Vor Zeiten gab es einen Tischler, der hatte zwei Söhne: Marian und Konrad. Konrad aber liebte er mehr als Marian.
Über fünfzehn Jahre waren vergangen, seitdem der Tischler mit seiner Familie in die Stadt am Meer gekommen war. In dieser Zeit hatte er sich mit seiner Frau gestritten und wieder versöhnt, seine Söhne waren herangewachsen und er selber hatte viele Jahre in der Tischlerei gestanden und gearbeitet. Einige Jahre war er im Krieg gewesen, im großen, der sich über die Welt gezogen hatte, und diese Jahre waren mächtiger gewesen als die Jahre daheim bei seiner Familie. Als er aus dem großen Krieg wieder zurückgekommen war, mochte er kaum noch ein Wort sprechen, und es gab Tage, da er gar nicht hoch in die Wohnung kommen wollte, sondern es vorzog, in der Werkstatt zu bleiben. Seine Frau Magda hatte ihn mehrmals gefragt, ob er vielleicht lieber zurück auf das Land zöge, wo es Ruhe gab und Frieden, aber er hatte nicht geantwortet, sondern nur den Kopf gehoben und gesagt: Friede, Weib, den gibt es nirgends.
So waren die Mischas in der Stadt geblieben, der einzigen Welt, die Marian und Konrad sich vorstellen konnten, einer dichtgedrängten Welt aus Backstein, dem Kreischen der Möwen, dem Rattern und Schnaufen der Züge auf dem Güterbahnhof, den gebrüllten Befehlen, die vom Gelände der Kaserne aufstiegen, dem Klappern der Droschken, den Schreien der Marktfrauen, dem Kreischen der Katzen, die sich über das Kopfsteinpflaster der Altstadt jagten, und schließlich dem Glockengeläut, das, je nach Windstärke, mal ohrenbetäubend laut, mal entfernt und leise von den Kirchen herüberklang. In der Schule blickten Marian und Konrad mitleidig herab auf die Kinder, die jeden Morgen mit der Bahn aus den umliegenden Dörfern in die Stadt fahren mussten: Nach Heu rochen die, nach der Leibeswärme von Tieren und Großmüttern, nach Schlaf und nach frischer Milch, die sie in kleinen Kannen dem Lehrer mitbrachten.
Jedes Mal, wenn ihre Mutter ihnen etwas von ihrer ursprünglichen Heimat draußen im Wald erzählen wollte, vom Fluss und dem Wassermann, der in ihm wohnte, liefen sie rot an und kratzten sich hinter den Ohren: Ihre Scham und Bestürzung über ihre Herkunft gehörten zu den wenigen Dingen, die sie verbanden. Konrad war mittlerweile größer als sein Vater, dürr und mit braunem, drahtigem Haar. Marian hingegen geriet nach seiner Mutter, rundlich, mit weichem Gesicht, hellen Locken und Sommersprossen. In der Schule und während der langen sommerlichen Nachmittage war Konrad stets umgeben von mehreren Halbstarken aus der Nachbarschaft, der Kompanie. Konrad überragte alle und hatte sich einen scharfen Tonfall angewöhnt, wie er ihn aus der Kaserne ein paar hundert Meter weiter gehört hatte. Ihm selber und den anderen imponierte es sehr, wenn sie nach der Schule nach Hause gingen und Konrad sagen hörten: Plan für heute Nachmittag! Kosmowski, Butterbrot! Scheile, zeitig einfinden! Schmidt und Grynberg, bereithalten!
Zur Kompanie gehörten mal fünf, mal sechs, mal acht Mitglieder, je nach Konrads Launen und Bedürfnissen. Nur ein Junge war zugleich immer und doch nie Mitglied der Kompanie: Marian, der sich mit seinen zarten Händen stets verletzte, wenn die Kompanie eine Hütte baute, der sich eine Lebensmittelvergiftung zuzog, wenn sie eine Delikatesse aus dem Mülleimer einer Schänke herausgefischt hatten, und der eine Lungenentzündung bekam, wenn sie eine Nacht draußen im Freien verbrachten.
Die anderen Mitglieder stöhnten, wenn sie sahen, dass Marian auf sie zugetrabt kam, aber Konrad zuckte nur mit den Schultern. Keiner von ihnen mochte ihn leiden, sein Lächeln und seine hellen Augen verwirrten sie, und selbst Konrad sprach kaum mit seinem Bruder, wenn er bei der Kompanie war. Er duldete ihn nur, weil er wusste, was sonst mit Marian geschehen würde: Die Kompanien der anderen Viertel würden ihn aufgreifen, an einen geheimen Ort entführen und ihm Moos und Steine in den Mund stopfen, so wie es schon einmal geschehen war. Damals hatte nicht nur Marian, sondern auch Konrad Prügel vom Vater dafür bekommen, dass so etwas hatte geschehen können. Seitdem wurde Marian bei den Streifzügen geduldet.
Es war an einem Tag im Herbst, dass Konrad ohne seine Kompanie im Innenhof bei der Hundehütte saß und den Schäferhund streichelte. Er schien auf etwas zu warten, immer wieder ging sein Blick hinaus zur Pforte, glitt auf die Straße und wieder zur Pforte. Der Hund hechelte, legte seinen Kopf in Konrads Schoß und hob ihn erst wieder, als Marian über den Hof kam. Marian hielt etwas in der Hand, das Konrad erst erkannte, als er vor ihm stehen blieb. Sofort ließ er den Hund los und stand auf.
Vaters Bernstein.
Er nahm den Anhänger an seiner Silberkette aus Marians Hand, in der Sonne glühte er auf. Im Gegenlicht war deutlich das winzige Körperchen der Spinne zu erkennen. Ihre Beine waren so verrenkt und nach vorne gerichtet, als hätte sie noch im letzten Moment versucht, den Harztropfen von sich zu schieben.
Was machst du damit?
Er hat ihn mir geschenkt, stell dir vor.
Marians Wangen waren vor Aufregung rot geworden, Schweiß glänzte auf seiner Stirn, wie immer, wenn er dem Vater begegnet war. Es war das erste Mal gewesen, dass der Vater ihm etwas geschenkt hatte, und zwar ausdrücklich ihm und nicht Konrad. Das hatte er ihm richtig eingebleut: Das, Marian, ist dein Anhänger, du bist sein nächster Träger, und du darfst ihn unter keinen Umständen abgeben. Hörst du, er darf nicht in Konrads Hände gelangen. Marian hatte zwar nicht begriffen, warum er ihn Konrad nicht einmal ausleihen durfte, hatte sich aber so über das Geschenk gefreut, dass er sich nicht getraut hatte nachzufragen.
Du wirst ihn doch nicht etwa tragen? In Konrads Kopf rotierte es. Er wusste, dass sein Vater ihn bevorzugte, er gab ihm sogar heimlich Geld, ohne der Mutter oder Marian etwas davon zu sagen. Warum hatte also nicht er den Stein bekommen? Er war schließlich der Ältere und der Stein ein Erbstück …
Klar werde ich ihn tragen, sagte Marian, nahm seinem Bruder die Kette aus der Hand und legte sie sich um den Hals. Stolz hatte es ihn gemacht, dass sein Vater ihn wenigstens einmal dem Bruder vorgezogen hatte, so stolz, dass er sich gar nicht gewundert hatte, warum Konrad alleine im Innenhof saß. Auch dass neben ihm ein Säckchen mit Nägeln und mehrere Hämmer lagen, fiel Marian erst jetzt auf. Schon wollte er fragen, wo denn die Kompanie sei, da schien ihm etwas einzufallen. Plötzlich sah er Konrad ungläubig an, rieb sich die Stirn, auf der erneut der Schweiß schimmerte, und stöhnte leise auf.
Was ist, fragte Konrad und wog in seinen Händen ein paar Nägel, aber Marian antwortete nicht. Unentwegt hielt Marian den Blick auf seinen Bruder gerichtet, so lange, bis Konrad ihn zur Seite schubste und ihn fragte, ob Marian seine Zunge verschluckt habe. Dann nahm Konrad das Säckchen und die Hämmer, warf einen letzten Blick auf den Bernstein an Marians Hals und lief aus dem Hof hinaus auf die Straße. Warte, wollte Marian rufen, aber seine Stimme versagte, ganz so, als hätte er tatsächlich seine Zunge verschluckt. Als er wieder zu sich kam und zur Pforte rannte, war Konrad bereits um die Ecke gebogen und nicht mehr zu sehen.
