Kapitel 2

BOMBENKRIEG

Der von Nazi-Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg wütete nun schon im vierten Jahr. Es herrschte Krieg an allen Fronten, die Tötungsmaschinerie in den Konzentrationslagern lief unaufhaltsam. Nach den raschen Eroberungen im Westfeldzug und den ersten Erfolgen im Krieg gegen die Sowjetunion beherrschte das nationalsozialistische Deutschland 1943 den größten Teil des europäischen Kontinents. Erst, nachdem sich die 6. deutsche Armee in Stalingrad nach einer der blutigsten Schlachten der Weltgeschichte der Roten Armee ergeben hatte, begann sich das Blatt zu wenden. Beinahe pausenlos bombardierten alliierte Fliegerverbände das »Reichsgebiet« und legten Städte und Dörfer in Schutt und Asche. Leipzig wurde wegen seiner Rüstungsindustrie wiederholt zum Ziel massiver Bombardements. Allein in der Nacht zum 21. Oktober 1943 warfen 285 britische Flugzeuge bei 15 Verlusten 1085 Tonnen Bomben auf die Stadt ab. Wegen ungünstiger Witterung verfehlten die meisten Maschinen mit ihrer todbringenden Fracht allerdings ihr Ziel. Der schwerste britische Luftangriff auf die »Reichsmessestadt« erfolgte am 4. Dezember 1943. Sechzehn Minuten lang dauerte das Bombardement. Zwischen 3.58 und 4.14 Uhr warfen 527 Flugzeuge bei 23 Verlusten in mehreren Angriffswellen 1382 Tonnen Bomben auf die Stadt ab, darunter Luftminen, Spreng- und Brandbomben. Noch drei Tage später brannte die Stadt. Mehr als 1800 Männer, Frauen und Kinder kamen dabei um. 140 000 Menschen, ein Fünftel der Einwohner, wurden obdachlos. Eine Schneise der Zerstörung – drei Kilometer breit und fünf Kilometer lang – zog sich vom Norden über das ganze Stadtzentrum Leipzigs nach Süden und Südosten. Die Statistik weist aus, dass über 4000 Gebäude durch den Angriff total zerstört wurden, darunter 56 Schulen, mehrere Krankenhäuser, neun Kirchen, mehrere Theater und das Hauptgebäude der Universität. 50 Millionen Bücher verbrannten. Die Buch-, Kunst- und Messestadt war so schwer getroffen wie nie zuvor in ihrer Geschichte.

Die Bewohner der Montbéstraße 41 hatten großes Glück. Sie überlebten den »Terrorangriff«, wie die Propaganda formulierte, im Bunker des Hauses. Dennoch grub sich die verheerende Bombennacht allen ins Gedächtnis ein. Nach der Entwarnung waren die Hausbewohner auf die Straße gerannt, um die Schäden zu begutachten. Was sich dort vor ihren Augen abspielte, war ohne Beispiel: Wo immer sie hinschauten, sahen sie brennende Häuser. Es tobte ein unbeschreiblicher Feuersturm, der ein Getöse verursachte, das die Überlebenden nie vergessen würden. Hannelore und ihre beste Freundin Rena waren starr vor Angst. Sie erlebten Menschen, die verzweifelt versuchten, die verheerenden Brände zu löschen und mit Töpfen und Eimern gegen das Flammenmeer anzukämpfen. Sie sahen fürchterlich verstümmelte und verkohlte Leichen und blickten auf die Kraterlandschaft, die das Bombardement hinterlassen hatte. Sie spürten erstmals, was Krieg bedeutet. Begreifen konnten sie nichts.

Das Haus in der Montbéstraße 41 war eines der wenigen im Viertel, das wie durch ein Wunder verschont geblieben war. Lediglich sämtliche Fensterscheiben waren zerborsten. Die eigentliche Katastrophe der schrecklichen Bombennacht war für Hannelore der Tod des Dackels »Dorli«. Der quirlige Jagdhund des Vaters war ihr über Jahre ein treuer Begleiter gewesen. Der Tod des geliebten Tieres war furchtbar für sie, nichts und niemand konnte sie trösten in ihrem Leid. Tagelang trauerte sie um »Dorli« und es dauerte lange Zeit, bis sie den Verlust ihres Dackels verkraftet hatte.

Nach dieser schweren Bombennacht beschloss Wilhelm Renner, Frau und Tochter aus der Gefahrenzone zu bringen. Schon zwei Tage nach der Bombardierung Leipzigs und dem anschließenden Feuersturm begann die überhastete Evakuierung. Auch die Nachbarn und Hannelores beste Freundin Rena Georgi verließen die Stadt. Wilhelm Renner lud ein paar Taschen mit dem Nötigsten in seinen Dienstwagen und brachte seine Lieben persönlich in das gut 25 Kilometer von Leipzig entfernte Städtchen Grimma. Mutter und Kind fanden bei einer ihnen kaum bekannten Familie Aufnahme. Das Leben in Überfluss und Luxus fand damit ein jähes Ende. Getrennt vom Vater, der in Leipzig blieb, getrennt von den Freundinnen, waren Hannelore und ihre Mutter nun Fremde unter Fremden.

Schlimmer konnte es kaum kommen. Hannelore setzte nicht nur der Verlust der vertrauten Umgebung massiv zu. In Leipzig hatte sie sich noch von ihrem geliebten Kindermädchen verabschieden müssen. Die herzensgute und feinfühlige Hilde war als Rotkreuz-Schwester zum Kriegsdienst eingezogen worden und hatte in Hannelores Leben eine riesige Lücke hinterlassen. Wann immer sie an sie dachte, kamen ihr die Tränen. Ihren Schmerz konnte sie mit niemandem teilen. Das Leben, das sie nun führen musste, war völlig ungewohnt. Die Zahl der Spielzeuge war auf ein Minimum begrenzt, es gab auch keinen privaten Musikunterricht mehr. Mit ihrer Mutter lebte sie auf engstem Raum, vorbei die Zeit, in der Irene zahlreiche Hausangestellte mit den praktischen Dingen des Alltags betrauen konnte.

Hannelores Mutter empfand die neue Situation als tiefen Absturz. Hier war sie nicht mehr länger die Direktoren-Gattin, die sämtliche Privilegien genoss; hier war sie eine Namenlose unter vielen. Rauschende Partys und fröhliche Damenkränzchen gab es nicht mehr, nun ging es ums Überleben. Was jetzt noch blieb, war die Erinnerung an die glanzvolle Vergangenheit – und die Hoffnung auf bessere Zeiten.

