Fensterscheiben beschlugen von meinem Atem, und ich wischte mit der Hand immer wieder Gucklöcher nach vorn und zur Seite. »There is a light that never goes out«, sang Morrissey, und ich hoffte, dass die Batterien noch eine Weile durchhalten würden.

Um mich herum standen überall Autos voller erwartungsfroher Menschen. Einige konnten es nicht abwarten und öffneten schon die Sektflaschen. Immerhin half das auch gegen die Kälte. Ich trank leidlich warmen Kaffee aus Vaters Thermoskanne, die er erst mal nicht zurückbekommen würde. Keine vierundzwanzig Stunden zuvor hatte ich mit meinen Eltern vor dem Fernseher gesessen und zugeschaut, wie die Ost-Berliner nach West-Berlin spazierten. »Na, gute Nacht, DDR«, prostete mein Vater mit seinem Bier dem Bildschirm zu.

»Ich gehe nicht zur Armee. Ich geh rüber«, platzte es aus mir heraus.

Meine Mutter schaute mich erschrocken an. Mein Vater drehte sich ebenfalls zu mir um und sagte etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte: »Tja, Friedemann, du bist alt genug. Mach, was du für richtig hältst.« Es klang resigniert, oder bildete ich mir das nur ein?

»Aber Horst! Der Junge …« entgegnete meine Mutter weinerlich. Doch ich hatte mich entschieden. Endlich!

Während meine Eltern am folgenden Morgen zur Arbeit gingen, blieb ich zu Hause. Ich rief in der Gärtnerei an und meldete mich krank. Dass ich eigentlich nie wieder kommen wollte, traute ich mir nicht zu sagen. Die Grenzöffnung war mir noch zu unglaublich. Ich fuhr zum Büro der Pass- und Meldestelle der Volkspolizei, rüber nach Lindenau, und holte mir in einer langen Schlange voller aufgeregter Menschen meinen Visastempel ab. Wie einfach das plötzlich alles war. Danach eilte ich zurück nach Hause. Ich packte ein paar Klamotten ein, meine Papiere, meine Kassettensammlung, Ankes Rekorder, meine E-Gitarre, tankte den Warti auf und auch die beiden Kanister. Von Andis Mutter holte ich mir seine Adresse und Telefonnummer in Stuttgart. Vielleicht könnte ich dort erst mal unterkommen. Ich versuchte mehrmals ihn anzurufen, aber man konnte nicht in den Westen durchwählen, und bei der Telefonvermittlung war laufend besetzt.

Meine Eltern kamen schon gegen drei von der Arbeit, und wir tranken noch zusammen Kaffee. Meine Mutter hatte Kuchen vom Bäcker mitgebracht. Die Stimmung war ähnlich bedrückend wie im Sommer am Balaton, als Andi und Katrin mit uns zum letzten Mal frühstückten. Ich drängte bald zum Aufbruch, weil klar war, dass die halbe DDR zu einem Kurzbesuch in den Westen starten würde. Und ich musste auch hier weg, weil ich das besorgte Gesicht meiner Mutter kaum länger ertragen konnte.

»Der schafft das schon, Rosi«, sagte mein Vater in die Stille am Tisch. Seine Gelassenheit schien nur Fassade, aber was sollten sie machen, ich war volljährig. Mein Vater holte aus der Schrankwand im Wohnzimmer einen Briefumschlag und drückte ihn mir in die Hand.

»Hier, das kannst du jetzt nötiger gebrauchen als wir.« Ich schaute kurz rein und sah zwei Zehn-D-Mark-Scheine und ein paar West-Münzen. Ich lächelte verlegen, weil ich wusste, dass dies das einzige West-Geld meiner Eltern war. Eigentlich müsste ich es ablehnen, aber ich konnte es wirklich gut gebrauchen. »Dankeschön. Ich schick euch einen neuen Schein, sobald ich drüben was verdiene«, antwortete ich und wedelte kurz mit den Banknoten, bevor ich sie in mein Portmonee steckte.

»Hast du dir das auch wirklich gut überlegt?«, fragte mich meine Mutter zum gefühlten hundertsten Male, als wir unten am Auto standen. »Das kommt jetzt alles so plötzlich.«

Ich nickte geduldig und sagte: »Ja, Mutti. Wirklich. Keine Ahnung, wie lange die Mauer noch offen ist. Vielleicht stoppen die Russen das ja wieder. Oder die Amis oder wer weiß noch. Und gerade jetzt noch zur Armee?«

Auch mein Vater umarmte mich unsicher, und ich überlegte, wann wir uns das letzte Mal so verabschiedet hatten.

