Peter Hunkeler hatte einen Traum. Es war am Altachenbach, an dem er aufgewachsen war im schweizerischen Mittelland. Dieser Bach war seine Heimat gewesen, seit er sich erinnern konnte. Der Wasserlauf, der sich nach jedem Sommergewitter einen neuen Weg durch die Schlammbänke suchte, die fein geäderten Eisflächen im Winter, auf denen leichter Schnee lag, die schwarzen Egel auf dem Grunde, von denen er sich nie einen in die Hand zu nehmen traute.
An diesem Bach war es, und zwar unter der Brücke, unter der es muffig roch und allerlei Gerümpel herumlag, den niemand mehr haben wollte. Da lag auch ein Gürtel aus geflochtenem Leder, achtlos weggeworfen. Dieser Gürtel lag in einem seltsamen Licht da, unwirklich wie ein Märchengegenstand, trotzdem höchst real, als gehörte er zu einer anderen, wirklicheren Welt. Und er war für ihn da, für Peter Hunkeler, für das Kind, das er einmal gewesen war und jetzt auf geheimnisvolle Weise plötzlich wieder aufs Neue war. Er wagte sich nicht zu rühren vor diesem Fund, weil er fürchtete, er könnte ihm im letzten Moment abhanden kommen, wegrutschen, sich wegschlängeln. Da hörte er einen Ton. Dieser Ton rief ihn von weit her, aus einer fernen Höhle vielleicht, mit der er im Moment nichts zu schaffen hatte. Dort lag der Gürtel, den galt es zu bergen. Aber da war wieder der Ton.
Hunkeler erwachte. Er hörte das Telefon draußen im Gang klingeln, er zählte achtmaliges Aufhören und Wiedereinsetzen des Tones, bis er begriff, dass er gemeint war.
Er schob Hedwigs Bein von seinem Unterschenkel, stieg aus dem warmen Bett, trat in den eiskalten Flur hinaus und hob ab. Es war Madörin.
»Bist du wahnsinnig«, sagte Hunkeler, »wie spät ist es denn?«
»Kurz vor sieben«, sagte Madörin. »Es tut mir leid, aber es sind ein paar Dinge geschehen, die dich vielleicht interessieren könnten.«
»Ich habe einen Traum gehabt«, sagte Hunkeler, »aber den erzähle ich dir nicht. Ein Gürtel aus geflochtenem Leder kam darin vor. Der war wie ein Tier, der war für mich.«
»Wach endlich auf«, sagte Madörin, »träumen kannst du später. Also pass auf: Erstens ist in die Garderoben der Kanalarbeiter an der Hochbergerstraße eingebrochen worden. Drei Kästen sind durchsucht worden. Heute Nacht war das.«
»Eingebrochen«, sagte Hunkeler, »so.« Er spürte die Kälte an seinen nackten Fußsohlen, wie sie aufstieg in seinen Körper. Durch das vergitterte Fenster der Haustür sah er draußen die Dunkelheit.
»Ja«, sagte Madörin, »der Nachtwächter hat es bemerkt und die Polizei angerufen.«
»Mitten aus dem Schlaf«, sagte Hunkeler und gähnte. Er hörte, wie Hedwig drinnen im Bett herumrutschte und wieder zu schnarchen begann.
»Meinst du eigentlich, es mache mir Vergnügen, dich aus dem Schlaf zu klingeln?«, fragte Madörin giftig.
»Entschuldigung. Hier draußen ist noch tiefe Nacht. Hier draußen ist tiefster Frieden.«
Madörin ging nicht darauf ein. »Zweitens: Kayat ist verschwunden.«
»Wie verschwunden?« Hunkeler spürte plötzlich Harndrang, den er kaum beherrschen konnte.
»Bist du jetzt endlich wach?«
»Ja, ich bin wach«, schrie Hunkeler in die Sprechmuschel. »Wie verschwunden?«
»Ich habe, als ich vom Einbruch erfuhr, sofort den Schneeberger im Drei Könige angerufen. Er saß in der Eingangshalle und war offenbar kurz eingenickt. Er ging nachschauen im Zimmer 125. Das Zimmer war leer. Ausgeräumt. Vogel ausgeflogen.«
»Und Haller?«
»Der war bis um zwei Uhr auf dem Treidelweg zum Rhein hin. Dann hat es ihm offenbar zu stark geschneit, und er ist für zwei Stunden nach Hause gegangen, um Kaffee zu trinken und sich aufzuwärmen.«
»Seid ihr alle übergeschnappt?«, schrie Hunkeler. »Ich habe gesagt, rund um die Uhr, und nicht, solange es euch passt.«
Er hörte, wie Hedwig in der Stube etwas murmelte, sie träumte.
»Die einen liegen im Doppelbett in der Bauernstube«, giftete Madörin, »die andern stehn in der Schneenacht draußen. Wie findest du das?«
»Gut«, sagte Hunkeler, »ich bin in einer Stunde an der Hochbergerstraße.«
Er legte auf, öffnete die Haustür, trat hinaus auf den Vorplatz und pisste in den hell schimmernden Schnee. Er schlotterte. Im Stall gegenüber hustete eine Kuh, mühsam und dumpf. Der Himmel über ihm war tiefschwarz. Eine Menge Sterne glitzerte darin. Die Luft war schneidend, eisig. Im Osten hing ein grauer Streifen der aufkommenden Dämmerung.
Als Hunkeler nach einer halben Stunde zusammen mit Hedwig losfuhr, lag bereits Licht über dem Dorf. Im Stall war das Saugen der Melkmaschine zu hören. Dort drin standen die dampfenden Tiere Leib an Leib, mit triefenden Mäulern Heu mampfend, schwere Dungfladen aus dem After drückend, jeder einzelne Leib ein wärmender Ofen.
Die Straße den Hang hinauf war so vereist, dass das Auto nicht weiterkam. Hunkeler suchte die Handschuhe im Handschuhfach. Sie waren nicht da. »Herrgott«, das war der einzige Fluch, der ihm einfiel. Er stieg aus, zerrte die Schneeketten aus dem Kofferraum und machte sich daran, sie über die Vorderreifen zu legen. Seine Verbitterung wuchs zur schieren Verzweiflung an, als er mit klammen Fingern die eiskalten Kettenglieder über das Gummiprofil riss, und er war den Tränen nahe, als sie beim ersten Fahrversuch nach wenigen Metern abfielen. »Nie mehr einen Polizisten«, hörte er Hedwig nebenan sagen, »nie mehr einen Freund und Helfer.«
In Hunkeler erwachte die kalte Wut. Er stieg wieder aus und schmetterte die Tür mit solcher Wucht zu, dass die Karosserie fast auseinanderfiel. Er glitt aus und wäre beinahe gestürzt, als er die Ketten vom Boden aufhob. Es gelang ihm, im Schnee kniend, keuchend, sie so an den Rädern zu befestigen, dass er die Haken korrekt in die dafür bestimmten Ösen einhängen und mit den Gummiringen festzurren konnte. Hedwig saß wie eine Mumie da, als er wieder einstieg, den Blick geradeaus gerichtet.
Als er oben über die Hochebene fuhr, links und rechts die reinen, keuschen Schneefelder, fing der Motor endlich zu heizen an. Die Sterne waren längst verschwunden, der Osten war rosa, ein klirrend klarer Februarmorgen war das. Die Lichter des Flughafens in der Ebene unten brannten immer noch, dahinter lag die Stadt mit den hohen Verwaltungsgebäuden der Chemie, und etwas weiter rechts standen die dunklen Kirchtürme der Altstadt. Ein schönes Bild, dachte Hunkeler, fast ein Stück Heimat.
Erdogan Civil hörte den Wecker rasseln. Er blieb liegen in seiner gekrümmten Stellung, er spürte, wie sich Erikas Leib in seinem Rücken leicht verschob. Das Rasseln hörte auf.
Er behielt die Augen geschlossen und atmete regelmäßig. Er erinnerte sich, geträumt zu haben, irgendetwas von einer Stielhacke, die er auf dem Feld seines Vaters verloren hatte, und doch musste er das Feld hacken, damit neu angesät werden konnte. Es ging aber nicht nur um diese Hacke und um das Feld, es ging noch um etwas ganz anderes, viel Wichtigeres. Und plötzlich war der Stiel der Hacke eine Schlange, die sich bewegte und ihn in die linke Hand biss.
Er versuchte, seine linke Hand zu bewegen. Es ging ohne weiteres, sie war unverletzt. Es war eben nur ein Traum gewesen.
Er war es gewohnt, die verrücktesten Geschichten zu träumen, vor allem in den frühen Morgenstunden, wenn die schwere Nachtmüdigkeit von ihm gewichen war. Dann war er jeweils beim Aufwachen froh, Erikas Leib neben sich zu spüren. Gegen ihn vermochten die Träume nichts.
Er drehte sich auf die andere Seite, dehnte den Oberkörper und gähnte. Der Stiel einer Hacke, dachte er, der plötzlich eine Schlange wird. So ein Unsinn.
Schlangen hatte er in seiner Jugend genug gesehen, als er im Flussdelta die paar Kühe hüten musste, die sein Vater besaß. Er dachte an das magere Gras auf den Sandbänken, an das knietiefe Wasser, in dem die Kühe standen, um sich in der Hitze abzukühlen, an die Flamingos draußen in der Lagune mit den rosaroten Federn und den Hakenschnäbeln, die blitzschnell in die silbernen Fischschwärme tauchten. Und dann fielen ihm die Diamanten ein, die drüben auf dem Tisch lagen.
Diese Steine waren noch unwirklicher als der verrückteste Traum. Eine Handvoll Kiesel wie geschliffene Wassertropfen, heruntergefallen aus einer schmutzigen Röhre, leuchtend und bläulich blitzend mitten im Unrat, heruntergetropft vor seine Füße, in seine Hand. Das war, als ob ein Stern mitten aus dem Nachthimmel heruntergefahren wäre in die Lagune hinein, mitten unter die Flamingos, die dort auf stelzigen Beinen übernachteten.
Er hatte Glück gehabt, einmal in seinem Leben ein großes, unverdientes Glück. Der Himmel hatte ihn geküsst. Und er wagte sich nicht zu rühren vor Freude und Angst.
Da klingelte das Telefon. Erdogan setzte sich auf und schaute verständnislos zu, wie Erika aus der Küche kam, zum Telefon ging und abhob.
»Ja«, sagte sie, »hier wohnt Erdogan Civil. Einen Moment bitte.«
Sie legte den Hörer neben die Gabel.
»Ein Mann«, flüsterte sie, »er will dich sprechen. Ein fremder Mann, kein Schweizer.«
Erdogan erhob sich und hielt sich den Hörer ans Ohr. »Ja?«
Er hörte eine ruhige, feste Männerstimme, die sagte: »Hör mal, du armes Türkenschwein. Du arbeitest doch in der Kanalisation.«
»Ja«, sagte Erdogan, und seine Hand zitterte.
»Keine Angst«, sagte die Stimme, »ich tu dir nichts an. Ich will dich bloß informieren. Ich habe eine Handvoll Diamanten verloren. Sehr schöne Ware, sehr viel Geld. Sie liegen in der Kanalisation beim Badischen Bahnhof. Solltest du sie finden, so musst du wissen, dass sie mir gehören. Und dass ich sie zurückhaben will. Begriffen?«
»Nein«, sagte Erdogan, »die gehören mir.«
Er erschrak, er nahm den Hörer in die andere Hand, die weniger zitterte.
»Ach so«, sagte die Stimme. Dann war Stille. Erdogan wollte schon auflegen, aber da meldete sich der Mann wieder.
»Schau an«, sagte er, »du hast sie also gefunden.«
»Nein«, schrie Erdogan, »ich weiß überhaupt nicht, von was Sie reden.«
»Doch, du weißt es genau. Ich begreife gut, dass du sie gern behalten möchtest. Wer möchte nicht gern eine Handvoll Diamanten haben in dieser traurigen Zeit, nicht wahr?« Die Stimme lachte, nicht unfreundlich. »Aber das geht leider nicht. Diese Diamanten gehören nicht dir, sondern mir. Begriffen?«
»Jetzt hören Sie endlich auf, bitte«, flehte Erdogan, »wer sind Sie überhaupt?«
»Das tut nichts zur Sache«, sagte die Stimme leichthin, als hätte sie übers Wetter geredet, »ich bin ein Freund von dir, verstehst du? Und unter Freunden bestiehlt man sich nicht. Das wirst du bestimmt einsehen, nicht wahr? Sonst müsste ich dich bestrafen. Du lebst doch mit einer Frau zusammen, mein Freund? Überlege es dir aber nicht zu lange. Ich melde mich wieder. Bleib sauber, mein Freund, und bitte keine Polizei. Begriffen?«
Man hörte den Atem des fremden Mannes, der offenbar Tabakrauch ausstieß. »Begriffen?«
»Ja«, flüsterte Erdogan.
»Gut, ich bin stärker als du. Viel stärker. Das musst du einsehen.« Er legte auf.
Erdogan stand da, im Pyjama mit nackten Füßen, den Hörer in der Hand, und schaute Erika an, die wortlos zugehört hatte. Von draußen war die Fräsmaschine aus der Schreinerei zu hören, ein hoher, sirrender Ton. Kaffeeduft lag im Raum, ein schwerer, bitterer Geruch.
»Leg auf«, sagte Erika. Sie ging in die Küche, Erdogan hörte sie hantieren. Dann erschien sie mit dem Frühstückstablett, schob die Diamanten auf dem Tisch zur Seite und stellte es hin. »Leg endlich auf«, sagte sie, »und komm essen.«
Erdogan legte den Hörer auf die Gabel zurück, behutsam, als ob etwas kaputtgehen könnte. Er setzte sich, nahm die Kaffeetasse, die Erika ihm vollgeschenkt hatte, trank einen Schluck.
»Wer war das?«, fragte sie.
»Das war ein Mann, der weiß, dass ich die Diamanten habe. Er will sie zurückhaben. Er hat gesagt, er sei stärker als ich.«
Sie strich sich Mettwurst aufs Brot, langsam und genau. »Siehst du«, sagte sie, »es wird nichts daraus.«
Erdogan schaute ihr zu, wie sie aß. Wie ein Schaf, dachte er, das von nichts eine Ahnung hat, wie ein dummes, wiederkäuendes Koyun.
»Was schaust du mich so saudumm an?«, fragte sie. »Ich habe dir von Anfang an gesagt, daraus wird nichts.«
Erdogan schüttelte den Kopf, immer und immer wieder. »Woher weiß er es? Woher hat er meinen Namen?«
Sie strich ein zweites Brot und schob es ihm hin. »Iss«, sagte sie, »und trink Kaffee, so wirst du wach. Dann rufst du die Polizei an.«
»Nein«, sagte Erdogan, »das mache ich nicht.«
»Weißt du, was du diesem Mann am Telefon soeben gesagt hast?«, fragte sie. »Weißt du das?«
Erdogan nahm das Wurstbrot und biss hinein. Es schmeckte wie Sand.
»Du hast ihm gesagt: ›Nein, die gehören mir.‹ Du hast ihm damit gesagt, dass du sie hast.«
»Jetzt hör endlich auf, mich zu kritisieren, ja? Hilf mir lieber.«
Sie schenkte Kaffee nach. »Du bist viel zu dumm für die«, sagte sie, »du hast überhaupt keine Chance. Und etwas will ich dir ganz klar sagen. Ich will dich wegen dieser Diamanten nicht verlieren. Hast du das begriffen?«
»Das ist meine Sache«, sagte er, »Männersache. Davon verstehst du nichts.«
Er sagte das so fest, wie er konnte. Er schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an, und er sah, dass ihr Gesicht plötzlich weiß war, weiß wie Schnee.
Er erhob sich, holte in der Küche einen Plastiksack, nahm aus der Kommode ein frisches Taschentuch und trat an den Tisch. Sorgfältig ließ er die Diamanten ins Taschentuch rieseln, wickelte es zu einem Bündel und legte es in den Plastiksack. Erika schaute ihm zu, wortlos, sie hatte wieder etwas mehr Farbe. Sie begann, ihm die Wurstbrote für den Mittag zu streichen.
Als er sich angezogen hatte, nahm er die Wurstbrote und stellte sich vor sie hin. Sie saß noch immer im Morgenrock da, ungekämmt, mit fettigen Lippen, wie ihm schien. Den Blick hatte sie auf den Tisch geheftet.
»Das ist meine Sache«, sagte er noch einmal, »Männersache.« Er ging hinaus.
Das Treppenhaus war leer wie immer. Heruntergerieselter Gips auf den Stufen, feuchte Flecken an den Mauern, ein Geruch nach Kälte und Staub. Unten im Durchgang musste er einen Moment lang warten, da ein Gabelstapler vorbeifuhr, beladen mit Brettern.
Es war hell geworden draußen. Die Straße schien zu leuchten vom vielen Schnee. Er lag festgetreten und festgefahren auf Trottoir und Fahrbahn, er türmte sich auf den geparkten Autos. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Die Autos bewegten sich im Schritttempo. Zwei Häuser weiter vorn auf der Kreuzung fuhr ein Tram vorbei, mit beschlagenen Scheiben. Es war nichts Auffälliges zu sehen, nur der Schnee war neu.
Schräg gegenüber stand der Amerikanerwagen, vom roten Faltdach war nichts mehr zu sehen. Erdogan wartete eine Weile im Schatten des Türbogens. Niemand bemerkte ihn, kein fremder Mann trat auf ihn zu mit gezücktem Messer. Er hob den Blick zum Himmel empor, der hell schimmerte.
Er überkletterte den Schneewalm im Straßengraben und ging hinüber zum Auto. Es gelang ihm, die linke Vordertür freizubekommen und aufzureißen. Er setzte sich hinein und drehte mehrmals den Anlasser. Der Motor stotterte ein bisschen, sprang aber nicht an, er war zu kalt.