* * *

Unterdessen kamen auf den HASAG-Direktor Wilhelm Renner ständig neue Aufgaben und Verantwortlichkeiten zu. Der »Vizefeldwebel d.Res.« des Ersten Weltkriegs war seit Kriegsbeginn 1939 »uk«, unabkömmlich. Seit 1934 gehörte er zum Spitzenmanagement des inzwischen kriegswichtigen Großunternehmens. Mit Hilfe von Krediten des Reichsfinanzministeriums, die über die SS-Hausbank Dresdner Bank abgewickelt wurden, hatten die deutschen HASAG-Standorte erheblich erweitert werden können. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs produzierte die Firma ausschließlich für die Wehrmacht. Mit 27 000 Beschäftigten, davon über 10 000 allein im Stammwerk in Leipzig, nahm sie einen Spitzenplatz unter den deutschen Munitionsfabriken ein. 1930 hatte das Unternehmen gerade einmal 1000 Mitarbeiter gezählt.

Ihren Beschäftigten gewährte die Firma eine Reihe besonderer Vergünstigungen. Dazu zählten Geburtenbeihilfen und Kindergeld, Unfallrenten und verbilligtes Kantinenessen. Siedlungsdarlehen förderten den Bau von Eigenheimen. Die HASAG-Mitarbeiter konnten das betriebseigene Schwimmbad, den Sportplatz und die Bibliothek benutzen. Das Unternehmen finanzierte den Männerchor und die nationalsozialistische »Werkschar«. Mit diesen sozialen Anreizen gelang es dem Unternehmen, die Arbeitsleistung zu fördern und die innerbetriebliche Unterstützung für das nationalsozialistische Regime zu verbessern.

Entscheidend für die Expansion der Leipziger Aktiengesellschaft waren die Aufträge der Deutschen Wehrmacht und der steigende Munitionsbedarf der Armee. Nach der Besetzung Polens wurden dem Leipziger Werk die ehemalige staatliche Munitionsfabrik in Skarzysko-Kamienna sowie weitere Betriebe in Kielce und Tschenstochau übertragen. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 kam es in der deutschen Rüstungsindustrie zu erheblichen Engpässen, der Bedarf an Waffen und Munition konnte kaum noch befriedigt werden. Für die HASAG begann damit eine Phase extremen Wachstums. Ende 1943 stieg die Zahl der Beschäftigten auf insgesamt 60 000 Personen. Der NS-Musterbetrieb war besonders gefordert, neue Waffensysteme mussten her. Für das Direktorium eine gewaltige Herausforderung und vor allem für den technischen Direktor Wilhelm Renner die Aufgabe seines Lebens.

Der Vertraute des Generaldirektors und fanatischen, mittlerweile zum SS-Obersturmbannführer beförderten Paul Budin war dabei, wenn auf höchster Ebene mit den Spitzen des Ministeriums für Bewaffnung und Munition über Auftragsvergaben verhandelt wurde. Der zu rücksichtsloser Härte neigende Wehrwirtschaftsführer Budin verfügte über beste Kontakte zur NS-Führung. So gehörte er dem berühmt-berüchtigten »Freundeskreis Reichsführer-SS« an, auch als »Freundeskreis Himmler« bekannt. Diese Vereinigung von etwa fünfzig hohen und höchsten SS- und SA-Mitgliedern dokumentierte die engen Beziehungen zwischen Großindustrie und NSDAP. Von der Machtübernahme an spendeten die Mitglieder jährlich rund 1 Million Reichsmark an Heinrich Himmler. Als Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei war Himmler einer der Hauptverantwortlichen für die Vernichtung der europäischen Juden und Roma sowie für zahlreiche weitere Verbrechen. Durch seine engen Verbindungen verfügte der HASAG-Generaldirektor und Renner-Förderer über streng vertrauliche Informationen, bestimmt auch über das, was in den deutschen Konzentrations- und Arbeitslagern geschah. Von seinem Herrschaftswissen profitierte sicherlich regelmäßig das gesamte Direktorium der HASAG, die zunehmend Probleme bekam, genügend Arbeitskräfte für ihre Betriebe zu rekrutieren. Diese heikle Aufgabe wurde Wilhelm Renner übertragen. Vermutlich war er wie andere Sozialdirektoren schon bald verantwortlich für die Beschaffung von Arbeitskräften aus verschiedenen Konzentrationslagern, darunter Ravensbrück, Buchenwald und Majdanek. Paul Budin hatte seinen technischen Direktor zusätzlich zum Direktor für Soziales berufen – eine Schlüsselstellung an der HASAG-Spitze.

Wilhelm Renner gehörte nicht zu den Leisetretern im Unternehmen. Mit klarem Verstand und äußerster Präzision unternahm er alles, um die HASAG zum Erfolg zu führen. Er war ein wichtiges Rädchen in der Rüstungsindustrie und stellte seine herausragenden ingenieurtechnischen Fähigkeiten, seine Intelligenz und unverwüstliche Arbeitskraft unumschränkt in den Dienst der Partei und ihrer verbrecherischen Kriegsziele. Solange das HASAG-Unternehmen genügend Waffen und Munition produzierte, solange würde sein Posten gesichert sein und solange konnte der Krieg fortgesetzt werden.

