Leise Stimmen drangen an mein Ohr. »Geht es ihr gut?« Dads Stimme. »Was hat sie?« Einer meiner Brüder. »Was ist passiert?« Diese Stimme war ängstlich und kam von Jas. Etwas Kaltes legte sich auf meine Stirn. Mir wurde gleich wohler. »Sie atmet jetzt ruhiger, keine Sorge. Soweit ich es beurteilen kann, ist sie zusammengeklappt.« Diese Stimme gehörte Jas’ Vater. »Sie hat Fieber, aber ihre Atmung geht regelmäßig.«
Jemand atmete erleichtert auf.
»Sie braucht jetzt viel Ruhe und sehr viel Schlaf. Ihr Körper macht eine große Veränderung durch.« Mit diesen Worten erhoben sich alle Anwesenden, das konnte ich am Rascheln ihrer Kleidung hören, und mit leisen Schritten verließen sie den Raum. Nur Jas blieb. Ich konnte seine Gedanken hören. Ich sendete meinen Geist aus und sah näher hin. Er machte sich schwere Vorwürfe.
Wie konnte ich sie nur allein lassen. Ihre und meine Eltern
sagten mir, dass sie jetzt viele Veränderungen durchmacht. Dass sie
sehr empfindliche Sinne kriegt. Dass sie sogar stärker sind als
unsere. Dass ... sie haben mir eine Menge erzählt und erklärt. Sie
sagten, ich solle auf sie aufpassen und jetzt? Seine Gedanken
wurden immer leiser. Eine Pause folgte. Oh, sie ist wach. Er stand
sofort auf und kam zu mir
hinüber.
Kalte Hände legten sich um meinen heißen Kopf.
»Geht es dir jetzt besser?« Ich nickte schwach. Ein kurzer Schmerz pochte in meiner Schläfe auf und ich verzog mein Gesicht. Wie kann ich sie berühren, ihr nahe sein, ohne ihr wehzutun? Gar nicht. Ich war so naiv. Wie konnte ich bloß glauben, es auszuhalten? Er seufzte schwer. Ein altbekannter Schmerz durchzuckte mich.
Nein, bitte nicht schon wieder. Ich wollte nicht daran denken. Nicht jetzt. Er zögerte einen kurzen Moment und verschwand dann aus dem Zimmer. Seine Präsenz war nicht mehr im Haus zu spüren.
Ich versuchte aufzustehen. Mir gelang es gerade so und mich überfiel Schwindel und Übelkeit. Ich ignorierte es, so gut es ging, was wirklich schwer war.
Ich hatte bloß eine kurze Hose und ein Top an, trotzdem ging ich zum Fenster, öffnete es und stieg auf das Fensterbrett. Ich schluckte, als ich hinuntersah. Nicht nach unten sehen. Ich richtete mich auf und konzentrierte mich. Einfach Knie durchdrücken, fallen lassen und dann weich landen. Die ersten zwei Sachen müsste ich ja hinbekommen, aber das Letzte?
Ich ging in die Hocke, sprang mit voller Kraft ab, schloss die Augen und wartete. Das Gefühl, zu fallen, blieb aus. Erschrocken öffnete ich meine Augen und sah, dass ich gut zehn Meter über dem Boden stand! Unmöglich. Niemals.
Langsam drehte ich mich um. Ich war genau auf der gleichen Höhe wie mein Fenster. Aber das war doch nicht möglich! Ich sollte fallen und mir unten sämtliche Knochen brechen.
Ja, natürlich. Willst du lieber hinabstürzen?
Ich erschrak. Wer war das? Ich kannte diese Stimme nicht. Zögerlich fragte ich: Wer bist du?
Eine weibliche Stimme lachte leise. Entschuldige bitte. Wie ungehobelt von mir. Ich bin Inis, Göttin der Luft.
Göttin der Luft?, fragte ich erstaunt. Es gibt Götter?
Ja, richtig, Vanessa. Es gibt vier von uns. Du wirst sie alle noch kennenlernen. Ich spreche zu dir, um dich willkommen zu heißen und weil du dich in der Luft befindest. Immer, wenn du fliegst, kannst du mich rufen oder ich bin an deiner Seite und wache über dich.
Über mich wachen? Und da sind noch mehr Götter? Wann werde ich die anderen kennenlernen?
Sie lachte. Das kommt auf die jeweilige Situation an. Das
verstehe ich. Entschuldige mich bitte. Ich habe ein paar
Angelegenheiten zu erledigen. Ihre Präsenz verschwand. Dann kam sie
noch einmal zurück. Ich habe etwas vergessen, wenn ich du wäre,
würde ich hier nicht herumschweben und mir Gedanken über Götter
machen, sondern den Jungen meiner Träume suchen. Und schon war sie
wieder weg. Den Jungen
meiner Träume? Jas!
Ich hatte immer noch Kopfschmerzen. Meine Nase und mein Mund brannten. Meine Ohren reagierten auf jedes Geräusch und meine Augen auf jede Bewegung. Mein Körper fing wieder an, zu schmerzen und ich spürte eine Ohnmacht nahen.
Ich kämpfte dagegen an. Langsam begann ich mich fortzubewegen. Ich stieg höher und registrierte alles haargenau. Da nahm ich eine schnelle Bewegung unter mir wahr und fing einen seiner Gedanken auf: Sie ist eine Hexe. Eine Hexe mit besonderen Fähigkeiten. Wie konnte ich das nicht erkennen? Oder Róse? Ich kann das nicht mehr. Sie riecht jetzt noch viel besser als damals. Ich hatte mich überhaupt nicht richtig unter Kontrolle und kann es immer noch nicht. Ich werde wie ein wildes Tier über sie herfallen.