Gegen ein Uhr nachts kam langsam der Grenzübergang Hirschberg in Sicht. Hier war alles hell erleuchtet inmitten der allumfassenden Dunkelheit. Überall Maschendrahtzäune, unzählige Scheinwerfer und Wachtürme. Als ob dahinter ein kontaminierter Landstrich wäre. Eine Seuchensperrzone. Ich glaube, die SED-Bonzen hatten das auch so verstanden. Nur eben ihr liebes Volk nicht. Nun hatten sie den Salat. Beide Spuren der Autobahn waren voller Ost-Kisten gen Westen. Der Geruch von Zweitaktmotoren lag in der Nachtluft, und ihr lautstarkes Tuckern übertönte meinen Rekorder, denn die Batterien wurden langsam schwächer. »I never, never want to go home. Because I haven’t got one. Anymore …« Die Kassette fing an zu leiern, und ich stoppte das Band.

Weiter draußen hinter den Zäunen hörte man Hunde bellen.

Allmählich rollte ich auf die Passkontrolle zu. Ob es irgendwelche Probleme geben könnte? Die werden ja wohl kaum wissen, dass ich bereits meinen Einberufungsbefehl bekommen hatte. Bei dem Chaos im Land. Oder am Ende doch? Ob das dann so was wie desertieren war? Scheiße, so hatte ich das noch gar nicht gesehen! Panik kroch plötzlich durch meine kalten Füße in mich rein, und in meinem Kopf begann es zu hämmern. Was nun? Zurück konnte ich jetzt nicht mehr, ich stand keine dreißig Meter von der Passkontrolle entfernt und war von Autos quasi eingekeilt. Zurück wollte ich auch nicht! Nur noch ein paar Meter und ich wäre drüben. Cool bleiben und notfalls dumm stellen. Meine ganzen Papiere, Zeugnisse und so, hatte ich bereits in Leipzig vorsorglich im Reserveradkasten versteckt. Man konnte ja nie wissen. Sicher nicht das originellste Versteck, aber besser als nichts, dachte ich mir. Wird schon klappen. Es muss. Es muss.

Vor mir winkten die DDR-Grenzer einen Wagen durch und auch gleich den nächsten. Pässe wurden kurz hingehalten, die Grenzer stempelten hinten was rein und machten anschließend eine Handbewegung, die so viel wie »Weiterfahren!« bedeutete. Ich hielt ebenfalls meinen Pass aus dem runtergekurbelten Seitenfenster, während ich im Schritttempo an die Grenzbeamten heranrollte. Der Grenzer nahm ihn und schaute flüchtig auf den Visastempel, gab mir das Ding zurück und wünschte gute Weiterfahrt. Dann passierte ich eine weiße Betonstele mit DDR-Emblem.

Obwohl ich die gleichen Bilder gestern Abend im Fernsehen gesehen hatte, konnte ich es einfach nicht glauben. Aber es stimmte wirklich! Ein paar Meter weiter war schon der westdeutsche Zoll. Alle Autos um mich herum hupten wie verrückt, und auf der westdeutschen Seite standen lachende Leute mit Sektflaschen und klopften auf die Dächer der Trabbis und Ladas, die sich langsam durch die Menschentraube vorwärtsbewegten. »Go West«, dieses Lied von den Pet Shop Boys kam mir plötzlich in den Sinn. Ich hasste den Song, weil er so eine vergnügte, oberflächliche Melodie hatte, ohne jeden Tiefgang, aber ich bekam ihn jetzt nicht mehr aus meinem Kopf raus. Die westdeutschen Grenzbeamten grinsten mich nur kurz an. Niemand wollte meinen Pass sehen.

Und dann war ich wirklich drüben. Ich spürte es, weil sich der Belag der Fahrbahn plötzlich änderte. Die DDR--Autobahnen waren aus einzelnen Betonplatten zusammengesetzt, und man spürte immer die Asphalt-Naht, wenn man über sie hinwegfuhr. Doch plötzlich glitt selbst der Warti sanft dahin, ohne zu holpern. Ein Schild grüßte mich mit »Freistaat Bayern«. Überall standen Menschen auf der Fahrbahn und am Seitenstreifen. Auch einige Kamerateams waren da. Doch ich hatte keine Zeit zum Feiern. Ich konnte diesen Augenblick nicht genießen, obwohl ich mindestens so aufgeregt war, wie alle anderen hier. Ich war ungeduldig. Und neugierig. Egal, was jetzt kommen würde, es würde auf jeden Fall ein Abenteuer werden, und dazu war ich gerade in Stimmung. Ich schlängelte den Warti hupend durch die feiernden Leute. Viel zu lange hatte ich in Leipzig gezögert. Jetzt hatte ich keine Zeit mehr zu verlieren.