* * *

Irene Renners Tagebucheinträge geben auch in der Zeit nach der Evakuierung verlässliche Auskünfte über die wichtigsten Daten im Leben von Mutter und Tochter. Die meist emotionslos notierten und kaum kommentierten Fakten sind zum Teil die einzigen Quellen über ihren Verbleib an den Evakuierungsorten, über Ankunft und Abreise in den wirren Jahren des Krieges. In den jeweiligen Einwohnermeldeämtern lassen sich dazu so gut wie keine Unterlagen finden. So existiert beispielsweise im Archiv der heutigen Großen Kreisstadt Grimma kein Beleg über den zehnwöchigen Aufenthalt der Renners 1943. Kaum jemandem der Evakuierten stand der Sinn danach, sich zwischen Bombenalarm, Tieffliegerangriffen und Nahrungsbeschaffung auf dem Rathaus registrieren zu lassen. Zumal für viele Betroffene mit der ersten Evakuierung eine langwierige Odyssee über viele Stationen begann. Auch Hannelore und ihre Mutter hatten sich kaum in der nordsächsischen Provinz eingelebt, als die Reise weiterging. Neues Ziel war das mittelsächsische Städtchen Döbeln, von Leipzig etwa 65 Kilometer entfernt und in der Mitte des Dreiecks Chemnitz, Dresden und Leipzig gelegen. In die damals über 25 000 Einwohner zählende Kleinstadt zogen Irene und Hannelore Renner laut Tagebucheintrag am 13. Februar 1944. Nach einigen Tagen in einer provisorischen Unterkunft fanden sie ein neues Zuhause in einer Einzimmerwohnung in der Zwingerstraße 11. Eine offizielle Registrierung im Einwohnermeldeamt lässt sich auch in dieser Stadt nicht nachweisen. Wichtigster Grund für den Umzug nach Döbeln war die Existenz einer weiterführenden Schule, die Hannelore besuchen sollte. Als erste »Maßnahme« meldete Irene Renner ihre Tochter an der »Staatlichen Oberschule für Jungen« an, einem humanistischen Gymnasium mit Latein und Englisch sowie Französisch als Wahlfach. In der Weimarer Republik firmierte die Schule als »Staatsrealgymnasium mit Höherer Landwirtschaftsschule«, 1947 hieß sie »Lessing-Oberschule« und 1968 wurde sie in »Erweiterte Lessing-Oberschule« umbenannt. Hannelores Schulweg zur Oberschule in der Adolf-Hitler-Straße 9 – heute Straße des Friedens 9 – betrug gute fünf Minuten. Außer Hannelore besuchten nur noch zwei weitere Mädchen das Jungengymnasium. Die eher schüchterne Renner-Tochter musste sich in dieser für sie so fremden Knabenwelt behaupten und lernen, sich selbstbewusst durchzusetzen. Aber sie lebte sich schneller ein als erwartet, erwies sich als belastbar und glänzte vor allem in den Fächern Mathematik und Deutsch. In der Schule konnte der Unterrichtsbetrieb nur mit Einschränkungen fortgeführt werden. Der Lehrkörper war durch die Kriegsteilnahme von mehr als acht Lehrern stark dezimiert, viele Schüler der oberen Klassen wurden notdienstverpflichtet und als Luftwaffenhelfer in Berlin und Dresden eingesetzt. Im Schuljahr 1944/45 konnte ein geordneter Unterricht kaum noch durchgeführt werden. Wie das Hauptbuch der Schule ausweist, gab es wegen Evakuierungen und Kinderlandverschickung ein ständiges Kommen und Gehen. Viele Schüler blieben nur einige Wochen, manche sogar nur wenige Tage an der Schule.

Immerhin war die Lebensmittelversorgung in der Kleinstadt einigermaßen gesichert. Aber wenn die Renners geglaubt hatten, mit dem Umzug von Leipzig nach Döbeln wären sie dem Bombenkrieg entkommen, sahen sie sich getäuscht. Auch in Döbeln heulten nun ständig die Sirenen, auch hier gab es häufig Fliegeralarm, auch hier flohen die Menschen zum Schutz vor Bombenabwürfen in überfüllte Bunker. Verglichen mit Leipzig hatten die Bewohner der Kleinstadt aber immer noch großes Glück. Allein Ende Februar 1944 warfen bei einem Nachtangriff 700 britische Bomber 2300 Tonnen Bomben ab. 970 Menschen kamen ums Leben. In den kommenden Monaten erfolgten unter dem Codenamen »Haddock« weitere britische und amerikanische Bombardierungen, deren Ziel zunächst Industrie- und Verkehrsanlagen waren, später wurde auch der Stadtkern mit Flächenbombardements überzogen. Erst mit dem Einmarsch der US-Truppen am 18. April 1945 endete der Luftkrieg um Leipzig.

* * *

Schon seit Oktober 1938 gab es in Nazideutschland eine Kriegsdienstverpflichtung für Frauen und Mädchen. Nach dieser Notdienstverordnung konnten sie zur »Bekämpfung öffentlicher Notstände« herangezogen werden. Zu Beginn des Krieges im September 1939 wurden alle Deutschen beiderlei Geschlechts im Alter von 15 bis 70 Jahren »notdienstverpflichtet«, wenn sie nicht zwei oder mehr Kinder unter 15 Jahren im Haushalt zu betreuen hatten. Im Januar 1943 gab es dann eine neue Ausführungsverordnung. Danach mussten sich alle Frauen vom 17. bis zum 45. Lebensjahr beim zuständigen Arbeitsamt melden. Auch Irene Renner kam daran nicht vorbei. Ende Februar 1944 wies das Döbelner Arbeitsamt der Dame aus der Leipziger Gesellschaft eine »Tätigkeit« zu – für Irene ein radikaler Bruch mit ihrem bisherigen Leben als Direktorengattin. Fortan war sie als ungelernte Hilfskraft kriegsdienstverpflichtet. Sie, die körperliche Arbeit nicht kannte, jahrelang mehrere Hausangestellte befehligt und einen Mann an ihrer Seite hatte, der ihr Leben mit allen denkbaren Mitteln verschönert hatte, war nun gezwungen, halbtags am Fließband zu arbeiten, noch dazu im Vierer- und Sechserakkord. Weder ihre NSDAP-Mitgliedschaft bei unverbrüchlicher nationalsozialistischer Systemtreue, noch ihr starkes Engagement in der NS-Frauenschaft konnten sie vor dieser für sie so demütigenden körperlichen Tätigkeit bewahren. Mit Disziplin und dem festen Glauben daran, ihren Beitrag zum Sieg zu leisten, orientierte sie sich jedoch erstaunlich rasch um und erwies sich schließlich als geschickte Helferin in der Firma von Johannes Großfuß. Die Metall- und Lackwarenfabrik mit Sitz auf dem Burgstadel an der Kleinbauchlitzer Straße – heute Grimmaische Straße – hatte einst lackierte Wirtschaftsartikel wie Vogelkäfige, Ofenschirme und Kohlenkästen in prachtvoller Ausführung sowie Haus- und Küchengeräte, Waschtische und Bidets produziert. 1937 hatte die Firma vom Heereswaffenamt einen Auftrag zur Weiterentwicklung des Maschinengewehrs 34 erhalten. Nach mehreren Versuchsmodellen und nochmals verbesserten Varianten wurde dort das Maschinengewehr 42 entwickelt und bis Anfang 1945 produziert. Nach dem Krieg folgten Demontage und Umwandlung in den volkseigenen Betrieb (VEB) Metallbau.

Zeitweise waren also sowohl Wilhelm als auch Irene Renner unmittelbar an kriegswichtigen Produktionen beteiligt: er auf höchster Ebene, sie als eine von Tausenden ungelernter Arbeiterinnen. Beide gingen auf unterschiedliche Weise einer Tätigkeit nach, die mithelfen sollte, den Krieg zu gewinnen, den Sieg Hitler-Deutschlands zu sichern. Inwieweit die Fabrikarbeiterin mit ausländischen Zwangsarbeitern in direkten Kontakt kam, ist nicht überliefert. Gesichert ist, dass es auch in Döbelns Rüstungsunternehmen Hunderte von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen gab, die unter unwürdigen Bedingungen ihr Leben fristen mussten. Heute gibt es in Döbeln einen Gedenkstein für sowjetische und polnische Frauen und Männer, die im Krieg hierher verschleppt und Opfer von Zwangsarbeit wurden.