Ich war für einen Moment geschockt. War es wirklich so schlimm für ihn? Ich flog an ihm vorbei. Ich kannte den Weg. Ich hatte es in seinen Gedanken gelesen. Dann wartete ich den richtigen Moment ab. Ich flog blitzschnell abwärts und stellte mich ihm in den Weg. Im Bruchteil einer Sekunde war Jas bei mir. Er blieb abrupt stehen und sah mich voller Überraschung an. Sein Haar war leicht zerzaust und ich spürte das Bedürfnis, zu ihm zu gehen und ihm über den Kopf zu streichen.
Wie kommt sie so schnell hierher? Was will sie von mir? Er zog plötzlich scharf die Luft ein und lächelte schief. Ein paar Schritte ging ich näher heran. Sie riecht so gut. So köstlich. So unwiderstehlich. Er leckte über seine Zähne. Ich musste schlucken. Er wird mir nichts tun. Und wenn doch? Ich kann mich wehren.
Ganz recht. Die Stimme war mir fremd. Es war nicht Inis. Es war einer der anderen Götter. Eine männliche Stimme. Ich ließ Jas nicht aus den Augen und fragte die Stimme: Wer bist du?
Ich bin Kurar, Gott der Erde. Du bist, wie ich hörte, Inis schon begegnet. War sie nett zu dir?
Ja, das war sie. Sehr sogar.
Eine schnelle Bewegung von Jas ließ mich zusammenzucken. Ich hatte mich zu sehr auf Kurar konzentriert.
Besser, du achtest auf ihn. Er ist flink und schnell. Aber sorge dich nicht, ich wache über dich.
Jas lächelte mich an. »Was machst du hier?«
Ich überlegte eine Weile. »Weil du, ohne ein Wort einfach abgehauen bist, verdammt.«
Er sagte nichts.
»Weil ich dich zurückholen will.«
Er schnaubte. »Ich komme nicht mehr zurück. Meine Entscheidung steht fest.«
»Ach ja. So wie damals. Verkriechst dich. Läufst vor mir weg. Hab ich recht?« Er sagte nichts.
»Wieso, Jas? Wieso hast du dich überhaupt mit mir eingelassen?« Er sagte immer noch nichts. Seine Gedanken waren mal klar, dann wieder verschwommen. Er suchte nach einer Antwort.
Ich konnte zwar seine Gefühle wahrnehmen, aber sie waren zu durcheinander. »Es war nur mein Geruch. Hab’ ich recht? Nur deswegen oder? Nur weil ich wie ein blöder verknallter Teenager ankam und du deinen Spaß haben wolltest. Nur deswegen.« Eine Träne lief mir die Wange hinab. Ein altbekannter Schmerz durchzuckte mich. Ich ließ ihn gewähren. Früher, in einsamen Nächten, hatte ich versucht, ihn zu verdrängen. Aber jetzt nicht. Jetzt war es anders.
Wie mir klar wurde, war es nicht der alte Schmerz. Es war, weil er nicht NEIN oder JA sagte. Er sagte nichts. Rein gar nichts.
Meine Sicht verschwamm, als ich ihn anblicken wollte. Ich stolperte zu ihm. Dann blieb ich an einer Wurzel hängen und fiel. Fiel in einen Käfig voller Kälte und er verschlang mich.
Ein leises Summen, ein wunderschönes leises Summen drang an mein Ohr. Sonne strahlte auf mein Gesicht. Ich lag auf etwas Weichem. Ich roch ... Erde?
Ich öffnete meine Augen und wurde vom Sonnenlicht geblendet. Heftig blinzelte ich dagegen an und mein Kopf dröhnte. Eine Hand verdeckte die Sonne und gab mir Schatten. Ich sah mich um. Jas war an meiner Seite. Er lächelte. Wir waren auf einer Wiese. Meiner Traumwiese. Ich sah wieder zu Jas. Er lächelte nicht mehr. Er verbarg seine Gefühle und Gedanken vor mir. Er saß jetzt einige Meter von mir entfernt.
»Wie sind wir hierhergekommen?«
»Ich habe dich aufgefangen und brachte dich hierher.« Dieser Unterton gefiel mir ganz und gar nicht. »Wie? Und wieso ausgerechnet hierher?« Er zuckte leicht mit seiner Schulter.
»Und was willst du jetzt machen?«
Er überlegte lange, bevor er sprach: »Mich von dir verabschieden.«
Mein Magen verkrampfte sich. »Dafür sind wir hier?« Er nickte.
Panik stieg in mir hoch. »Und dann? Was willst du dann machen?«
»Ich will erst mit dir reden, bevor ich diese Frage beantworte.«
Sie hat jetzt magische Fähigkeiten. Sie kann auf sich selbst aufpassen. Sie braucht mich nicht mehr und ich kann ihr nie wieder weh tun. Unbewusst sprach ich laut: »Nein.«
Er sah mich verdutzt an. Dann kniff er seine Augen zusammen. »Du hast mich gehört? Du kannst jetzt auch Gedanken lesen, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Dann muss ich es dir wohl erklären.« Er seufzte schwer. »Meine Aufgabe, seit ich dich das erste Mal sah, war, auf dich aufzupassen. Jetzt bist du siebzehn. Ein Mädchen mit Magie. Ein Mädchen, das sich selbst beschützen kann. Ein Mädchen, das mich nicht mehr braucht.« Langsam sickerten die Worte in mein Bewusstsein.
»Ich möchte dir noch etwas erzählen. Du hast mir damals die Geschichte von Pet erzählt, also der Unfall.« Er zögerte.
»Ich habe dich damals aus dem Weg gerissen.«
Ich sah ihn verblüfft an.