Er setzte sich auf die Stelle, an der Konrad vorher gesessen hatte, und fragte sich, wohin sein Bruder wohl gegangen sein mochte. In den letzten Tagen hatte es in der Kompanie keine neuen Pläne mehr gegeben, vielleicht hatte man sie Marian verheimlicht. Aber vorhin, als er Konrad angesehen hatte, stand ihm ein sonderbares Bild vor Augen: eine einsame Hütte im Wald, von der niemand etwas wusste, in die jemand heimlich Lebensmittel, Decken und Süßigkeiten geschafft hatte, und mittendrin Konrad, der die Hütte sorgfältig herrichtete und immer wieder innehielt, um sie zu betrachten. Sogar eine Kerze, die er der Mutter gestohlen haben musste, stand auf einer kleinen Kiste und flackerte auf, als Konrad sie anzündete.
Plötzlich lachte Marian, denn er wusste, wo sein Bruder war. Als der Vater zurück in die Werkstatt gegangen war, stand er auf und machte sich auf den Weg hinaus in den Forst, dorthin, wo er die geheime Hütte vermutete.
Marian erkannte Konrad schon von weitem. Die Hütte war zwar von einer Gruppe junger Buchen verdeckt und lag etwas abschüssig an einem Hang, aber Konrad kam immer wieder herausgelaufen, zog die Decke zurecht, die er als Eingangstür angebracht hatte, und dichtete mit einer Handvoll Moos die Ritzen zwischen den Balken ab. Sein Fluchen, wenn er auf ein paar nassen Buchenblättern ausrutschte, war weithin hörbar. Als Marian sah, wie klein die Hütte war, wusste er, dass er mit seiner Eingebung richtig gelegen hatte: In diese kleine Hütte konnte unmöglich die gesamte Kompanie hineinpassen, diese Hütte bot höchstens Platz für zwei.
Die Hände fest gegen den Mund gepresst, kauerte Marian hinter einer mit Efeu bewachsenen Holzbank und dachte daran, wie sich die Jungs aus den höheren Klassen anstrengten, den Mädchen nahezukommen. Wie sie ihnen nachgingen, vor ihrer Schule standen und ihnen Limonade anboten, Wochen, Monate konnte sich das hinziehen, bis ein Mädchen nachgab und sich küssen ließ. Marian dachte an seinen Bruder, wie unbeholfen er immer tat, wenn etwa Lilli oder Agnieszka aus der Nachbarschaft bei ihnen im Hof erschienen, und da tat er ihm leid. Marian wusste, wie man mit Mädchen zu reden hatte, wie man sie zum Lachen brachte, schließlich hatte er, bevor sein Bruder ihn aufgenommen hatte, die meiste Zeit bei ihnen verbracht, und die Mädchen hatten mit seinen blonden Locken gespielt und ihm Blumen hinter die Ohren gesteckt. Ganz anders Konrad: Der kannte nur den Umgang mit den Mitgliedern der Kompanie. Aber war er nicht sein Bruder, und hatte er ihn nicht immer vor den anderen Kompanien beschützt?
Als Konrad sich von der Hütte entfernte, beschloss Marian, seinem Bruder etwas auf die Sprünge zu helfen. Er hob einen Ast vom Boden auf, entfernte die Seitentriebe und ging hinüber zur Hütte. Vorsichtig umkreiste er sie, den Ast auf dem Boden, und fuhr immer wieder eine Linie nach, die er zwischen das Laub in die Erde ritzte. Dreimal umzog er die Hütte, dann stellte er sich vor den Eingang und lächelte zufrieden.
Heinz Segenreich war der stärkste Junge der Kompanie. Kaum zwei, drei Schläge brauchte er, damit Konrad Mischa bewusstlos ins Gras zwischen den Buchen fiel. Aber wie hatte das auch ausgesehen: Um das neue Hauptquartier der Kompanie hatte sich ein riesiges Herz gerankt, noch dazu durchbohrt von einem Pfeil! Die Spitze hatte direkt auf ihn, Heinz Segenreich, gezeigt, als er mit Konrad zur Hütte gekommen war. Konrad war sofort errötet, tat überrascht, schockiert, aber da war es schon zu spät.
Als Marian sich am Abend wieder nach Hause traute, war Konrad bereits von der Mutter verarztet worden und würdigte seinen Bruder keines Blickes. Die Eltern sollten nie ganz begreifen, was die Brüder derart hatte entzweien können: Nie wieder sahen sie sie miteinander reden, Fußball spielen oder zusammen zum Meer fahren. Auch verschwiegen sie ihnen, was Konrad zugestoßen war oder warum Marian sich so lange versteckt hatte: Magda war zu erschrocken, und Kazimierz war es halbwegs egal gewesen, auch wenn er das vage Gefühl nicht abschütteln konnte, dass es ein Fehler gewesen war, Marian den Anhänger zu schenken.
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Wenige Wochen nach Kingas Ankunft in der Stadt hatten sich bereits herbstliche Nebel vom Fluss gelöst, waren in die Gassen der Innenstadt gedrungen und bereiteten die große Kälte vor. Auf den Straßen und in den Parks, die an den Resten der Stadtmauer entlangliefen, ließen sich immer weniger Menschen sehen, so dass man meinen konnte, einer jener Schicksalsschläge habe die Stadt heimgesucht, zu denen sie seit Jahrhunderten neigte; seien es Seuchen, Kriege oder die Verschiebung von Staatsgrenzen. Dabei war es nur der Herbst, der alles Leben in Häuser, Cafés, Geschäfte und Salons verbannte.
Zwei frierende Touristen drängten sich auf der Brücke über dem Fluss zusammen, um ein Foto zu schießen. Das Wasser unter ihnen lag so regungslos da, als sei es aus Blei gegossen. Das Geländer der Uferpromenade, vor noch gar nicht langer Zeit Rückgrat der Fisch-, Schmalzbrot-, Edelsteinbäumchen-, Buddelflaschen- und Luftballonverkäufer, der Handleser und Kunstmaler, diente nun einzig als Befestigung für Plakate und Ankündigungen von Shows, Konzerten und Attraktionen aller Art. Für die kleinste Veranstaltung ließ sich dort ein Poster oder ein Zettel finden, der sie anpries und ihre Qualität lobte, der jedem Besucher ein Freigetränk oder zumindest eine Vergünstigung versprach, immerfort wurde etwas eröffnet, demnächst geschlossen, feierte Jubiläum oder war neu entworfen worden.
Trotz des Windes, der jetzt aufgekommen war, entschieden sich die zwei Touristen für einen Spaziergang die Uferpromenade hinunter. Vor einigen Plakaten blieben sie stehen, griffen mit eisigen Fingern nach Abreißzettelchen und eilten weiter. Was sie nicht wussten und nicht wissen konnten: In der Stadt gab es zu jener Zeit nur eine einzige sehenswerte Show, und ausgerechnet die sah von jeder Form der Werbung ab. Kein Plakat, kein Handzettel, auf dem jemals gestanden hätte, dass Mayas Varieté geöffnet habe und seine Artisten präsentierte, kein Wort von dem Spielort zwischen Stadtmauer und Schnellstraße, nein.
Das war Teil des Geschäftskonzepts: das Collegium Obscurum, wie sich das Varieté etwas hochtrabend nannte, war darauf angewiesen, dass die geladenen Gäste sich in einem exklusiven Rahmen wähnten, als Teil einer verschworenen Gemeinschaft, die gelegentlich zusammenkam, um etwas Ungeheuerlichem beizuwohnen. Jene Ungeheuerlichkeiten wurden von Maya sorgfältig ausgesucht und so lange mit ihren Künstlern einstudiert, dass es tatsächlich aussehen musste, als geschähe vor den Augen des Publikums etwas Übernatürliches, etwas, das sie Mal um Mal eine dreistellige Summe entrichten ließ.
Kingas Mitbewohnerin Renia gehörte zum festen Kern des Ensembles, ihre Darbietung war unbestritten der Höhepunkt jedes Abends. Mit ihrem zarten, langen Hals und ihrer filigranen Figur hätte sie zwar auch als Schauspielerin oder Balletttänzerin des Stadttheaters arbeiten können, aber mit der verblüffenden Darstellung eines Mediums in Trance verdiente sie wohl mehr, als jeder Theaterschauspieler sich je erhoffen könnte.