Erdogan stieg aus und ging hinüber zum Fahrradparkplatz, wo sein Moped stand. Er klemmte seine Tasche auf den Gepäckträger, stieß den Motor an und sprang auf den Sattel. Sorgfältig steuerte er über die Kreuzung, die Füße am Boden schleifend, um das Wegrutschen der Räder auffangen zu können.
Er schaute weder links noch rechts, die Fahrbahn war vereist. Zudem hätte er einem möglichen Verfolger ohnehin nicht entkommen können. Wenn einer hinter ihm her war, dann in Allahs Namen. Er musste da durch, da half nichts, und er hatte vor, die Diamanten mit allen Mitteln zu verteidigen.
Peter Hunkeler fuhr Richtung Kleinbasel. Er hatte soeben Hedwig vor dem Schulhaus St. Johann abgeladen. Er hatte kurz einen Blick in den Pausenhof geworfen zu den Kindern, die dort in roten und gelben Plastikjacken im Schnee herumrannten. Dann hatte er erstaunt zur Kenntnis genommen, wie ihn Hedwig umarmte und küsste. Das war das Einmalige an ihr, dachte er, dass sie ihren Stimmungen so souverän nachgeben konnte.
Er fuhr am Gelände der Alten Stadtgärtnerei vorbei, wo vor Jahren junge Leute ein autonomes Jugendzentrum aufgebaut hatten. Es hatte zwar gut funktioniert, war aber illegal gewesen und in einer Volksabstimmung von der Spießermehrheit abgelehnt worden. Und die Polizei hatte geräumt.
Hunkeler hätte sich damals geweigert, wenn er zu diesem Einsatz aufgeboten worden wäre, denn er wusste, dass seine Tochter Isabelle dabei war. Wie hätte er seine Tochter vertreiben können?
Aber so war das nun einmal, so war sein Leben. Er war Angehöriger der Basler Polizei, und die Basler Polizei wurde von Ordnungsspießern befehligt, die einzig und allein das Ziel hatten, unter allen Umständen Ruhe und Ordnung zu bewahren und die Macht der älteren Generation zu garantieren.
Die Polizei war kein demokratisches Machtmittel mehr in dieser Stadt, dachte er, mit dem die Minderheiten, zum Beispiel die Jugend, geschützt wurden, sondern die Polizei war ein Machtmittel der Mehrheit geworden, das unter dem Vorwand der Legalität dazu eingesetzt wurde, die Minderheiten zu unterdrücken.
Er bog ab auf die Dreirosenbrücke. Noch immer lag Eis auf der Fahrbahn, aber es war matt geworden, dumpf, sei es vom Salz, das gestreut worden war, sei es von der Wärme der Auspuffgase oder des aufkommenden Morgens. Der Himmel war nicht mehr so klar wie von Trois Maisons aus. Weiße Schlieren hingen dort oben, feines, unstrukturiertes Gewölk, erstes Anzeichen für einen baldigen Wärmeeinbruch.
Die Brücke war in beiden Richtungen verstopft, Laster stand hinter Laster, zweispurig, jeder mit Anhänger. Lange Ungetüme mit dampfenden Auspuffrohren, die Planen mit französischen, deutschen und skandinavischen Schriftzügen bemalt. Einige hatten Ketten an den Antriebsrädern. Eine Transport-Armada von gewaltiger Tonnage war das, beladen mit Kühlbehältern, Chemikalien, Ersatzteilen. Dazwischen die Autotransporter mit einem Dutzend schräg gestellter Neuwagen hintendrauf, neues Rollmaterial für den immer sinnloser werdenden Autoverkehr.
Hunkeler drehte den Motor ab. Das war Vorschrift, um die Umwelt zu schonen. Er glaubte zwar in keiner Weise an die Wirksamkeit dieser Maßnahme. Ein klein wenig indessen beruhigte sie sein Gewissen.
Warum eigentlich sollte er sich ein Gewissen machen? Alle Welt fuhr Auto, obwohl im Grunde alle dagegen waren. Hätte er vielleicht mit dem Fahrrad ins Elsass fahren sollen, bei dieser Kälte, bei diesem Schnee? Und überhaupt, war er denn verantwortlich für die Umwelt? Hätte sein Verzicht auf das Auto irgendetwas bewirkt? Nein, er hätte nichts bewirkt.
Er versuchte sich zu entspannen. Ich bin ganz ruhig und entspannt, murmelte er, und auch meine linke Hand ist schwer und warm. Weiter kam er nicht, die Sätze ödeten ihn an.
Er schloss die Augen, und er sah vor sich einen Tümpel im Auwald liegen. Es war auf einem Spaziergang gewesen, als Isabelle sieben oder acht Jahre alt gewesen war. Sie waren zusammen nach Kembs hinuntergefahren und hatten den Wagen auf der Insel zwischen dem schiffbaren Kanal und dem alten Rhein geparkt. Dann waren sie dem alten Flusslauf entlanggegangen, in den Ohren das Motorengeräusch von der gegenüberliegenden deutschen Autobahn, vor den Augen das gurgelnde Wasser. Es war Abend gewesen, ein warmer Sommerabend, die Vögel hatten gepfiffen und gesungen, und drei Reiher waren flussabwärts geflogen. Er wusste das noch genau, er hatte das Bild der weitgespannten Flügel am Himmel oben, der vorgestreckten Schnäbel und der nachgezogenen Stelzenbeine noch immer vor Augen, weil es eine unglaubliche, kaum fassbare Schönheit gewesen war.
Später waren sie auf einen Tümpel gestoßen, auf ein Stück stilles, ruhendes Wasser, abgetrennt vom Flusslauf durch eine Schlammbank, auf der Weiden wuchsen. Allerlei Papier und Plastikfetzen hingen in ihrem Laub, Zeugen eines Hochwassers, welches das ganze Flussbett überflutet hatte.
Das Wasser in diesem Tümpel war glasklar. Jede Pflanze, die darin wuchs, war zu sehen, in prallem Grün, jede Wasserblüte, als hätte sie in einem Tropenhaus geblüht. Jeder Fisch, der darin stand, war genau erkennbar wie in einem Aquarium. Und ganz nah am Ufer lag ein Egel, ein schwarzer Wurm, reglos, als wäre er ein Stück Holz, aufgetaucht aus einem Kindertraum.
Isabelle fragte, ob sie hineinwaten dürfe. Er nickte. Sie zog sich die Schuhe aus, schürzte den Rock hoch. Sie watete in diesem Tümpel herum, bestimmt eine Viertelstunde lang, mit sichtlichem Vergnügen behutsam Schritt vor Schritt setzend, immer wieder hinüberschauend zu ihrem Vater am Ufer, ob er auch zusehe.
Er schaute zu. Er war hingerissen. Er sah, wie seine Tochter durch diesen durchsichtigen Spiegel schritt, in dem sich der Himmel spiegelte, aus dem heraus die Wasserpflanzen leuchteten, er sah, wie ihre Schritte leichte Wellen über die Oberfläche trieben, die den Himmel und die Pflanzen zum Schaukeln brachten, und er begriff, dass er dieses Kind über alles liebte.
Sie war dann wieder ans Ufer gekommen und hatte sich die Schuhe angezogen, wortlos. Sie waren zurückgewandert zum Auto, zu zweit durch den hereinbrechenden Abend, stumm wie die Fische.
Seit jenem Abend war Hunkeler seiner Tochter mit Zurückhaltung, ja mit Scheu begegnet. Er hatte sich zurückgezogen von ihr, weil er begriffen hatte, dass ihm diese junge Frau nicht mehr gehörte. Nur dieser Abend gehörte ihm, diese Viertelstunde am Wasser mit dem sich teilenden Spiegel.
Inzwischen war Isabelle aus seinem Gesichtskreis verschwunden. Sie hatte in München eine Graphikschule besucht, war dann nach Basel zurückgekommen und hatte in einem Werbebüro gearbeitet. Als die Alte Stadtgärtnerei besetzt wurde, war sie von Anfang an dabei gewesen und hatte alle ihre Zeit und Energie eingesetzt, gratis selbstverständlich.
Nach der Räumung und Zerstörung war sie ins Ausland gereist. Einmal hatte Hunkeler eine Karte aus Griechenland erhalten. Absendeort war die Insel Ikaria, wo sie offenbar mit einem späten Trupp Hippies in einem Zelt an einem Wasserlauf wohnte, in dem Aale und Schildkröten lebten, wie sie schrieb.
Hunkeler öffnete die Augen wieder. Dieses Einsinken in die Vergangenheit, dachte er, dieses Träumen, bis das Wasser aus allen Erinnerungsfugen tropft, was nützt das? Ich bin Polizist, ich bin auf der Seite der Macht, und ich habe meine Tochter für alle Zeiten verloren.
Damit musste er leben, das wusste er. Er hatte sich eben angepasst, das heißt, er hatte sich anpassen müssen. Was hätte er sonst tun sollen? Wie hätte er das Geld verdienen sollen für seine Familie, für Frau und Kind? »Was soll mir Weib, was soll mir Kind?«, dachte er und grinste kurz und boshaft, als ihm dieser Vers einfiel, den er einmal hatte auswendig lernen müssen. Hätte er vielleicht trotz allem ein Clochard werden sollen in Paris, ein Säufer mit Hut und Mantel und Weinflasche, über dem Metroschacht nächtigend oder unter einer Brücke? Oder wäre er besser ein Sozialfall geworden in der friedlichen Schweiz, ein Obdachloser mit starkem Charakter und unbändigem Freiheitsdrang, aber ohne Geld, herausgefallen aus dem sozialen Netz, wie das amtlich hieß, schikaniert und verjagt von der Polizei?
Nein, das hätte er nicht gekonnt, er war nicht willensstark genug, er war zu schwach. Und auch Isabelle würde sich eines Tages anpassen müssen. Ob ihm das gefiel, ob ihr das gefiel, spielte keine Rolle. Spätestens im Moment, in dem sie ein Kind gebar, würde sie gezwungen sein, sich in die Gesellschaft einzugliedern und ihre Spielregeln zu akzeptieren. An einem Bach auf einer griechischen Insel, in Gesellschaft von Aalen und Schildkröten, zieht niemand ein Kind auf, dachte er, sie muss und wird zurückkommen.
Er merkte, dass ihn seine Gedanken anödeten. Aber er hatte keine anderen zur Verfügung, er musste die nehmen, die ihm einfielen, auch wenn sie reaktionär, ja hoffnungslos waren. Lieber ehrlich und reaktionär als verlogen und progressiv, dachte er, und jetzt musste er fast kotzen vor Wut über das, was er dachte. Wer war er denn? War er wirklich das allerletzte Häufchen Dreck auf Gottes Erdboden?
Er hörte das Aufheulen des Lastwagenmotors vor ihm, der Auspuff stieß eine Rußwolke aus. Dann rollte das Gefährt an, und die ganze Kolonne setzte sich in Bewegung.
Als Hunkeler bei der Garderobe der Kanalarbeiter an der Hochbergerstraße vorfuhr, war es kurz vor acht. Madörin war da und Haller, sie tranken Kaffee aus Pappbechern. Daneben standen mehrere Männer in Arbeitskleidung. Einer davon hieß Berger, war Vorarbeiter und stellte seine Kollegen vor: Luigi Violi, Sandro Berzoni, Duro Stepanovic. Zwei fehlten noch, vermutlich waren sie vom Schnee aufgehalten worden.
»Wo ist Schneeberger?«, fragte Hunkeler.
»Er sitzt, wie vorgeschrieben, in der Eingangshalle des Hotels Drei Könige«, meldete Haller, deutlich und pflichtbewusst.
»So. Und was tut er dort?«
»Vielleicht kommt Kayat ja zurück«, sagte Haller, »man weiß ja nie.«
»Vielleicht hat er etwas vergessen und kommt es holen. Meinst du das?«
Haller zog seine Pfeife aus der Tasche und kratzte sie umständlich aus. »Mach mich nicht fertig. Ich weiß, dass ich ein Arschloch bin. Es war eben eine heavy Kälte.«
»Wie bitte«, schrie Hunkeler, »eine was?«
»Es war saukalt. Weit und breit kein lebendiger Knochen. Nur Schnee. Da drehst du durch.«
»Ihr seid zwei heavy Arschlöcher.« Hunkeler drehte sich weg und spuckte in den Schnee. »Gibt es Spuren?«
»Ja. Er ist irgendwie über den Balkon gesprungen. Ich habe den Abdruck seiner Tasche im Schnee gefunden.«
»Du gehst jetzt zu Schneeberger ins Drei Könige und sagst ihm, er solle zusammen mit Lüdi die Hotels von Basel und Umgebung nach Kayat abklopfen, wahrscheinlich hat er sich einen neuen Namen zugelegt.«
Haller leerte die Tabakreste in seinen Pappbecher und warf diesen in den Mülleimer. Er ging wortlos hinaus, er war beleidigt.
Hunkeler wandte sich zu Berger. »Ist irgendetwas gestohlen worden?«
»Nein, nichts«, sagte der, »die ganze Sache ist mir unbegreiflich. Vielleicht war es ein Drögeler, der Geld für den nächsten Schuss brauchte. Die sollte man meiner Meinung nach alle an die Wand stellen.«
»Hören Sie auf, ich kann das nicht mehr hören.«
Berger schaute ihn erstaunt an. »Aber Sie sind doch von der Polizei.«
»Ja, ich bin von der Polizei«, schrie Hunkeler, »und es wird hier niemand an die Wand gestellt. Haben Sie das endlich begriffen?«
»Reg dich ab«, sagte Madörin, »er hat es ja nicht so gemeint.«
»Es sind übrigens drei Kästen aufgebrochen worden. Nur drei. Nicht alle. Das ist doch seltsam.«
Hunkeler riss eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie aber nicht an. Wie hatte er es denn gemeint, dieser Idiot? »Gut«, sagte er, »schauen wir dort nach.«
Berger holte ein Stemmeisen und wuchtete die Türen ohne weiteres auf. Madörin griff hinein und brachte schmutzige Wäsche zum Vorschein.
»Der da gehört Miroslav Ivanovic«, sagte Berger, »und der Erdogan Civil.«
»Ein Türke?«, fragte Hunkeler.
»Ja, ein guter Arbeiter, bescheiden und zuverlässig. Gestern hat er zum ersten Mal gefehlt.«
»Warum?«, fragte Hunkeler.
»Er hat angerufen, er habe Zahnschmerzen.«
»Nehmen wir einmal an«, sagte Hunkeler, »es wirft jemand eine Armbanduhr in die Toilette. Sie wird hinuntergespült in die Kanalisation. Besteht eine Möglichkeit, dass einer der Arbeiter diese Uhr findet?«
Berger nickte. »Was meinen Sie, was wir schon alles gefunden haben. Schlüssel, Eheringe, künstliche Zähne.«
»Und Diamanten?«, fragte Hunkeler.
»Schön wär’s. Solche Sachen bleiben gern an bestimmten Stellen liegen, dort, wo zwei Röhren nicht bündig liegen und einen Überzahn bilden.«
»Überzahn?«, fragte Hunkeler.
Berger legte die Hände gegeneinander, so dass die Fingerbeeren der rechten Hand die Nägel der linken Hand bedeckten. »So sieht das aus. Das ist wie ein kleines Stauwerk.«
»Hat jemand an einem solchen Überzahn Diamanten gefunden?«
Berger kniff die Augen zusammen. »Warum Diamanten?«
»Es könnte sein«, meldete sich Madörin zu Wort, »dass jemand zum Beispiel auf der Toilette des Badischen Bahnhofs Diamanten hinuntergespült hat.«
Berger schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid. Das wär’s, Diamanten in der Scheiße. Was meinst du, Luigi?«
Auch Luigi schüttelte den Kopf, lachte. Dann verschwand sein Lachen, er überlegte. »Heute Morgen«, sagte er, »als ich noch schlief, hat mich ein fremder Mann angerufen und gefragt, wo ich die Diamanten versteckt habe.«
»Ja«, sagte der andere Italiener, »irgend so ein Arschloch. Der hat uns mitten aus dem Schlaf geholt.«
»Und Sie?«, fragte Hunkeler den Jugoslawen. »Hat Sie auch einer angerufen?«
»Nein, ich habe kein Telefon. Aber ich bin vorschriftsmäßig angemeldet, alles in Ordnung, alles ehrlich.«
Draußen fuhr ein Moped heran. Ein kleiner Mann saß drauf mit rotem Helm. Er stieg ab, zog den Zündschlüssel aus dem Schloss. Dann klemmte er einen Plastiksack auf den Gepäckträger, nahm seine Tasche und kam herein. Er blieb verwundert stehen, als er die fremden Männer sah. »Entschuldigung«, sagte er, »ich weiß, dass ich zu spät bin. Der Schnee.«
Er trat zu seinem Kasten. »Warum ist er offen?«
»Das ist Erdogan Civil«, stellte Berger vor.
Hunkeler drehte die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Freut mich«, sagte er, »wie geht’s Ihrem Zahnweh, Herr Civil? Besser, hoffe ich?«
Der kleine Mann zögerte. Er nahm den Helm ab, seine Stirnglatze war gerötet. »Danke, ja, es ist besser.«
»Wo saß der Schmerz genau?«, fragte Hunkeler.
Civil öffnete den Mund und zeigte mit einem Finger nach hinten oben links. »Hier.«
Madörin nahm die Tasche des kleinen Mannes und leerte sie aus. Drei in Alufolie eingepackte Brote fielen heraus, eine Bierflasche kollerte zu Boden, zerbrach aber nicht.