Am nahe gelegenen Rasthof Frankenwald fuhr ich auf den überfüllten Parkplatz und suchte mir eine Telefonzelle. Mit den West-Münzen, die mir mein Vater mitgegeben hatte, rief ich bei Andi an. Hoffentlich erreichte ich ihn, er war hier mein einziger Anlaufpunkt. Nach dem vierten Freizeichen hörte ich eine vertraute Stimme »Hallo?« sagen.

Ich rief freudig in den Hörer: »Andi? Andi, ich bin’s: Friedemann! Ich bin drüben! Also hier, ich meine, ich bin im Westen.«

»Friedemann! Ja, Mensch, alter Kunde. Schön, dich zu hören. Alles klar bei dir?« Er klang fast schon so taff wie sein Bruder.

»Alles bestens. Die wollten mich zur Asche einziehen, und da bin ich gleich rüber. Die und ihre Scheiß-Armee. Ohne mich.«

»Ja super. Wo bist du jetzt?«

»Gleich hinter der Grenze, irgendwo in der Nähe von Hof. Mit dem Warti.«

»Mit der alten Kiste? Na cool. Und wo willst du hin?«, fragte Andi.

»Gute Frage – keine Ahnung. Erst mal brauch ich was zum Pennen. Hast du vielleicht noch ein Sofa frei?«

»Verstehe. Tja, bei uns ist es recht eng. Warte mal, ich muss mal kurz Katrin fragen.«

»Ach, ihr wohnt zusammen?«

»Ja, warte mal.«

»Mach schnell, ich hab nicht viel Geld für das Telefon«, sagte ich noch.

Andi rief durch die Wohnung nach Katrin. Was sie besprachen, konnte ich nicht richtig verstehen. Im Hintergrund hörte man einen Fernseher laufen. »Friedemann?«, tönte Andis Stimme wieder im Hörer. »Klar, kannst vorbeikommen. Mensch, alter Kunde. Fahr … tja, wohin am besten … Fahr weiter nach Nürnberg, dann Richtung Heilbronn und dann die Abfahrt Stuttgart-Zentrum rein zum Hauptbahnhof. Und dann ruf mich noch mal an. Ist alles ausgeschildert.«

»Das ist spitze! Bis nachher. Danke! Tausend Dank!« Ich legte auf und strahlte übers ganze Gesicht. Nürnberg, Heilbronn, Stuttgart. Ich wiederholte die Route mehrmals in Gedanken, denn ich hatte keinen Straßenatlas. Mein guter alter Andi. Ich hatte also schon mal eine Unterkunft.

Vom Roten Kreuz ließ ich mir auf dem Parkplatz noch einen Teller Suppe aus der Gulaschkanone und einen Kaffee spendieren. Jetzt kam ich mir schon ein wenig wie ein Flüchtling vor. Andererseits: meine erste West-Mahlzeit! Eigentlich schmeckte es wie Ost-Schulessen, aber das konnte ich mir unmöglich eingestehen.

Viel sah ich nicht vom Westen, während ich durch die Nacht fuhr. Meist nur ein paar Lichter in der Ferne. Bayreuth war die erste Stadt, die ich vom Namen her kannte. Die Autobahn schien mitten hindurchzugehen. Links und rechts von der Fahrbahn sah ich im Schein der Straßenlampen Wohnhäuser und Industriegebiete.

Ich hatte Nürnberg hinter mir gelassen, als mich ein Militärkonvoi der US-Armee überholte. Die olivgrünen Fahrzeuge waren in der Dunkelheit kaum zu sehen. Ich erschrak tierisch, aber dann fiel mir ein, dass sie nicht in Richtung DDR-Grenze unterwegs waren. Der dritte Weltkrieg brach heute Nacht also nicht aus. Als ich kurz in das Fahrerhaus eines Jeeps blickte, sah ich, wie der Soldat auf dem Beifahrersitz verwundert auf den Warti starrte. Offenbar hatte er noch nie so ein Auto gesehen.

Die US-Armee war zu Hause am Küchentisch immer mal Thema gewesen. Mein Vater erzählte uns in regelmäßigen Abständen, wie seine große Schwester im April 1945 als ganz kleines Kind von amerikanischen Soldaten in Leipzig ihren ersten Kaugummi geschenkt bekommen hatte.