Die elfjährige Hannelore hielt es nicht lange allein zu Hause. Jeden Tag ging sie nach Schulschluss in die Kantine der Firma Großfuß. Sie half in der Küche, schrubbte Tische und Stühle, räumte auf, bevor die nächsten Schichtarbeiterinnen kamen. Als Entgelt erhielt die Schülerin die gleiche warme Mahlzeit wie die Angestellten des Unternehmens. Der gemeinsame Heimweg mit der Mutter wurde immer wieder durch Bombenalarme unterbrochen. Vor allem Tiefflieger sorgten für Angst und Schrecken, wenngleich sie glücklicherweise kaum nennenswerte Schäden anrichteten. Panik und Todesangst wurden zu ständigen Begleitern. Die Menschen in Döbeln hatten Angst vor der Rache der Alliierten, eine Sorge, die die Elfjährige kaum verstand. Von den Verbrechen der Deutschen hatte Hannelore keine Ahnung, niemand dachte daran, das Kind aufzuklären. Wer hätte das auch tun sollen. Die einzige Bezugsperson, die sie in dieser Zeit hatte, ihre Mutter, hatte die Parolen der Nazi-Propaganda fest verinnerlicht und hoffte vermutlich nach wie vor auf den Endsieg. Aber der Krieg rückte unerbittlich näher.

Döbeln verfügte damals über einen stark frequentierten Eisenbahnknotenpunkt. Viele Jahre war das Städtchen Drehkreuz zwischen Riesa und Chemnitz beziehungsweise zwischen Leipzig und Dresden. Im Winter 1944/45 kamen über diesen Eisenbahnknotenpunkt massenweise Transporte mit verwundeten Soldaten von der Ostfront sowie mit Flüchtlingen aus Ostpreußen und Schlesien an. Die Menschen mussten betreut und erstversorgt werden. Zweimal in der Woche half Hannelores Schulklasse beim »Bahnhofsdienst«, um die Arbeit des Sanitätspersonals vom Roten Kreuz zu unterstützen. Die Schüler halfen, Tote von Lebenden zu trennen, Unrat und Schmutz aus den Waggons zu entfernen. Hannelore, eine der Jüngsten unter den Helfern, erlebte schreckliche Szenen. Vor allem in den Flüchtlingswaggons boten sich grauenhafte Bilder. Mütter klammerten sich an ihre erfrorenen Kinder und wollten die Toten nicht loslassen. Die Schüler mussten die kranken, durchgefrorenen und hungrigen Greise, Frauen und Kinder zu den fünf Minuten vom Bahnhof entfernten Baracken, den Notquartieren am Sternplatz, begleiten. Dort erhielten sie eine bescheidene Verpflegung und wurden provisorisch medizinisch versorgt. Die Jugendlichen waren hoffnungslos überfordert und wurden auf dem Bahnhof von Döbeln meist zum ersten Mal unmittelbar mit der Härte des Krieges konfrontiert. In Leipzig hatte Hannelore bei den fürchterlichen Luftangriffen erlebt, dass Menschen verschüttet wurden und nicht aus den Trümmern geborgen werden konnten. Sie kannte den penetranten Geruch von verbrannten Menschen, von verbrannter Materie, der lange über den Straßen hing und nicht abzog, obwohl Wind und Regen hätten helfen können. Sie hatte nicht enden wollende Feuerstürme gesehen, die den Asphalt zum Brennen brachten. Doch was sich auf dem Bahnhof in Döbeln im Dezember 1944 und im Januar 1945 abspielte, war im Vergleich zu allem, was sie bisher erleben musste, ohne Beispiel.

Die direkte Konfrontation mit Tod, mit Verstümmelungen und nacktem Grauen ist für jeden Menschen nur schwer zu ertragen. Für junge Menschen ist sie kaum zu bewältigen. Zumal von Hannelore und ihren Klassenkameradinnen und -kameraden erwartet wurde, dass sie funktionierten. Für Entsetzen und Todesangst, für Panik und Schrecken war kein Platz. Was man den Kindern von damals nur wünschen kann, ist eine Umgebung, in der sie das loswerden konnten, was sie bewegte. Wenn man sich heute mit den Aussagen von Zeitzeugen befasst, wird schnell deutlich, dass nur die wenigsten diesen Raum hatten. Nicht während des Krieges und auch nicht hinterher, als alle Kraft dem Wiederaufbau galt. Die Generation der Kriegskinder wurde mit ihren traumatischen Erlebnissen weitgehend alleine gelassen. Eine psychologische Begleitung, wie sie heute Hinterbliebenen oder Einsatzkräften bei einer Großkatastrophe zur Verfügung steht, gab es nicht.

Hannelore hat sich mir gegenüber nicht dazu geäußert, welche Seelenqualen diese Hilfsdienste auf dem Bahnhof Döbeln in ihr ausgelöst haben. Dass sie damit heillos überfordert war, steht für mich dennoch außer Frage. Man weiß von erwachsenen Hilfskräften und Feuerwehrleuten, dass gerade die Beseitigung von Leichen, vor allem von Kinderleichen, eine extreme Belastung darstellt. Wenn ein Kind solchen Belastungen ausgesetzt ist, besteht die Gefahr, dass es jeden inneren Halt verliert.

Wenn Hannelores Mutter in dieser Situation eine Halt gebende Person war, konnte die Tochter diese einschneidenden Erlebnisse möglicherweise gut verarbeiten. Wenn man aber an die Distanziertheit von Irene Renner denkt, an das beständige Einfordern von Härte gegen sich selbst und andere, scheint es eher unwahrscheinlich, dass sie ihr Kind in diesen Momenten sensibel auffing. Auch wenn es spekulativ sein mag, bin ich überzeugt davon, dass Hannelore damals schon die Erfahrung machen musste, dass man Traumata besser wegdrückt, im Dunkeln lässt und kein Licht in die eigene Gefühlswelt hineinbringt.

VERSTRICKUNGEN

Gerade in dieser schwierigen Lebenslage sehnte sich Hannelore sicherlich mehr als je zuvor nach ihrem Vater. Mutter und Tochter pendelten jedenfalls so oft es ging zwischen Döbeln und Leipzig und nutzten jede Gelegenheit – und sei es auch nur für wenige Minuten –, Wilhelm Renner zu sehen. Je seltener der geliebte Mensch wegen seiner hochbrisanten beruflichen Verpflichtungen verfügbar war, umso wunderbarer war es für die Elfjährige, wenn er einmal Zeit für sie hatte. Zu ihrem großen Schmerz wurden die Begegnungen im weiteren Verlauf des Krieges immer weniger, nach dem verheerenden Bombardement auf die Elbmetropole in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 kamen sie ganz zum Erliegen. Im »Feuersturm« von Dresden kamen 25 000 Menschen ums Leben. Nur fünf Tage vorher hatten Hannelore und ihre Mutter Freunde in der Stadt besucht.