»Das gehörte auch zu meiner Aufgabe. Damals schon.«
»Also ... also warst du nur bei mir, weil ... weil du eine Aufgabe hattest? Die Aufgabe, mich zu beschützen, bis ich siebzehn bin?«
Er nickte traurig. Der Schmerz in meiner Brust tat weh, zerriss mich Stück für Stück. »Es war eine Aufgabe, ja. Ich musste dein Vertrauen dafür gewinnen, mehr nicht.«
Mein Herz sprang in Millionen von Teilen. Und die Liebe? Die Liebe, die er mir fast jeden Tag bestätigt hatte?
»Eine Lüge«, platze es aus mir heraus. »Eine beschissene Lüge.« Ich stand auf und versuchte wegzurennen. Jas versperrte mir den Weg.
»Was ist eine Lüge?«
»Deine Liebe. Das ist die Lüge.« Er erstarrte. Ich nutzte die
Gelegenheit und rannte davon. So schnell, wie ich konnte. Ich kam
nicht weit. Eine Wurzel verhinderte meine Flucht.
Ich fiel der Länge nach hin und blieb liegen.
Er hatte es Tag und Nacht gesagt, geschworen. So viel Ehrlichkeit war in seinen Augen gewesen. So viel Liebe. Ich hatte mich nie daran gewöhnt. Dachte nie, dass er mich liebte. Ich hatte ihm misstraut. Und jetzt fand ich mein Misstrauen bestätigt.
Mein Herz. Gott, es fühlt sich an, als sterbe ich.
Ein Gedanke blitzte auf. Ich rappelte mich auf und lief zurück. Aber die Lichtung war leer. Ich lief weiter geradeaus. Nach fünfzehn Minuten kam ich ans Meer. Die Wellen schlugen hoch an die Klippe, auf der ich zum Stehen kam. Hier rief ich alle meine Erinnerungen wach.: Eltern, Familie, Freunde ... Jas. Jas, der mich liebte. Die wundervollste Zeit meines Lebens mit ihm. Jas, der mir von seiner wahren Natur erzählte. Jas, der mich am gleichen Tag verließ. Die Zeit ohne ihn. Jas, der wieder da war. Die ganze Zeit mit ihm. Und dann bis zu meinem Geburtstag. Alle Erinnerungen strömten in mich hinein. Sein Gesicht und dann diese Lüge. Beides passte gut zusammen. Zu gut, um wahr zu sein. Ich wartete noch einen Moment. Mein Entschluss stand fest.
Ich wollte gerade springen, als mir vier Stimmen zuriefen: NEIN. Ich achtete nicht darauf. Dachten sie wirklich, ich würde so weiterleben? Ein Leben ohne Jas? Niemals. Ich sprang und schwebte. Dann urplötzlich eine Eiseskälte. Bitte schwimm weiter. Schwimm. Für uns. Für deine Familie und Freunde. Diese Stimme war mir neu. Sie war mir egal, denn ich würde sie ohnehin nicht mehr kennenlernen. Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen.
Ich lächelte. Ich sah Jas’ Gesicht vor meinem inneren Auge. Die Luft strömte mir langsam aus den Lungen. Ich verschluckte mich am Wasser und hustete. Das Wasser brannte in meiner Kehle und gelang in meine Lungen. Dann kam eine riesige Welle und verschlang mich, wirbelte mich herum und stieß mich gegen etwas Hartes. Ich verlor das Bewusstsein. Aber davor dachte ich: Ich hoffe, du verstehst es. Jas, vergib mir. Ich liebe dich.
Sterben ist leicht, einfach, friedlich. Besonders, wenn man alles noch einmal vor seinem geistigen Auge sieht. Seine ganze glückliche Zeit vor Augen hat. Wenn alle glücklichen Erinnerungen an einem vorbeiziehen.
Dafür ist leben schwerer.
Kälte. Eises Kälte. Kälte, die unangenehm, doch zugleich beschützend wirkte. War ich im Himmel? War es dort kalt?
Stimmen. Aufgeregte Stimmen. Ängstliche Stimmen. Sie drangen leise in mein Bewusstsein. Ich fühlte mich taub. Verloren.
Wieso war ich gesprungen? Um mir das Leben zu nehmen? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Ich wollte, glaube ich, von der Klippe springen und sehen, ob mein Engel mich rettet. Ob ich ihm wirklich egal war oder nicht.
Vanessa. Mein Dad. Was er wohl gerade denkt? Ich lauschte, aber nichts erreichte mich. Vanny, Schatz. Bitte wach auf. Das war meine Mom. Ihre Stimme hatte immer so einen schrillen Ton, wenn sie in Panik ist.
Aufwachen? Wieso sollte ich? Hier zu liegen, Augen zu, war leichter, als das Leben, das jetzt, wo Jas fort war, auf mich wartete. Ich wollte nicht. Nein, ich werde meine Augen nicht öffnen und diesen brennenden Schmerz spüren.
Die Stimmen verstummten. Sie waren gegangen. Oder? Eine leichte
Berührung an meiner Stirn. Sofort schlug ich meine Augen auf. Nein,
bitte nicht. Ich musste träumen, denn vor mir sah ich Jas’ Gesicht.
Ich sah seine goldenen, besorgten Augen. Diese nachdenkliche Falte
zwischen den Augen, die ich ihm immer gern wegstrich. Sein Mund war
zu einem harten Strich zusammengekniffen. Seine Hände lagen leicht
an
meinem Arm und meiner Wange.
Er blickte auf. Ich versuchte zu sagen, wie Leid es mir tat, brachte jedoch außer einem Krächzen nichts heraus. Das Salzwasser war unangenehm gewesen und brannte immer noch in meiner Kehle. Er schüttelte seinen Kopf und bedeutete mir, dass ich nichts zu sagen brauche. Wir guckten uns eine Ewigkeit lang an. Dann hob ich meinen Blick. Wo war ich? Ein Piepen. Monitore. Zwei oder drei Stück. Schläuche an meinem Körper. Die Wände waren weiß mit einem einzelnen gelben Streifen rund herum. War ich im Krankenhaus? Ich lag auf einem hellen komisch riechenden Bett. Es roch eindeutig nach Krankenhaus. Kennen sie auch diesen Geruch?