Langsam verschwand der Konvoi vor mir in der Nacht. Immer wieder donnerten auf der linken Spur große West-Schlitten mit mörderischen Geschwindigkeiten an mir vorbei, während ich etwa 100 km/h fuhr. Offenbar gab es hier kein Tempolimit. Mir nützte das nichts, der Warti fuhr schon so schnell er konnte. Die Batterien des Rekorders waren endgültig im Eimer, und so hörte ich mit dem alten Monoautoradio Bayern 3, immerhin auf UKW. Zu Hause in Leipzig hatte ich den auch manchmal reingekriegt – mit jeder Menge Rauschen. Wie komisch das plötzlich klang: zu Hause. Als aus den Boxen »Road to Nowhere« von den Talking Heads kam, sang ich lautstark gegen meine Müdigkeit an. Denn genau da war ich gerade: auf der Straße ins Nirgendwo. Drüben war jetzt hier.

Langsam wurde es Morgen. Laut einem blauen Schild waren es noch fünfundvierzig Kilometer bis Stuttgart, die Landschaft wurde zunehmend hügeliger, an den Hängen sah ich immer wieder dicht gedrängte Wohnsiedlungen und meinte auch Weinberge zu erkennen. Vierspurige Straßen führten mich von der Autobahn ins Zentrum. Ampeln und Leuchtreklamen erhellten die morgendliche Stadt. So viele Häuser, so viele Autos, so viele Hinweisschilder. Eine knallgelbe Straßenbahn auf einem separaten Gleisbett kam neben mir aus der Erde geschossen. Ich fuhr auf einer Brücke über einen breiten Fluss auf der Suche nach dem Hauptbahnhof. Hin und wieder tauchte das Symbol einer U-Bahnstation am Straßenrand auf. Cool – so was kannte ich nur aus Ost-Berlin. Dann sah ich endlich das Schild mit einer überdachten Lokomotive. Aus einem Tunnel kam ich auf eine sechsspurige Piste, wie eine Autobahn mitten in  der Stadt. Neben und vor mir nur West-Autos, keine Trabbis oder Ladas. Endlich passierte ich ein großes Gebäude, das einem Bahnhof ähnelte. Nichts war hier wie in Leipzig. Ich war in einem anderen Land, in einer anderen Welt, auf einem anderen Planeten – das stand fest. Müde steuerte ich auf den Parkplatz. Meine Augen schmerzten von den ganzen Farben, die ich bisher nur im Halbdunkel gesehen hatte. Wie würde die Stadt erst bei Tageslicht aussehen?

Ich suchte die nächste Telefonzelle, um Andi anzurufen. Danach setzte ich mich wieder in den Warti und schlief sofort ein.

Von einem lautstarken Klopfen aufs Autodach wurde ich geweckt. Erschrocken fuhr ich hoch. Andi grinste. »Mensch, Friedemann, alter Kunde!« Nachdem ich ausgestiegen war, legte er mir eine Hand auf die Schulter. »Willkommen im Westen!«

Irgendwas war anders an ihm. Ach ja, Andi trug einen Fassonschnitt. »Wo ist denn dein Strubbelkopf hin?«, fragte ich ihn.

»Tja, ich bin jetzt in der Autobranche, und da muss man auf ein gepflegtes Äußeres achten. Die Kunden kaufen doch einem Punk kein Auto ab.« Ich schaute zu seinem Wagen rüber, der neben dem Warti parkte. Andi fuhr zwar noch nicht den angekündigten Mercedes, aber der kleine dunkelblaue Ford Fiesta älteren Baujahres sah auch schon ganz gut aus. »Ist nur vorübergehend, bis mein Mercedes eingetroffen ist«, erklärte Andi. »Ja, auch im Westen muss man manchmal auf sein Wunschauto warten. Nur nicht so lange wie drüben in der Zone. Los, komm erst mal zu uns nach Hause. Fahr mir einfach hinterher.«

Andi bewohnte mit Katrin eine kleine Zweiraumwohnung in Stuttgart-Süd. Am Klingelbrett las ich exotische Nachnamen. »Ö… Ötz…demir? Wie spricht man denn das aus?«, fragte ich Andi.

»Keine Ahnung, das sind Türken. Überhaupt wohnen hier viele Ausländer, die arbeiten alle bei Daimler. Komm jetzt.«

Wir stiegen die Treppe hoch in den ersten Stock. Es roch nach Kaffee und Putzmittel, fast wie im Intershop. Andi schloss die Wohnungstür auf, und wir traten ein. In der kleinen weiß gestrichenen Küche standen ein Herd, eine Spüle und ein Tisch mit drei Stühlen. Auf einem saß Katrin und rauchte ihre Frühstückszigarette. »Hi Blume. Willkommen in der Freiheit«, grüßte sie verschlafen. »Kaffee?«

Ich nickte. Ist das wirklich alles wahr? Ich nahm ein Marmeladenglas in die Hand und betrachtete das Etikett. Wie bunt das war. Nur »beste, ausgesuchte Zutaten« wurden darauf versprochen. Der auf dem Tisch platzierte Toaster klickte, und zwei Weißbrotscheiben hüpften heraus. »Schön habt ihr es hier«, sagte ich, mich umblickend. »Und wie sieht es mit Arbeit aus?«

»Ich bin bei meinem Bruder mit im Autohaus, und Katrin hat einen Job als Verkäuferin in einem Supermarkt. Du  siehst, Friedemann: Es läuft! Eigener Wagen, eigene Wohnung, eigenes West-Geld – alles wahr geworden.« Andi grinste zufrieden, während er in sein Toastbrot biss.