»Wurstbrote«, sagte Civil, »Mettwurst. Was wollen Sie?«
»Hier ist eingebrochen worden«, erklärte Hunkeler, »heute Nacht. Wir fragen uns, weshalb. Wissen Sie es? Ich heiße übrigens Peter Hunkeler und bin Kommissär bei der Basler Polizei. Haben Sie eine Ahnung, was hier jemand hätte suchen können?«
»Nein. Hier gibt es nichts zu stehlen. Wir sind arm wie die Ratten.« Er runzelte die Stirn und betrachtete die Bierflasche auf dem Boden. »Darf ich meine Sachen wieder einpacken?«
Madörin bückte sich und hob die Flasche auf. »Wir machen das schon. Entschuldigung. Wie ist das übrigens? Dürfen Sie Bier trinken, als Türke, meine ich? Oder sind Sie Christ?«
»Nein, Muslim. Aber ich trinke das, was ich trinken will und was mir guttut.«
Hunkeler klopfte ihm leicht auf den Rücken. »Da haben Sie recht. Allah schaut in die Seelen der Menschen und nicht in die Mägen, nicht wahr?«
Der kleine Mann schaute ihn verständnislos an, drehte sich weg und zog den Mantel aus.
»Übrigens«, sagte Hunkeler, »hat Sie heute Morgen ein Mann angerufen und sich nach Diamanten erkundigt?«
»Nein, sicher nicht.«
»Warum sagen Sie: ›Sicher nicht‹?«, bellte Madörin. »Warum sagen Sie nicht einfach nein?«
»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen«, sagte der kleine Mann, »es tut mir leid.«
Berger tippte sich an die Schläfe. »Es kommt mir etwas in den Sinn. Vorgestern nach Feierabend musste Herr Civil noch einmal hinunter. Der Anschluss Badischer Bahnhof war verstopft. Civil hat ihn wieder aufgemacht.«
Hunkeler schob sich die Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. »Und? Was haben Sie gefunden?«
Civil überlegte ziemlich lange. Er schüttelte langsam den Kopf. Dann schien er sich zu erinnern. »Stimmt, ich war unten. Es waren Windeln und solche Sachen. Und dann lag noch ein grünes Frauenkleid darin, wenn Sie das meinen. Es war zerrissen und verschissen.«
Er stand da, als ob er nicht weiterwüsste, unterwürfig fast, mit niedergeschlagenen Augen. Es war ihm nicht wohl, das war deutlich zu sehen. Aber wem war es schon wohl, wenn er von der Polizei ausgefragt wurde?
Hunkeler zögerte. Das war vielleicht alles Zufall, der verstopfte Zubringer, das Zahnweh, der Einbruch. Er schaute die Männer an, die im Raum standen. Sie hatten gute Gesichter, das waren keine Verbrecher, und wenn jemand von ihnen das Glück haben sollte, unverhofft eine Handvoll Diamanten zu finden, so war ihm das gewiss zu gönnen.
»Hören Sie mal«, sagte Madörin, der die Beine breit gestellt hatte, Hüften nach vorn geschoben und Nacken gestreckt, die typische polizeiliche Drohhaltung war das, lächerlich und doch gefährlich, »hören Sie mal, Herr Civil, wenn Sie meinen, Sie können uns Märchen erzählen, so täuschen Sie sich. Wir sind hier nicht in der Türkei. Hier wird ehrlich und sauber die Wahrheit gesagt. Sie sind doch Saisonnier, oder nicht?«
Der kleine Mann hob die Augen. »Ich bin ein ehrlicher Mann, ein Mann von Wort, glauben Sie mir.«
Hunkeler drückte die Zigarette aus. Er nahm sich Zeit, bis die ganze Glut ausgegangen war. »Die Sache ist die«, fing er an, »dass eine Sendung hochkarätiger Diamanten auf dem Badischen Bahnhof verschwunden ist, vermutlich in der Toilette, also in der Kanalisation. Diese Diamanten sind Drogenerlös. Das heißt, die gehören Leuten, die in großem Stil mit Drogen handeln. Das sind Verbrecher, die vor nichts zurückschrecken. Auch nicht vor Mord, Herr Civil.«
»Nein«, sagte der kleine Mann, »mit Drogen habe ich nichts zu tun.«
»Das behaupte ich auch nicht. Aber wenn Sie die Diamanten gefunden haben sollten, was ja immerhin sein könnte, nicht wahr, Sie finden ja auch hin und wieder Eheringe und Gebisse, wenn Sie also die Diamanten gefunden haben sollten, so sind Sie in höchster Gefahr. Verstehen Sie?«
Civil setzte sich auf die Bank und legte den Kopf in beide Hände. »Jetzt ist das Zahnweh wieder da«, sagte er, »da oben links. Es klopft bei jedem Schlag des Herzens.«
»Wie Sie meinen«, sagte Hunkeler. »Wenn Sie sich anders besinnen, so rufen Sie uns an. Vielleicht kommen wir Sie einmal besuchen, in Ihrer Wohnung, meine ich. Wo wohnen Sie?«
»Lörracherstraße. Ich verstecke nichts zu Hause.«
»Wo denn?«, bellte Madörin.
Civil hob den Kopf. »Es wäre schön, Diamanten zu finden. Dann wäre ich ein reicher Mann und müsste nicht mehr in einem fremden Land die Scheißröhre putzen.«
»Wie meinen Sie das?«, bellte Madörin und trat einen Schritt vor.
»Ich meine, da ich leider keine Diamanten gefunden habe, muss ich weiterhin die Scheißröhre putzen.«
»Hör auf«, sagte Hunkeler zu Madörin, »du sollst die Leute nicht einschüchtern. Es geschieht jetzt Folgendes. Du steigst mit einem Arbeiter zum Anschluss Badischer Bahnhof hinunter.«
»Warum gerade ich?«, schimpfte Madörin.
»Einer muss es tun. Und Sie«, er wandte sich an Berger, »sorgen dafür, dass hier neue Schlösser hinkommen.«
Er trat hinaus auf den Vorplatz. Er fühlte sich müde, schlapp. Vor ihm stand das Moped, ein altes Modell mit aufgerissenem Sattel. Ein Plastiksack mit dem Schriftzug einer Zigarettenmarke war hintendrauf festgeklemmt. Hunkeler stieg in sein Auto.
Erika Waldis bediente den letzten Kunden an diesem Morgen, einen alten Mann, der ein Pfund Brot, Typ Basler Laibli, hundert Gramm Butter und eine Schachtel Wellensittichfutter gekauft hatte. Sie schloss die Kasse und zog den Schlüssel ab. Die Uhr in der Eingangshalle, wo die Einkaufswagen verstreut herumstanden, zeigte halb eins. Das Licht wurde abgeschaltet, die Regale lagen im Dämmerlicht, düster wie im Tannenwald.
Sie dehnte ihren Oberkörper, streckte die Arme so weit hoch wie möglich, stellte sich auf die Zehenspitzen, fünf Sekunden lang. Dann ging sie langsam in die Knie und versuchte, die Fersen auf dem Boden zu behalten, ebenfalls fünf Sekunden lang. So hatte sie es in der Therapie gelernt.
Mühsam erhob sie sich wieder. Sie war einfach zu schwer. Das wusste sie selber, dazu brauchte sie keinen Arzt. Aber wie sollte sie abnehmen, wenn sie dauernd auf diesem Sessel saß und die Preise von Würsten und Nudeln eintippte?
Auch die Eingangshalle hatte sich inzwischen geleert. Erika begann die Einkaufswagen ineinanderzuschieben, bis sie in zwei schnurgeraden Kolonnen nebeneinanderstanden. Das war zwar nicht ihre Aufgabe. Aber sie hasste jede Unordnung.
Sie stieg die Treppe hoch ins Selbstbedienungsrestaurant, nahm ein Tablett samt Besteck und stellte sich an. Es gab heute Poulet mit Pommes frites, Rindsvoressen mit Kartoffelbrei oder, wie jeden Mittwoch im Winter, Blut- und Leberwurst mit Sauerkraut. Erika wählte Rindsvoressen. Antonio mit der weißen Haube auf dem Kopf stand an der Anrichte und zwinkerte ihr zu, als er mit der Kelle eine Mulde in den Brei drückte.
Sie fand einen leeren Tisch am Fenster, das auf ein Flachdach hinausging. In der warmen Jahreszeit standen dort draußen Tische und Sonnenschirme. Jetzt lag Schnee, der im grauen, diesigen Licht matt schimmerte.
Einige der Gäste kannte sie vom Sehen, obschon sie sich nie grüßten. Es waren alleinstehende Männer mit abgeschabten Hemdkragen und verblichenen Seidenkrawatten aus Luino am Lago Maggiore. Sie hatten sich wie jeden Mittag schön angezogen, als ob Sonntag wäre. Sie hockten da, jeder für sich allein, sorgfältig das Fleisch in kleine Stücke schneidend und lange kauend, mit dürren, faltigen Hälsen, die Blicke gesenkt. Daneben die Witfrauen zu zweit und zu dritt, sie redeten leise, sie wollten niemanden stören. Auch sie hatten sich herausgeputzt, so gut es ging, mit sauber gebügelten Blusen und allerlei altmodischen Hüten auf den Köpfen.
Erika war froh, für sich allein zu sitzen. Sie brauchte Ruhe zum Überlegen. Denn was am Morgen in der Früh passiert war, das hatte ihr Angst gemacht.
Männersache, dachte sie, was ist Männersache? Was meint dieser Kindskopf, dieser Idiot eigentlich? Glaubt er wirklich fähig zu sein, mit dem fremden Mann am Telefon allein fertig zu werden?
Das war ein Traumtänzer, Erdogan, ihr Erdogan, in der Schweiz gehörte er ihr. Im Grunde war er wie die andern Männer auch, die sie gekannt hatte. Der Unterschied war bloß, dass sie ihn liebte, warum, wusste sie nicht genau. Sie liebte ihn einfach, basta. Aber er war wie die andern auch nichts anderes als ein großes Kind, ein Bub. Kaum witterte er ein bisschen Geld, schon erwachte die Kämpfernatur in diesem sonst so sanften Mann. Ohne einen Moment zu zögern, setzte er alles aufs Spiel, seine Liebe, seine Haut, sein Leben, obschon jedem vernünftigen Menschen sofort klar war, dass er keine Chance hatte. Wenn er wenigstens bereit gewesen wäre, das Problem zu bereden, einen Schlachtplan zu entwerfen.
Wenn er die Diamanten schon ums Verrecken behalten wollte, hätte er sie wenigstens so verstecken können, dass sie bestimmt niemand fand. Der Sand auf dem Grund des Aquariums zum Beispiel hätte sich gut dafür geeignet. Aber nein, er klemmte sich seine Beute unter den Arm und fuhr damit durch die Gegend. Und wenn sie etwas einzuwenden wagte, wurde er stur wie ein Ziegenbock, der nicht in den Stall zurückwollte.
Dort drüben saßen sie, diese sturen, heruntergekommenen, alten, blöden Böcke, jeder allein, vereinsamt, verbraucht. Schau sie dir an, mein lieber Erdogan, wie weit sie es gebracht haben mit ihrem Kämpfertum. Nichts als alte Trottel siehst du, die noch immer den eleganten, starken Mann markieren. Und sie sind doch nichts anderes als ein Häufchen Elend.
Kurz nach ein Uhr, als sich das Restaurant bereits zur Hälfte geleert hatte, kam Nelly an den Tisch.
»Ich wollte nur schauen«, sagte sie, »wie es dir geht. Bist du wieder gesund?«
Erika zögerte. »Ich bin nicht krank gewesen. Ich habe Probleme.«
»Mit Erdogan?«
»Ja. Er hat in der Kanalisation Diamanten gefunden und will sie nicht zurückgeben, der Aff.«
»Diamanten in der Kanalisation, wer macht so etwas?« Nelly führte die Kaffeetasse zum Mund, mit gespreiztem kleinem Finger, sie war eine Dame. »Wer wirft Diamanten weg?«
»Es hat sich einer am Telefon gemeldet. Er hat gesagt, sie gehören ihm. Ein Ausländer.«
Nelly trank, mit gerunzelter Stirn, der Kaffee war zu heiß. Ihre Gesichtszüge waren noch härter geworden, die Achseln noch hagerer, die Brust noch flacher. Sie ist unglücklich, dachte Erika, sie ist zu viel allein.
»Ein Ausländer?«, fragte Nelly. »Ist es vielleicht ein Gangster?«
Erika schaute hinaus auf den Schnee. Eine Amsel hockte dort, ein schwarzer Vogel auf weißer Fläche. »Ich habe keine Ahnung, was es für ein Mann ist. Aber ich bin sicher, dass er weiß, dass Erdogan die Diamanten gefunden hat. Und ich bin ebenso sicher, dass er sie zurückhaben will.«
»Was du nicht sagst.« Nellys Stimme zitterte vor Aufregung. »Das ist ja wie im Film. Ich an deiner Stelle würde aufpassen, dass er nicht abhaut damit. Dann hast du ihn gesehen.«
»Ich passe schon auf. Ich will, dass er hierbleibt und dass ihm nichts geschieht.«
»Du erlebst immer so verrückte Geschichten«, sagte Nelly, »ich erlebe nichts. Ich hocke zu Hause und versaure und bin froh, wenn du mich wieder einmal anrufst und fragst, ob ich nicht für dich einspringen kann. Ehrlich, du fehlst mir.«
Sie strich sich die Bluse zurecht, mit langen, schmalen, traurigen Fingern, die Nägel violett lackiert.
»Wenn diese Geschichte vorüber ist, fahren wir zusammen nach Griechenland«, versprach Erika, »jetzt geht’s nicht. Später. Es tut mir leid.«
Sie schauten auf die Schneefläche hinaus, auf die Häuserzeile jenseits des Hofs, auf den bedeckten Himmel darüber.
»Ich habe Zypern gebucht«, erzählte Nelly, »eine Woche Wanderferien im Trodos-Gebirge. Im Winter kann man dort Ski fahren. Aber allein ist es wohl nicht so lustig.«
Die Amsel war weg, fein gezeichnet waren die Spuren ihrer Krallen zu sehen.
»Übrigens«, fragte Erika, »kann ich einige Tage bei dir wohnen, wenn es brenzlig wird?«
Nelly nickte. »Jederzeit, solange du willst. Das weißt du.«
Peter Hunkeler saß in seinem Büro vor einem Blatt Papier und überlegte. Es war kurz nach 14 Uhr, sein Magen war voll, er hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Er hatte im Restaurant Kunsthalle zu Mittag gegessen, das Tellermenü mit Kalbsvoressen, Nudeln und Salat. Er hatte sich mit Leuten unterhalten, die er seit Jahren kannte, mit zwei Werbern und einem pensionierten Arzt. Sie hatten über den hiesigen Fußballklub geredet, ob er wohl wieder in die höchste Spielklasse aufsteigen würde oder nicht. Denn schließlich war Basel die zweitgrößte Stadt der Schweiz, und es war eine Schande, dass sie in der obersten Spielklasse nicht vertreten war. Dieses Thema war ein Dauerbrenner an diesem Mittagstisch. Besonders der eine Werber, der offenbar in frühen Jahren selber ein guter Fußballer gewesen war, pflegte sich bis zur Weißglut zu ereifern, als säße er am Jasstisch und sein Partner hätte ihm soeben mit dem Trumpfbauer das Nell abgestochen.
Hunkeler hatte nicht viel zum Gespräch beigetragen. Der FCB war ihm ziemlich egal. Er hatte zugehört, und dieses Zuhören hatte ihn beruhigt.
Jetzt griff er zum Kugelschreiber und schrieb auf:
1) Kayat hat Huber auf dem Badischen Bahnhof Diamanten übergeben wollen, wurde aber dabei gestört und spülte sie in die Toilette. Madörin schaut nach.
2) Der Empfänger der Diamanten ist unbekannt.
3) Kayat ist aus dem Hotel Drei Könige verschwunden. Schneeberger und Lüdi suchen ihn.
4) In die Garderobe der Kanalarbeiter ist eingebrochen worden. Es könnte Kayat gewesen sein, der die Diamanten suchte.
5) Es ist ohne weiteres möglich, dass Diamanten, die in die Toilette geschmissen wurden, von den Kanalarbeitern gefunden werden. Überzahn.
6) Ein Kanalarbeiter mit Namen Erdogan Civil hat zur fraglichen Zeit den Anschluss Badischer Bahnhof, der verstopft war, wieder aufgemacht. Es ist möglich, dass er dabei die Diamanten gefunden hat.
7) Bei einem Kanalarbeiter hat heute Morgen früh ein Mann angerufen und sich nach den Diamanten erkundigt. Es ist möglich, dass das Kayat gewesen ist, der die Namen in der Garderobe gesehen hat.
8) Hat Civil die Diamanten tatsächlich gefunden, so ist es möglich, dass Kayat das früher oder später herausfindet. Vielleicht weiß er es schon. Wenn ja, ist Civil in Gefahr.
9) Es bleibt die Frage, für wen die Diamanten bestimmt gewesen sind. Ein Hinweis könnte Huber sein. Huber wohnt in einem Haus an der Gempenfluhstraße, das der Infex AG gehört. Er arbeitet für diese Firma. Die Infex AG gehört Dr. Zeugin.
10) Das ist eine ganz verrückte Geschichte.
11) Daraus folgt: Erdogan Civil beschatten, möglichst unauffällig, um einen möglichen Verfolger, zum Beispiel Kayat, nicht zu warnen. Haller soll das tun. Kayat suchen (Lüdi und Schneeberger). Dr. Zeugin befragen.
Hunkeler zündete sich eine Zigarette an. Er brauchte das einfach, er konnte so besser denken.
Die Tür ging auf, Madörin kam herein, stinksauer. Wortlos schlürfte er den Kaffee, den er mitgebracht hatte.
»Frisch geduscht?«, fragte Hunkeler.
Madörin versuchte zu grinsen, es gelang ihm nur halb. »Nächstes Mal gehst du dort hinunter, das schwöre ich.«
»Und? Hast du etwas gefunden?«
»Nein. Nur Scheiße und Ratten.« Er warf den leeren Pappbecher präzis in den Eimer.
»Bravo«, lobte Hunkeler. »Erzähl endlich.«
Madörin schloss die Augen und schien nachzudenken. »Wenn die Steine dort unten lagen, so hat sie längst der Türke geholt. Oder denkst du anders?«
Hunkeler zuckte mit den Achseln.