Der HASAG-Direktor kämpfte um die Aufrechterhaltung der Betriebsordnung und die Sicherung der mit Hochdruck betriebenen Panzerfaustproduktion. Das Leipziger Rüstungsunternehmen hatte sich an die Bedingungen des Dauerkrieges angepasst. Die Maschinen der HASAG liefen rund um die Uhr. Ende 1942 war die erste Panzerfaust im Stammwerk entwickelt worden. Wilhelm Renner hatte daran keinen geringen Anteil. Er war zwar nicht der Erfinder der Panzerfaust, aber bei der Entwicklung ein wichtiger Ratgeber der Ingenieure. Adolf Hitler selbst hatte im Sommer 1944 eine »Schnellaktion Panzerfaust« angeordnet und dieser absoluten Vorrang eingeräumt. Das HASAG-Direktorium schaffte es in einem gewaltigen Kraftakt, innerhalb weniger Monate den Ausstoß an Panzerfäusten um das Dreifache zu erhöhen. Der nationalsozialistische Vorzeigebetrieb gehörte 1944 mit 64 000 Arbeitern – darunter 40 000 Ausländern – zu den bedeutendsten Rüstungsunternehmen Deutschlands.

Die Geschichte der HASAG, von den Leipziger Wissenschaftlern Mustafa Haikal und Klaus Hesse mittlerweile gut erforscht, ist unlösbar mit dem Schicksal einer großen Zahl von Zwangsarbeitern verbunden. Das Unternehmen beschäftigte nach jüngsten Erkenntnissen Frauen und Männer aus zwölf Nationen. Es war die SS-Führung, die wegen des starken Mangels an Arbeitskräften die Idee entwickelt hatte, Millionen von Juden vor ihrer Ermordung in der Rüstungsindustrie einzusetzen. Das geschah zunächst in den Rüstungsfabriken der HASAG im »Generalgouvernement«, dem besetzten Polen. In aller Eile wurden polnische Juden auf dem dortigen Werksgelände interniert. Schwangere oder nicht mehr arbeitsfähige Personen wurden an Ort und Stelle erschossen. Die meisten der Betroffenen waren nach drei Monaten physisch und psychisch am Ende und wurden bei regelmäßig stattfindenden Massenerschießungen durch den SS-Werksschutz »eliminiert«. Die Ermordung Tausender Menschen durch den SS-Werkschutz und die unmenschliche Praxis der Lagerführung im besetzten Polen sind in der Doktorarbeit von Felicja Karay dokumentiert. Auch in den sächsischen und thüringischen Stammbetrieben der HASAG wurden in großem Umfang jüdische KZ-Häftlinge eingesetzt. Fast zwei Drittel von ihnen waren Frauen. Sie produzierten in den letzten Kriegsjahren vorrangig die Panzerfaust. Mit der 1944 einsetzenden Evakuierung der Betriebe in Polen und der Übernahme der deutschen HASAG-Lager durch das KZ Buchenwald begann das letzte Kapitel in der Leidensgeschichte dieser Menschen. Von den ungefähr 22 000 KZ-Häftlingen, die bis zum Ende des Krieges die deutschen Lager der Firma HASAG passierten, wurden nach neuesten Erkenntnissen 20 bis 30 Prozent ermordet. Insgesamt arbeiteten in den deutschen und polnischen Betrieben des HASAG-Konzerns mindestens 60 000 KZ-Häftlinge und sogenannte »Arbeitsjuden«. Das waren mehr als bei der mächtigen IG Farben. Gesichert ist nach jüngsten Forschungsarbeiten auch, dass 32 000 dieser Frauen und Männer starben: am Arbeitsplatz, im Lager, durch Erschießungen im Anschluss an »Selektionen« oder – nach der Evakuierung der Lager – auf den Todesmärschen. Forscher haben festgestellt, dass sowohl qualitativ als auch quantitativ die HASAG dasjenige Unternehmen war, das stärker als alle anderen privatwirtschaftlichen Betriebe den skrupellosen Einsatz und Mord von KZ-Häftlingen und »Arbeitsjuden« betrieb. Während die Verantwortung für die KZ-Außenstellen ausschließlich bei der SS lag, waren Unterbringung und Verpflegung der KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiterinnen ausschließlich Angelegenheit des HASAG-Konzerns. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war Wilhelm Renner in seiner Eigenschaft als Direktor für Soziales daran wesentlich beteiligt. Zumal er als rechte Hand des »Sonderbeauftragten in der Zwangsarbeiterrekrutierung«, Paul Budin, fungierte. Diese Verstrickung war ein Grund dafür, dass Renner nach dem Krieg gesucht wurde – weil er in seiner Funktion »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« begangen haben soll.

Seit 1933 war er Mitglied der NSDAP und es gibt keine Belege dafür, dass sich Hannelores Vater vom völkisch-rassistischen Antisemitismus seiner Partei in irgendeiner Weise distanziert hätte. Für den engagierten Parteigenossen war es, dies wohl als weiteres Zeichen für seine Parteitreue, eine Selbstverständlichkeit, sich trotz seiner begrenzten freien Zeit als »Blockleiter z.b.V« (zur besonderen Verwendung) zur Verfügung zu stellen. Im allgemeinen Sprachgebrauch setzte sich die Bezeichnung »Blockwart« durch. Er stand am unteren Ende der Hierarchie von nationalsozialistischen Parteifunktionären und war für 40 bis 60 Haushalte mit durchschnittlich rund 170 Personen zuständig. Der Blockwart musste seine arische Abstammung bis 1800 nachweisen und wurde auf Adolf Hitler vereidigt. Bei dienstlichen Anlässen hatte er Uniform zu tragen und war zu einem »vorbildlichen Verhalten« auch im Privatleben angehalten. Zu seinem Aufgabenbereich gehörte die Propaganda für die nationalsozialistische Ideologie und die Durchsetzung der Rassenpolitik – etwa durch die Auflistung jüdischen Besitzes und jüdischer Wohnungen. Zur politischen Überwachung führte er eine normierte Haushaltskartei, notierte Unmutsäußerungen und das Verhalten bei Beflaggung, fertigte Leumundszeugnisse an und zählte zu den allgegenwärtigen Ansprechpartnern für Denunzianten. Der Blockwart vermerkte, seit wann der Völkische Beobachter bezogen wurde, ob die Familie eine Hakenkreuzfahne besaß und welches Rundfunkgerät im Haushalt vorhanden war. Auch wenn die Blockwarte im Volksmund als »Treppenterrier« bezeichnet wurden und kein besonders hohes Ansehen genossen, waren sie aufgrund ihrer Macht und ihrer Überwachungsmethoden gefürchtet.

