An einem tristen, grauen Cambridge-Frühlingstag brachen(7) wir in einem Trauerzug aus schwarzen Autos in Richtung Great St. Mary’s Church auf, zur Universitätskirche, in der traditionsgemäß die Trauergottesdienste bedeutender Akademiker stattfinden. Es waren gerade Semesterferien, und die Straßen wirkten wie ausgestorben. Cambridge sah leer aus, nicht einmal ein herumspazierender Tourist war zu sehen. Die einzigen Farbtupfer waren die blauen Blinklichter der Polizeieskorte auf ihren Motorrädern, die den Leichenwagen mit dem Sarg meines Vaters bewachte und den spärlichen Autoverkehr auf unserem Weg stoppte.
Und dann bogen wir nach links um die Ecke. Und sahen die Massen, die sich entlang einer der markantesten Straßen weltweit eingefunden hatten: auf der Kings Parade, dem Herzen von Cambridge. Ich(8) habe noch nie so viele Menschen – schweigende Menschen – gesehen. Sie hielten Spruchbänder, Fahnen, Kameras und Handys hoch, und sie verharrten in stillem Respekt, als der Oberste Pförtner von Gonville & Caius, dem College meines Vaters, in der zeremoniellen Kleidung mit Bowler und einem Ebenholzstock in der Hand feierlich die Straße überquerte und sich zu dem Leichenwagen begab, um neben ihm zur Kirche zu schreiten.
Meine (9)Tante drückte meine Hand, als uns beiden die Tränen kamen. »Er hätte das geliebt«, flüsterte sie mir zu.
Seit mein(10) Vater gestorben ist, gab es so viele Dinge, die er geliebt hätte, so vieles, von dem ich wünschte, er hätte es miterleben dürfen. Ich wünschte, er hätte die außerordentliche Welle von Zuneigung für ihn erlebt, Zuneigung aus der ganzen Welt. Ich wünschte, er hätte erleben können, wie sehr er von Millionen von Menschen geliebt und respektiert wurde, die ihm nie persönlich begegnet waren. Ich(11) wünschte, er hätte erfahren, dass er in der Westminster Abbey beigesetzt werden sollte, zwischen zwei Heroen der Wissenschaft: Isaac Newton(8) und Charles Darwin(7); und dass seine Stimme, als er zur letzten Ruhe in die Erde gebettet wurde, mittels eines Radioteleskops in Richtung eines Schwarzen Loches gesendet wurde.
Aber er hätte sich auch gefragt, wozu das ganze Theater gut sein sollte. Er war ein erstaunlich bescheidener Mensch, der das Rampenlicht durchaus liebte, aber gelegentlich doch über seinen Ruhm verblüfft war. Eine Formulierung in diesem Buch hat mir(12) sein Verhältnis zu seiner eigenen Person ganz besonders deutlich gemacht: »… wenn ich dazu einen Beitrag geleistet habe«. Ich glaube, er ist der Einzige, der diesem Halbsatz ein wenn vorausstellt. Und ich bin fest überzeugt, alle anderen sind absolut sicher, dass er einen Beitrag geleistet hat.
Und wie gewaltig ist doch sein Beitrag! Sowohl in der umfassenden Großartigkeit seiner Arbeit im Bereich der Kosmologie, bei der Erforschung der Struktur und der Ursprünge des Universums, als auch in seiner zutiefst menschlichen Tapferkeit und in dem Humor, mit dem er sich seinen körperlichen Einschränkungen stellte. Es ist ihm gelungen, über die Grenzen des Wissens hinauszureichen, während er gleichzeitig die Grenzen des Duldens überschritt. Ich(13) glaube, es war diese Kombination, die ihn zugleich zur Ikone und so zugänglich machte. Er litt, aber er gab nicht auf. Es war anstrengend für ihn zu kommunizieren – doch er nahm die Anstrengung auf sich und arbeitete, während seine Beweglichkeit immer weiter abnahm, ständig daran, seine Ausrüstung mit Hilfsmitteln seinen steigenden Einschränkungen anzupassen(14). Er achtete sorgsam auf seine Wortwahl, damit seine Worte den größtmöglichen Effekt hatten, wenn sie mit dieser flachen elektronischen Stimme ausgesprochen wurden, die so bemerkenswert ausdrucksstark war, wenn er sie verwendete. Wenn er sprach, dann hörten die Leute zu, egal ob es um seine Ansichten über den National Health Service ging oder um die Ausdehnung des Universums. Und nie ließ er sich die Gelegenheit entgehen, einen Witz anzubringen, den er jeweils vollkommen ausdruckslos, aber mit einem vielsagenden Augenzwinkern formulierte.