Du hast einen Schock erlitten. Da solltest du dich lieber ausruhen, als dir irgendwelche Gedanken zu machen. Ach ja? Einen Schock? Was ist mit mir passiert?
Du ... du bist vor mir weggerannt. Weißt du es nicht mehr?
Eine Erinnerung blitzte auf. Weinend am Boden liegend. Den Geruch von Erde in der Nase. Doch, ich weiß es noch. Und was war dann passiert?
Erst wollte ich dir folgen, doch dann rannte ich ebenfalls davon. Weg von dir. Weg von allem. Dann summte mein Handy. Es war Róse. Zuerst wollte ich nicht rangehen, doch dann sagte sie mir, was du vorhast. Ich legte auf und lief, so schnell ich konnte, zurück. Ich folgte deinem Duft. Du warst schon gesprungen, als ich ankam. Er erschauerte.
Erzähl weiter. Bitte, fügte ich hinzu.
Ich sprang dir hinterher. Erst warst du weg. Unter dem Wasser, von einer Welle begraben. Ich tauchte und suchte, fand dich nirgends. Dann wurdest du plötzlich gegen meine Brust geschleudert. Er endete wieder.
Da muss doch noch irgendetwas gewesen sein. Du dachtest an mich. Das brachte mich etwas aus der Fassung. Du sagtest: Ich hoffe, du verstehst es. Vergib mir. Ich liebe dich. Und dann verlorst du dein Bewusstsein. Ich schwamm so schnell wie möglich ans Ufer. Meine Familie war sofort zur Stelle. Wir haben dich wiederbelebt und ins Krankenhaus gebracht. Deine Familie wurde eine Stunde danach angerufen.
Wie ... wiederbelebt? Ich ... ich war tot?
Ja. Schock und Entsetzen durchfuhren mich. Ich sah zu ihm auf.
Du warst so still, blass. Du hast nichts gesagt. Du hast nicht
geatmet. Ich konnte mich nicht regen. Stand nur da und hab’ dich
angesehen. Meine Brüder und Charlie belebten dich wieder,
versuchten es. Zuerst war es hoffnungslos. Ich schaute zu. Stand
unter Schock. Wieso hatte sie es getan? Tausend Fragen, tausend
Antworten, schwirrten mir im Kopf umher. Dachte nur an dich. An
alles, was wir miteinander erlebt
hatten. Als du dann endlich den ersten Atemzug genommen hast,
kniete ich mich hin und schloss dich in meine Arme. Du warst so
zerbrechlich. So schutzlos. Ich ließ dich nicht mehr los, bis wir
am Krankenhaus angekommen waren. Wir erzählten, dass du von Stein
zu Stein gesprungen bist, abgerutscht und ins Meer gefallen bist.
Ich bin zufällig vorbeigekommen und habe dich gerettet. Sie haben
uns geglaubt. Genauso wie deine Familie und alle anderen. Aber wenn
du ihnen die Wahrheit erzählen willst, dann ist das deine
Entscheidung.
Ich dachte darüber nach, über die Ereignisse der letzten Stunden. Er hatte mich gerettet. Er hatte unter Schock gestanden. Er dachte, ich sterbe. Er war froh, als ich wieder atmete. Er ließ sich eine Lüge für mich einfallen. Ob er ...?
Vanessa, ja und wie. Ich wollte es dir erklären. Aber du hast
mich angeschrien. Du bist davongerannt. Du hast mich und meine Welt
hinter dir gelassen. Also wollte ich weg. Dich allein lassen. Du
hättest einen anderen finden können. Ihr wärt glücklich gewesen. Du
hättest mich vergessen und alles wäre wie vorher gewesen. Bevor wir
uns kannten. Und diese »Lüge« ... es ist keine Lüge, Vanessa. Meine
Aufgabe hieß,
ich solle dein Vertrauen gewinnen, nicht deine Liebe. Aber ich
verliebte mich in dich und es liegt jetzt an dir. An mir? Was denn?
Denk doch mal nach. Soll ich bleiben oder nicht? Akzeptierst du
mich oder nicht?
Ich antworte, ohne darüber nachzudenken: Ja. Er lächelte. Bestimmt darüber, dass ich es einfach nur gesagt habe. Ich lächelte ihn an.
Er lachte auf und gab mir einen Kuss auf den Mund. Ich zog ihn fest an mich.
Es war wie das Happy End eines Märchens. Das Mädchen hatte ihren Prinzen wieder. Oder, bei uns in diesem Fall: Die Hexe hatte ihren Vampir wieder.
Eine Frage noch: Wieso bist du heruntergesprungen? Wolltest du dir wirklich das Leben nehmen?
Ich unterbrach den Kuss. Nein, wollte ich nicht. Nicht wirklich. Ich wollte sehen, ob es wirklich eine Lüge war oder ob ich dir etwas bedeute. Ich lächelte ihn zaghaft an. Du bist echt verrückt, Vanessa Sarah Malke. Eine Pause entstand. Dann ist es ja gut, dass du heruntergesprungen bist.
Ich sah ihn schockiert an. Wieso?
Weil ich jetzt endlich weiß, dass ich bei dir bleibe, egal was passiert und dass du mich immer noch willst, nach allem, was passiert ist. Er schüttelte ungläubig seinen Kopf. Du wirst mich nie mehr los.