Zu Parteidiensten wie diesem hatte Wilhelm Renner niemand gezwungen. Er widmete sich diesen Aufgaben allem Anschein nach freiwillig und aus Überzeugung, fühlte sich als Angehöriger der Funktionärselite und als herausgehobenes Mitglied der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Wilhelm Renner dürfte mit vielen Zielen des NS-Regimes einverstanden gewesen sein. Auch sein Engagement als Mitglied im »Nationalsozialistischen Fliegerkorps« (NSFK) und im »Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps« (NSKK) legt davon Zeugnis ab. Letzteres war eine paramilitärische Organisation der NSDAP und hatte eigene Dienstgrade, die denen der SA ähnelten. Der sportbegeisterte Autonarr brachte es zum NSKK-Sturmführer. Dem Kraftfahrkorps oblag die Verkehrserziehung der Kraftfahrer und der Jugend, und es arbeitete auch als Pannenhilfsdienst. In den besetzten Ostgebieten war das NSKK allerdings in hohem Maße an Deportationen von Juden beteiligt und machte sich auf diese Weise zum willfährigen Diener der Vernichtungsmaschinerie. Es gibt keine Hinweise, dass sich der viel beschäftigte HASAG-Direktor an diesen Maßnahmen beteiligt hat. 1945 wurde das NSKK aufgelöst und verboten.

Auch das nationalsozialistische Fliegerkorps war eine paramilitärische Organisation, die unmittelbar Reichsluftfahrtminister Hermann Göring unterstand. Die Mitgliedschaft war freiwillig. Im Personalbogen der NSDAP Kreis Leipzig vom 14. März 1944 wird eine weitere Funktion Wilhelm Renners aufgeführt. Er war Werkluftschutzleiter der HASAG. Zentrale Aufgabe des Werkluftschutzes war es, »die Erhaltung der industriellen Erzeugung und die Sicherstellung der Versorgung, sowohl der kämpfenden Truppe als auch der Bevölkerung (sicherzustellen), da sie die erste Voraussetzung für eine erfolgreiche Landverteidigung« sei. Dem Werkschutzleiter unterstand ein besonderer Dienst zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Betrieb vor, bei und nach einem Luftangriff: Werksfeuerwehrtrupps, ein Werkssanitäts- und ein Entgiftungsdienst, Arbeits- sowie Störungstrupps, die innerhalb des Werkes Schäden an den Leitungen für Gas, Wasser, Elektrizität und Kanalisation zu beseitigen hatten. Die Einsätze der Trupps beschränkten sich indes auf Übungen. Wie durch ein Wunder blieb das Stammwerk trotz ständiger Bombardierung der Messestadt unversehrt.

* * *

Während der letzten Monate der Nazi-Herrschaft überstürzten sich die Ereignisse im HASAG-Werk in Leipzig. Die Betriebsleitung verschärfte die Sicherheitskontrollen, Paul Budin reagierte mit dem Erlass des Schießbefehls auf sich häufende Diebstähle und den wachsenden Widerstand der Zwangsarbeiter. Unmittelbar vor dem Einmarsch der Amerikaner erschienen große Teile der Belegschaft nicht mehr zur Arbeit. Nach Erkenntnissen der Historiker schickten SS-Männer noch einmal Hunderte Häftlinge in den Tod. Die Evakuierung der werkseigenen KZ-Lager und die Mitte April 1945 beginnenden Fußmärsche der geschwächten Insassen gehören zu den schrecklichen Verbrechen in der Endphase des Krieges.

HASAG-Chef und SS-Mann Paul Budin versuchte noch in den letzten Kriegstagen, die Verteidigung der Stadt zu organisieren und den Oberbürgermeister zu überreden, Leipzig zur Festung zu erklären. Doch die Stadtspitze lehnte ab. Wenn ihm schon das misslang, wollte Budin wenigstens die deutsche Restbelegschaft der HASAG auf den »Endkampf« einstimmen. Obwohl die Zerfallserscheinungen auch im nationalsozialistischen Musterbetrieb HASAG nicht mehr zu übersehen waren, trat Budin zusammen mit seinem Vertrauten Wilhelm Renner noch einmal, ein letztes Mal, vor die Belegschaft und forderte sie mit starken Worten auf, bis zum Letzten fanatischen Widerstand zu leisten. Die Resonanz war gering, es fanden sich kaum Freiwillige, die sich im letzten Moment noch verheizen lassen wollten. Die Amerikaner standen bereits vor den Toren Leipzigs.

Nach seinem dramatischen Auftritt im Werk soll sich Budin zusammen mit seiner Frau in der Nacht vom 13. auf den 14. April im Verwaltungsgebäude der HASAG in die Luft gesprengt haben. Die Detonation riss zwei Mitarbeiter der Betriebswache in den Tod und vernichtete Teile des Firmenarchivs. Die Leichen des Ehepaars Budin und ihrer beiden Hunde wurden indes nie gefunden. Bis heute halten sich Gerüchte, der SS-Mann habe sich unerkannt Richtung Westen abgesetzt.

Nach der Befreiung der Sachsenmetropole am 18. April 1945 durch Einheiten der 3. US-Armee und der Besetzung des HASAG-Stammwerkes nahm Renner zusammen mit Kollegen der alten Geschäftsleitung Kontakt zu den Siegern auf, in der Hoffnung, die Kontrolle über das Werk behalten zu können. Tatsächlich lief bereits im Juni 1945 die Produktion wieder an – umgestellt auf Friedenszeiten wurden bis zur Werksdemontage durch die Sowjets 1946 Kochtöpfe, Lampen und dergleichen hergestellt. An einer Übernahme der alten Firmenleitung hatten die Amerikaner allerdings kein Interesse. Wenngleich sie für die Übersiedlung einer unbekannten Anzahl von HASAG-Spezialisten in die Vereinigten Staaten sorgten, die dort Waffen für die Amerikaner entwickeln sollten. Direktor Wilhelm Renner war nicht dabei.