»Und dass ich dort hinuntermusste, war reine Schikane.«
»Blödsinn. Wie viele Zugänge gibt es?«
»Vom Bahnhof her gibt es keinen direkten Zugang zur Kanalisation. Hingegen gibt es draußen drei Dolenzugänge. Die lagen alle drei unter Schnee, unberührt. Vor uns war niemand dort unten.«
»Das habe ich auch nicht angenommen. Kayat ist ein Monsieur. Der macht sich seinen Anzug nicht schmutzig.«
»Und ich?« Madörin war jetzt richtig wütend. »Bin ich kein Monsieur?«
»Du bist Polizist.«
Madörin erhob sich, ging hinaus und warf die Tür zu.
Hunkeler drückte die Zigarette aus, nahm das Telefonbuch, suchte die Nummer der Infex AG heraus und stellte sie ein. Er war nervös. Lieber in die Scheißröhre hinuntersteigen, dachte er, als den Dr. Zeugin anrufen.
Eine Frauenstimme meldete sich, freundlich und aufgeräumt.
»Infex AG, bitte?«
»Kann ich Dr. Zeugin sprechen?«
»Wen darf ich melden?«, flötete die Frau.
»Hunkeler.« Er sagte es so freundlich wie möglich, aber es wurde doch eher ein Knurren als ein Flöten. »Kriminalkommissariat Basel.«
Einen Augenblick lang war es ruhig in der Leitung. Dann war die Stimme wieder da, ganz und gar nicht mehr freundlich. »Nur einen Moment bitte.«
Hunkeler trommelte mit der linken Hand auf den Tisch. Er konnte das gut, er hatte als Kind stundenlang auf Tische getrommelt, beidhändig mit den Fingerkuppen aufs Holz. Er liebte dieses Wirbeln, und es gab Hölzer, auf denen es recht gut klang.
»Ja, Zeugin«, meldete sich eine sonore Männerstimme, »Sie wünschen?«
Hunkelers Hand war wieder ruhig. »Ich möchte mit Ihnen reden, wenn Sie einen Augenblick Zeit für mich haben.«
»Um was handelt es sich?«
»Es handelt sich um Anton Huber. Er wohnt in einem Haus, das Ihnen gehört. Wir haben ihn vorgestern auf dem Badischen Bahnhof festgenommen, auf den Lohnhof gefahren und wieder laufenlassen.«
»Ich weiß«, sagte Dr. Zeugin kühl und sanft, »er hat es mir erzählt. Das war ein Blödsinn.«
»In welcher Beziehung steht er zu Ihnen?«
»Er ist angestellt bei mir, als Chauffeur. Er fährt die TIR-Lastwagen, vor allem nach Portugal. Ein sehr zuverlässiger Mitarbeiter. Genügt Ihnen diese Auskunft?«
Die Finger von Hunkelers Hand setzten sich wieder in Bewegung, gleichmäßig, leise und schnell, diskreter, intimer Trommelwirbel.
»Ich möchte gerne von Ihnen wissen, was er auf dem Badischen Bahnhof gemacht hat und in welcher Beziehung er zu Herrn Guy Kayat steht.«
»Guy Kayat?« Die Stimme verriet ein großes, reines Staunen. »Nie gehört. Wer ist das?«
»Das ist ein libanesischer Staatsangehöriger, der im begründeten Verdacht steht, als Kurier von Drogen und Drogenerlös zu arbeiten. Wir haben ihn schon lange in unserem Computer.«
»Und was hat das mit Anton Huber zu tun?«
»Es besteht der begründete Verdacht, dass dieser Kayat Diamanten im Wert von weit über einer Million Franken nach Basel gebracht hat in der Absicht, sie Herrn Huber zu übergeben.«
Jetzt war ein tiefer Atemzug zu hören, dann ein zweiter, dann war wieder die Stimme da, beinhart. »Abenteuerlich. Sehr abenteuerlich, was Sie da erzählen. Und durch was ist dieser absonderliche Verdacht begründet, wenn man fragen darf?«
Hunkeler blieb ganz ruhig. »Wir haben einen Tipp bekommen.«
»Einen Tipp, so. Wenn man fragen darf: Von welcher Seite ist dieser Tipp gekommen?«
»Selbstverständlich dürfen Sie fragen, das ist doch klar«, sagte Hunkeler honigsüß, »aber leider darf ich es Ihnen nicht sagen. Das müssen Sie verstehen. Wir dürfen unsere Informanten nicht verraten. Nicht wahr?«
»Wie wahr, wie wahr«, sagte Dr. Zeugin. »Sie müssen selbstverständlich Ihre Kanäle offen halten.«
Pause. »Herr Huber hat vorgestern Nachmittag auf dem Badischen Bahnhof einen Geschäftsmann aus Ägypten abholen wollen. Wir importieren über ihn ägyptische Zigaretten. Völlig legal übrigens. Leider war es diesem Geschäftsfreund an jenem Abend unmöglich, nach Basel zu kommen. Er ist erst gestern eingetroffen. Er sitzt zufälligerweise hier in meinem Büro. Wollen Sie ihn sprechen?«
»Das ist nicht nötig«, sagte Hunkeler, »ich glaube Ihnen selbstverständlich.«
»Ich hoffe, das soll keine Anspielung sein?«
»Eine Anspielung auf was?«, fragte Hunkeler, harmlos wie eine Wiesenblume.
»Hören Sie mal, Sie kleiner Polizistenmann.« Dr. Zeugin kam zum Ende, er führte drei zu null, das Spiel war gelaufen. »Finden Sie nicht, Sie übertreiben ein bisschen? Ich sage Ihnen aus reiner Höflichkeit, wie es war. Mein Angestellter Herr Huber hatte den Auftrag, meinen ägyptischen Geschäftspartner abzuholen. Der traf nicht ein. Und da offenbar ein anderer sehr gut gekleideter Araber mit demselben Zug eintraf, ging Herr Huber zu diesem hin, um sich zu vergewissern, ob es nicht der erwartete Ägypter war. Er war es nicht. Es war eine simple Verwechslung. Das hätte Ihnen Herr Huber übrigens gerne selber erklärt, wenn Sie ihn anständig gefragt hätten. Nebenbei gesagt, ich finde es eine absolute Unverschämtheit, wenn Sie kleiner Polizistenmann auf Bahnhöfen unbescholtene Bürger überfallen und abführen. Und ich verspreche Ihnen, dass ich mich beschweren werde. Sie werden noch von mir hören. Und wenn Sie mich das nächste Mal sprechen wollen, so schicken Sie mir bitte eine Vorladung. Wenn Sie das zustande bringen.«
Päng, Ende der Durchsage. Der Hörer saß auf der Gabel. Und nach einer Weile war der beruhigende Summton zu hören.
Hunkeler brauchte einen Kaffee, unbedingt, etwas Warmes, Süßes, etwas mit Rasse, mit Kraft, etwas für die Lebensgeister, die schon halb am Erlöschen waren. Aber eben nur halb. Zur anderen Hälfte waren diese Lebensgeister am Aufblühen.
Er ging hinaus auf den Flur, drückte auf die drittoberste Taste des Automaten und schaute zu, wie Kaffee in den Pappbecher rann. Der Duft stieg ihm in die Nase, hoffnungsfroh. Das duftete wenigstens nach Kaffee, auch wenn es nach Spülwasser schmeckte.
Staatsanwalt Suter kam die Treppe herauf. »Was höre ich? Dieser Kayat ist verschwunden?«
»Stimmt.« Hunkeler trank einen Schluck. Es schmeckte tatsächlich nach Spülwasser.
»Ja gibt es denn das«, lamentierte Suter, »ist denn das die Möglichkeit? Bringt es die Basler Polizei nicht einmal fertig, einen Mann in einem Hotelzimmer eine Nacht lang zu beschatten?«
Hunkeler schaute ihn an, wortlos. Dann trank er den Becher aus und warf ihn in den Eimer.
»Sie sind verantwortlich, Herr Kommissär, merken Sie sich das endlich«, schrie Suter so laut, dass weiter vorn die Tür aufging und Madörin herausschaute.
Hunkeler drehte sich ab, ging in sein Büro, setzte sich vor den Zettel auf dem Tisch und schrieb:
12) Dr. Zeugin will wissen, woher wir den Tipp bekommen haben.
Guy Kayat lag angezogen auf seinem Bett im Hotel Rochat und schlief. Es war 14 Uhr 30, ein gewöhnlicher Mittwochnachmittag im Februar, der Himmel bedeckt, die Temperatur war gestiegen, und der Schnee begann langsam zu tauen.
Kayat lag ruhig, wie ein Baum. Er träumte von Zypern, von Nikosia, von der Altstadt. Er war dort heimisch, aber jetzt im Traum fand er sich plötzlich nicht mehr zurecht. Wo ein Durchgang gewesen war, war eine Mauer, und wo eine Mauer gewesen war, führte eine Treppe eine Gasse hinauf. Kayat stieg hoch, ziemlich schnell. Kein Mensch war zu sehen, es herrschte ein seltsames Dämmerlicht, und plötzlich wusste er, dass er verfolgt wurde. Er rannte, er hörte überlaut das Klopfen seiner Ledersohlen auf dem Pflaster. Er kam auf einen runden Platz, der von niederen Häusern umgeben war, ein Haus war ans andere gebaut, es gab keine Lücke. Die Häuser schienen unbewohnt zu sein. Sie schienen auf ihn zu warten, auf das Klopfen seiner Sohlen, auf seine Stimme, seinen Atem. Aber irgendwie wusste er, dass das eine Falle war. Wenn er eine Tür aufdrücken und eintreten würde, so würde sie hinter ihm ins Schloss fallen, und er war gefangen.
Kayat stand in der Mitte des Platzes, hilflos, atemlos. Er spürte die Verfolger auf der Treppe nahen, er hörte sie nicht, sie kamen lautlos über das Pflaster. Er ging auf eine Tür zu, drückte sie auf, sie gab ohne weiteres nach. Vor ihm lag ein dunkler Gang. Er hatte keine andere Wahl, er folgte diesem Gang und hörte nach wenigen Schritten die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Da wachte er auf.
Er lag auf dem Rücken, er war angezogen, er hatte am helllichten Tag geträumt. Das Fenster stand einen Spaltweit offen. Von draußen war Orgelmusik zu hören.
Kayat erhob sich und schaute hinaus. Er sah auf eine Kirchenmauer mit gotischen Fenstern und steilem Dach, von dem Schnee gerutscht und auf die Straße gefallen war. In der Kirche spielte jemand Orgel, immer denselben Lauf mit wenigen Tönen, fünf hinauf, drei hinunter, mit einem kurzen Triller in der Mitte, der dem Orgelspieler offenbar zu schaffen machte.
Er fühlte sich fiebrig, aber das war normal. Er hatte das oft erlebt auf seinen Reisen, wenn er von der Wärme in die Kälte flog oder von der Kälte in die Wärme. Dann befiel ihn jeweils diese Müdigkeit, der sich seine Glieder hingeben wollten. Zudem hatte er in den beiden Nächten zuvor kaum geschlafen.
Die Diamanten. Diese verdammten Steine. Ihretwegen hatte er ein Abführmittel schlucken, mitten in einer kalten Schneenacht an einer Hausmauer hinunterklettern und in eine Garderobe einbrechen müssen. Und jetzt hatte er noch einen neuen Namen.
Er lebte auf der Flucht. Deshalb hatte er wohl auch diesen Höhlentraum gehabt mit der zufallenden Tür. Aber fliehen durfte er erst, wenn er die Diamanten gefunden und dem Auftraggeber übergeben hatte.
Er saß ganz schön in der Tinte.
Immerhin hatte er eine Spur, diesen Türken. Ihm würde er diesen Abend einen Besuch abstatten.
Der Orgelspieler griff jetzt voll in die Tasten und holte breite, dröhnende Akkorde aus den Pfeifen.
Kayat fühlte sich eingesperrt in diesem kleinen Zimmer. Er schlüpfte in die Schuhe und zog sich den Kamelhaarmantel über. Er lächelte höflich, als er unten den Schlüssel abgab.
Draußen zögerte er. Was wollte er eigentlich, was suchte er? Vor ihm, jenseits der Straße, lag ein Platz, bestanden mit Bäumen, ein lichter Wald. Krähen hockten dort oben, lautlos. Von einem Ast fiel Schnee und klatschte dumpf auf den Boden, der Ast schnellte hoch. Der Orgelspieler in der Kirche übte jetzt wieder Läufe, diesmal ohne sich zu wiederholen. Präzis hämmerte er die Töne in die Pfeifen, einen nach dem andern, wie eine Perlenkette.
Er ging zum Denkmal hinüber, das vor der Kirche stand, eine Büste auf einem Sockel, schneebedeckt. Der Mann hieß Johann Peter Hebel, wie zu lesen war. Den kannte er nicht.
Er ging neben der Kirche durch und kam in eine breite Gasse. Die alten Häuser standen da wie gewachsen. Schnee lappte über die Dachtraufen und drohte herunterzufallen.
Weiter vorn bog er links ins Imbergässlein ein, das steil hinunterführte. Einen Moment lang dachte er an den Traum. Merkwürdig, dort war er hinaufgestiegen, hier stieg er hinab.
Er nahm die Stufen langsam und vorsichtig. Sie waren mit Eis bedeckt, ein dumpfes, wässriges Eis zwar, nicht mehr durchsichtig und spröd, aber noch immer glitschig. Einige der Häuser schienen unbewohnt zu sein, die Läden waren geschlossen.
Die Gasse war menschenleer. Er hatte plötzlich Mühe mit den Stufen. Nicht dass er keine Kraft mehr gehabt hätte, sich auf den Beinen zu halten, er brauchte keine Kraft zum Hinabsteigen. Es war etwas anderes, etwas in seinen Knien, in seinem Rücken, in seinem Kopf. Er merkte, dass sein ganzer Körper sich versteifte und ihm der Schweiß ausbrach. Er blieb stehen, stützte sich mit beiden Händen gegen die Mauer und versuchte, den Kopf zu senken und den Nacken zu entspannen.
Er kannte das. Es war der Stress, der ihn gepackt hatte, der Trieb zur Flucht, dem er nicht nachgeben durfte, die Angst, die ihn starr machte. Er fing an zu würgen, von ganz tief unten kam dieses Gefühl und stieg unbezwingbar hoch. Es schüttelte seinen Körper durch wie Schüttelfrost. Dann fing er an zu husten, er hustete, bis Tränen aus seinen Augen drangen, bis er sich erbrach. Es war kein richtiges Erbrechen, er konstatierte das trotz seiner Qual völlig kühl. Er hatte gar nichts im Bauch, was er hätte erbrechen können, er hatte noch nichts gegessen heute, er war gleich nach den Anrufen am Morgen früh in Tiefschlaf gesunken.
Dann hörte das Husten auf, als ob sich seine Energie erschöpft hätte. Kayat blieb noch einen Moment lang gegen die Mauer gestützt. Er bückte sich, griff sich eine Handvoll Schnee und drückte ihn auf sein Gesicht. Wasser rann ihm in den Mund, eiskalt.
Er ließ den Schnee zu Boden fallen, wischte sich mit dem Taschentuch das Gesicht trocken, kämmte sich. Erbärmlich, wie er hier in dieser Gasse stand, geschüttelt von Angst, den Bauch voller Panik. Und lächerlich war dieser Traum gewesen von der Treppe und vom Platz ohne Ausgang.
Er nahm eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie mit dem Feuerzeug an und nahm einen tiefen Zug. Er fühlte sich wieder völlig okay. Das war ein nervöser Anfall gewesen, sonst nichts, eine Hungerkrise vielleicht, er brauchte jetzt dringend etwas zu essen.
Er stieg die restlichen Stufen hinunter in die Schneidergasse. Links war eine Wirtschaft, ein Ventilator drehte verrauchte Luft heraus. Château Lapin stand über der Tür.
Kayat ging hinein und setzte sich an den langen Holztisch links. Das Lokal war halb voll. Ältere Frauen in dicken Strickjacken saßen in einer Ecke, wetterfeste Gesichter, offenbar Marktweiber. Vor sich hatten sie Gläser mit hellem Kaffee stehn. Mehrere Trinker waren da, alte und junge, bärtige und glatzköpfige, ein paar hockten zusammen am Tisch neben der Theke. Keiner schaute auf, niemanden schien der fremde Mann zu stören. In der Mitte des Raumes stand ein Ölofen, man hörte die Flamme leise lodern.
Kayat fühlte sich gut hier. Als die Serviertochter, eine junge Frau mit kräftigen Oberarmen und hellen, schnellen Augen, an seinen Tisch kam, bestellte er Schwarztee mit Zitrone und etwas zu essen. Es gab Spaghetti mit Gehacktem, Rösti mit Rindsleber und Ochsenmaulsalat. Er entschied sich für Spaghetti.
Als er eine gute Stunde später ins Hotel Rochat zurückkam, saß in der Eingangshalle eine Dame in einem kurzen Mantel aus Leopardenimitation. Sie schaute ihm mit einem entzückenden Lächeln entgegen. »Herr Assad Harif?«
Sie erhob sich, langbeinig wie eine Gazelle. Er blickte kurz auf ihre Netzstrümpfe, was ihr zu gefallen schien.
»Ich habe eine wichtige Mitteilung für Sie. Darf ich Sie auf Ihr Zimmer begleiten?«
Kayat nickte, holte beim Concierge den Schlüssel, und gemeinsam stiegen sie hoch.
»Ich heiße Fränzi Fornerod«, sagte sie, als er die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte.
»Freut mich. Nehmen Sie bitte Platz. Ich heiße…«
»Ich weiß«, sagte sie, »Sie sind Monsieur Harif aus Syrien, nicht wahr?«
»Bitte sehr«, sagte er mit einer leichten Verbeugung.