Da saßen wir nun zusammen, immerhin schon zu dritt. The Innocent Disco war fast wieder komplett. Fehlte nur noch Anke. Natürlich hatte ich in den letzten Stunden auf der Autobahn darüber nachgedacht, dass ich nun im selben Land wie sie war. Aber ich rechnete mir keine Chancen aus, sie irgendwo zufällig zu treffen. Hier wohnten schließlich ein paar Millionen Menschen. Außerdem war ich fertig mit ihr. Das Thema war abgeschlossen. Endgültig. Vergangenheit. Vorbei.

»Habt ihr mal was von Anke gehört?«, fragte ich ganz nebenbei. »Sie ist eine Woche nach euch mit ihren Eltern rüber.«

»Ja, stimmt. Meine Mutter hatte mir davon am Telefon erzählt«, antwortete Katrin. »Aber gehört hab ich noch nichts von ihr. Keine Ahnung, wo sie steckt.«

Andi blickte zu mir rüber. Er schien mein Problem zu erahnen und gab mir einen Knuff. »Schwamm drüber, Friedemann. Jetzt geht ein neues Leben los.«

Ich nickte ihm müde zu und trank von meinem Kaffee, den mir Katrin eingegossen hatte. »Der ist gut«, sagte ich nach dem ersten Schluck. »Ist das etwa die ›Krönung‹?« Ich hatte vor Jahren in einer Werbung im West-Fernsehen gesehen, wie zwei Frauen mit gepflegter Dauerwelle in einem sonnigen Garten saßen und über das Verwöhnaroma eines Kaffees philosophierten.

»Ja, fast, Friedemann. Der ist von Aldi. Du musst wissen, der ganze Kram aus der Werbung, das sind alles nur überteuerte Markenprodukte. Diese Kunden wollen uns als Kunden voll verarschen. Bei Aldi kriegst du das gleiche Zeug zum halben Preis. Nur in einer anderen Verpackung. Da spart man eine Menge Kohle. Frag Katrin.« Ich nickte beeindruckt. »Tja, Friedemann, Fuchs sein heißt nicht nur Schwanz haben. Aber keine Angst, das erklär ich dir noch alles. Hier im Westen muss man sich kümmern.« Andi grinste und schaute auf die Uhr. »Oh Mann, ich muss los.« Er stand auf und gab Katrin einen flüchtigen Kuss. »Macht’s gut. Bis nachher.«

»Du musst am Samstag zur Arbeit?«, fragte ich ihn.

»Ja, unser Autohaus hat heute bis vierzehn Uhr auf. Da kommen die meisten Leute vorbei. Du weißt schon: Verkaufsgespräche, Kundenberatung, Probefahrten und so weiter. Bis nachher.« Er schloss die Wohnungstür, und man hörte seine eiligen Schritte im Treppenhaus.

Wenn man sich nicht ganz ausstreckte, konnte man auf dem Sofa einigermaßen liegen. Das Wohnzimmer von Andi und Katrin hatte keine Vorhänge, und die Sonne schien ein wenig herein. Ich starrte eine Weile die weiße Zimmerdecke an, bis mir die Augen zufielen. Unten im Hof hörte man Kinder Fußball spielen, dem Geräusch nach offenbar gegen eine leere Mülltonne. Irgendjemand rief etwas in einer fremden Sprache. Jemand anderes antwortete. Ob das Türkisch war? Von der Straße hörte man Autos. Nicht das Knattern von Trabbis und Wartburgs, sondern das elegante Summen von Viertaktmotoren. Auch die LKWs klangen komplett anders. Jede Ost-Kiste hatte einen unverwechselbaren Sound, die konnte man mit geschlossenen Augen unterscheiden. Hier wusste ich überhaupt nicht, welcher Wagen gerade unten vorbeifuhr. Langsam schlief ich ein.

Am Nachmittag kam Andi wieder. Ich wurde wach vom Geklapper in der Küche. Zunächst rief ich meine Eltern an und sagte, dass alles glattgegangen war.