TRAUMA

Für die Bevölkerung Mitteldeutschlands letztlich überraschend verließen die Amerikaner die von ihnen bereits besetzte Region. Sie tauschten sie ein gegen einen von den Russen angebotenen eigenen Sektor in der Hauptstadt Berlin. Einen Tag bevor Truppen der Roten Armee in das ehemals amerikanisch besetzte Gebiet einrückten und auch Döbeln am 6. Mai 1945 besetzten, verließen Irene und Hannelore Renner die Stadt. Gerüchte über die herannahenden Russen hatten in Döbeln schon lange kursiert, und die Angst vor den »Untermenschen«, die die nationalsozialistische Propaganda den Deutschen ununterbrochen eingebläut hatte, ins Unermessliche gesteigert. In dieser Situation fasste Irene Renner den gewagten Entschluss, sich zusammen mit ihrem Kind, einer Freundin und deren beiden Töchtern zu Fuß nach Leipzig durchzuschlagen. Auf einen Handwagen packten sie das Allernotwendigste und brachen im Morgengrauen des 5. Mai 1945 auf. Sie waren noch nicht lange unterwegs, als sie beim Durchwaten der Mulde, eines Nebenflusses der Elbe, von sowjetischen Patrouillen beschossen wurden. Sie hatten Glück und konnten unversehrt weiterziehen. Aber die lebensbedrohliche Situation brannte sich tief in die Seele der zwölfjährigen Hannelore ein.

Auf den Straßen herrschte unbeschreibliches Chaos. Flüchtlingstrecks, die sich nur langsam vorwärtsschoben und immer wieder von Wehrmachtsfahrzeugen und Soldaten von den Wegen abgedrängt wurden. Die Straßen gesäumt von unzähligen Leichen. Vor Hannelores Augen spielten sich fürchterliche Szenen ab. Menschen, die nicht schnell genug von der Straße sprangen, wurden einfach überrollt. Greise und Kinder brachen entkräftet zusammen, sie zu begraben, dafür blieb keine Zeit. Denn immer wieder wurde auch ihre kleine Flüchtlingsgruppe von russischen Soldaten und Panzern eingeholt. Dabei kam es zu einem folgenschweren Zwischenfall, den Hannelore niemals mehr vergessen sollte.

Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und zum Teil auch junger Mädchen gehören zu den schlimmsten Verbrechen, die im Zweiten Weltkrieg an der Zivilbevölkerung begangen wurden. Die Zahl der Opfer wird nach neuesten Forschungen auf 1,9 Millionen geschätzt. In unzähligen Fällen wurden sie beim Einmarsch der sowjetischen Truppen nicht nur einmal, sondern mehrmals vergewaltigt, häufig gleich von mehreren Soldaten.

Nie zuvor wurden innerhalb eines so kurzen Zeitraumes so viele Frauen und Mädchen von fremden Soldaten missbraucht wie 1944/45 nach dem Einmarsch der Roten Armee in Deutschland. Allein das Ausmaß ist beispiellos, fürchterlich auch die Brutalität, mit der die Frauen und Mädchen missbraucht wurden. Selbst Kinder und Greisinnen wurden nicht verschont. Alles Reden und Bitten, Flehen und Weinen half nicht. Nicht selten erfolgten die Vergewaltigungen vor den Augen der Angehörigen. Für Kinder ein besonders traumatisches Erlebnis. Im schlimmsten Fall wurden sie selbst Opfer einer oder mehrerer Vergewaltigungen – ein derartiges Schicksal berichtet etwa die Autorin Felicitas Achtelik-Reiter in ihrem Buch Ein deutsches Kind auf der Flucht, als Russen ein gerade einmal zwölfjähriges Mädchen vergewaltigten. Ebenso alt war Hannelore Renner zum Zeitpunkt ihrer Flucht.

Aus vielen Berichten von betroffenen Frauen wissen wir: Vergewaltigt wurde im Dunkel der Nächte 1944/45 in Kellern, Schulen, Ställen, in geplünderten Wohnungen, auf Dachböden, einfach überall. Die Massenvergewaltigungen durch Soldaten der Sowjetarmee endeten oftmals in einer Orgie der Gewalt, gelenkt von Hass, Wut, Verachtung und Rachegefühlen. Der emeritierte Professor für Staatsrecht und Völkerrecht Ingo von Münch hat in seinem eindrucksvollen Buch Frau komm! im Jahr 2010 das ungeheure Ausmaß dieser Verbrechen publiziert. Während erwachsene Frauen zumindest ahnen konnten, was auf sie zukommen könnte, waren die Kinder und jungen Mädchen völlig unvorbereitet. Zum Erduldenmüssen der Gewalt kam als zusätzlicher Schock, dass sie in dieser Situation erleben mussten, dass nicht einmal ihre eigenen Mütter sie vor den gewalttätigen Misshandlungen schützen konnten.

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Personalbogen der NSDAP Kreis Leipzig, in dem Wilhelm Renner am 14. März 1944 seine Funktion als Werkschutzleiter bei der HASAG, als Blockleiter sowie seine Mitgliedschaft im NSKK und NSFK bestätigt. Quelle: Sächsisches Staatsarchiv

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Auch Hannelore musste als Zwölfjährige traumatische Erfahrungen gleich mehrfach durchleiden. Wie sie selbst berichtete, wurde sie einmal von den Russen wie ein Zementsack aus dem Fenster geworfen. Über die genauen Umstände dieses Vorfalls schwieg sie sich bis zu ihrem Tod aus. Und auch über ihre eigene Vergewaltigung hat sie niemals öffentlich gesprochen, obwohl es immer wieder Mutmaßungen gab, dass sie wie Millionen Frauen und Mädchen dieses grausame Schicksal durchleiden musste. Auf meine konkrete Nachfrage bei einem unserer Spaziergänge bestätigte sie, selbst von den Russen vergewaltigt worden zu sein, ohne jedoch Details zu nennen. Fakt ist, dass sie damals nicht nur schwerste seelische Verwundungen, sondern vermutlich auch körperliche Verletzungen davon trug. Erst viel später stellte sich heraus, dass sie sich bei den Geschehnissen auf der Flucht, ob beim Fenstersturz oder bei der Vergewaltigung, bleibt ungeklärt, Absplitterungen an einem Brustwirbel zugezogen hatte. Bis zu ihrem Tod durfte sie die Wirbelsäule nicht belasten und musste schweres Tragen meiden. Die immer wieder auftretenden Schmerzen konnten nur durch Medikamente gelindert werden. Das hieß auch, sich immer wieder an diese schlimmen Erlebnisse zu erinnern, die ihre Würde als Mensch und als Frau schwer beschädigten.

Während unmittelbare körperliche Folgen einer Vergewaltigung heilen, bleiben die seelischen Folgen ein Leben lang bestehen. Ohne therapeutische Unterstützung ist ein solches Trauma kaum zu bewältigen. Ob Hannelore Kohl jemals professionelle Hilfe in Anspruch genommen hat, ist nicht bekannt.