Der feste Kern des Künstlerensembles wurde dann und wann ergänzt von Gästen, deren Auftritte die Show abwechslungsreich und unvorhersehbar machten. Hätte es eine bessere Möglichkeit für Kinga geben können, in der Stadt zu bleiben und Renia so nah wie möglich zu sein? Kaum dass sie erfahren hatte, wo Renia arbeitete, setzte sie alles daran, Maya davon zu überzeugen, dass auch sie schauspielerische Fähigkeiten besaß, die das Collegium bereichern würden. Hatte sie, Kinga, etwa nicht monatelang am Stadttheater einer respektablen norddeutschen Universitätsstadt gearbeitet, jeden Sommer in den Semesterferien, und hatte dort, nebenbei quasi, eine Performance entworfen, die jeden, aber auch wirklich jeden davon überzeugen musste, dass sie, Kinga, Gedanken lesen könne?
Wie ein Wink des Schicksals musste es ihr vorgekommen sein, dass sie nun ausgerechnet mit diesem Taschenspielertrick ihren Unterhalt verdienen konnte, dass es tatsächlich jemanden zu geben schien, der bereit war, dafür Geld auszugeben. Kurze Zeit nach ihrem ersten Treffen mit Maya wurde sie eingeladen, sich eine Vorstellung im Collegium Obscurum anzusehen, und nach ein paar Proben im engen Kreis kam der Tag, an dem Kinga vor Publikum auftreten sollte.
Es dämmerte bereits, als Renia und Kinga die unscheinbare Tür des Varietés passierten und kurz vor dem Vorhang stehen blieben, der den Eingangsbereich vom Zuschauerraum abschirmte. Kingas Hände krampften sich schweißnass um die Henkel der Plastiktüte, die sie mit sich trug. An diesem Abend, dachte sie, würde sich ihre nähere Zukunft entscheiden; für diese Vorstellung hatte sie nicht nur ihrem Onkel eine Abfuhr verpasst, der sie in eine der Spelunken am Hafen mitnehmen wollte, sondern auch ihrer Tante erzählt, sie habe Migräne und könne sich vorerst nicht vom Fleck bewegen. Sie konnte nicht verhehlen, dass sie deswegen ein schlechtes Gewissen hatte: Tante Bronka, wie sie sie mittlerweile nannte, hatte in den letzten Wochen kaum eine Gelegenheit ausgelassen, ihre neue Nichte zum Kaffee einzuladen und sie so lange mit selbstgebackenen Keksen und Biskuitrollen zu traktieren, bis beide Seiten eine gewisse Sympathie füreinander entwickelt hatten und der Zwischenfall mit den kaschubischen Gänsen schließlich in Vergessenheit geraten war.
Die Härchen des dunkelroten Brokatvorhangs reflektierten das Licht der Glühbirne, die an der Decke des Vorraums hing. Eine weiße Motte stob auf, als die Tür hinter Renia und Kinga langsam ins Schloss fiel und einen letzten Luftzug durchließ. Nackter Beton, an den Wänden wie auf dem Boden. Bis auf einen Schaltkasten und einen Feuerlöscher war der Raum leer. Gedämpfte Stimmen waren zu hören, jemand räusperte sich. Obwohl Kinga bereits alle Künstler vom Sehen kannte und mehr als einmal an diesem Ort gewesen war, hätte sie am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht. Schließlich gab sie sich einen Ruck und zog den Vorhang so zur Seite, dass Renia als Erste hindurchschlüpfen konnte.
Im Zuschauerraum war es dunkel. Es roch nach verloschenen Wunderkerzen und einem Aftershave mit Moschusnote. An irgendetwas erinnerte Kinga dieser Geruch – hatte ihr Vater ein ähnliches Aftershave benutzt? Kinga wischte ihre Handflächen an der Hose ab. Noch war keiner der geladenen Gäste eingetroffen. Vor ihr, im Halbkreis, gruppierten sich etwa hundert gepolsterte Stühle um die Bühne. Dazwischen standen kleine Tische mit Aschenbechern, Notizbüchern, Gläsern und Schreibtischlämpchen. Die Bühne selber maß kaum zehn Quadratmeter, sie war gerade groß genug, um ein, zwei Personen und ein paar Requisiten zu beherbergen. In ihrer Mitte stand ein Kleinwüchsiger im Frack, der seinen Zylinder abnahm und sich verbeugte, als Kinga ihm ein schüchternes Hallo, Przemek zurief.
Auf dem Weg zur Tapetentür, die nach hinten in die Umkleideräume führte, stieß sie mit einem Mann zusammen, dessen Name ihr partout nicht einfallen wollte. Wenn sie sich richtig erinnerte, handelte es sich um etwas Italienisches, aber ganz sicher war sie sich nicht. Auch er war elegant gekleidet, sein schütteres Haar penibel nach hinten gekämmt. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass er ein Glasauge hatte.
Ihr seid spät dran, sagte er. Die Demoiselle pflegt heute schlechte Laune zu haben. Besser, ihr zieht euch um. In zwanzig Minuten geht es los.
Maya trug an diesem Abend eine schwarze Perücke, um deren korrekten Sitz sie sich verblüffenderweise kaum scherte. Als das Publikum einströmte, thronte sie bereits auf der Bühne. In der einen Hand hielt sie eine Elfenbeinspitze mit Zigarette, in der anderen einen Martini. Vorsichtig führte sie das Glas zum Mund. Als alle saßen, stand sie auf und begann zu reden. Sie wirkte gelangweilt, so sehr, dass sie nicht einmal Tilmann Kröger bemerkte, der in der ersten Reihe Platz genommen hatte und ihr unauffällig zuwinkte. Kaum dass er den Saal betreten hatte, hatte sich Kinga in den Sessel neben ihn gleiten lassen. Sie war so nervös, dass sie ihn nicht sofort erkannte. Trotz der aufgeplatzten Äderchen auf ihren Wangen, dem jungenhaften Kinn und dem nachlässig hochgebundenen kastanienbraunen Haar, wirkte sie beinahe attraktiv. Das Kleid allerdings, für das sie sich entschieden hatte, hing schief an ihren Schultern herunter und entblößte ihre kräftigen Oberarme. Angestrengt blickte Kinga zu Demoiselle Maya hinauf.
Da seid ihr also, liebe Interessengemeinschaft des Absonderlichen. So pünktlich wie ihr seid, ist euch wohl einmal die Woche noch zu selten, was? Oder zu kurz? Vielleicht würdet ihr am liebsten die ganze Nacht hier bleiben und Maulaffen feilhalten, euch ergötzen am Nichtverstehen?
Während Maya an ihrer Spitze zog und den Rauch in Richtung der ersten Reihe blies, runzelte Kinga ihre Stirn. Die Ansprache schien ihr unangenehm zu sein, sie drehte sich um und blickte in die Gesichter der Zuschauer hinter sich, als suchte sie Bestätigung für ihre Irritation. Nirgends zeigte sich die kleinste Regung. Man kannte Demoiselle Mayas Kapriolen zur Genüge.
Wie dem auch sei. Das Collegium ist um eine Disziplin reicher geworden. Begrüßt mit mir zusammen Kinga, die eure Gedanken lesen und euer Bewusstsein entschlüsseln wird, der keine Ecke eurer Gedanken fremd sein wird, die euch besser kennen wird als eure eigene Mutter.
Kinga stand kurz auf, ein paar Leute klatschten. Das Blut schoss ihr in die Wangen. Sie schien erleichtert, als Maya weiterredete und sie sich wieder setzen durfte.
Aber bevor wir zu Kinga kommen, liebe Zweiflergemeinde, darf ich die Üblichen auf die Bühne bitten. Przemek und Mario haben etwas Erbauliches vorbereitet. Das kennt ihr ja schon, das mögt ihr, was unterhält, gefällt, also … Applaus für das ungleiche Paar!
Während das Publikum klatschte, diesmal etwas länger als zuvor, knickste Demoiselle Maya grazil, setzte sich wieder in ihren Sessel und steckte eine neue Zigarette in ihre Spitze.
Auf der Bühne hatte Mario einen kleinen Tisch aufgebaut, der ihm selber gerade bis zu den Knien reichte. Przemek verbeugte sich, nahm seinen Zylinder ab und legte ihn auf das Tischchen. Mario trat einen Schritt zur Seite.