»Wo kann man denn heute Abend schön weggehen? Gibt es hier irgendwo eine coole Disco? Habt ihr schon ein paar nette Leute kennengelernt?«, fragte ich anschließend Andi.

»Tja, Friedemann, ist alles sauteuer. Da bezahlst du schon ’nen Fünfer, nur um reinzukommen. Überlege mal, fünf D-Mark nur für Eintritt. Und dann die Preise für die Mixgetränke. Das ist alles Abzocke, verstehste? Katrin und ich hatten für heute einen gemütlichen Heimabend mit Videos und ein paar Bierchen geplant – ganz entspannt. Fernseher und Videorecorder haben wir ja. Gab’s sehr günstig bei Neckermann auf Teilzahlung.« Andi deutete mit einer Handbewegung auf seine technischen Errungenschaften, die auf dem Wohnzimmerfußboden standen. Vorhin hatte ich die doch glatt übersehen.

»Ja, warum nicht ein paar gute Filme. Cool.«

»Videos haben wir aufm Rückweg geholt, zweimal ›Star Trek‹. So Weltraumaction. Wird dir gefallen.« Andi verschwand in der Küche, um die mitgebrachten Biere im Kühlschrank zu verstauen. »Zum Film gibt’s italienisches Essen«, rief er mir zu und schob drei Tiefkühlpizzas in den Backofen.

Star Trek war der Hammer. Dem Namen nach kannte ich das schon, aber gesehen hatte ich noch keinen. Dort konnten sich die Typen von der »Enterprise« von einem Ort zum anderen beamen lassen. Einfach hinstellen, auf einen »Kommunikator« an der Brust drücken, den Zielort nennen, und schon war man wieder im Raumschiff oder auf irgendeinem Planeten.

Nachts konnte ich lange nicht einschlafen. Das lag nicht nur an der unbequemen Couch und an der vielen Cola, die ich getrunken hatte. Ich stand unter Strom. Wie würde es jetzt weitergehen? Ob ich hier gleich einen Job bekäme? Und wie sähe es mit ’ner Wohnung aus? Bei Andi und Katrin konnte ich ja nicht ewig aufm Sofa übernachten. Obwohl, wir könnten ja auf WG machen.

Während ich so dalag, blätterte ich in einem Neckermann-Katalog, den ich auf dem Fußboden gefunden hatte. Offenbar war er die Lieblingslektüre von Katrin, so abgegriffen, wie der aussah. Sie hatte vorhin, als der Film lief, pausenlos darin rumgeblättert und Andi immer wieder Sachen gezeigt, die sie sich bestellen wollte. Auf vielen Seiten waren Preise mit rotem Filzstift eingekreist, und es lagen mit Bestellnummern beschriebene Zettel drin, als Lesezeichen. Wollte sich Katrin ernsthaft eine blaue Jeanslatzhose kaufen? Immerhin sah der ausgewählte Bikini ganz nett aus. Ein grauer Anzug für 159 Mark sollte wohl für Andi sein. Er erinnerte mich an das Teil, das er zur Jugendweihe angehabt hatte. Ob er das fürs Autohaus brauchte?

Alles, was man sich vorstellen konnte, gab es in diesem Katalog. Die ganze bunte Warenwelt auf gut eintausend Seiten. Da brauchte man gar nicht mehr aus dem Haus gehen zum Einkaufen. Am meisten verblüffte mich, dass die ein Steilwandzelt von Pouch im Angebot hatten, das war doch eine Ost-Firma. Walkmen gab es schon ab fünfundzwanzig Mark, das war ja echt billig. So was wollte ich immer schon mal haben.

Ich blätterte durch die Seiten und entdeckte ständig Dinge, die ich mir auch kaufen wollte, bis ich darüber einschlief und von Bestellzetteln und riesigen Neckermann-Paketen träumte.

Meine Uhr zeigte gerade mal acht Uhr. Ich wälzte mich auf der Couch, aber schlafen konnte ich nicht mehr. Da draußen war überall Westen, und ich wollte ihn mir endlich anschauen. Nicht nur im Versandhauskatalog, sondern in echt. Leise stand ich auf und schlich in die Küche. Aus dem Schlafzimmer hörte man Andi schnarchen. Das kannte ich vom Zelten am Balaton. Der würde bestimmt noch zwei, drei Stunden weiterpennen. Ich fand auf dem Fensterbrett einen Stadtplan von Stuttgart, zog mich schnell an und hinterließ auf dem Küchentisch eine Nachricht, dass ich mittags wieder da wäre. Das war auch in Leipzig die Zeit gewesen, zu der man Andi sonntags frühestens ansprechen konnte. Leise schloss ich die Wohnungstür.