Sie schaute sich um. Ihr Lächeln war verflogen, sie fühlte sich offenbar nicht wohl hier. »Eng ist es hier, anders als im Drei Könige. Nicht wahr?«
Er sagte nichts, zuckte mit den Achseln.
»Also.« Sie sprach jetzt plötzlich sachlich und kühl, ihr Charme war weg. »Ich soll Sie mitnehmen in meine Wohnung, sagt der Chef. Es seien einige Dinge geschehen, die einen weiteren Aufenthalt in einem Hotel unmöglich machen. Ich habe eine Zweizimmerwohnung an der Hegenheimerstraße. Eines der beiden Zimmer können Sie haben, bis Sie die Sache in Ordnung gebracht haben. Er wartet auf die Steine, lässt er ausrichten. Sie verstehen mich?«
Kayat nickte.
»Also. Wir sollen keine Zeit verlieren und gleich zu meiner Wohnung fahren, sagt der Chef. Ich habe unten schon über eine halbe Stunde gewartet. Also packen Sie Ihre Sachen ein, und kommen Sie mit.«
Kayat sagte kein Wort. Er nahm seine Tasche, öffnete die Tür, ließ sie vorgehen und schloss ab. Er schaute ihr zu, wie sie voraus durch den Gang ging, auf Stöckelschuhen, und ihre Hüften hatten plötzlich wieder einen zarten Schwung.
Erdogan Civil war wieder der Letzte unter der Dusche. Er wusste nicht, warum das immer so war. Er hatte einfach die langsameren Handbewegungen als seine Kollegen, er wusch sich gründlicher oder hatte das Wasser lieber, das über seinen Körper rann.
An diesem Abend aber war es Absicht. Er schrubbte sich seine Stirnglatze und sein schütteres Haar, als ob er eine monatealte Schmutzkruste hätte wegwaschen müssen, er spülte immer wieder nach und ließ das Wasser über sich rauschen. Zwischendurch schaute er in den Garderobenraum hinüber, wo sich seine Kollegen anzogen und die beiden Handwerker, die die Schlösser repariert hatten, ihr Werkzeug zusammenpackten. Die neuen Schlüssel lagen bereit auf der Bank.
Berger verließ den Raum als Letzter. »Schließ gut zu«, sagte er, »bis morgen früh.«
Erdogan wartete eine Weile, bis er sicher war, allein zu sein. Er rieb sich trocken, erst den Kopf, dann Schulter, Rücken und Bauch, zuletzt die Zehen. Die behandelte er besonders liebevoll, sie schienen ihm mit einem Mal schön zu sein. Er grinste kurz, vor Freude, vor Stolz, denn er hatte sie alle beschissen, die Kollegen, den Vorarbeiter, die Polizisten. Nur der Mann mit der fremden Stimme, der in der Früh angerufen hatte, war noch ein Gegner. Aber auch den würde er flachlegen, er war mindestens so schlau wie der.
Er zog sich an und schaute hinaus, ob die Luft rein war. Dann ging er schnell, aber ohne zu rennen, zu seinem Moped, nahm den Plastiksack vom Gepäckträger und kehrte in die Garderobe zurück. Er legte den Plastiksack zuunterst in seinen Kasten unter einen Pullover und schloss ab. Er sperrte die Garderobentür zu, setzte sich aufs Moped und fuhr durch den Feierabendverkehr Richtung Dreirosenbrücke. Noch immer lag Schnee auf der Fahrbahn, aber er war nicht mehr gefroren.
Auf der Brücke war der übliche Stau. Erdogan zwängte sich rechts neben den Lastern durch. Einige Male wurde er abgedrängt in den Schneewalm hinein, kam aber nie zu Fall. Er fühlte sich stark auf seinem Moped, als wilder, kühner Reiter, als Memed der Falke.
Vor dem Café Ankara an der Colmarerstraße hielt er an. Während er langsam den Helm vom Kopf nahm, suchte er die Umgebung ab. Einige Autos glitten vorbei, alles war normal.
Im Schaufenster des Cafés hing eine Tafel, auf der Charterflüge in die Türkei ausgeschrieben waren. Der nächste Flug ging nach Izmir, und zwar in drei Tagen, am Samstagmorgen um 11 Uhr 30 ab Zürich-Kloten.
Erdogan betrat das Café und setzte sich an einen der Tische, an denen Karten gespielt wurde. Einige der Männer nickten ihm zu, dann konzentrierten sie sich wieder aufs Spiel. Er war zwar bekannt hier, aber kein Stammgast mehr, seit er Erika kennengelernt hatte. Er hatte eben Glück gehabt, und das war ihm zu gönnen.
Muhammed Ali brachte ihm den Tee. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Alles in Ordnung.« Erdogan nickte. »Übrigens reise ich am Samstag in die Türkei. Gibt es noch einen Platz auf dem Flug nach Izmir?«
»Moment.« Muhammed Ali ging hinter die Theke und betätigte einen Computer. »Ist reserviert«, sagte er, als er an den Tisch zurückkam, »du kannst das Billett am Freitagabend hier abholen. Wie geht’s Erika?«
»Alles in Ordnung mit Erika. Auch zu Hause in Selçuk alles in Ordnung.«
»Man sieht dich selten«, sagte Muhammed Ali, »du bist immer noch verliebt?«
Erdogan lächelte, nahm das Glas und schlürfte den heißen Tee.
»Okay«, sagte Muhammed Ali, »bis Freitagabend.«
Als Erdogan in die Lörracherstraße einbog, war es bereits kurz nach 19 Uhr. Die Straßen waren leer. Nichts Verdächtiges rührte sich, alles war ruhig. Er stellte das Moped auf den Parkplatz für Fahrräder, nahm den Helm ab und schaute sich noch einmal genau um.
Gleich nebenan saß ein Mann in einem Auto, der im Licht der Straßenlaterne einen Stadtplan studierte. Er schaute nicht auf, er sog bedächtig an seiner geschwungenen Pfeife und stieß hellen Rauch aus.
Erdogan erschrak. Er nahm allen Mut zusammen und schaute noch einmal genau hin. Das war ein biederer Mann dort im Auto, ein Schweizermann, ein gemütlicher Pfeifenraucher, der auf dem Stadtplan eine Adresse suchte. Das war bestimmt kein Verbrecher.
Schräg gegenüber stand der Amerikanerwagen. Der war zu auffällig, der verriet seinen Reichtum, der musste weg.
Entschlossen ging Erdogan hinüber und begann, den Schnee vom Verdeck zu schieben. Als er die Scheiben freigekratzt hatte, setzte er sich hinein und drehte den Anlasser. Nach einigem Stottern begann der Motor zu laufen. Er hatte schon den Vorwärtsgang eingelegt, als er im Rückspiegel ein Auto herangleiten sah. Es war ein roter Kleinwagen mit Vierradantrieb und Antenne. Erdogan wartete mit dem Blinker, um das fremde Auto vorbeizulassen. Da hielt es auf seiner Höhe an. Der Mann am Steuer lächelte und winkte kurz. Und trotz der Dunkelheit war zu erkennen, dass es ein fremdländischer Mann, ein Araber, war.
Erdogan saß starr. Gebannt schaute er zu, wie das fremde Auto wieder anfuhr und vorn auf der Kreuzung verschwand. Dann blickte er hinüber zum Pfeifenraucher. Der studierte immer noch den Stadtplan, dem war nichts aufgefallen.
Erdogan schaltete in den Leerlauf zurück und ließ den Motor weiterlaufen. Das war nicht auffällig, das war normal, der Motor musste erst warm werden.
Vielleicht war dieser Araber der Mann, der in der Frühe angerufen hatte. Vielleicht, aber sicher war das nicht. Wenn er es war, dann wusste dieser Mann jetzt, dass er einen Amerikanerwagen besaß, einen Luxusschlitten. Das hieß: Armer türkischer Gastarbeiter findet in der Scheißröhre Diamanten und kauft als Erstes ein protziges Luxusmodell.
Hätte er bloß auf Erika gehört und diesen Schlitten nie gekauft. Wie brachte er ihn jetzt los?
Er schaute noch einmal hinüber zum Pfeifenmann, ob der vielleicht etwas mitbekommen hatte. Er hatte nichts mitbekommen. Offenbar hatte er auf dem Plan die gesuchte Straße gefunden. Er startete den Motor, schaltete die Lichter ein und fuhr weg.
Erdogan beschloss, das Auto anderswo zu parken und eine Zeitlang nicht mehr anzurühren.
Er fuhr an und rollte langsam über die Kreuzung. Vom Auto des fremden Mannes war nichts mehr zu sehen, vom Auto des Pfeifenrauchers auch nicht. Vielleicht war das alles falscher Alarm gewesen. Vielleicht waren einfach seine Nerven überreizt, und er sah Gespenster.
Er stellte das Auto an der Hammerstraße an eine dunkle Stelle, weit von der nächsten Laterne entfernt. Er schloss alle Türen und auch den Kofferraum zu und ging zu Fuß nach Hause.
Peter Hunkeler stieg die Stufen zu Erikas Wohnung hoch. Er liebte diese alten Treppenhäuser, die nach Staub und Bodenwichse rochen. Die Eisengeländer mit den abgegriffenen Handläufen. Die Kugellampen aus Milchglas, in denen 40-Watt-Birnen brannten. Die Löcher in den gegipsten Wänden, die von den Ecken sperriger Möbelstücke herstammten.
Es wohnten hier fast ausschließlich Ausländer. Er hatte das in der Durchfahrt unten an den Briefkästen abgelesen. Gastarbeiter, die in der Schweiz die Dreckarbeit machten und froh waren, billig unterzukommen. Dass Frau Waldis hier wohnte, war eigentlich erstaunlich. Er hätte sich eine Kassiererin eher in einer Einzimmerwohnung eines Neubaus vorgestellt, mit Lift und kleinem Balkon. Blödsinn, dachte er, immer diese stupiden Vorurteile.
Er wischte sich am Bastteppich, der vor Erikas Wohnungstür lag, die Schuhe sauber, mehr aus Verlegenheit denn aus Notwendigkeit. Etwas kratzte am Boden, er achtete nicht darauf und klingelte. Die Tür ging auf, und er ging hinein.
Frau Waldis war eine ziemlich dicke Frau mit langem, dunkelblondem Haar. Sie musterte ihn misstrauisch. Sie hatte Angst, das sah Hunkeler genau. Und ebenso genau sah er, wie gut sie diese Angst versteckte.
Er zeigte seinen Ausweis. Sie bat ihn, sich zu setzen. Erdogan sei nicht da, werde aber bestimmt bald kommen.
Auf dem niederen Tisch stand ein Teekrug. Ein Brot lag da, der Rest einer Mettwurst, Aufschnitt, Schachtelkäse, eine aufgeschnittene Zwiebel.
Sie sei am Essen, sagte sie, ob er mithalten wolle?
Danke nein. Aber gegen einen Schluck Tee habe er nichts.
Sie holte in der Küche eine Tasse und schenkte ein. Es war Rauchtee von der besseren Sorte. Dann schaute sie ihn an, unverwandt, ohne ein Wort zu sagen.
Hunkeler legte die Karte mit seinen Telefonnummern auf den Tisch.
»Hier«, sagte er, »das ist meine Büronummer, da bin ich fast immer erreichbar in der nächsten Zeit. Das ist die Nummer meiner Wohnung, und das hier ist die Nummer meines Autotelefons. Unter einer dieser drei Nummern bin ich mit Sicherheit erreichbar, vierundzwanzig Stunden am Tag.«
Erika kaute langsam und gründlich. Das Essen schien ihr kein besonderes Vergnügen zu machen. Sie überlegte. »Warum sollte ich Sie anrufen?«
»Wenn Ihr Freund diese Diamanten gefunden hat, und davon gehen wir aus, so ist er in Gefahr. Wir wissen, dass ein Mann hinter diesen Steinen her ist, ein Profi, und folglich ist er auch hinter Herrn Civil her. Dieser Mann arbeitet im Drogenhandel, und im Drogenhandel gibt es keinen Pardon. Früher oder später wird er herausfinden, dass Herr Civil die Diamanten hat, wenn er sie tatsächlich hat. Aber wie gesagt, wir sind uns fast sicher. Wenn er es weiß, wird er Herrn Civil zwingen, die Steine herauszurücken, und wenn sich Herr Civil weigert, wird er Gewalt anwenden. Das ist der letzte Moment, in dem Sie mich anrufen können. Vielleicht können wir dann noch eingreifen. Viel besser wäre es indessen, wenn Sie uns schon jetzt die Wahrheit sagen würden. Das wäre überhaupt die beste Lösung.«
»Die beste Lösung.« Sie biss ein halbes Stück Schachtelkäse weg und mampfte ausgiebig. »Wer weiß, was das Beste ist? Wollen Sie noch Tee haben?«
Hunkeler nickte, und sie schenkte nach.
»Ich weiß nichts von Diamanten«, sagte sie und schaute ihm geradeheraus in die Augen. Wenn die lügt, dachte er, so lügt sie gut.
»Ist Ihnen an Ihrem Freund in den letzten Tagen nichts Außergewöhnliches aufgefallen«, fragte er, »irgendeine Nervosität oder so?«
»Nein.« Wieder dieser klare, reine Blick.
»Wie war das mit dem Zahnweh gestern? Ist er zu einem Zahnarzt gegangen?«
»Nein. Das Zahnweh hat sich von allein verzogen.«
»Ach, da hat er aber Glück gehabt.« Er nahm die Tasse hoch und trank. Es war wirklich ein speziell guter Rauchtee. »Welcher Zahn war es denn?«
»Hinten oben links«, sagte sie, »ein Stockzahn. Er hat überhaupt schlechte Zähne. Er müsste sie längst flicken lassen. Aber das Geld reut ihn. In der Türkei lebt eine ganze Familie von seinem Geld. Eine Großfamilie mit Onkeln und Tanten und Großtanten. Die leben von dem Betrag, den hier in der Schweiz ein Stiftzahn kostet, ein ganzes Jahr lang. Er hat gesagt, ohne Zahn kann man leben, aber ohne Brot nicht.«
Hunkeler wusste, es hatte keinen Wert weiterzubohren. Die Dame wollte nicht, basta.
»Wo wohnt er in der Türkei?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
»Selçuk. Das liegt bei Izmir.«
»Ich weiß«, sagte Hunkeler, »in der Nähe von Ephesus. Ich war einmal ein paar Tage dort, am Strand draußen in einem neuen Bungalow-Hotel.«
»Was Sie nicht sagen.« Sie schaute ihn erstaunt an, sie schien plötzlich neugierig zu sein.
»Es gibt Flamingos dort und jede Menge Schildkröten«, erzählte er, »ich habe vier Arten gezählt. Und Störche. Am Abend fliegen sie zu ihren Nestern, die sie auf dem römischen Viadukt mitten in Selçuk gebaut haben. Ein Paradies. Es geht in den nächsten Jahren kaputt. Sie haben einen Damm gebaut mitten durch die Sümpfe hinaus ans Meer. Dort draußen am Strand brennen bereits Straßenlaternen, obschon es noch keine Straße gibt. Aber Sie sind ja sicher auch schon hingefahren.«
Sie hatte gespannt zugehört. »Nein«, sagte sie, und ihr Gesicht war plötzlich müde. Sie nahm ihren Teller, trug ihn in die Küche, kam zurück mit einem Teewärmer und stülpte ihn über den Teekrug. »Sie haben doch nichts dagegen«, sagte sie, »wenn ich mir die Tagesschau ansehe?«
Hunkeler verneinte. Sie schaltete den Fernseher an, genau zur richtigen Zeit. Die Sprecherin am Bildschirm nannte die Themen: Soll die Schweiz dem EWR beitreten? Soll der Staat an die Schwerstsüchtigen Heroin abgeben? Krieg in Jugoslawien. Und das Wetter: Eine Warmluftfront ist im Anzug.
Hunkeler saß im niederen Fauteuil und hörte mit halbem Ohr die Meldungen. Es war alles gesagt, aber er wollte noch eine halbe Stunde auf Erdogan warten.
Er saß gerne hier. Die Frau war ihm angenehm. Sie strahlte eine Ruhe aus, die ihn besänftigte. Merkwürdigerweise verspürte er nicht die geringste Lust auf eine Zigarette.
Er schaute zum Aquarium auf dem Buffet hinüber, zum Goldfisch darin, der reglos vor einer dunklen Wasserpflanze stand. Aus einem Röhrchen perlte Sauerstoff nach oben, ein Geräusch, das man kaum wahrnahm, so gleichmäßig plätscherte es. Auf dem Grund lag ungefähr fünf Zentimeter hoch schwarzer Sand, fein gemahlen wie Kaffeepulver, und in diesem Pulver hätte man eigentlich einmal nachschauen können, ob dort nicht etwas Glitzerndes, Strahlendes versteckt lag.
Erdogan kam kurz vor acht. Er erschrak sichtlich, als er Hunkeler sah, aber er hatte sich schnell wieder gefasst. Er sei noch ein Bier trinken gegangen, irgendwo in einer Beiz, er habe Durst gehabt, und wenn er Durst habe, pflege er etwas zu trinken.
Hunkeler hatte sich erhoben und schaute zu, wie der kleine Mann den Mantel auszog und aufhängte, wie er die leere Bierflasche aus der Tasche nahm und auf den Tisch stellte, wie er sich setzte und Tee einschenkte. Er tat das ruhig und selbstverständlich. Und ebenso ruhig und selbstverständlich schnitt Frau Waldis ihrem Mann zwei Stück Brot ab, bestrich sie mit Butter, belegte das eine mit Aufschnitt, das andere mit Schachtelkäse und schob sie ihm hin. Er aß, langsam kauend, dann schluckte er und wartete.