Und was machst du jetzt? Zauberst du uns ein Häschen aus deinem Hut?
Er lachte, aber Przemek und Demoiselle Maya verzogen keine Miene. Przemek fuhr mit seinen Armen mehrmals über den Hut. Als er ihn schließlich vom Tisch hob, lag dort ein Krötenpärchen.
Da hast du’s, sagte Przemek, nahm eine der Kröten und warf sie hoch zu Mario. Der fing sie auf, aber als er seine Hand wieder öffnete, war sie verschwunden. Ist das alles, was du heute mitgebracht hast? Demoiselle Maya rollte im Hintergrund mit den Augen und blies Rauchringe an die Decke.
Ach so? Sind wir heute anspruchsvoll? Na, dann verändern wir das Ganze doch ein bisschen … Przemek sprang von der Bühne, ging durch die Reihen – die Schöße seines winzigen Fracks schleiften auf dem Boden – und blieb vor einem der hinteren Sessel stehen. Ein Herr saß da, der seinen Hut vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Scheinwerferlicht richtete sich auf den Herrn, auf dessen Stirn sofort der Schweiß perlte.
Wenn ich mir Ihren hochverehrten Hut einmal ausborgen dürfte? Es ist ja, wie Sie wissen, für einen guten Zweck. Przemek nahm den Hut vom Tisch, überlegte es sich im selben Moment anders, legte ihn nochmals ab, und als er ihn wiederum anhob, blieb auf dem Tisch eine Krähe zurück, die gerade eine Walnuss zu ihrem Schnabel führte. Jemand lachte, es wurde applaudiert. Die Krähe ließ die Nuss fallen und flog auf, wollte zum Vorhang, schien es sich aber mitten im Flug anders überlegt zu haben und nahm Kurs auf die Bühne, wo sie sich auf Demoiselle Mayas Schulter niederließ. Die zuckte zwar zusammen, verzog aber keine Miene.
Przemek stieg auf das Tischchen – so reichte er Mario bis zu den Schultern – und blickte konzentriert in das Publikum.
Der junge Herr da hinten hat sich gerade ein Glas Wasser eingeschenkt, sehe ich das richtig? Ein Scheinwerfer wurde nach hinten gedreht, der angesprochene Mann in der vorletzten Reihe nickte verdutzt. In der Hand hielt er noch die Wasserflasche, auf deren Etikett ein paar verschneite Gipfel zu sehen waren. Würden Sie mir für einen Moment in die Augen schauen? Wahlweise können Sie sich auch auf Mario konzentrieren. Bitte schön.
Der Mann in der vorletzten Reihe blickte sich unsicher um, rückte etwas vom Tisch ab, schaute dann wieder zur Bühne. Die Gäste in ihren Sesseln hatten sich umgedreht, um besser zu sehen, in der vordersten Reihe war sogar jemand aufgestanden, um freien Blick zu haben. Eine Minute verging, nichts passierte.
Dann räusperte sich der Zwerg, verbeugte sich und stieg vom Tischchen. Das Publikum schaute zur Bühne, bis der Mann in der vorletzten Reihe laut hörbar nach Luft schnappte und von seinem Sessel hochfuhr. Der Scheinwerfer zeigte noch immer auf seinen Tisch, die Wasserflasche und das Wasserglas – in dem, anstelle des eingegossenen Wassers, ein solider Eisbrocken lag. Mario gähnte, bevor er das Geschehen kommentierte.
Und das soll jetzt große Kunst sein? Man kann ja gar nichts erkennen. Also, jedenfalls ich nicht. Großartiger Effekt, wirklich.
Als Demoiselle Maya das Eis sah, ließ sie für einen kurzen Moment ihre Zigarettenspitze sinken. Dann führte sie sie abermals zum Mund, vergaß aber, daran zu ziehen.
Her mit dir! Mario stieß seinen Arm nach vorn, und noch bevor sein Schrei verklungen war, landete das Glas mit einem saftigen Schmatzer in seiner Hand, quer durch den Raum war es geschnellt, über die Köpfe der Gäste hinweg. Er wog es in seiner Hand, klopfte mit dem Daumen dagegen. Tatsächlich, Eis. Nicht schlecht.
Meinst du, das reicht für heute?
Davon gehe ich aus.
Przemek trat vor, sie nahmen einander bei der Hand und verbeugten sich.
Die Gesichter des Publikums waren unbezahlbar. Manchen stand der Mund offen, und selbst die Hartgesottenen, die sonst jeden Trick durchschauten, rieben sich die Nasen und waren ratlos. Einzig Tilmann Kröger saß mit verschränkten Armen da und hatte sich nicht täuschen lassen. Lächelnd schüttelte er seinen Kopf, während er eine Frau betrachtete, die sich mit einem Notizheft Luft zufächelte, als würde sie gleich ohnmächtig werden. Kinga neben ihm schien kaum noch etwas von der Vorführung zu registrieren, so beschäftigt war sie damit, an ihren Fingernägeln zu kauen und auf den Fußboden vor sich zu stieren. Als das Publikum endlich anfing zu applaudieren, schaute sie hoch und klatschte ein paar Mal in die Hände. Dabei blickte sie an der Bühne vorbei zum Seiteneingang. Es war offensichtlich: Nicht das Publikum war es, das Kinga unter Druck setzte, oder die Aussicht, gleich selber auftreten zu müssen, sondern einzig die Tatsache, dass sie es nicht erwarten konnte, Renias Auftritt zu erleben. Besorgt sah sie aus, wie sie da saß, ganz, als ob sie wirklich um Renias geistige Gesundheit fürchten würde, als ob sie nicht verstanden hätte, dass Renia auf der Bühne eine Rolle spielte, die Teil der Show war.
Tilmann Kröger beugte sich vor und tippte sie an. Kinga zuckte zusammen, nahm dann aber die Hand, die Kröger ihr reichte, und schüttelte sie. Für einen Moment sah es so aus, als wolle sie etwas sagen, dann aber begnügte sie sich mit einem Nicken. Ihr Kopf drehte sich wieder zur Bühne, wo Mario sich umständlich über das Haar strich, das kleine Tischchen wegräumte und an dessen Stelle einen dicken Perserteppich auf der Bühne ausbreitete. Als er sie verlassen hatte und sich endlich – nach einer kurzen Ankündigung Mayas – die Seitentür öffnete, beugte Kinga sich so weit vor, dass sie beinahe aus dem Sessel gefallen wäre.
Zuerst sah man nur einen Schatten, dann das schwerfällige Etwas selber, das sich hin zur Bühne schleppte. Barfuß war die Person, die da ging, ein dunkles, sackartiges Kleid trug und mit glasigem Blick die Bühne abtastete. Renia.
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Die gealterte, träge Person, um die es sich dort handelte, war auf keinen Fall Renia. Beinahe hätte ich laut aufgelacht. Von diesem Clou hatte mir niemand erzählt: dass man Renia hinter der Bühne austauschte, einfach jemand anderes hinausschickte und das Publikum glauben ließ, es sei immer dieselbe, die auftrat. Was im Grunde sehr vernünftig war, dachte ich: Bei so vielen Vorstellungen, die Renia in letzter Zeit im Collegium gegeben hatte, müsste sie sich schon längst verausgabt haben, aber diese Wendung erklärte ihre noch immer einigermaßen gute Verfassung.
Natürlich hatte sich die Frau auf der Bühne Renias Kleid angezogen, damit es ganz so aussah, als handele es sich wirklich um die Frau, die vorher noch mit ein paar Gästen aus dem Publikum geplaudert hatte. Selbstverständlich hatte auch sie lange, braune Haare, war schlank, fast mager – aber dieses Gesicht gehörte einem anderen, viel älteren Menschen. In die blasse, ölig glänzende Haut hatten sich Falten gegraben, die Augenbrauen waren eng zusammengezogen, der Mund merkwürdig verzerrt.
Das ist doch nicht Renia, sagte ich zu Kröger, der sich auf einen für die Künstler frei gehaltenen Sessel gesetzt hatte. Renia hatte mich vorgewarnt, dass ich ihn wohl früher oder später im Varieté antreffen würde – in einer Kneipe hatte er Mayas Bekanntschaft gemacht und war schließlich geladener Gast des Varietés geworden. Diese Stadt, Kinga, hatte sie gesagt, ist so klein, dass man irgendwann jeden Bewohner doppelt und dreifach kennt. Kröger nickte energisch, als wolle er meinen Gedankengang bestätigen.