Die nächsten Tage waren voller Chaos. Ich wurde aus dem Krankenhaus entlassen. Meine Eltern verfolgten mich auf Schritt und Tritt. Ich wurde andauernd ermahnt, vorsichtiger zu sein. Eine Woche darauf fuhren wir einkaufen.
»Wo fahren wir überhaupt hin?«, wollte ich wissen, als wir im Auto saßen.
Mom seufzte wieder. Das tat sie in letzter Zeit immer. Okay, ich hatte ja auch alle halbe Stunde gefragt, wohin es ging. Alle halbe Stunde? Das soll doch wohl ein Witz sein. Ich würde eher sagen, jede fünfte oder zehnte Minute. Die Bemerkung kam natürlich von Jas. Er saß rechts neben mir, meine Eltern vorn und Róse links neben mir. Meine Brüder, Jas’ Brüder und Eltern, Emma und Elli waren in dem großen Van. Sie fuhren hinter uns. Seit ich diesen »Unfall« hatte, war Jas nicht mehr von meiner Seite gewichen. Das gefiel mir. Und Róse überwachte jetzt jeden meiner Schritte.
Wir fuhren nach Jarime. Hier war ich fast jedes Wochenende,
wobei wir am Ende der großen Stadt parkten. In diesem Teil der
Stadt war ich noch nie gewesen. Mom und Dad gingen voraus. Die
Straßen wirkten so dunkel, geheimnisvoll und magisch und auf eine
Art unheimlich. Sie führten uns zu einem alten Haus. Von drinnen
hörte ich viele laute Stimmen. Dad ging voraus, dann Mom, Jas mit
mir, Róse und
dann die anderen.
Ich sah mich um und traute meinen Augen nicht. Es war kein Haus, in das wir gingen, sondern vielmehr eine Tür zu einem Marktplatz.
Es war eine lange Straße und Laden an Laden, links und rechts, standen dort entlang. Ein kleiner runder Mann, mit Schnauzbart, kam auf uns zu.
»Willkommen, meine Lieben.« Alle begrüßten ihn. Dann erblickte er Emma, Elli und mich. »Ah, neue Hexen. Fräulein Emma und Elli.« Er nickte den beiden höflich zu. Dann sah er mich an und verneigte sich.
»Fräulein Vanessa. Herzlich willkommen in der zauberhaften Stadt Ferre. Hier finden Sie alles, was Sie brauchen. Wir stehen selbstverständlich immer zur Verfügung.« Ich lächelte ihn an. Dann ging er weg und begrüßte die nächste Familie.
Ich schloss mich den anderen an. »Mom, wer war dieser Mann?«
»Das war Albert. Er ist der Begrüßungswart.«
»Ach so.« Ich guckte mir mit Jas jeden Laden an. »Was brauchen wir denn?« Mom gab mir einen Zettel. Darauf war eine Liste mit Schulsachen, die wir mitbringen sollten.
Schulumhang: drei Stück, Farbe: blau oder schwarz
Festumhang: vier oder fünf Stück, Farbe: wie es Ihnen beliebt
Hut: Farbe: schwarz oder blau, passend zum Umhang
Weiteres: Besen, Zauberstab (außer Sie können mit den Fingern zaubern), Kessel,
mitbringen von Tieren erlaubt (Katze, Vogel, Kröte …), Pergament, Tinte und
Feder
Bücher: Die ersten Schritte des Zauberns von Caroline M.
Das Einmaleins des Zauberns von Caroline M.
Die ersten Schritte der Verwandlung von Caroline M.
Das magische Kraut, Teil 1 v. Helga H.
Die Kunst des Brauens, Teil 1 v. Helga H.
Vor unserer Zeit, Teil 1 v. Cameron H.
Die magischen Wesen, Teil 1 von George A
Nach der Wahl von weiteren Fächern, bitte eine Liste schicken und Sie bekommen sofort ihre Bücher zugesandt.
Ich las mir die Liste mehrmals durch.
»Und wo finde ich all diese Dinge?« Mom zeigte auf ein Schild. Dort war ein Stück Holz abgebildet. Nein, es war ein Zauberstab. »Ach so, ich verstehe. Also muss ich nur auf die Schilder achten. Alles klar.« Ich ging mit Jas bis zur Tür, dann fiel mir etwas sehr Wichtiges ein. »Mom warte bitte einmal. Womit bezahle ich denn?«
»Du sagst einfach, es kommt auf die Rechnung der Familie Malke. Mehr brauchst du nicht sagen.« Ich nickte und ging mit Jas in den Laden. Die Glocke an der Tür klingelte und schon war ein großer, schlanker, alter, glatzköpfiger Zauberer erschienen. Ah, das muss die Tochter von Charlie und Carmen sein. Sie sieht richtig hübsch aus. Vielleicht hat mein Sohn eine Chance. Ich lächelte ihn an. Ein Bild von seinem Sohn und mir tauchte auf. Hand in Hand. Nein, danke.
»Was kann ich für Sie tun Fräulein?« Ist doch klar oder? »Einen Zauberstab, bitte.«
»Was möchten Sie denn für einen?« Ich überlegte und zuckte mit der Schulter. »Darf ich einen ausprobieren?«
Er nickte eifrig und nahm einen dunklen Stab aus einer Vitrine heraus. »Hier, dieser ist aus Eiche und Einhornhaar. Dieser Stab stammt aus einer alten Familie. Bis jetzt hat er noch keinen weiteren Zauberer akzeptiert.«
Ich starrte ihn an. »Wie meinen Sie das?« Er lächelte leicht. »Wissen Sie, der Stab sucht sich immer seinen Besitzer aus. Nicht anders herum.«
Oh, das ist ja mal was ganz Neues. »Darf ich?«
Er legte ihn vorsichtig in meine Hand. Ein Kribbeln kroch durch meine Handfläche. Ich grinste Jas an.