Hunkeler stand immer noch. Es war klar, dass er störte. Er zeigte auf seine Karte auf dem Tisch und sagte: »Wenn Sie es sich anders überlegen, so rufen Sie an. Möglichst bald. Denken Sie bitte daran, dass die Polizei dazu da ist, die Leute zu beschützen. Wir sind in der Lage, das jederzeit zu tun. Glauben Sie nicht, dass Sie mit diesen Verbrechern allein fertig werden. Bitte vertrauen Sie mir.«
Er kam sich blöd vor bei diesen Worten, aber sie waren ehrlich. Er fühlte sich als ein Freund und ein Helfer dieser beiden Menschen.
»Sie reden dummes Zeug«, sagte der kleine Mann, »ich verstehe kein Wort.«
»Ich bin vor eineinhalb Jahren in Selçuk gewesen«, sagte Hunkeler, und er wusste nicht, warum er das sagte, vielleicht wollte er einfach Zeit gewinnen, »das war im September, und das Meer war noch warm. Wir wohnten draußen am Strand, und jeden Nachmittag fuhren wir nach Selçuk hinein. Einmal hat uns ein Gemeinschaftstaxi mitgenommen. Das kam aus einem der Dörfer am Rande des Sumpfes, und es war vollgestopft mit Menschen, jungen und alten. Trotzdem nahmen sie uns mit. Es war eine Stimmung in diesem Auto, die vergesse ich nie. Sie war feierlich, fast heilig, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich versuche es Ihnen zu erklären. Obschon es bloß ein Ausflug in die nächste Kreisstadt war, war es für diese Menschen eine Reise auf einen andern Kontinent. Ihre Stimmung, die Art, wie sie aus dem Auto schauten, das über den Damm mitten durch den Sumpf fuhr, war andächtig. Andacht, jawohl, das ist das richtige Wort. Verstehen Sie mich?«
»Das Auto war ein Dolmus«, sagte der kleine Mann, »das ist dort üblich.«
»Sie verstehen mich nicht«, sagte Hunkeler, »ich will es Ihnen anders erklären. Wir sind mit einem Mietauto in die Hügel hineingefahren und kamen an einen See. An diesem See stand ein einziges Haus, es war das Haus des Fischers. Am Strand lag ein Boot. Wir haben angehalten und sind zum Wasser hinuntergegangen. Das war voll Leben. Fische, Frösche, Krebse, Molche, und dann die Vögel: Störche, Reiher, Enten. Das war eine völlig intakte Natur, wie zu Salomons Zeiten. Eine Schönheit, der ich kaum gewachsen war. Unweit dieses Sees war ein Dorf, und auf jedem Dach war ein Storchennest. Wir fuhren mitten auf den Dorfplatz und wurden sofort umringt von lachenden, sich freuenden Männern. Sie wollten, dass wir ausstiegen, uns von ihnen einladen ließen, mindestens für eine Nacht. Ich saß am Steuer, und ich habe sofort gewendet. Ich bin aus diesem Dorf hinaus geflüchtet. Das war eine Flucht vor der Schönheit. Verstehen Sie mich jetzt?«
Der kleine Mann hatte zugehört. Er aß immer noch nicht weiter, er schien nachzudenken, aber er sagte nichts.
»Diese ganze heilige Welt«, fuhr Hunkeler weiter, »der Sumpf mit den Flamingos, der See mit den Störchen, das Dorf mit den Männern, die einen Fremdling wie einen König aufnehmen und bewirten wollen, das alles geht kaputt in wenigen Jahren. Verstehen Sie?«
»Ja«, sagte der kleine Mann, »ich verstehe Sie. Aber Menschen sind wichtiger als Schildkröten und Flamingos. Hotels bringen Arbeit. Ein Straßendamm mitten durch den Sumpf wird von Männern gebaut, die damit Geld verdienen. Oder sollen sie und ihre Familien verhungern, nur weil Sie hin und wieder gern einen Storch am Himmel sehen?«
»Nein, das sollen sie nicht«, sagte Hunkeler.
Er schaute zu, wie Civil eines der Brote nahm, hineinbiss und kaute.
»Diamanten sind eine wunderbare Sache«, sagte er, »und ich verstehe gut, dass jemand, der eine Handvoll davon findet, sie nicht mehr hergeben will.«
»Jetzt hören Sie endlich mit diesen Diamanten auf. Ich habe keine.«
»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte Hunkeler, »ich wünsche noch einen schönen Abend. Und viel Glück.«
Er ging hinaus.
Peter Hunkeler saß im Auto und startete den Motor. Er war nervös, er gefiel sich gar nicht. Warum hatte er diese lange Rede gehalten über Störche und Frösche, über Schönheit und heilige Welt, was hatte er damit sagen wollen? Und dann dieser Blödsinn über Umweltzerstörung in der Türkei, was ging ihn das an? Diese verlogene Moral, die andern Leuten verbieten wollte, das zu tun, was hierzulande schon längst geschehen war. Klebte nicht auf jedem schweizerischen Kirchendach ein leeres Storchennest, in dem noch vor wenigen Jahrzehnten gebrütet worden war? Und was war mit dem Altachenbach, an dem er aufgewachsen war? Wo waren die Wasserlilien hingekommen, die Egel und Forellen? Die waren weg, verschwunden.
Es war die übliche helvetische Schulmeisterei gewesen, die arrogante Besserwisserei, die ihn zu dieser Rede getrieben hatte. Er hatte dem Mann aus der Türkei seine Sympathien kundtun wollen, ihm erklären, dass er ihn liebenswert fand, dass er seine Heimat ein bisschen kannte, die Schönheit dieses Landes, die unglaubliche Gastfreundschaft. Er hatte mit dieser Sympathieerklärung um Vertrauen werben wollen, und natürlich war er abgeblitzt.
Der Mann aus Selçuk war ja nicht zu seinem Vergnügen hier, weil er Basel zum Beispiel eine schöne Humanistenstadt fand. Er kroch nicht acht Stunden pro Tag in der Kanalisation herum, weil er den Abwassergeruch besonders mochte. Er tat es, weil er Geld verdienen wollte. Ein entschlossener Mann, dieser Civil. Er hatte klare Ansichten, er wusste, was er wollte. Wenn er die Diamanten tatsächlich gefunden hatte, so würde er sie bis zum Letzten verteidigen.
Und Frau Waldis, warum hatte die nicht geredet? Sie hatte nicht geredet, weil sie Angst hatte. Sie hatte nicht nur Angst vor fremden Besuchern, die in ihre Wohnung eindrangen, sie fürchtete vor allem, ihren Erdogan zu verlieren. Hunkeler hatte genau gesehen, wie neugierig sie seiner Schilderung von Selçuk gelauscht und wie müde sie plötzlich ausgesehen hatte, als er sie gefragt hatte, ob sie auch schon hingefahren sei.
Sie wollte nicht, dass Erdogan in die Türkei verschwinden und nicht mehr wiederkommen würde.
Aber waren die Diamanten nicht ein guter Grund für Civil, als reicher Mann endgültig in die Türkei zurückzukehren? Und wenn sie das verhindern wollte, hätte sie dann nicht reden müssen? Sie hatte nicht geredet, weil das Verrat gewesen wäre. Und verraten wollte und konnte sie ihre Liebe nicht.
Oder war das alles falsch? Wusste Civil tatsächlich nichts von Diamanten? Die Geschichte mit dem Zahnweh jedenfalls schien wahr zu sein.
Wo steckte überhaupt Haller? Der hatte doch die Aufgabe, den Türken zu überwachen. Machte er vielleicht wieder einmal Pause?
Hunkeler stellte den Motor ab und tippte Hallers Nummer ins Telefon. Schon nach dem ersten Piepston kam Antwort.
»Wo steckst du denn?«, fragte Hunkeler.
»Er hat mich gesehen«, meldete Haller, »und ich bin unauffällig verduftet. Jetzt stehe ich hundert Meter Richtung Rhein. Siehst du die Tankstelle?«
»Ja.«
»Gleich dahinter bin ich. Ich habe die Lage im Griff. Übrigens: Der Türke hat einen alten Amischlitten, ein sagenhaftes Modell, richtig heavy. Weiß mit rotem Verdeck.« Man hörte, wie er an der Pfeife sog und Rauch ausstieß.
»Schau an«, sagte Hunkeler, »was für eine Überraschung. Also, bleib dran.«
Er legte auf, startete den Motor und fuhr an. Einen Amischlitten hatte Civil also. Und wann hatte er sich den gekauft? Vielleicht gestern, als er wegen Zahnwehs hinten oben links nicht zur Arbeit erschienen war?
Hunkeler bog in die Rheingasse ein und hielt im Parkverbot gleich hinter dem Taxistand an. Dem Taxifahrer, der ausstieg und ihn wegschicken wollte, hielt er seinen Ausweis unter die Nase. Der Mann salutierte wie im Militär.
Es war noch nicht viel los auf der Gasse, es war zu früh. Oder vielleicht hatten die Sumpfbrüder und Sumpfschwestern für einmal beschlossen, wegen des vielen Schnees zu Hause zu bleiben und hinter dem eigenen Ofen eine Flasche zu höhlen.
Nur die Drogenszene war da. Rechts in der Passage, die zum Rhein führte, standen sie, die Junkies und Dealer. Einer saß am Boden, die Spritze im Arm, tief vornübergebeugt, ein Bild der äußersten Konzentration. Neben ihm hockten andere, rauchend. Jemand ließ ein Tonbandgerät laufen.
Zwanzig Meter weiter vorn auf der linken Straßenseite stand, halb von einem Baugerüst verdeckt, Detektiv-Wachtmeister Madörin, ein Funkgerät in der Hand. Er schaute gebannt auf die andere Straßenseite hinüber, er beobachtete. Dort gegenüber auf dem Trottoir, gleich neben dem Eingang zum Swiss-Chalet, einem volkstümlichen Dancing mit Ländlermusik, saß eine junge Frau im Schnee, die Beine gestreckt, den Rücken an die Hausmauer gelehnt. Ein junger Mann kniete neben ihr, er schüttelte sie, er schlug ihr mit der Hand ins Gesicht, ließ dann ab von ihr, erhob sich und schaute hilfesuchend zu den wartenden Taxis.
Hunkeler stieg aus. Dieses Bild der im Schnee sitzenden jungen Frau mit dem langen schwarzen Haar, er kannte es, es durfte nicht sein. Und doch hatte er für einen kurzen Moment die Gewissheit, dass an jener Mauer seine Tochter Isabelle saß.
Er ging hin, nicht schnell, sondern langsam, lauernd. Er hätte sich hinstürzen und seine Tochter hochreißen, umarmen wollen, aber das Entsetzen hielt ihn zurück. Er sah, dass der junge Mann einen Augenblick lang auf dem Sprung war zu fliehen, dann aber blieb. Hunkeler beugte sich nieder zu der Frau, deren Gesicht vom Haar verdeckt war. Er schob vorsichtig dieses Haar beiseite, er sah in ein fremdes Frauengesicht.
Es war nicht Isabelle.
Der Atem der Frau ging langsam, viel zu langsam. Ihr Gesicht hatte im Schein des Straßenlichts einen bläulichen Schimmer.
»Überdosis«, sagte der junge Mann, »sie ist meine Freundin. Können Sie helfen?«
Hunkeler nickte. Er ging über die Straße zu Madörin, riss ihm das Telefon aus der Hand und rief die Sanität an. Dann trat er wieder zu der Frau, die die Augen noch immer geschlossen hatte. »Umarmen Sie sie«, sagte er zu ihrem Freund, »wärmen Sie sie. Schlagen Sie sie ins Gesicht, aber nicht zu hart.«
Er zog seinen Mantel aus und half, sie notdürftig hineinzuwickeln. Ihr rotes, gestricktes Halstuch hatte sich gelöst und lag im Schnee. Er hob es auf, rollte es zusammen und schaute zu, wie der junge Mann seine Freundin umarmte und mit dem Handrücken hilflos ins Gesicht schlug.
Madörin kam herüber. »Ich habe gedacht, die schläft. Ist es schlimm?«
»Wenn sie stirbt«, sagte Hunkeler, »bist du wegen Unterlassung von Nothilfe dran. Das schwöre ich.«
Madörin verzog den Mund und spuckte in den Schnee. »Die stirbt nicht, die sind zäh.« Es ging ihm nicht gut. Er stand da wie ein ungeliebter Onkel. »Es ist nicht meine Schuld, wenn sich jemand vollpumpt.«
Der Sanitätswagen war in fünf Minuten da. Als die Frau eingepackt war, sagte Hunkeler zum jungen Mann: »Fahren Sie mit. Bleiben Sie bei ihr. Und passen Sie um Gottes willen besser auf.«
Hunkeler fuhr über die Wettsteinbrücke nach Großbasel hinüber. Er musste jetzt mit jemandem reden, mit Bekannten, mit Freunden. Er brauchte normale menschliche Gesellschaft.
Wenn der Stoff vom Staat kontrolliert abgegeben würde, dachte er, würden diese Unglücksfälle nicht passieren. Aber das war offenbar egal. Eine Heroinleiche mehr oder weniger störte das öffentliche Gerechtigkeitsempfinden nicht, die waren ja selber schuld.
Wenn aber diese junge Frau dort im Schnee seine eigene Tochter gewesen wäre, was hätte Hunkeler dann gemacht? Hätte er seinen üblichen Tramp vom Bett ins Büro, vom Büro an den Mittagstisch, vom Mittagstisch ins Büro und vom Büro in die Beiz zum abendlichen Bier weitergehen können, als ob nichts geschehen wäre? Hätte er im Elsass seinen Eisenofen weiterhin mit bedächtigem Wohlbehagen einfeuern und kurz vor Mitternacht zu Hedwig hineinkriechen können?
Nein, das wäre nicht mehr möglich gewesen. Er wäre von diesem Unglücksbild bis an sein Lebensende gezeichnet gewesen.
Hunkeler war es einen Augenblick lang ums Beten, als er über die Brücke fuhr, einen kurzen Vers hätte er sprechen wollen mit gefalteten Händen, ungefähr wie »Für Speis und Trank Gott sei Dank«, nur mit anderem Inhalt. Und er sagte, ohne dass er wollte, laut und deutlich: »Lieber Gott, hilf meiner Tochter Isabelle.«
Ein starker Wind blies ihm entgegen, packte sein Auto, trieb es in die Straßenmitte. Das war eine Böe, eine Westböe. Der Wind hatte gedreht, er kam jetzt vom Atlantik her über die Ebenen Frankreichs und brachte Wärme und Nässe mit.
Hunkeler parkte vor der Kunsthalle und ging hinein. Das Lokal war wie jeden Abend voll. Rechts die weißgedeckten Tische, wo à la carte gegessen wurde. Gestandene Ehepaare saßen hier mit einer Flasche Wein vor sich, leise, sparsame Worte wechselnd, die Damen dezent gekleidet, hoffend auf ein Abenteuer, das nie kam. Einige schwule Paare waren da, kurzgeschoren, ohne Augen für die Umgebung, verliebt sich anhimmelnd. Dann die weiblichen Paare, von denen Hunkeler nie wusste, ob es Lesben waren, die eine ausgiebig erzählend, die andere zuhörend. In der Mitte des Saales stand auf einem Tisch ein anderthalb Meter hoher Blumenstrauß. Hinten an der Wand hing ein Bild mit Bocciaspielern, gemalt von Paul Camenisch, einem schwulen Kommunisten, der 1970 als alter Mann gestorben war, gehasst und verfemt von ebendieser bürgerlichen Schickeria, die seine Werke jetzt schön fand.
Unter diesem Bild waren zwei Tische aneinandergeschoben. Eine illustre Männergesellschaft saß dort. Hunkeler kannte sie alle. Zwei Direktoren aus der Chemie; ein ehemaliger Werber, der seine Agentur verkauft hatte und nicht recht wusste, was anfangen mit dem vielen Geld; ein Architekt aus altem Stadtadel, ehemals Nationalrat und immer noch aktiver Fastnächtler, ein hervorragender Tuschzeichner in der Freizeit. Dann der Polizeikommandant (Hunkelers Vorgesetzter), ein kulturell vielseitig interessierter und begabter Bürger auch er, der nicht nur für das Blech der Basler Polizeimusik etwas übrighatte, sondern auch für den zarten Strich auf der Violine.
Es war das Komitee »Kultur für Basel«, welches die Kulturwoche »Die Welt im Gesang« sponserte und organisierte. Und es saßen auch da die Herren Suter, Staatsanwalt, und Dr. Zeugin, ehemals Treuhänder, jetzt Importeur.
Hunkeler hatte bloß einen kurzen Blick auf jene Tischrunde geworfen, dann hatte er sich sogleich nach links verdrückt, in den andern Teil der Kunsthalle, den man allgemein Schlauch nannte. Er wollte jetzt von diesen Herren nicht gesehen werden, er hatte noch immer eine Wut. Dort saßen sie, mit bester Absicht, und redeten über Hirtenchöre im Kaukasus, über den Herdenruf der Tuareg im Hoggar und über jodelnde Pygmäen. Und währenddessen ging in den Gassen Basels die Jugend vor die Hunde, weil es ihr an Treffpunkten fehlte, an Räumlichkeiten, an Geld. Denn sie, die bestandenen alten Herren, bestimmten, was Kultur war.
Im Schlauch saßen fast nur junge Leute. Harmloses, lebhaftes Gemüse, schön anzuschauen, dicht gedrängt, Hüfte an Hüfte. Wenigstens das, dachte Hunkeler, in diesem Lokal sitzen sie alle unter einem Dach, Mächtige und Ohnmächtige, auch wenn sie nicht miteinander reden.
Er durchquerte den Raum und nahm Platz am Tisch hinten rechts, an dem Männer seines Alters saßen. Die beiden Werber vom Mittag waren da, der Pfarrer der nahen Kirche, ein scheuer, melancholischer Trauervogel. Weiter ein Kunstmaler von einigem Erfolg, im Mund faule Zähne, in den Augen Neugier und Witz. Schließlich der Wirt, ein eleganter Mann von lombardischer Grandezza, dessen Großvater als Muratore eingewandert war.