Doch, doch, sagte er. Es ist ganz erstaunlich, nicht wahr? Ganz große Schauspielkunst. Sie wirkt völlig weggetreten. Wenn man es nicht besser wüsste …
Merkwürdig begriffsstutzig kam er mir vor, aber bevor ich ihm klarmachen konnte, dass Renia wohl kaum schauspielerte, wenn sie auftrat, öffnete die Person auf der Bühne ihren Mund, und Renias Stimme erklang. Etwas kraftlos und monoton, aber es war einwandfrei Renias Stimme, und wenigstens in diesem Punkt hatte Kröger also recht gehabt.
Renia räusperte sich und sagte, dass man sie vor der Vorstellung gebeten habe, ein kürzlich verstorbenes Mütterchen herzuholen. Diesem Wunsch würde sie versuchen zu entsprechen.
Ganz still war es im Zuschauerraum geworden, niemand hustete mehr, niemand schnäuzte sich, keiner scharrte mehr mit den Füßen oder schrieb mit nervtötend kratzendem Kugelschreiber in sein Notizbuch. Alle Aufmerksamkeit war auf Renia gerichtet, die sich auf den Teppich gleiten ließ und die Augen schloss. Minuten vergingen, in denen nichts geschah. Schließlich aber formten Renias Lippen erst ein O, verharrten kurz, als müssten sie sich besinnen, wie man sprach, und entspannten sich schließlich wieder. Renia fing an zu reden.
Die Gurken waren noch überhaupt nicht sauer. Das weiß ich ganz bestimmt. Keine zwei Tage haben die in der Lake gelegen.
Die Stimme, die aus Renias Mund kam, klang rau und laut, wie zu jemandem gehörend, der es gewohnt war, sich durchzusetzen und alle anderen zu übertönen. Als die ersten Sätze verklungen waren, stand jemand aus dem Publikum auf und kam an den Bühnenrand. Es war ein älterer Herr mit schweißglänzender Halbglatze. Bevor er die Bühne erreichte, hielt Mario ihn fest und setzte ihn auf seinen eigenen Platz in der ersten Reihe. Er selber blieb neben ihm stehen und klopfte ihm kurz auf die Schulter.
Ihre Mutter?
Der Mann nickte und wurde noch eine Spur blasser.
Was hat die Rychterowska mit ihren halbvergorenen Gurken auf dem Stand überhaupt zu suchen gehabt? Mittwochs gehörte er mir, dass wusste sie ganz genau. Die Rychterowska mit ihren alten Eiern und dem welken Dill, die verdient doch, dass man ihr den Stand unter dem Hintern wegverkauft, hörst du, wegverkauft! Und ihr das Lästermaul stopft mit dem dämlichen Grünzeug, das sie beim alten Grabowski gestohlen hat. Jawohl, aus dem Pfarrgarten hat sie’s genommen!
Renia verstummte. Noch immer herrschte Grabesstille im Publikum, nur das schwere Atmen des Mannes auf Marios Platz war zu hören.
Hatte Renia noch vor einem Moment halbwegs gerade dagesessen, mit weit aufgerissenen Augen und gespreizten Händen, so war es nun, als hätte jemand die Luft aus ihr herausgelassen. Mit hängenden Schultern, Hohlkreuz und eingefallenen Wangen wartete sie darauf, dass Mario auf die Bühne kam, um ihr aufzuhelfen. Halb stützte er sie, halb trug er sie, und es kam mir vor, dass das Publikum diesen Teil abgewartet hatte, als gehöre er zur Darbietung dazu – denn erst danach, als Renia schon längst in der Umkleide verschwunden war, begannen die Ersten zu applaudieren.
Als Mario wieder im Zuschauerraum erschien, hielt ich es nicht länger auf meinem Sessel aus. Ich musste wissen, wie es Renia ging. Kein Wunder, dass sie so dünn war, so ausgemergelt, wenn sie diese Tortur mehrmals pro Woche über sich ergehen lassen musste. Erbost dachte ich, dass Maya die Leute ausbeutete, Mario, Przemek, vor allem aber Renia, sie wie Zirkustiere vorführte und sich nicht darum scherte, wie es ihnen nach den Vorführungen ging. Gerade war ich aufgestanden, da spürte ich, wie Kröger mich zurückhielt.
Die kommt schon wieder, sagte er und lächelte. Nimm lieber einen Drink. Gleich bist du an der Reihe.
Ich blinzelte und setzte mich. Wie sollte ich an diese Darbietungen anschließen können? Für einen Moment vergaß ich Renia und hoffte, Maya würde mit mir auf der Bühne bleiben und irgendwie die Aufmerksamkeit von mir ablenken, einfach so lange weiterreden, bis mich das Publikum gar nicht mehr beachtete. Das Licht war im Zuschauerraum erst angegangen, dann sofort, nach einem allgemeinen Murren, gedimmt worden. Einige der Gäste drängten mit Zigaretten und Feuerzeugen in ihren Händen zur Tür, andere wiederum bildeten Grüppchen und steckten die Köpfe zusammen.
Pause, sagte Kröger. Und, aufgeregt?
Natürlich war ich aufgeregt. Ich schüttelte den Kopf und antwortete: Nein, woher denn. Dann, um meine Gelassenheit zu demonstrieren, winkte ich Maggie heran, die eigentlich Magda hieß und deren Aufgabe es war, die Gäste mit Drinks zu versorgen. Sie trug ein schwarzglänzendes Corsagekleidchen und einen wippenden Pferdeschwanz, huschte durch die Reihen und reichte uns zwei Martini-Gläschen. Kröger hob das Glas und prostete mir zu. Ob ich mich mit den Myszas eigentlich geeinigt habe, wie mit der Wohnung zu verfahren sei? Immerhin sei das ein ganz besonderer Fall, eine zeiten- und nationenübergreifende Immobilie.
Kurz überlegte ich, ihn zu fragen, was ihn das angehe, dann antwortete ich aber, dass ich die Angelegenheit bald klären würde. Das sei alles, was ich zu dem Thema zu sagen habe.
Ich lehnte mich zurück und betrachtete Kröger, wie er neben mir saß und mit der linken Hand einen hektischen Rhythmus auf seine Sessellehne trommelte.
Schön, schön, sagte er. Ich dachte ja bloß. Und jetzt, da wir uns hier wiedertreffen … Ich bin übrigens ganz gespannt auf deine Darbietung. Hast du lange dafür proben müssen? Es ist bestimmt nicht einfach, sich in ein eingespieltes Ensemble zu integrieren.
Es ist quasi unmöglich zu proben. Meine Darbietung, wie du sie nennst, hängt ganz vom Moment ab. Und vom Publikum. Mit dem, was Mario oder Przemek machen, hat das Ganze wenig zu tun. Das sind Künstler. Ich – ich bin bloß ein einfaches Mädchen aus der norddeutschen Tiefebene. Kröger lachte.
Hinter uns hörte man, wenn die Tür aufging und ein Raucher wieder zurück in den Zuschauerraum fand. Ein Lachen ließ mich stutzen. Ich kam nicht darauf, wem es gehörte, und wurde noch nervöser, als ich ohnehin schon war. Eine tiefe, männliche Stimme war es, die dort draußen mal lachte, mal laut dröhnend etwas verkündete. Kröger stellte mir noch eine Frage, aber ich hörte kaum noch hin. Ich war ganz damit beschäftigt, mich jedes Mal, wenn die Eingangstür ins Schloss fiel, unauffällig umzudrehen. Keiner der Neuankömmlinge kam mir bekannt vor. Mal waren es Ältere, mal Jüngere, generell mehr Frauen als Männer, keine Touristen, aber keines der Gesichter hatte ich vorher bereits gesehen. Als ich schon meinte, dass sich alle bereits wieder auf ihren Plätzen befanden, spürte ich ein letztes Mal den Luftzug von der Tür. Dort, zwischen Vorhang und der letzten Sesselreihe, stand Bartosz Mysza und sah aufmerksam nach vorne.
Er fixierte den leeren Sessel, auf dem Mario gesessen hatte, und bemerkte mich nicht. Erst jetzt, da ich ihn in seiner alten Bomberjacke und den Jeans sah, fiel mir auf, wie elegant die meisten Gäste gekleidet waren: Als hätte man sich für ein Konzert drüben in der Philharmonie fein gemacht. Bartosz hob sich von ihnen ab wie ein Arbeiter, der sich auf dem Heimweg von der Werft ins Varieté verirrt hatte.