Draußen dämmerte es langsam. Kaum ein Auto fuhr. Ich bog in eine kleine Straße ein, von der mir der Stadtplan gesagt hatte, dass sie auf kürzestem Weg in die City führte. Die Häuser waren meist ältere, zweistöckige Klinkerbauten und erinnerten mich kurz an die Dresdner Neustadt, wo ich vor Jahren mit Andi mal seine Großmutter besucht hatte. Aber hier gab es keine abgeblätterten Fassaden und keine kaputten Dachrinnen. Hier war alles repariert und instand gehalten worden. Auch die Fußwege waren ganz anders gepflastert, und auf den vielen kleinen Steinen klebten unzählige plattgetretene Kaugummis. Am Straßenrand parkte ein Westauto neben dem anderen. Rote, grüne, blaue, schwarze, gelbe – nicht dieses Grau, wie bei den meisten Trabbis. Ladengeschäfte mit Schaufenstern gab es hier fast keine, aber ich hatte auch so genug zu sehen.

Ein älterer Mann mit Hund überholte mich. Auf der anderen Straßenseite sah ich eine Frau den Fußweg kehren. Der Rest der Stadt schien noch zu schlafen. Von den Querstraßen aus blickte man auf bewaldete Berge – das totale Kontrastprogramm zur Leipziger Tieflandsbucht, die so aussah, als hätte vor Urzeiten ein Riese mit einer Dampfwalze alles eingeebnet. Vom Turm einer alten verschnörkelten Kirche schlug es gerade neun Uhr in die morgendliche Stille. Ein Jogger lief keuchend an mir vorbei und verschwand in einer Seitenstraße, gleich hinter einem Edeka-Markt.

Ich bog in die Tübinger Straße, lief unter einer großen Betonautobrücke durch, wie ich sie aus Leipzigs Nachbarstadt Halle kannte, und erreichte kurz darauf die Königsstraße. Vor mir eröffnete sich ein Blick auf zahllose Geschäfte und Kaufhäuser. Genial!

Die Fußgängerzone war noch fast menschenleer, kahle Laubbäume standen in der Mitte. Ich blieb vor dem Hertie-Kaufhaus stehen. Schaufensterpuppen mit unbeweglichen Gesichtern starrten an mir vorbei ins Leere. Sie trugen die »Neue farbenfrohe Winterkollektion«, wie mir ein großer Schriftzug an der Wand hinter ihnen verkündete. Der Nachbarladen war voller Fernseher. Ein Pärchen schaute sich auf etwa einem Dutzend Bildschirmen die Aufnahmen von der Berliner Mauer an, auf der hunderte Menschen standen und mit Hämmern kleine Betonbrocken abschlugen. Daneben wurden CD-Player angepriesen. »Eine völlig neue Klangdimension« versprach ein glänzend weißes Schild mit dicken Buchstaben. Entfernt hörte ich Musik – oder so was in der Art. Neben einer Sitzbank standen einige glatzköpfige junge Männer in langen weißen Umhängen. Während einer den wenigen Passanten irgendeine Art Praline anbot, spielten die anderen kahlgeschorenen Typen mit seltsamen Instrumenten eine monotone Melodie und sangen irgendetwas, das ich nicht verstand. Waren das etwa westdeutsche Skinheads? Davon hatte ich schon mal gelesen. Ich lehnte das merkwürdige Gebäck mit einer Handbewegung ab und ging hastig weiter. Wer weiß, was die da reinmischten.

Irgendwann stand ich vor der verglasten Tür eines Plattenladens. Dort bekam man bestimmt alle LPs, die es überhaupt gab. Absolut alle – so groß, wie der schien. Durch die Glastür konnte man Regale voller Vinyl und auch diese neuen CDs sehen. Ich klebte daran wie eine Fliege an der Windschutzscheibe und versuchte, das Angebot genauer zu ergründen. Ob Morrissey bei »Pop International« stand oder bei »Independent«? Hier würde ich gleich morgen mein ganzes Geld hintragen und mir all die Platten kaufen, die ich bislang nur als verrauschte Überspielung auf Kassette besaß. Na ja, für alle reichte das Geld nicht sofort, aber eine würde doch drin sein. Ich grübelte, was ich mir als erstes holen könnte und schlenderte langsam weiter.