»Entschuldigen Sie, aber dürfte ich Ihre rechte Hand sehen?« Ich legte meine Hand in seine. Er drehte sie um und erstarrte. Sie ist... deshalb hat der Stab sie akzeptiert. Sie ist die Nachfahrin von Lidle Marie und den anderen drei. Das gibt es doch nicht. Das muss ich sofort meiner Frau berichten. Ich. Bin. Einer. Der. Mächtigsten. Frauen. Begegnet. Ich. Was für ein Glück. Seine ganze Überraschung und Freude überströmte mich. Ich zog meine Hand zurück. Wir verabschiedeten uns und gingen hinaus.
»Hast du auch gehört, was er dachte?« Jas nickte leicht.
Wir gingen die Straße entlang. Meine Taschen wurden immer schwerer. Zuletzt gingen wir in den »Designerladen«. So stand es auf dem Schild. Wie bei allen Türen war auch an jener eine Glocke befestigt und klingelte.
»Ich komme gleich.« Eine junge, schlanke, hübsche Frau trat hinter dem Tuch hervor. In Begleitung von einem Mädchen in meinem Alter. Sie war blond, hübsch, schlank und sie hieß Jena. Ich lächelte sie an und sie erwiderte die Geste. Sie bezahlte und ging hinaus.
»Hallo.« Die junge Frau wandte sich mir zu und verbeugte sich leicht vor mir. »Wie kann ich behilflich sein?«
Ich guckte kurz auf meine Liste. »Drei Schulumhänge in Blau, einen Hut in Blau und Festumhänge ...« Ich überlegte kurz. »Wir können auch erst die Schulumhänge machen und den Hut, wenn Sie wollen. Die Festumhänge erledigen wir dann später.« Ich nickte ihr zu. Mir gefiel die Vorstellung. Sie deutete mir, ihr zu folgen. Ich drehte mich noch mal zu Jas um. Wo war er?
»Ah, ihr Freund ist bei Wilfried, einem anderen Schneider. « Ach so.
Ich folgte der Dame und sie ging voran, durch ein Tuch und führte mich in einen Raum voller Stoffe, Tücher, Farben. Alles Mögliche war hier. Schaufensterpuppen standen in jeder Größe und Form an der Wand. Wie hieß sie überhaupt? Ah, Johanna. Sie kam mit einer kleinen, nach mir aussehenden Puppe zurück.
»Hm ... müsste gleich sein.« Sie nahm ein Band und maß meine Größe ab. »Blau war es, oder?« Ich nickte. Sie ging und zeigte mir dann einen wunderschönen blauen Stoff. Ich nickte ihr zu und sie schwang dann ihren Zauberstab. »Mit oder ohne Kapuze?«
»Mit, bitte.« Sie machte komplizierte Bewegungen. Der Stoff flog
hinüber zur Puppe. Schere, Nadel und Faden folgten. Es dauerte
gerade mal zehn Minuten, dann war sie mit dem ersten Umhang fertig.
Sie zeigte ihn mir, ich legte ihn um und nickte. Sofort begann sie
von Neuem. Nach zwanzig Minuten waren auch die anderen fertig. Ich
hatte nun drei und Johanna machte mir noch schnell zwei Hüte. Ich
sah ihr
erstaunt dabei zu.
»So und jetzt die Festumhänge.« Ich nickte ihr zu und sie ging schnell aus dem Raum und kam mit einem Buch wieder. Sie legte es auf einen kleinen Tisch und winkte mich heran. »Du musst nur deine Hand darauf legen und das Buch öffnet sich und zeigt eine Seite an.« Ich tat wie geheißen.
Das Buch leuchtete kurz unter meiner rechten Hand auf und schlug automatisch eine Seite auf. Ich sah genauer hin. Ein atemberaubendes Kleid in Rosa und Weiß war darauf zu sehen. Johanna notierte sich alles. Dann schlug sie es wieder zu und ich musste wieder meine Hand darüber halten. Drei Mal noch. Das zweite war ein himmelblaues, das dritte ein hellgrünes und das vierte ein Kleid, aus verschiedenen Farben. Violett, pink, weiß, rosa und lila. Sie sahen alle wunderschön aus. Johanna maß noch den Rest von mir.
»Ich werde sie dir dann nach Hause schicken lassen.« Ich nickte ihr zu und ging durch den Vorhang. Jas wartete schon und lächelte mich an. Mann, sieht der gut aus. Genauso wie sie. Sind schon ein süßes Paar. Ich bin ehrlich gesagt schon irgendwie neidisch. Ich musste lächeln. Jas hatte es auch gehört. Wir verabschiedeten uns und gingen hinaus.
Wir kamen an einen komisch aussehenden Laden vorbei. Dort waren Fledermäuse und sonst derartiges Zeug.
»Entschuldige mich bitte kurz. Ich geh nur schnell in den Laden. Du kannst dir alles andere noch ansehen. Ich hole dich dann. Und versuch bitte nicht in Schwierigkeiten zu geraten.« Er lächelte mich an, gab mir einen flüchtigen Kuss und verschwand.
Ich ging gedankenverloren die Straße entlang. Eine Gruppe von Jungen kam mir entgegen. Sie pfiffen und versuchten meine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie waren Vampire. Das erkannte ich zum einen an ihren Gedanken und dann sahen sie alle blass aus und waren auf eine merkwürdige Art schön. Wie alle Vampire. Toll. Ob sie Jas kannten?
»He, Kleine. Darf ich dich auf ein Eis einladen?« Ein Junge, schwarzes Haar, rote Augen, ziemlich wuchtig, dennoch schlank, trat aus der Menge hervor.