Wie hatte er vom Spielort erfahren? Renia hätte mir gesagt, wenn er Gast gewesen wäre. Ob es ihr recht war, dass er sich in eine Vorstellung im Collegium schlich, das wagte ich zu bezweifeln. Kröger zwinkerte Bartosz zu, und da wurde mir klar, wie Bartosz seinen Weg hierher gefunden hatte.
Du hast ihn eingeladen, stellte ich leise fest, aber Kröger tat verwundert und antwortete nicht. Wie sollte ich auf die Bühne gehen, wenn ich wusste, dass Bartosz sich im Publikum befand und alles, was ich tat, spöttisch mitverfolgte? Außer mir schien niemand bemerkt zu haben, dass ein Fremder den Raum betreten hatte. Maggie verteilte noch ein paar Drinks, und bevor ich etwas unternehmen konnte, hatte sich Bartosz in Marios Sessel neben mich gesetzt. Als er mich erkannte, wäre er beinahe von der Sitzfläche gefallen.
Kinga! Was machst du denn hier?
Obwohl er flüsterte, überschlug sich seine Stimme. Auf mich war er anscheinend nicht vorbereitet gewesen. Ich spürte, wie sich mehrere Augenpaare auf unsere Hinterköpfe richteten. Eine ältere Dame mahnte uns zur Ruhe, und so nickte ich Bartosz bloß zu, wollte etwas sagen, das ihn vielleicht bewegen würde, den Raum wieder zu verlassen, aber
der Skorpion hatte gegen die Walzenspinne keine Chance. Eigentlich war das jedem von Anfang an klar gewesen, so ein großes Tier, das noch dazu zur Hälfte aus seinen Beißwerkzeugen bestand, gegen diesen Winzling, komisch, dass Socha so ein kleines Exemplar gefangen hatte, das ganze Camp war voll von größeren Skorpionen, widerlichen, hautfarbenen Kreaturen, die sich in die Stiefel und Betten verkrochen und nur darauf warteten, ihre Stachel in unsere Haut zu versenken. Und wo sie die Spinne aufgetrieben hatten: Keine Ahnung, aber das war das größte Exemplar, das ich während der gesamten Zeit gesehen hatte. Länglicher, dicker Körper, größer als meine Hand samt den Fingern, beinahe transparent, die Beißer dunkelrot verfärbt, das vordere Beinpaar dunkler als die anderen und viel länger, ein Paar Augen, die schwarz glänzten.
Lysiecki gab natürlich damit an, dass er sie selber ausgegraben hatte, na klar, unter irgendeinem Stein hinten bei den Palmen, wer’s glaubt, wird selig, hatte man doch gesehen, was passierte, wenn man versuchte, diese Biester anzufassen, irgendeinem war mal ein Stück Fleisch aus dem Unterarm herausgebissen worden, geblutet hatte das wie nach dem Angriff eines Hundes, und dann musste sich das auch noch entzünden und anschwellen wie ein Ballon. Der Typ war erst mal ausgeschaltet gewesen, die ganze nächste Woche hatte der im Aufenthaltsraum gesessen und Fernsehen geguckt, amerikanische Shows, manche haben ihn bemitleidet, wie er da saß, aber die meisten waren schon neidisch und haben überlegt, wo sie bloß so ein Scheißding herkriegten, das ihnen ein ordentliches Stück vom Arm oder Bein abbiss, aber wirklich getraut hatte sich niemand.
War garantiert Lysieckis Idee gewesen, das Ganze, das traue ich dem zu, krank genug wäre der für so was gewesen, krank und nervös, bestimmt beruhigte den das, zu sehen, wie sich zwei Viecher gegenseitig in der Luft zerrissen, ganz uninteressant war das nicht, aber ein bisschen unfair, das schon, der Skorpion war ja bloß halb so groß wie diese verdammte Spinne. Wie verrückt rannte die in dem Wäschekorb umher, den Lysiecki über sie und den Skorpion gestülpt hatte, man konnte ihr mit den Augen gar nicht folgen, so schnell sind diese Viecher, und dann halten sie an und sind wieder ganz still, als ob ihnen für einen Moment die Puste ausgeht, nur um dann kurze Zeit später wieder loszujagen.
Der Skorpion saß ganz ruhig da, zuckte ab und zu bloß, drehte sich nach der Spinne um, verzog sich in eine Ecke und bewegte den Stachel, genau konnte man das aber nicht mehr erkennen. Socha, Lysiecki und ich lagen zwar auf dem Boden, um alles mitverfolgen zu können, aber die Ecke lag im Schatten, außerdem war der Sand auf der Stelle, an der Lysiecki den Wäschekorb abgesetzt hatte, so hell, dass man kaum Skorpion von Sand unterscheiden konnte, und wie gesagt der Schatten, es war ja schon beinahe abends. Und ausgerechnet, als es losging, als sich die Spinne auf den Skorpion stürzte und ihn mit den Vorderbeinen umklammerte, musste Jarzèbiński aufkreuzen, wahrscheinlich hatte er sich von hinten angeschlichen, um zu prüfen, was es da zu sehen gab, und dann musste er extralaut auf seine Knie fallen, so dass Spinne und Skorpion sich für einen Moment voneinander lösten und innehielten. Jarzèbiński starrte in den Korb hinein, Spinne und Skorpion heraus, alle drei entsetzt, und dann ertönte Jarzèbińskis näselnde Stimme, die etwas von Tierquälerei erzählte und ob wir nichts Besseres zu tun hätten. Der wieder mit seiner Tierliebe, geh doch zurück zu deinen Vögeln, sagte Socha, und Lysiecki sah ihn von der Seite an und fragte, ob er schwul sei, oder was sonst mit ihm los sei, so ein Weichei, bemitleidet einen Skorpion. Jarzèbiński antwortete, dass nur ein wirklich Schwuler Spaß haben könnte an solchen Spielereien, und da wären wir beinahe aufgesprungen, aber in dem Moment fiel der Skorpion die Spinne an, ließ seinen Schwanz auf und ab schnellen, versuchte immer wieder, ihren Körper zu treffen, aber die Spinne war schneller und packte den Skorpion von der Seite und trennte ihm ein paar Beine ab.
Wie still es dabei war, ein ganz stummer Kampf war das, nur ein bisschen Sand wurde aufgewirbelt, das war alles, Herrgott, und hätte ich gewusst, was mit Jarzèbiński passieren würde, hätte ich mich beherrscht, hätte nicht wieder angefangen zu erzählen von den Vögeln und sie und ihn nachzuahmen, als seien sie ein und dasselbe, es war einer der letzten freien Tage, die Jarzèbiński erleben sollte, und wir haben ihn getriezt wie die Spinne den Skorpion, dem Bein um Bein abgekniffen wurde, bevor die Spinne ihn in zwei Hälften zerbiss. Eine gelbliche Flüssigkeit rann aus seinem Körper und versickerte im Sand, widerlich war das, aber besser als Fernsehen. Das einzige Problem war dann das mit der Spinne und wer ihren Korb hochheben sollte, und da klopfte Socha plötzlich dem Jarzèbiński auf die Schulter und sagte, dass er sich einmal nützlich machen könne, er könne doch so gut mit Tieren, und eine Walzenspinne freizulassen sei doch eine ehrenvolle Aufgabe. Eigentlich wollte ich Lysiecki fragen, warum er es nicht selber tat, immerhin hatte er das Tier angeblich gefangen, aber da war Jarzèbiński schon am Korb dran, schob ihn immer weiter zu den paar Steinen, die hinter den Baracken lagen, und als er ganz nah dran war, hob er ruckartig den Korb hoch und sprang zur Seite, Socha und Lysiecki lachten. Die Spinne erwischte ihn trotzdem. Es war wohl nur eine kleine Wunde, er wollte sie uns aber nicht zeigen. Er ist gleich ins Krankenzimmer, und wir sind rüber zu den Playstations, wie jeden freien Abend. Ich erinnere mich nicht mehr, Jarzèbiński an diesem Abend noch einmal gesehen zu haben.