Mein(15) Vater war auch ein Familienmensch – das ist eine Tatsache, die den meisten Leuten nicht bewusst war, bevor der Film Die Entdeckung der Unendlichkeit (The Theory of Everything) 2014 in die Kinos kam. Es war sicherlich in den 1970er Jahren höchst ungewöhnlich, einen behinderten Mann zu treffen, der Frau(7) und Kinder(16)(6)(6) hatte und darüber hinaus eine Person mit einem so stark ausgeprägten Autonomie- und Unabhängigkeitsbewusstsein war. Als Kind hasste ich(17) die Art und Weise, wie Fremde uns ungeniert anglotzten, manchmal mit offenstehendem Mund, wenn mein Vater in seinem Rollstuhl in aberwitziger Geschwindigkeit durch Cambridge flitzte, flankiert von zwei wuschelköpfigen blonden (18)(7)Kindern, die neben ihm trabten und gleichzeitig versuchten, ihr Eis zu essen. Ich(19) fand dieses Verhalten einfach äußerst unhöflich. Ich versuchte dann immer zurückzuglotzen, aber ich glaube, dass sich meine Empörung den Zielpersonen kaum vermittelt hat – wahrscheinlich vor allem, weil diese Empörung aus einem mit Eiscreme verschmierten Kindergesicht sprach.
Von einer normalen Kindheit konnte natürlich beim besten Willen nicht die Rede sein. Ich(20) wusste das – aber gleichzeitig auch wieder nicht. Ich hielt es für völlig normal, Erwachsene mit herausfordernden Fragen zu löchern, weil das bei uns daheim gang und gäbe war. Erst als ich angeblich einen Vikar mit meinen penetranten Nachfragen zu seinem Gottesbeweis zum Weinen gebracht hatte, dämmerte es mir, dass das nicht ganz dem Verhalten entsprach, das man von einem kleinen Mädchen erwartete.
Als Kind dachte ich(21) eigentlich nie, dass ich zu den Leuten gehöre, die alles und jedes hinterfragen. Das war in meinen Augen eher mein älterer Bruder(8), der – wie das bei älteren Brüdern so üblich ist – mir gegenüber immer alles besser wusste (woran sich bis heute nichts geändert hat). Ich(22) erinnere mich an die Familienferien in einem Jahr, die sich wie so viele Familienferien geheimnisvollerweise mit einer internationalen Physikertagung in Übersee überlappten. Mein Bruder und ich besuchten einige Vorträge – wahrscheinlich damit meine Mutter(8) ein bisschen Zeit für sich hatte. Damals wandten sich die Vorträge über Physik nicht an ein breites Publikum, und ganz gewiss waren sie nichts für Kinder. Ich saß da und kritzelte meinen Notizblock voll, aber mein Bruder(9) streckte seinen dünnen Jungenarm hoch und stellte dem hervorragenden akademischen Vortragsredner eine Frage – und mein Vater glühte vor Stolz.
Ich(23) werde immer wieder gefragt: »Wie ist es, die Tochter von Stephen Hawking zu sein?«, und natürlich gibt es darauf keine einfache Antwort. Was ich sagen kann: Die Hochs waren sehr hoch, die Tiefs reichten sehr weit hinunter, und dazwischen gab es den Bereich, den wir als »normal – für uns« bezeichneten. Als Erwachsene stellten wir(24)(10)(7) dann fest, dass das, was wir als normal ansahen, wirklich für keinen außer für uns normal war. Nun, da die Zeit den schlimmsten Schmerz ein wenig gelindert hat, habe ich(25) mir überlegt, dass ich wohl ewig brauchen würde, um unsere Erfahrungen zu verarbeiten. In gewisser Weise weiß ich gar nicht, ob ich das überhaupt möchte. Manchmal will ich einfach nur die letzten Worte ganz festhalten, die mein Vater zu mir sagte: dass ich(26) eine wunderbare Tochter gewesen sei und dass ich keine Angst haben sollte. Ich(27) werde nie so tapfer sein wie er – ich bin nicht sonderlich mutig veranlagt, aber er zeigte mir, dass ich es versuchen sollte. Und dass vielleicht dieser Versuch sich als der wichtigste Teil des Mutigseins erweisen würde.
Mein Vater gab nie auf, er wich nie vor einem Kampf zurück. Mit 75 Jahren – da war er schon vollständig gelähmt und konnte nur noch einige wenige Gesichtsmuskel bewegen – stand er noch jeden Tag auf, legte einen Anzug an und ging zur Arbeit. Er hatte seine Dinge, seine Aufgabe zu erledigen, und er würde es nicht zulassen, dass sich ihm einige wenige Belanglosigkeiten in den Weg stellten. Obwohl – ich(28) muss sagen, wenn er von der Existenz dieser Eskorte auf ihren Polizeimotorrädern gewusst hätte, die bei seinem Begräbnis im Einsatz waren, dann hätte er verlangt, dass sie ihn jeden Tag durch den morgendlichen Verkehr von seinem Haus in Cambridge in sein Büro schleusten.
Von diesem Buch aber wusste er glücklicherweise noch. Es war eines der Projekte, an denen er in der Zeit arbeitete, die sich als sein letztes Jahr auf Erden herausstellen sollte. Er beabsichtigte, seine aktuellen Texte in einem Band zusammenzufassen. Wie so vieles, das sich seit seinem Tod ereignet hat, wünschte ich(29), er könnte die fertige Fassung sehen. Ich glaube, er wäre sehr stolz auf dieses Buch, und vielleicht wäre er dann sogar bereit zuzugeben, dass er tatsächlich doch einen kleinen Beitrag geleistet hat – für uns ist es ein gewaltiger Beitrag!
Lucy Hawking(30)
Juli 2018