Schließlich schien ich am Ende der Einkaufsstraße angekommen zu sein. Gegenüber stand der klobige Bahnhof. Rechts von mir in einem Haus entdeckte ich das einzige Geschäft, das hier sonntags um diese Zeit aufzuhaben schien: Die Touristinformation. Davor befand sich ein Metallständer mit bunten Prospekten. Ein kleines Hinweisschild verkündete: »Gratis für unsere Besucher!« Ich nahm wahllos von jedem der Hochglanzhefte eins heraus und ging in den Laden. In einer Glasvitrine waren Souvenirs ausgestellt. Kugelschreiber, Löffel und Feuerzeuge mit dem Stuttgarter Stadtwappen drauf, Postkarten und Bildbände. An einem Schalter standen einige nach Echt Kölnisch Wasser riechende Rentnerinnen und fragten die junge Angestellte nach einer Stadtrundfahrt. Ob ich auch so was machen sollte? So könnte ich mir meine neue Heimat von geschultem Fachpersonal erklären lassen. Ich schaute auf meine Uhr. Noch nicht mal um zehn. Andi würde locker noch zwei Stunden schlafen.

Die Renterinnen hatten inzwischen den Laden verlassen. Ich ging zum Schalter und fragte nach.

»Jetzt gleich, zehn Uhr, beginnt eine Rundfahrt. Mit Kulturmeile, Schlossplatz und auf die Halbhöhen mit Panoramablick. Dauert etwa zwei Stunden und kostet sechzehnfünfundneunzig.«

Ich zögerte. Damit würde ich fast mein ganzes West-Geld ausgeben. Und nichts wäre mit morgen Platten einkaufen.

Die Verkäuferin bemerkte meine Unsicherheit. »Sind Sie noch Schüler oder Student? Dann würde es billiger werden.«

»Na ja, wenn man’s genau nimmt, bin ich gerade gar nix. Ich bin gestern von drüben gekommen, aus der DDR.«

»Ach so! Dann heißt Sie die Stadt Stuttgart besonders herzlich willkommen. Für Touristen aus dem Osten ist die Rundfahrt dieses Wochenende kostenlos.« Die junge Frau strahlte mich routiniert an, und ich strahlte spontan zurück, obwohl sie gar nicht mein Typ war, aber das fand ich ja mal ein nettes Willkommensgeschenk. Ich bedankte mich überschwänglich und ging mit meiner Fahrkarte um die Ecke zum Parkplatz. An der Bustür stand ein Mann mittleren Alters. Er nahm mein Ticket und schaute kurz drauf. »Ah, Sie kommen von drüben?«

»Ja, drüben von der Touristinformation«, antwortete ich.

»Nein, ich meine, Sie kommen ausm Osten. Das Gratisticket.« Er wedelte mit meiner Karte.

»Ach so. Ja.«

»Na dann, willkommen in der Freiheit. Sie sind der erste Ost-Tourist, der die Stadtrundfahrt mitmacht. Die anderen scheinen wohl den weiten Weg zu scheuen. Wahrscheinlich halten die Trabbis so eine lange Strecke nicht durch.« Er lachte kurz auf. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte und nickte nur. Sollte ich ihm der Ehrlichkeit halber sagen, dass ich gar kein Tourist war, sondern vorhatte, hier zu bleiben? Mit einer Handbewegung deutete er an, dass ich jetzt einsteigen konnte.

Der Bus war schon gut gefüllt, aber ich bekam noch eine Doppelsitzreihe für mich allein. Ich schien der einzige zu sein, der die vierzig noch nicht erreicht hatte. Ach, was sag ich, die fünfzig oder wenn man genau hinsah, die sechzig.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gäste der Landeshauptstadt Stuttgart«, tönte der Reiseführer freundlich in das Mikrophon. »Ganz besonders freue ich mich, dass heute ein junger Landsmann aus dem Osten die Möglichkeit nutzen kann, als Tourist an unserer Rundreise teilzunehmen. Ihnen einen ganz besonders guten Tag in der Freiheit.«

Ich schaute etwas verschämt zu Boden, und einige klatschten sogar. Schon überlegte ich, wieder auszusteigen, doch da fuhr der Bus an und kroch im Schneckentempo an alten, repräsentativen Gebäuden vorbei, an Museen, am Stuttgarter Schloss, an der neuen Kultur- und Kongresshalle, dem Messegelände am Killesberg und ich saugte den Anblick der Stadt in mir auf. Hier wirkte nichts kaputt und improvisiert wie in Leipzig. Hier schien alles perfekt.

Nach der Rundfahrt klopfte mir ein älterer Herr auf die Schulter. »Wo sind Sie denn her, junger Mann?«, fragte er mich in feinstem Schwäbisch.

»Aus Leipzig«, antwortete ich.

»Da habt ihr es den Kommunisten aber gezeigt«, sagte er, drückte mir einen Fünfzig-D-Mark-Schein in die Hand und ging weiter.

Diese Stadt war genau mein Ding!