Ich schüttelte mich und fuhr mir über das Gesicht. Bartosz hatte sich wieder abgewandt, das Licht im Zuschauerraum war verschwunden. Maya trat auf die Bühne, stellte sich an den Rand und lächelte mich an. Ich erinnerte mich an die Einführung, die sie gerade gegeben hatte, und befürchtete das Schlimmste. Sie räusperte sich, dann hob sie an.
Liebes Publikum. Bald ist es geschafft. Geradezu: vollbracht. Kinga ist an der Reihe. An sie habt ihr doch sowieso die ganze Zeit gedacht! Und gehofft, ich möge mich irren, übertreiben, euch übers Ohr hauen, als ich sagte, dieses Mädchen würde euch auf den Grund eurer klapprigen Seelen schauen. Kinga, bitte!
Der Grund ihrer klapprigen Seelen. Wäre ich nicht so aufgeregt gewesen, hätte ich wahrscheinlich laut aufgelacht, aber aus dem Publikum erklang nicht das leiseste Kichern. Also gut. Ein letztes Mal überprüfte ich den Sitz meines Kleides, wischte mir über die Stirn.
Kurz durchzuckte mich der Gedanke, dass mein Auftritt eine Havarie werden könnte, eine bodenlose Peinlichkeit, falls nichts von dem klappen sollte, was Maya dem Publikum versprochen hatte. Ich hatte schon die Bühne betreten, als mir einfiel, dass mir Bartosz den Schlüssel zur Lösung dieser Situation soeben geliefert hatte. Im schlechtesten aller Fälle hätte ich etwas, das ich sagen könnte, etwas, das meine Darbietung legitimieren würde.
Vorsichtig ließ ich mich auf den Sessel nieder, den Maya mir angeboten hatte. Sie selber verließ die Bühne und nahm neben dem Seiteneingang Platz, als glaubte sie, mein Kopf könnte auf einmal beginnen, Funken zu sprühen oder elektrische Stöße von sich zu geben. Nichts dergleichen passierte. Überhaupt gar nichts passierte. Geblendet von den Scheinwerfern, blinzelte ich in den Raum und sah vorne Bartosz und Kröger miteinander flüstern. Mario, der endlich aus der Umkleide zurückgekehrt war, hatte sich auf meinen Platz gesetzt und nickte mir zu. Was tun? Vom Plan absehen und eine Entschuldigung stammeln, sagen, es habe sich um ein Missverständnis gehandelt, und von der Bühne stolpern? Ich sah, wie Kröger wieder auf seine Armlehne trommelte. Jemand hustete. Ich riss mich zusammen und tat, als fixierte ich Bartosz, rieb meine Schläfen und beugte mich vor. Vorsichtig löste ich die Kette von meinem Hals und betrachtete den Bernsteinanhänger im grellen Licht der Scheinwerfer. Es ließ die Spinne fast lebendig aussehen, jeder Lufteinschluss, jedes Moosblättchen glänzte auf und umgab ihren Körper wie eine Aureole. Das Husten aus dem Publikum war verklungen.
Ich sehe euch, hörte ich mich sagen. Ich sehe, was ihr gesehen habt, höre, was ihr gesagt habt.
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Mit allen zehn Fingern berührte Kinga ihre Stirn. Als würde sie einen Migräneschub erleiden oder als habe sie ihren Text vergessen, massierte sie ihre Schläfen. Ihre Gesichtszüge entspannten sich ein wenig.
Was für ein Durcheinander! Alle funken dazwischen, nein, unmöglich, so geht das nicht.
Sie wischte wütend ein paar Strähnen zurück auf den Hinterkopf und ging zum Rand der Bühne. Vorsichtig, um weder das Kleid zu zerreißen noch einen zu tiefen Einblick in ihr Dekolleté zu gewähren, bückte sie sich und setzte sich auf die Kante.
Wenige Meter trennten sie von der ersten Reihe und von Bartosz, der ihr schräg gegenüber saß. Leicht zurückgelehnt, saß er in seinem Sessel, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen. Kinga stützte ihre Arme auf die Knie, blinzelte in das Scheinwerferlicht und konzentrierte sich auf Bartosz.
Schön. Endlich etwas Konkretes zwischen dem einheitlichen Kindergebrüll während des Familienfrühstücks, den immer gleich überfüllten Straßenbahnen, dem Streit auf der Arbeit und den paar Ausflügen mit irgendjemandes Motorbooten.
Bartosz ließ die verschränkten Arme sinken, steckte die Hände in die Hosentaschen. Der Zwerg hielt die Krähe auf seinem Arm, streichelte den Schnabel des Vogels und blickte aufmerksam nach vorn. Wenn Kingas Blick ihn streifte, lächelte er und nickte ihr zu, ganz wie ein stolzer Vater, der seinen Nachwuchs bei den ersten Gehversuchen beobachtet. Kingas Stimme wurde etwas lauter, stärker. Als sie wieder ansetzte, verschwand das Lächeln aus Bartosz’ Gesicht, und sogar im Dämmerlicht konnte man erkennen, dass seine rechte Hand zitterte.
Das Bild ist so glasklar wie ein Morgen in der Wüste.
Bartosz beugte sich nach vorne und drehte seinen Kopf zur Seite, um besser zu hören.
Ich sehe einen Skorpion und eine riesenhafte Spinne, beide unter einem Wäschekorb mit ausgestanztem Sternchenmuster, außerdem drei Soldaten, die rundherum hocken und beobachten, wie die Tiere miteinander kämpfen. Der Skorpion hat gegen die Spinne keine Chance. Das Sonnenlicht scheint durch die Sternchen des Wäschekorbes, am Horizont sind Ruinen zu erkennen, Tore, Wälle, Behausungen. Alles sandfarben, dazwischen vertrocknete Palmen und ein paar Straßen, die durch das Camp führen. Baracken aus weißem Blech, Hubschrauber und Jeeps dazwischen, und am Rand des Ganzen, hinter der letzten Baracke: die drei Soldaten vor dem Wäschekorb; jetzt liegen sie sogar auf dem Bauch, um besser sehen zu können, wie die Spinne den Skorpion zerfleischt.
Kinga hielt kurz inne. Bartosz hatte begonnen, auf seiner Unterlippe zu kauen, und Kröger tippte ihn kurz an die Schulter, als ob er ihn daran erinnern musste, dass sie sich in einem Varieté befanden und einer einstudierten Vorführung beiwohnten. Dann, als wäre ihm etwas eingefallen, als wäre der Groschen gesprungen, zog er seine Hand zurück und seufzte. Natürlich, so musste es sein: Bartosz war Teil des Spiels. Kinga hatte sich mit ihm verabredet, ihn ins Collegium geschleust, und nun war es seine Aufgabe, entsetzt zu tun und zu beweisen, dass Kinga tatsächlich und wahrhaftig Gedanken lesen konnte. Ein billiges und zigtausend Mal angewandtes Mittel.
Das Publikum, wenigstens in den hinteren Reihen, registrierte es nicht. Przemek schien vor lauter Amusement sogar ein paar Zentimeter gewachsen zu sein und hob die Krähe wie ein Weinglas in Kingas Richtung, prostete ihr zu.
Kröger hingegen hatte seine Taschenuhr hervorgeholt, spielte mit ihrer Kette und blickte immer wieder auf das Ziffernblatt, als könne er es nicht erwarten, dass die Vorstellung endlich zu Ende ging. Kinga beachtete ihn nicht, sondern konzentrierte sich einzig auf Bartosz.
Eine gelbliche Flüssigkeit tritt aus dem Skorpion, aber die Männer bemerken es kaum, sie sind damit beschäftigt, sich über einen vierten Soldaten zu ärgern, der dazu gekommen ist und ihr kleines Spektakel stört. Tierquälerei nennt er es und macht sich über die Männer lustig, woraufhin sie ihn dazu bringen, die Spinne aus ihrer Falle zu befreien. Der Soldat wird gebissen. Wäre er daran gestorben, hätten die anderen ihn auf dem Gewissen, dann wäre er einer mehr, der in Babylon bliebe, denn so heißt das Camp. Das hier ist Babylon, und das am Horizont ist Babilla, die Stadt Hammurapis und Nebukadnezars.