»Würde ich ja gerne, aber ich habe leider keinen Hunger. Tut mir leid. Ein andermal gern.« Ich wollte an ihnen vorbeigehen, als er mich am Arm packte und in eine Gasse zog.
So leicht kommst du mir nicht davon.
Ich versuchte mich zu befreien, doch er war stärker. Er drückte mich gegen eine Wand. Meine Sinne spielten verrückt. Er roch nach Blut und Schweiß und noch nach etwas anderem. Ich konnte es nicht definieren. Es war viel zu widerwärtig.
Seine Kumpane zischten ab und ließen uns allein. Immer er. Er hat immer seinen Spaß. Wieso ist er überhaupt der »Boss«? Das ist echt unfair. Die Gedanken verklangen langsam.
Dan, so war sein Name, guckte mir lange in die Augen und knurrte leise. Knurrte vor Hunger und Verlangen. »Na, wie heißt du?«
Das sag ich dir doch nicht. Ich sandte meinen Geist aus. Hilfe! Jas? Jas, bist du da irgendwo? Bitte hilf mir!
»Willst du mir nicht sagen, wie?« Dann muss ich wohl zu anderen Mitteln greifen.
Er hielt meine Arme mit einer Hand fest über meinen Kopf und streckte die andere Hand langsam aus. Unter mein T-Shirt. Fuhr über meinen Körper. Ich zuckte an jeder Stelle, die er berührte, zusammen. Jas, bitte! Hilfe!
Plötzlich wurde er von mir weggerissen. Ich öffnete die Augen. Jas stand knurrend vor Dan.
»Wenn du sie noch einmal anfasst, reiße ich dir deinen Dickschädel ab, Dan.«
Mensch, Jas. Reg dich ab. Sie ist doch bloß ein Mensch. Du hast dich noch nie zuvor aufgeregt, wenn so etwas passiert ist.
»Sie ist nicht irgendjemand. Sie ist meine Freundin. Wehe dir, wenn du oder einer der anderen auf den Gedanken kommt, sie zu berühren.«
Ist ja okay. Botschaft angekommen. Ich geh jetzt. Dan rannte davon. Mit einem letzten Blick auf mich, dachte er: Schade! Ich wollte doch bloß meinen Spaß haben.
Jas knurrte noch einmal und Dan verschwand.
Ich zitterte immer noch und Jas nahm mich in die Arme. Ist ja gut. Alles ist gut. Ich wurde langsam ruhiger und wir gingen wieder auf die Straße. Benimm dich unauffällig.
Ich sah mich um. Niemand hatte etwas mitgekriegt und von Dan und
seinen Kumpanen war nicht die geringste Spur zu sehen. Meine Eltern
und die anderen fanden wir vor dem Tor. Tor? Seit wann ist dort ein
Tor? Ich dachte, wir wären durch eine Tür gekommen? Sind wir auch. Siehst du nicht die ganzen Türen dort. Jede
führt dahin zurück, wo derjenige herkam. Ach so und welche
ist unsere? Er nickte zu der
schwarzen, morschen Tür weit oben. Da sollen wir hochkommen? Er
verdrehte bloß seine Augen.
»Na ihr zwei. Habt ihr alles bekommen?« Wir nickten zugleich und Mom lächelte.
»Familie Malke, Figaro. Ihre Tür ist nun bereit. Wenn Sie es auch sind?« Ich sah zu Albert hinüber.
Die Tür war bereit? Aha. Dann blieb mir der Mund offen stehen. Alle Türen bewegten sich und ließ »unsere« Tür durch. Darauf stand Jarime. Als die Tür unten ankam, schwang sie auf und offenbarte den Blick auf die Stadt. Es war bereits abends, als wir hindurchtraten und die kühle Abendluft umgab uns. Wir stiegen ins Auto und fuhren zurück nach St. Ballis.
Ich schlief in Jas Armen ein und wachte später in meinem Bett wieder auf. Natürlich in seinen Armen. Ich rief leise seinen Namen. Er bewegte sich und lag plötzlich über mir. Hast du schön geschlafen?
Ich nickte leicht. Dann gähnte ich. Wie spät haben wir es?
Er sah aus dem Fenster. Es ist fast Mitternacht. Willst du lieber weiterschlafen?
Ich war sehr müde, das stimmte, aber ich wollte jede Minute mit ihm verbringen. Ich will lieber wach bleiben, aber ich weiß nicht wie.
Er lachte leise auf. Ich habe eine Idee. Wie wäre es mit einem Mondspaziergang?
Meine Augen leuchteten auf. So was hatte ich noch nie gemacht. Ich lächelte. Ist es draußen kalt?
Na ja, für mich nicht. Ich nehme sowieso eine Decke mit. Du könntest dir ja ... hm ... was könntest du dir am besten anziehen?
Ich lachte auf, wegen seiner nächsten Gedanken.
Also wirklich nein. Gehen wir schwimmen? Bitte, bitte.
Also schön. Er stand mit mir in den Armen auf. Ich löste mich und ging in mein Bad.
Ich zog meine Sachen aus, meinen Bikini an, nahm ein Handtuch und wickelte mich ein. Schnell huschte ich in mein Zimmer und in den Kleiderschrank. Dort hing, in der hintersten Ecke, ein weißer Mantel. Ich zog ihn an und ging dann wieder zu Jas.
Er raffte eine Decke zusammen und zwei Handtücher und steckte alles in einen großen Korb. Er nahm den Korb, sprang aus dem Fenster und wartete unten. Ich folgte ihm. Meine Landung war weich, Jas fing mich trotzdem auf.
Wir liefen Hand in Hand durch den Wald. Nach ein paar Minuten nahm er mich auf die Arme und flitzte Richtung Meer. Der Mond schien hell und erleuchtete alles in ein bezauberndes Licht. Wir waren an der gegenüberliegenden Seite, von der ich hinabgesprungen war. Mir wurde flau im Magen. Jas umarmte mich, als wir auf einem flachen Hügel hielten.