An diesem Tisch fühlte sich Hunkeler meistens wohl. Es wurde getrunken, aber in Maßen, es wurden Sprüche geklopft, es wurde augenzwinkernd geredet über Probleme, die alle betrafen. Und fast immer herrschte Eintracht an diesem Tisch.
An diesem Abend klappte es nicht, Hunkeler war zu geladen.
»Ich habe soeben in der Rheingasse eine junge Frau im Schnee liegen sehen«, erzählte er, »bereits mit dem Tod im Gesicht. Keiner hat den Finger gerührt. Ist das eigentlich in dieser Stadt schon normal?«
Er nahm einen Schluck vom Bier, das ihm der Kellner hingestellt hatte. Es schmeckte ihm nicht. »Einen Augenblick lang habe ich gedacht, es sei meine Tochter.«
»Hör auf zu jammern«, sagte der Kunstmaler, »oder geh zu den Herren dort drüben. Die sind verantwortlich.«
»Ich habe einen Bekannten«, sagte der ältere der beiden Werber, »der hat ein Lungenemphysem. Das kommt vom Rauchen. Trotzdem raucht er weiter. Wie soll denn eine Fixerin aufhören können, wenn nicht einmal ein harmloser Raucher aufhören kann?«
Hunkeler zündete sich eine an, hustete und sagte: »Wir sind alte Männer. Aber die sind jung. Das sind unsere Kinder, und ich ertrage es nicht, wenn ich zuschauen muss, wie sie sich zugrunde richten.«
»Jetzt fang nicht noch mit den Walfischen und den Indianern an«, sagte der Kunstmaler.
»Doch«, sagte Hunkeler, »mit denen fange ich an, und mit unseren Kindern höre ich auf.«
»Lass endlich diesen Kitsch«, sagte der andere Werber, »schau lieber ein bisschen besser zu dir, dass du nicht zugrunde gehst.«
Er winkte dem Kellner und bestellte Jasskarten, Tafel und Jassteppich. »Spielst du auch mit?«
»Nein«, sagte Hunkeler.
Er schaute zu, wie die Karten gebracht wurden, wie sie verteilt wurden, wie die Männer zu spielen begannen. Sie taten es mit höchster Konzentration, gebannt die Karten aufnehmend, sie prüfend und in der einen Hand ordnend. Keinem war anzusehen, was er dachte.
Er jasste normalerweise mit, wenn er gefragt wurde, er zählte das Jassen zu den schönen alten Traditionen. Aber an diesem Abend wollte er nicht.
»Ihr seid nichts anderes als bequeme, vertrottelte, völlig angepasste alte Arschlöcher«, sagte er. Er erhob sich, er sah, wie sie ihn verständnislos anschauten, wie einen Kranken.
»Du spinnst«, sagte der Wirt, »aber es macht nichts.«
Hunkeler ging hinaus, setzte sich in sein Auto, an dessen Frontscheibe ein Bußenzettel klebte, und fuhr los. Er hasste diese Stadt, deren Polizist er war. Er hasste diese Männer, die seine Freunde waren, er hasste sich selbst.
Dieser Dr. Zeugin, der Import und Export betrieb auf allerlei hellen und dunklen Kanälen, dieser Ehrenmann, der unbedingt wissen wollte, woher das Kriminalkommissariat Basel den Tipp über die schmutzigen Diamanten erhalten hatte, dieser bedeutende, wertvolle Bürger saß am ehrenwerten Stammtisch mit den anderen Potentaten dieser Stadt und bestimmte, was Kultur war. Und warum saß er dort? Weil er Geld hatte.
In Hunkeler erwachte der alte Revoluzzer. Nicht die Jugend, die eine Zukunft vor sich liegen sieht, das unbekannte, unformulierte süße Leben, gebietet über das Geld, sondern die alten, abgestandenen Knacker mit ihren Schmerbäuchen, die das Leben hinter sich und nur noch den Tod vor sich haben. Die lendenlahmen Zittergesellen, die keine einzige Erektion mehr zustande bringen, nicht an ihrem vierzigsten Hochzeitstag, nicht am ersten Mai und nicht an Silvester nach einem Dutzend Austern und einer Flasche Schampus, den sie aus goldgefassten Kristallgläsern schlürfen. Und genau deshalb erklären sie den Geldbesitz als unantastbar und heilig, genau deshalb hocken sie auf ihren Kohlen, weil sie damit die Macht, die sie naturgemäß längst abgeben müssten, behalten und mit Zins und Zinseszins mehren können bis ins Grab. Sie ficken mit Geld, und sie ficken die Jugend.
Hunkeler stöhnte. Aus Ärger, aus Wut, aus Frust über seinen miesen Job, er wusste es nicht. Die Phantasie an die Macht, ha! Er grinste bitter. Die Geldsäcke an die Macht, die Anpasser, die Saubermänner mit den verschissenen Unterhosen! So war die Wirklichkeit.
Vor einem Rotlicht hätte er beinahe einen vor ihm wartenden Wagen gerammt, so sehr war er in Fahrt. Der Schnee war jetzt schwer und nass, ein richtiger Pflotsch lag auf der Straße.
Er parkte vor seiner Wohnung und ging die wenigen Schritte zum Sommereck. Edi saß da, Beat und ein Neuer, der wie ein Lebensversicherungsvertreter aussah und André hieß.
Hunkeler bestellte eine Käseschnitte mit Ei und einen Milchkaffee. Er sagte nichts, er hörte zu, er aß. Zwischendurch achtete er auf die Musik, die aus der Musikbox kam: »Buona sera, Signorina, buona sera«, »See you later alligator«, die alten Evergreens und Straßenfeger, die Tröster seiner Jugend, »Working for the Yankee Dollar, yeah«.
Als Edi gegen 23 Uhr mit der Grappaflasche kam, winkte Hunkeler ab. Er wollte nicht, er hatte keine Lust. Hocken wollte er, ja, und zuhören wollte er auch. Aber saufen und reden wollte er nicht.
»Gratisabgabe von Grappa«, sagte der Antiquar Beat, als Edi einschenkte, »das ist Gratisabgabe von Rauschgift, und das erst noch in einem öffentlichen Lokal. Ist das nicht verboten?«
Die Männer schüttelten sich vor Lachen, kippten ihr Glas und ließen sich wieder einschenken.
»Jetzt reden die doch tatsächlich darüber, ob der Staat den Drögelern den Stoff gratis und franko abgeben soll. Habt ihr das gehört?«, fragte der Neue. Er trug eine Krawattennadel aus Silber, mit rotem Edelstein.
»Das wäre nicht das Dümmste«, sagte Edi, »warum eigentlich nicht?«
André knallte sein Glas auf den Tisch. »Wo leben wir denn eigentlich? In einem staatlichen Selbstbedienungsladen? Die gehören alle eingesperrt bei Wasser und Brot, bis sie nicht mehr süchtig sind oder meinetwegen verrecken. Und die Asylanten dazu. Einsperren bei Wasser und Brot, bis sie vernünftig werden. Meinst du eigentlich, ich will mit meinen Steuern denen ihr Rauschgift bezahlen, he?«
Edi lehnte sich zurück. Er war für den Frieden, wollte keinen Streit.
»Sind Sie Vertreter?«, fragte Hunkeler.
»Ja«, fauchte André, »warum?«
»Ruhe«, sagte Edi, »der Mann ist Polizist.«
»Ach so, der Herr ist Polizist«, giftete der Mann mit der Krawattennadel, und es war deutlich zu sehen, dass er schwer geladen hatte, ein Fuder Alkohol, zwei Fuder Frust und Wut.
»Der Herr ist sich zu gut, mit einfachen Bürgern zu reden, die arbeiten und ihre Steuern regelmäßig bezahlen. Wissen Sie, was ich tun würde, wenn ich die Macht hätte? Alle an die Wand stellen, Drögeler und Asylanten, und dann mit einem Maschinengewehr drüber, ratatatata.«
Hunkeler erhob sich so schnell, dass sein Stuhl nach hinten kippte. Er langte über den Tisch, griff mit beiden Händen dem Mann gegenüber an die Gurgel und drückte zu, zwei Sekunden, drei Sekunden, dann ließ er von ihm ab.
Edi war aufgesprungen und packte ihn am Arm. »Ruhe!«, schrie er. »Bist du wahnsinnig geworden?«
Hunkeler stand immer noch am Tisch. Er ließ seine Arme hängen und schaute zu André hinüber, der mit käsigem Gesicht auf seinem Stuhl saß und ihn anstarrte.
»Entschuldigung«, sagte er, »ich zahle morgen.«
Draußen wehte ein warmer Wind. Es war eher ein Sturm, ein Märzensturm. Hunkeler hörte hinter sich eine Dachlawine rutschen und aufs Trottoir knallen.
Was war los mit ihm? Warum hatte er urplötzlich einem wildfremden Mann an den Kragen gewollt?
Er musste jetzt schlafen. Er ging in seine Wohnung, stellte den Wecker auf sieben und legte sich ins Bett.
In dieser Nacht rauschte die angekündigte Warmluft über Basel hinweg. Sie rüttelte an den Fensterläden, riss den Rauch aus den Kaminen. Sie fuhr in den Schnee und brachte ihn zum Schmelzen, sie wehte die Dächer blank. Den schlafenden Menschen blies sie in die Träume.
Der Atlantikwind fraß den Schnee innerhalb weniger Stunden von den Hängen und Höhen der umliegenden Berge. Da der Boden noch immer gefroren war und kein Wasser aufnehmen konnte, floss es in Sturzbächen hinunter in die Täler. Die Wiese trat bei Zell über die Ufer und versperrte die Talstraße. Beim Wiesendamm in Basel floss sie über den Autobahnzubringer. Der Birsig überschwemmte die Heuwaage und ergoss sich durch die Steinenvorstadt, über Barfüßerplatz und Marktplatz bis zur Schifflände. Dort vereinigte er sich mit dem Rhein. Selbst die Birs trat über ihre breiten Ufer, ein unbändiger Wildbach plötzlich mit mächtigen Wellen.
Der Rhein stieg auf eine Pegelhöhe wie seit Jahrzehnten nicht mehr und überschwemmte die Auwälder unterhalb der Stadt. Dicke Bäume trieben Richtung Kembser Schleusen, herausgerissen aus den Jurahängen, sich drehend und schaukelnd.
An diesem Donnerstagmorgen um acht Uhr erwachte der Kriminalkommissär Hunkeler aus einem tiefen Schlaf. Er schaute zum Wecker hinüber, der auf dem Nachttisch stand und auf sieben Uhr gestellt war. Offensichtlich hatte er geklingelt, der Knopf war noch oben. Aber Hunkeler hatte nichts gehört.
Er erhob sich, setzte Teewasser auf, duschte sich, rasierte sich, putzte sich die Zähne, das übliche Morgenritual. Üblicherweise ödeten ihn diese seit Jahrzehnten eingeübten Handgriffe an, das Schrubben, das Schaben, das Bürsten und Gurgeln. Als sinnlos empfand er das, als ersten Schritt in die freiwillig gewählte alltägliche Sklaverei.
Heute verrichtete er das alles sorgfältig, mit Liebe zu sich selbst, wie ihm schien. Und er betupfte sich das glattrasierte Kinn mit dem sündhaft teuren Eau des Lilas, das ihm Hedwig aus Paris mitgebracht hatte.
Er fühlte sich gut. Und er wusste auch, warum. Nicht nur dass er lange geschlafen hatte, gab ihm dieses gute Gefühl. Vielmehr freute ihn, dass es ihm wieder einmal gelungen war, den Wecker nicht zu hören und eine Stunde über die geplante Zeit hinaus zu schlafen. Er war also noch keine Maschine, durfte noch hoffen auf menschliche Unzulänglichkeit.
Zudem hatte er wieder einmal seinen Kropf geleert, ansatzlos, unüberlegt, gründlich. Er hatte die Zeit der Scham, der Selbstbezichtigung am Morgen danach, der untertänigsten Entschuldigung per Telefon längst hinter sich. Er wusste, dass es besser war, Schimpfwörter auszuteilen und im Zweifelsfall einem debilen Arschloch sogar handgreiflich an die Gurgel zu fahren, als jeden Ärger hinunterzuschlucken. Macht kaputt, was euch kaputtmacht! Diesen Slogan hatte er sich ein für alle Mal hinter die Ohren geschrieben. Raus mit der Sprache, raus mit der Wut, raus an die frische Luft, sonst geht der Ärger an deine Leber. Aber immer schaffte man es eben nicht. Man wurde älter, man wurde zahm, die Eckzähne wurden stumpf und fielen einem aus dem Mund, man hockte da mit eingefallenen Lippen und schwieg.
Er trank im Stehen drei Tassen Tee. Als er das Treppenhaus hinunterstieg, versuchte er, Django vom Modern Jazz Quartet nachzupfeifen. Sanfte, schöne Töne.
Er parkte vor dem Lohnhof.
Im Büro saß Schneeberger und las die Zeitung. Er blickte kurz auf, schaute dann auf seine Uhr und las weiter.
Hunkeler setzte sich, zündete sich eine an und wartete.
Nach einer Weile sagte Schneeberger beiläufig: »Haller hat angerufen. Erdogan Civil ist um halb drei Uhr zur Arbeit gefahren. Wasseralarm.«
»Und Kayat?«
»Ach so, Kayat.« Schneeberger machte es spannend, wie immer, wenn er etwas herausgefunden hatte. »Kayat hat einen neuen Namen. Er heißt jetzt Assad Harif und ist Syrer. Er hat bis gestern Nachmittag 15 Uhr im Hotel Rochat logiert und ist dann ausgeflogen. Wohin, wissen wir nicht.«
»Hotel Rochat? Das sind ja keine fünfhundert Meter vom Drei Könige entfernt.«
»Genau deshalb haben wir ihn so spät gefunden«, dozierte Schneeberger, »weil wir gedacht haben, der verdrückt sich möglichst weit weg.«
Hunkeler erhob sich, stellte sich ans Fenster und schaute zum Ahorn hinüber. Die drei Krähen saßen dort, glänzend schwarz.
»Dieser Kerl tanzt uns ganz schön auf der Nase herum«, sagte er, »und das mag ich nicht. Hat er jemanden angerufen?«
Schneeberger schüttelte tadelnd den Kopf. »Meinst du, er sei blöd?«
»Nein.«
»Es gibt im Rochat unten in der Halle einen Telefonautomaten. Von dort aus hat er mehrmals angerufen.«
Hunkeler nickte. Das hatte er sich gedacht.
»Als ich im Drei Könige saß«, berichtete Schneeberger, »am Dienstagnachmittag, kurz vor 16 Uhr, fuhr draußen ein Taxi vor, aus dem eine sehr schöne, junge Dame stieg, die einen Mantel aus Leopardenimitation trug. Der war reichlich kurz für diese Jahreszeit, was verständlich war, denn sie hatte sehr schöne Beine.«
»Was war das für ein Taxi?«
»Das weiß ich nicht mehr. Hingegen weiß ich noch, dass sie dem Uniformmann an der Drehtür einen gelben Umschlag abgegeben hat.«
Er faltete die Zeitung zusammen und strich sie auf dem Tisch glatt. Er war und blieb ein kleiner, mickriger Pedant.
»Und?«, fragte Hunkeler.
»Ich erzähle das nur, weil die Person, die Herrn Kayat gestern Nachmittag im Hotel Rochat abgeholt hat, scheint’s eine sehr schöne junge Dame war, die einen reichlich kurzen Mantel aus Leopardenimitation trug. Das ist dem Concierge aufgefallen wegen der schönen Beine.«
»Was ist dem Concierge sonst noch aufgefallen?«
»Leider nichts. Er hat keine Ahnung, was die beiden draußen gemacht haben, ob sie zum Beispiel in ein Auto gestiegen oder zu Fuß weggegangen sind.«
Hunkeler trat zum Tisch und strich sanft über das Buchenholz. »Und die Nummer des Taxis vor dem Drei Könige hast du also nicht?«, fragte er.
»Ich weiß nicht einmal die Taxifirma. Ich kann mir ja auch nicht alles merken.«
»Immerhin hast du dir Mantel und Beine gemerkt. Bravo.«
Schneeberger ging souverän darüber hinweg. »Ich habe alle Taxihalter in Basel und Umgebung angerufen und gebeten herumzufragen, wer zur fraglichen Zeit eine solche Person chauffiert haben könnte. Ich wette, der Mann meldet sich. So was vergisst keiner. Ich habe das übrigens heute Morgen getan, als du noch im Bett lagst.«
Er erhob sich, zerknüllte die Zeitung, warf sie in den Papierkorb und ging hinaus.
Hunkeler wandte sich wieder zum Fenster. Er betrachtete die schwarzen Vögel auf dem Baum, ihre starken Schnäbel. Warum hockten sie hier und nicht irgendwo draußen im Wald?
Er ging zur Tür und drehte den Schlüssel. Dann setzte er sich an den Tisch, ließ den Stuhl halbwegs nach hinten kippen und stellte die Fußsohlen gegen die Tischkante. Er umschlang mit beiden Armen seine Knie, schloss die Augen und wartete. Es fiel ihm nichts ein, was er hätte unternehmen können. Der Ball lag beim Gegner, und er selber konnte nur abwarten und hoffen, dass er einen Fehler machte. Diesen Moment durfte er nicht verpassen, für diesen Moment musste er gerüstet sein, nur darauf kam es jetzt an.
Er schloss die Tür wieder auf und holte sich einen Kaffee. Er trank ihn genüsslich, obschon er nicht besser schmeckte als sonst. Aber er war sich seiner Sache plötzlich sicher. Dieser Kayat war auf der Flucht, und sie waren ihm auf den Fersen. Irgendwann würde er die Nerven verlieren, und wenn sie Glück hatten, würde er sie sogar zu seinem Auftraggeber führen.
Hunkeler holte im Parterre unten ein Feldbett und zwei Wolldecken. Er stellte das Bett vor das Fenster, so dass er im Liegen die leere Krone des Ahorns vor sich hatte mitsamt den Krähen, die immer noch reglos verharrten. Er sperrte die Tür wieder zu, lockerte die Krawatte, legte sich aufs Bett, zog eine Wolldecke über sich und schlief ein.