Das Thema scheint im Hause Kohl durchaus präsent gewesen zu sein. So habe ich einmal in einem Haushalt der Familie Kohl das Buch von Gaby Köpp Warum war ich bloß ein Mädchen? gesehen. Darin beschreibt die Autorin ihr Schicksal als fünfzehnjähriges Mädchen auf der Flucht, das wiederholt sexuell missbraucht wurde, und wie sie von anderen Frauen an die Russen verraten und vorgeschoben wurde, um selbst verschont zu bleiben. Vergleichbare Berichte von vergewaltigten Mädchen, die manchmal sogar von den eigenen Müttern und Tanten »geopfert« wurden, gibt es seit einiger Zeit. Ob Hannelore Kohl solch rücksichtslosen Verrat erleben musste, ist allerdings nicht belegbar.

Unabhängig von der wohl nie mehr genau festzustellenden Schwere, Art und Umständen der Misshandlungen durch die russischen Soldaten: Traumatisiert war Hannelore Kohl sicherlich durch ihre Kriegserlebnisse. Traumatisierten Menschen bleibt meist nur noch ein Ausweg: Sie sperren ihre Traumata weg, in einen dunklen Raum in ihrem Inneren, in den sie sich nicht mehr hineinwagen. Es ist ein Überlebensmechanismus, der im Laufe der Zeit dazu führen kann, dass man das Erlebte so vollkommen abspaltet, dass es irgendwann negiert wird. Doch Psychotherapeuten wissen, dass das Körpergedächtnis nichts vergessen kann und dass es nicht zu betrügen ist.

Von Traumatisierung, also der Nicht-Verarbeitung furchtbarer persönlicher Erlebnisse, sprach nach dem Krieg niemand. Niemand half den Opfern. Nicht nur die Täter schwiegen nach dem Zweiten Weltkrieg, auch die Betroffenen redeten nicht – aus Scham und Angst. Das Thema Vergewaltigung war Jahrzehnte ein großes Tabu. Eine Aufarbeitung dieser Geschehnisse erfolgte eigentlich erst im Zusammenhang mit den Ereignissen im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien, die das Thema sexuelle Gewalt in Kriegen wieder in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rückten und zu einer intensiven wissenschaftlichen Erforschung führten. Die Historikerin Birgit Beck-Heppner erinnert im Nachwort zu Gaby Köpps Lebensgeschichte Warum war ich bloß ein Mädchen? Das Trauma einer Flucht 1945 mit Recht daran, dass ein Einzelschicksal mit prägenden Erfahrungen auf der Flucht nicht losgelöst betrachtet werden kann von der Geschichte des Nationalsozialismus in den Jahren von 1933 bis 1945. So ging den verschiedenen Phasen von Evakuierung und Flucht der deutschen Bevölkerung der vom nationalsozialistischen Regime in Europa entfachte Zweite Weltkrieg mit all seinen schrecklichen Grausamkeiten in den besetzten Ländern voraus. Wir wissen heute, dass infolge des Krieges mehr als 60 Millionen Menschen starben, überwiegend Zivilistinnen und Zivilisten, darunter sechs Millionen Juden, die vor allem in Osteuropa ermordet wurden. Allein in der Sowjetunion kamen zwischen 1941 und 1945 mehr als 25 Millionen Menschen im Rahmen des dort völkerrechtswidrig geführten Krieges, des Völkermordes an den Juden und der deutschen Germanisierungs- und Siedlungspolitik um. Daran muss erinnert werden, wenn es um das Leid der Vertriebenen und Flüchtlinge geht. Deren Erfahrung aber wird für sie selbst immer etwas bleiben, mit dem sie sich allein und Zeit ihres Lebens auseinandersetzen mussten.

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Völlig erschöpft erreichten Mutter und Tochter nach den 15 gefahrvollsten Tagen und Nächten ihres Lebens die Kleinstadt Taucha nordöstlich von Leipzig. Von der Befreiung der Konzentrationslager durch die alliierten Truppen und der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 hatten die Flüchtenden noch nichts erfahren.

Bei guten Bekannten in der Bahnhofstraße 19 fanden sie eine bescheidene Unterkunft. Um in den Genuss von Lebensmittelzuteilungen zu kommen, meldeten sich Mutter und Kind bei der amerikanischen Militärregierung im Rathaus, wo sie eine »Temporary Registration«, eine »Zeitweise Registrierungskarte«, erhielten. Im Buch von Peter Kohl ist dieses Dokument mit der Unterschrift der zwölfjährigen Hannelore abgedruckt. Hier fühlten sich die Flüchtlinge einigermaßen in Sicherheit und warteten händeringend auf ein Lebenszeichen des Vaters. Wo er sich in den Wochen bis Ende Mai 1945 aufhielt und was er in dieser Zeit tatsächlich machte, liegt völlig im Dunkeln und lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Es bleibt sein Geheimnis, und wenn Hannelore darüber etwas wusste, schwieg sie sich bis zu ihrem Tod darüber aus. Belegt ist, dass das Haus in der Montbéstraße 41 im Februar 1945 bei einem Luftangriff der Alliierten völlig zerstört wurde. Alle Erinnerungsstücke aus der Zeit ihrer Kindheit, ihre Spielsachen, Kleider und Bücher waren nebst Möbeln und Wertgegenständen in Flammen aufgegangen.

Warum Wilhelm Renner kurz vor Kriegsende keinerlei Anstalten unternommen hatte, seine Familie vor den heranrückenden sowjetischen Truppen in Sicherheit zu bringen, ist heute nicht mehr nachzuvollziehen. Wie bereits erwähnt, hatte der Werksdirektor offenbar versuchen wollen, mit Unterstützung der neuen amerikanischen Machthaber zu retten, was nicht mehr zu retten war. Er glaubte ernsthaft, als ehemaliger Direktor eines nationalsozialistischen Musterbetriebs weiterhin an der Spitze des Unternehmens bleiben zu können – trotz erheblicher politischer Belastung. Nachdem sich die HASAG-Spitze in Person des SS-Manns Paul Budin, durch Flucht oder Selbstmord, aus der Verantwortung gezogen hatte, witterte der Pfälzer scheinbar die Chance, ganz an die Spitze einer auf Friedensproduktion umgestellten Munitionsfabrik zu gelangen. Doch nach ersten Gesprächen mit den Amerikanern hatte er erkennen müssen, dass sich sein Traum nicht erfüllen würde. Es ist erstaunlich, wie weltfremd er in dieser Situation agierte. Wäre die HASAG gleich in die Hände der sowjetischen Besatzungsmacht gefallen, hätte diese mit ihm und dem angetroffenen Leitungspersonal des Rüstungsunternehmens kurzen Prozess gemacht: Sie wären erschossen worden.