Vielleicht eine Spur zu spät besann sich Bartosz auf seinen Einsatz. Er war aufgestanden, hatte es sogar geschafft, eine Spur blasser zu werden. Seine Stimme zitterte, und an den Reaktionen der Umsitzenden erkannte Kröger, dass man Bartosz die Rolle des Betroffenen abnahm. Erstaunen und ein wohliges Grauen spiegelten sich in den Gesichtern. Niemand rechnete damit, dass es auch im Publikum Schauspieler gab, die in das Geschehen eingeweiht waren und sich ebenso sehr an ihren Text hielten wie die Gestalten auf der Bühne … Am liebsten hätte Kröger interveniert.
Das ist doch krank, sagte Bartosz. Er war so nah an die Bühne herangetreten, dass Kinga seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren musste.
Hast ein bisschen Fernsehen geguckt, ein paar Aufnahmen von polnischen Truppen in der Wüste gesehen, und jetzt tust du so, als könntest du Gedanken lesen. Meinst du, das glaubt dir hier irgendwer?
Bartosz zeigte auf das Publikum hinter sich, in dem ein paar Leute zu flüstern begonnen hatten. Demoiselle Maya erhob sich.
Ich muss Sie bitten, das Collegium zu verlassen. Das hier ist nichts für schwache Gemüter, das hätten Sie wissen müssen. Mario, geleite den jungen Mann zur Tür.
Mario packte Bartosz an den Schultern, der aber wand sich sofort aus dessen Griff und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm auf Abstand.
Und was weiter? Na? Ist dir der Stoff schon ausgegangen? Kinga?
Kinga stand von ihrem Platz am Bühnenrand auf und schüttelte ihren Kopf.
Der Abend ist ruhig, manche von den Soldaten haben einen freien Tag, und nach dem Kampf des Skorpions mit der Spinne gehen die drei Soldaten rüber in den Fernsehraum, der vierte zieht sich auf die Krankenstation zurück und wird an diesem Abend nicht mehr gesehen, nicht einmal zum Biertrinken.
Bartosz riss sich los und stürmte aus dem Saal, man hörte, wie er die Eingangstür zuschlug und die Treppe hinunterrannte. Mario und Demoiselle Maya blieben stehen, auch Kinga war aufgestanden. Sie strich über ihre Stirn, als würde sie sich wundern, wie sie auf diese Bühne gekommen war, schien erst dann das Publikum zu bemerken und sich zu erinnern. Sie verbeugte sich, und nach ein paar Sekunden begannen die Ersten zu klatschen. Man war sich nicht ganz sicher, was geschehen war, aber dass etwas geschehen war, stand außer Frage. Schließlich drangen vereinzelte Bravo- und Zugabe-Rufe aus den hinteren Reihen und rissen die restlichen Zuschauer mit. Kröger, der Bartosz nachdenklich hinterhergeschaut hatte, erwog kurz, ob auch er das Varieté verlassen konnte, wollte aber nicht die Vorstellung stören und entschied sich, sitzen zu bleiben.
Kinga trat unschlüssig von einem Bein auf das andere, als sie die Zugaberufe hörte. Als Maya ihr zuwinkte, dass sie fortfahren solle, setzte sie sich wieder an den Rand der Bühne, kniff die Augen zusammen, rutschte umher und bat schließlich darum, dass die Scheinwerfer etwas gedimmt würden, da sie niemandem im Publikum ins Gesicht sehen könne, was unerlässlich sei. Sofort verdunkelte sich die Bühne. Kinga ließ ihren Blick schweifen. Als sie bei Kröger ankam, begannen ihre Augen zu glitzern und fixierten ihn: den talentierten, aber leider unterschätzten Schriftsteller Tilmann Kröger, der arglos an seinem Getränk nippte und im Geiste mit dem Abend bereits abgeschlossen hatte.
Genauer genommen fragte er sich, warum er auch an diesem Abend nichts Besseres hatte finden können, um sich zu zerstreuen. So viele Male war er bereits hiergewesen, kannte alle Darsteller und ihre Tricks, konnte Demoiselle Mayas Texte beinahe auswendig mitsprechen, und wenn es ein Getränk auf dieser Erde gab, das er nicht ausstehen konnte, dann war es Martini, mit oder ohne Olive, ganz gleich. Von der stickigen Luft im Zuschauerraum bekam er Kopfschmerzen, von manchen der Darbietungen Migräne, es verging kaum ein Tag, an dem er nicht das dürftige Angebot an anständigen Kneipen in der Stadt verfluchte. Wenn er wenigstens eine Alternative gehabt hätte an diesem Abend, vielleicht hätte er sie ergriffen, vielleicht wäre er woanders hingegangen und wäre nicht so schändlich bloßgestellt worden, wie es dann geschehen war.
Da haben wir ihn ja, sagte Kinga. Den Kröger. Den stadtbekannten Schreiberling, der alleine seinen Abenden nichts Künstlerisches abringen kann. Schade eigentlich. Vor allem, wenn man weiß, wie sehr es ihn pressiert, zeitlich. Schon zwei Monate ist er hier und hat noch immer nichts geschrieben.
Kröger setzte sich gerade hin, eine Frechheit war das, eine Unverschämtheit. Er runzelte seine Stirn und versuchte mit einer dezenten Geste Kinga zu bedeuten, doch still zu sein, zu schweigen, jemand anderen aufs Korn zu nehmen. Vielleicht war ein weiterer Soldat unter den Zuschauern, die Nummer mit dem Skorpion und dem Krieg war doch so gut angekommen. Sie aber ignorierte sein hilfloses Mienenspiel, seine raschen Handbewegungen. Wieder setzte sie an.
Dabei hätte er allen Grund, sich zu beeilen, Tag und Nacht an seinem Schreibtisch zu sitzen und an seinem Manuskript zu arbeiten, dem großen, epochalen Werk über die Stadt am Meer, so, wie er es seinem Verleger versprochen hat, vor ein paar Wochen in dessen Büro … tief in seinen Sessel ist er damals gerutscht, ungefähr so wie jetzt, aber gesehen hat man ihn trotzdem, vor allem, wenn man wie sein Verleger genau vor ihm saß und ihm ins Gesicht hinein sagen konnte, dass sich sein letztes Buch irrsinnig schlecht verkauft hatte, und dabei hatte es sich um einen durchaus vielversprechenden Thriller gehandelt, in den sogar eine Liebesgeschichte hineingewoben war.
Tilmann hat gestammelt vor Aufregung, als er seine Idee für den nächsten Roman vorgebracht hat. Von einer Stadt am Meer sollte der handeln, einer etwas sonderbaren Protagonistin, außerdem von einer ungewöhnlichen Familiengeschichte. Der Verleger hat sich nachdenklich die Koteletten massiert und schließlich zugesagt. Ein halbes Jahr hat er Tilmann gegeben, das erste Drittel des Romans abzuliefern.
Dann erst wird man über einen Vorschuss verhandeln. Noch so einen Flop wie mit dem letzten Buch kann sich ein so kleiner Verlag nicht erlauben. Da muss erst eine Schreibprobe her, der Beweis dafür, dass es Tilmann Kröger gelingt, ein Gespür für die Stadt zu entwickeln. Das ist die Mission. Und, Tilmann, wie läuft es?
Unendliche Schmach, als Künstler so bloßgestellt zu werden, verballhornt und verlacht, belächelt von diesen zweifelhaften Artisten, sogar der Zwerg lachte, dass ihm der Zylinder vom Kopf fiel. Als könnten sie auch nur ahnen, was es hieß, Schriftsteller zu sein, täglich mit sich zu ringen und sich das Äußerste abzuverlangen, in der Stadt umherzustreifen und nichts zu sehen als ödeste, einfallsloseste Wirklichkeit, Alltag, der so grau ist wie die Straßen dieser Stadt oder ihr Himmel oder das dumme Stück Papier, das man vor sich hat und das einen beinahe um den Verstand bringt, weil es zu oft nichts, rein gar nichts zu notieren gibt – solcher Art nämlich und nicht anders ist das Schicksal der Schreibenden, und kaum wagt man es, sich wenigstens während der Abende und der Nächte abzulenken, begnügt sich mit dem Einfachen, Provinziellen, das man in dieser Stadt findet, dann kommt eine Zecke wie Kinga daher und saugt einen aus, wie sie nur kann.
Sogar Mario wieherte, dieser grobe Kerl, als ob es da etwas zu lachen gebe. Demoiselle Maya wischte sich unauffällig eine Träne aus dem Augenwinkel, und irgendwo ging in der Ausgelassenheit ein Glas zu Bruch. Kinga stand auf und verbeugte sich, die Arme halb erhoben.