Ein lautes Poltern weckte ihn. Jemand klopfte draußen gegen die Tür.
Er erhob sich und öffnete. Es war Suter, rot vor Entrüstung.
»Was fällt Ihnen ein, sich einzuschließen? Sie kapseln sich ab. Sie absonderlicher Mensch, Sie drücken sich vor Ihrer Arbeit, vor Ihrer Verantwortung. Wie bitte?«, schrie er, als er das Feldbett sah. »Sehe ich richtig? Sie schlafen während der Arbeitszeit Ihren Rausch aus? Auf Staatskosten? Wie viel haben wir denn wieder getrunken gestern Abend, Herr Kommissär, wenn man fragen darf?«
»Sie dürfen«, sagte Hunkeler. »Ich habe ein halbes Bier getrunken, es hat mir nicht geschmeckt. Dann habe ich zwei Tassen Milchkaffee getrunken. Die haben mir geschmeckt. Dann bin ich schlafen gegangen.«
»Das ist eine ungeheuerliche Impertinenz. Sie machen sich lustig über die Staatsanwaltschaft. Das wird Ihnen nicht guttun, Herr Kommissär. Dieser Saustall hier gehört ausgemistet, gründlich und endgültig. Und dafür werde ich sorgen, ich persönlich.«
Hunkeler setzte sich an den Tisch. »Ich habe eine Spur«, sagte er, »zusammengesetzt aus einzelnen Teilen, die ich noch nicht miteinander verbinden kann. Eine Kette gewissermaßen, in der mehrere Glieder fehlen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu warten, bis weitere Glieder auftauchen, welche die Lücken schließen. Das heißt, ich kann nichts anderes tun als warten. Und das tue ich hier, in diesem Zimmer. Und weil diese Warterei sich aller Voraussicht nach mehrere Tage hinziehen wird, habe ich mir erlaubt, ein Bett in mein Zimmer zu stellen, mich darauf zu legen und zu schlafen. Ich kann nämlich im Schlaf am besten denken, falls Sie das interessiert. Ich werde hier in diesem Zimmer so lange warten, bis etwas geschieht. Und wenn das eine Woche dauert. Sie wollen doch nicht, dass ich auf dem kalten Boden liege und mich erkälte?«
»Was Sie hier von Ketten und Gliedern und Spuren reden«, schrie Suter, »ist mir völlig egal. Sie haben den ganzen Fall vermasselt. Hundertprozentig. Wenn diese Diamanten tatsächlich in der Kanalisation unten lagen, so hätten Sie sie gestern holen müssen. Heute ist es zu spät. Alle diese Röhren sind vollständig überschwemmt. Da steigt Ihnen kein Schwein mehr hinunter, keine Sau steigt Ihnen da hinab. Haben Sie das nicht gemerkt?«
»Die Diamanten liegen schon längst nicht mehr dort unten.«
»So. Und wo liegen sie denn, wenn man fragen darf?«
»Ich habe Ihnen schon gesagt: Sie dürfen.«
Suter drohte zu explodieren, so rot wurde sein Gesicht. Aber er beherrschte sich, trat ans Fenster und atmete tief durch, ein gestresster Verantwortungsträger, der unter der Unfähigkeit seiner Untergebenen litt. Er drehte sich um und sagte: »Und warum haben Sie Herrn Dr. Zeugin belästigt, wenn man fragen darf?«
Ach so, da saß der Hase im Pfeffer. Hunkeler betrachtete die Fingernägel seiner linken Hand. Er musste sie wieder einmal schneiden, sie wuchsen und wuchsen.
»Ich habe mich bei ihm über Herrn Huber erkundigt.«
»Ich weiß. Huber ist Dr. Zeugins Angestellter. Was soll daran verdächtig sein?«
»Ich habe Herrn Dr. Zeugin nicht gesagt, daran sei etwas verdächtig. Ich habe bloß ein bisschen mit ihm geplaudert.«
»So. Plaudern nennen Sie das. Dr. Zeugin ist entsetzt. Er ist geschockt. Und mit Recht. Dr. Zeugin ist ein absoluter Ehrenmann, der sich in selbstlosester Weise für diese Stadt einsetzt. Und jetzt dieser hinterhältige, gemeine Verdacht. Ich habe mich für Sie, Herr Kommissär, entschuldigen müssen, und ich habe mich dabei zutiefst geschämt.«
Suter brauchte einen Stuhl, so sehr setzte ihm seine Enttäuschung zu.
»Es ist ein Skandal«, klagte er. Er lockerte den Kragen, kratzte sich traurig am Nacken.
»Ich habe Dr. Zeugin gesagt«, erzählte Hunkeler, »dass wir einen heißen Tipp bekommen haben von wegen schmutzigen Diamanten.«
»Das nimmt ja kein Ende, diese miserable Stümperei«, klagte Suter, er weinte beinahe.
»Er hat sich sehr interessiert gezeigt zu erfahren, von wem genau dieser Tipp gekommen ist. Er hat tatsächlich insistiert. Ich habe es ihm nicht gesagt.«
»Was wollen Sie damit zum Ausdruck bringen, wenn man…«
»Nichts. Ich will nur sagen, dass es ihn tatsächlich außerordentlich zu interessieren schien, woher dieser Tipp gekommen ist. Ich meine, im Grunde kann ihm das doch gleichgültig sein.«
Suter saß da, den Blick gesenkt, eine lange Weile. Er schien das Holz der Tischplatte zu betrachten. Dann hob er den Blick, und er war plötzlich nicht mehr so sicher.
»Was Sie hier andeuten, ist ungeheuerlich. Wenn das stimmen sollte, so können wir unsere ganze Kulturaktion ›Die Welt im Gesang‹ abblasen. Das ist schlicht unmöglich.« Er überlegte, die Augen geschlossen, ein leidender, schon fast verbitterter Zug lag um seinen Mund. »Sind Sie sich eigentlich bewusst, was für einen entsetzlichen Verdacht Sie hier aussprechen?«
»Ja«, sagte Hunkeler. »Nur wissen wir ja beide, dass ohne Deckung von höchster Stelle dieser ganze milliardenschwere Drogenhandel gar nicht möglich wäre, nicht wahr, Herr Staatsanwalt?«
Suters Augen fixierten einen Punkt weit hinter der Wand, auf die sie gerichtet waren, weit hinter allen Mauern, Meilen entfernt. »Ich weiß«, sagte er leise, man hörte es kaum. »Die Welt ist ganz durcheinander. Der Teufel befiehlt.«
»Ich werde meine Arbeit also weiterführen«, sagte Hunkeler, »nicht wahr?«
»Tun Sie, was Sie tun müssen, was Ihres Amtes ist.« Suter erhob sich. »Sie sind ein Dickschädel, ein Sturkopf. Sie rennen ins Verderben.«
Er eilte hinaus und zog leise die Tür ins Schloss.
Kayat erwachte an diesem Mittag aus einem traumlosen Schlaf. Er fühlte sich schlapp, als hätte er tagelang darniedergelegen, genesend von einer schweren kräfteraubenden Krankheit. Einen Augenblick lang hatte er Mühe, sich im Wachsein zu orientieren, er wollte zurück in die Schwärze. Dann rollte draußen ein schweres Gefährt vorbei, das die Scheiben zum Klirren brachte.
Er erhob sich, er stand im Zimmer einer Altwohnung. Mehrere Tabakspfeifen lagen auf einem Tisch, Krawatten hingen an einem Nagel an der Wand. In einer Ecke standen ein Rucksack, ein Eispickel und hohe, schneefeste Bergschuhe. Der Boden war übersät mit aufeinandergeschichteten Büchern. Eine Studentenbude war das, das Zimmer eines jungen Mannes, der sich mit Literatur abgab.
Kayat erinnerte sich, dass dieses Zimmer an der Hegenheimerstraße lag. Er war gestern Nachmittag hergekommen, zusammen mit einer jungen Frau, die Fränzi Fornerod hieß. Und er hatte sechzehn Stunden geschlafen.
Er trat auf den Gang hinaus. Das Zimmer der Gastgeberin lag nach hinten. Die Tür stand offen, es war niemand da. Er schaute sich um, aus reiner Routine, er wollte sich ein Bild machen von der Person, bei der er wohnte.
Ein Schachspiel stand auf dem Tisch. An der Wand klebte ein Poster mit dem »Schrei« von Edvard Munch, daneben eine von der Dame wahrscheinlich selber gezeichnete Marionette, ein engelhaftes Mädchen mit flachen Kinderaugen in weißem Nachthemd, am Boden kniend, Hände und Füße an Fäden befestigt, die senkrecht nach oben führten. Wer diese Fäden in Händen hielt, war nicht zu sehen, die feinen Striche hörten am Bildrand auf.
Kayat ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Alles war da. Käse, Butter, Milch, Trockenfleisch. Er aß und trank, er rauchte genussvoll zwei Zigaretten. In dieser Wohnung gefiel es ihm, hier war er in Sicherheit. Der Nachmittag lag vor ihm, frei und offen bis zum Abend. Erst dann, gegen 19 Uhr, wenn kaum mehr jemand auf den Straßen sein würde wegen des vielen Wassers, würde seine Arbeit beginnen. Sie würde ihn voll in Anspruch nehmen, möglicherweise die ganze Nacht und darüber hinaus.
Kurz nach 15 Uhr ging die Haustür, herein kam Fräulein Fornerod in ihrer Leopardenimitation. Wie es ihm gehe, wie er geschlafen habe, wollte sie wissen.
Gut, herrlich geschlafen, wunderbar gegessen und getrunken, die Wohnung sei sehr angenehm.
Und die Lastwagen?
Die habe er nicht gehört, die sei er gewohnt.
Sie verschwand in ihrem Zimmer und kam in einem langen, handgestrickten, hellblauen Kragenpullover wieder zum Vorschein. Sie legte einen Plastiksack mit einem schweren Gegenstand darin auf den Küchentisch. Der sei vom Chef, er solle ihn an sich nehmen.
Kayat wickelte eine schwarze Browning aus dem Sack. Er wog ihn kurz in der rechten Hand und legte ihn wieder hin.
»Nein«, sagte er, »ich und Pistolen, das geht nicht.«
Sie schaute ihn aus merkwürdig flachen Augen an, hilfesuchend, fast erschreckt.
»Bringen Sie diese Waffe bitte Ihrem Chef zurück, und sagen Sie ihm, er solle sich für solche Arbeit andere Leute suchen.«
Er nahm langsam ihre Hand, die neben der Browning lag, öffnete sie und legte ihre Innenseite an seine Lippen. Sie duftete gut. Er erhob sich, trat zu ihr, griff ihr ins kurze blonde Haar und beugte ihren Kopf nach hinten. Als er sie küssen wollte, sagte sie: »Bitte nein. Bitte keinen Sex.«
Er schaute ihr genau in die grauen Augen, und er sah, wie langsam Tränen herausrannen. Er neigte sich trotzdem zu ihr hinunter und küsste ihr Haar. Dann setzte er sich wieder hin.
»Entschuldigung«, sagte er, »Sie sind traurig, ich habe es nicht gleich bemerkt.«
Sie beugte sich über den Tisch, schluchzte ein paarmal krampfhaft und lautlos, richtete sich wieder auf und wischte mit dem Ärmel des hellblauen Pullovers die Tränen weg.
»Ich weiß, ich bin blöd«, sagte sie, »aber ich kann nicht.«
»Kein Problem«, sagte er, »Liebe kann nicht erzwungen werden.«
»Die Leute meinen immer, ich sei eine Sexbombe«, sagte sie, »das stimmt überhaupt nicht. Der Sexylook gehört einfach zu meinem Beruf. Ich bin so etwas wie eine Empfangs- und Begleitdame bei einer Handelsfirma.«
»Und was macht Ihr Freund?«
»Er will Schriftsteller werden. Er hat mich verlassen.«
Ihre Augen wurden nass, und wieder hingen Tränen an ihren Wimpern. »Er kann nicht schreiben, wenn er mit mir zusammen ist, hat er gesagt. Weil ich frigid bin.«
Die Tränen tropften auf den Tisch.
»Ihr Freund ist dumm«, sagte Kayat, »kein Mensch ist frigid. Ein Pfeifenraucher und Bergsteiger ist doch nichts für eine Frau wie Sie. Ein Schriftsteller schon gar nicht. Der denkt nur an sich selbst. Suchen Sie sich einen andern.«
»Er verachtet mich, weil ich bei diesem Herrn, bei dieser Firma arbeite. Aber irgendwo muss ich ja Geld verdienen. Ich bezahle die Wohnung und die laufenden Kosten, damit er Zeit hat zum Schreiben. Aber das ist eben nicht gegangen. Er konnte nicht schreiben, solange er bei mir war.«
»Jetzt fangen Sie nicht wieder an zu weinen, ich bitte Sie höflich darum. Es ist sehr schmerzlich, aus solchen Augen Tränen fallen zu sehen.«
»Was ich brauche, ist Ruhe.« Sie schluckte zweimal leer. »Ich glaube, ich bin einfach verletzt, in meiner Eitelkeit, meine ich. Er hat gesagt, ich sei eine eingebildete Zwetschge.«
»Welch herrliche Frucht.«
»Hören Sie endlich auf mit diesen Anzüglichkeiten. Ich glaube, ich bin einfach nicht geschaffen zur Liebe. Das macht doch nichts, oder?«
Er zuckte mit den Achseln, schaute sie an.
Sie legte ihm die Fingerspitzen der linken Hand auf den Handrücken, strich dreimal darüber. »Ich bin eine wounded woman, verstehen Sie? Ich brauche ein bisschen Zeit. Vielleicht geht’s dann wieder.«
Er zog seine Hand zurück, fuhr sich übers Haar.
»Wie wär’s mit einem Schach?«, fragte er.
»Herrlich. Mein Freund hat nie mit mir gespielt. Er hat gesagt, Schach sei die kapitalistische Pest per definitionem. Felder besetzen, Couloirs schließen, Bauern schlagen, Damen attackieren. Das wollte er nicht haben.«
»Wie oft haben Sie mit ihm gespielt?«
»Nur drei Mal. Dann war es aus.«
»Und wer hat gewonnen?«
»Immer ich.« Sie lachte herzlich. »Sie meinen, das hat er nicht ertragen?«
Er zuckte wieder mit den Achseln, und sie holte nebenan Brett und Figuren.
Kayat begann mit dem weißen Damenbauern. Dann zog er auf c4. Sie nahm das Damengambit nicht an, sondern brachte den Springer auf f6.
Sie spielten mehr als zwei Stunden, langsam, bedächtig, immer genau, bis beide nur noch den König und zwei Bauern hatten, die sich gegenseitig blockierten.
»Ein bisschen verstehe ich Ihren Freund schon«, sagte Kayat, »dass er nichts mehr wissen wollte von Schach. Sie spielen wie der Teufel.«
Ihr Gesicht hatte sich gerötet. »Wenn ich den Läufer nicht von d5 zurückgezogen hätte, hätte ich gewonnen.«
»So. Und warum haben Sie ihn zurückgezogen?«
»Wegen des Turms auf a7.«
»Sehen Sie, Sie hatten Angst um Ihren Turm. Mit Recht übrigens, wenn ich mich richtig erinnere.«
Sie nickte. »Aber ich hätte es trotzdem versuchen sollen. Spielen wir noch einmal?«
Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach sechs.
»Es tut mir sehr leid«, sagte er, »es war mir ein Vergnügen. Aber jetzt muss ich meinen Job machen.«
»Vielleicht morgen Nachmittag um die gleiche Zeit?«
»Ich fürchte, das geht nicht. Ich weiß nicht, wie lange mein Job dauert. Aber wenn er beendet ist, werde ich sogleich abreisen.«
»Das Zimmer steht jederzeit zu Ihrer Verfügung«, sagte sie, und um ihren Mund lag wieder das entzückende Lächeln.
»Danke sehr. Die Tasche nehme ich mit, den Haus- und Wohnungsschlüssel auch. Man weiß ja nie.«
Sie betrachtete die Pistole auf dem Tisch. Auf ihrer Stirn, dicht über der Nasenwurzel, erschienen zwei senkrechte Falten.
»Ach ja, die Waffe. Sie sollen sie unbedingt an sich nehmen, hat der Chef gesagt.« Ihre grauen Augen blickten streng.
»Sagen Sie Ihrem Chef, wenn er jemanden umbringen will, so soll er das selber machen.«
»Das wird er nicht gerne hören. Und dann schimpft er wieder mit mir.«
Sie stand unter der Küchentür, mit verschränkten Armen, den Blick gesenkt. Er ging zu ihr hin und küsste sie auf die Stirn.
»Wenn ich wieder einmal in Basel bin«, sagte er, »melde ich mich, und wir spielen eine Revanche. Abgemacht?«
Sie hob den Blick, ein bisschen erschreckt, und sie nickte.
»Und noch etwas. Ich möchte Ihnen einen Rat geben, natürlich nur, wenn Sie wollen.«
Sie nickte wieder, sie sah ihn hoffnungsfroh lächelnd an.
»Sie sind eine blitzgescheite Frau, und Sie wissen das genau. Also spielen Sie nicht dauernd die ahnungslose Unschuld vom Lande.«
Sie lächelte wie ein Engel, mit flachen Kinderaugen. »Ich glaube beinahe«, sagte sie, »Sie sind ein Macho. Der letzte richtige Macho auf diesem Erdboden. Das ist doch gar nicht mehr modern. Haben Sie das noch nicht gemerkt?«
Er verbeugte sich höflich, öffnete die Wohnungstür, ging hinaus und zog die Tür behutsam hinter sich zu. Er musste jetzt als Erstes den Amerikanerwagen finden, den weißen Oldtimer mit dunkelrotem Verdeck, der irgendwo in der Nähe der Lörracherstraße stand.