Hier war eine kleine Bucht mit einem Strand. Das Wasser glitzerte wunderschön. Langsam zog mir Jas meinen Mantel aus und legte ihn auf den Boden. Ich drehte mich zu ihm um. Er stand nur noch in Boxershorts bekleidet da. Seine Augen weiteten sich. Du siehst wundervoll aus. So wunderschön. So perfekt. Er sah mir in die Augen und ging auf mich zu. Wir küssten uns lange.
Mir war viel zu heiß und ich löste mich aus seinen Armen und rannte zum Wasser. Es war angenehm kühl. Jas kam von hinten und hob mich hoch. Wir küssten uns wieder lange und standen nun eng umschlungen im Wasser. Wir lösten uns nur ab und zu, um zu tauchen oder ein wenig zu schwimmen. Nach einer Stunde schwamm ich ans Ufer. Jas kam mir natürlich hinterher. Er legte sich auf mich und wir küssten uns.
Dann nahm er mich auf die Arme und ging zu der Decke. Ganz vorsichtig legte er mich hin und betrachtete mich eingehend. Er küsste meinen Bauch. Meinen ganzen Körper. Nach einer Weile waren unsere Sachen verstreut und wir lagen eng umschlungen auf der Decke und liebten uns leidenschaftlich.
Ich wachte gähnend und vom Sonnenlicht geblendet, auf. Langsam öffnete ich meine Augen und sah Jas. Er lag mit geschlossen Augen und dem Gesicht zu mir gewandt da. Ob er wirklich schlief? Tat er bloß so? Er sah viel friedlicher aus. Seine Züge waren geglättet. Ich streichelte seine Wange mit meinem Handrücken. Er seufzte leise. Er schlief tatsächlich. Er war so erschöpft gewesen. Ich konnte es nicht fassen und ich durfte ihn betrachten. Ohne Sorgen. Ohne Kummer. Er sah einfach viel zu schön aus. Sonst sah er mir immer beim Schlafen zu, was ich immer ziemlich peinlich fand.
Jas rekelte sich und gähnte. Er war mit mir unter der Decke. Ich spürte seine Haut. Kein Stoff. Ich lächelte. Er überraschte mich jedes Mal aufs Neue. Letztes Mal hatten wir uns in Gedanken miteinander verbunden. Es war berauschend gewesen. Atemberaubend. Jeder hatte gefühlt, was der andere spürte.
Vanessa. Ich blickte in sein Gesicht. Seine Augen waren immer noch geschlossen, aber auf seiner Stirn war eine Falte zu sehen. Ich strich darüber und er verzog leicht sein Gesicht. Das fühlt sich schön warm an. Mach bitte weiter. Hör nicht auf. Ich streichelte ihn weiter, küsste ihn ab und zu und dachte über uns nach.
Langsam glitt er in einen unruhigen Schlaf hinüber. Ich kuschelte mich an ihn und schlief dann auch endlich, nach dem er sich beruhigt hatte, ein.
Die Woche danach verlief ziemlich unruhig. Alles wurde für die neue Schule zusammengepackt. Na toll. Und ich wusste noch nicht einmal, wo diese Schule war. Ich konnte so viel nerven, wie ich wollte, meine Mutter verriet es mir nicht. Ich habe versucht, in alle Gedanken hineinzublicken. Nichts. Sie verschlossen sich vor mir oder wussten nicht, wohin es ging. Toll.
Wir fuhren raus aus St. Ballis und durch Jarime.
»Ist es noch weit?«
»Vanessa«, ermahnte mich meine Mutter, »wenn du weiter fragst, kannst du laufen. Lass dich doch einfach überraschen.« Okay, wenn es sein musste. Wir fuhren immer wieder an Städten vorbei. Ich kannte viele davon. Ich war hier schon öfter gewesen. Endlich, nach fünf Stunden, sah ich eine Stadt, in der ich noch nie gewesen war.
Eine massive Mauer umgab sie. Nachdem wir das Stadttor passiert hatten, fuhren wir auf der Hauptstraße weiter. Links und rechts war sie gesäumt von dicht stehenden Häusern. In der Ferne, ganz am Ende der Straße, sah ich ein großes Schloss. Es wirkte dunkel, dennoch zu gleich geheimnisvoll.
Der Verkehr hatte zugenommen. Vor und hinter uns fuhren viele Autos. Auf dem Parkplatz neben dem Gemäuer wurden wir eingewiesen.
Endlich stiegen wir aus und ich konnte mich ausgiebig strecken. Mom guckte mich genervt an. Ich grinste bloß. Sie verdrehte die Augen und sah zu Dad.
Ich weiß, dass du mich hörst. Er guckte mich eindringlich an. Bitte benimm dich. Du willst doch nicht gleich wieder hinausgeworfen werden. Ich schüttelte meinen Kopf. Gut. Also bleib hinter uns und stell bitte keine dummen Fragen. Jetzt war es an mir, die Augen zu verdrehen.
Dad und Mom gingen an mir vorbei. Gefolgt von meinen Brüdern, hinter ihnen Jas‘ Familie mit Emmas und Ellis Familie im Anhang und zuletzt wir beide. Wir folgten den anderen durch das Tor. Eine Menschenmenge bewegte sich über die Straßen. Mein Blick fiel auf eine kleine Familie. Sie standen an einem Haus und unterhielten sich mit einer komisch aussehenden Frau. Sie trug grüne Kleidung und einen seltsam aussehenden Hut. Ich hörte, wie die Familie sie Prof. Kiara nannten.
Meine Augen wanderten von der Frau auf das Haus. Hinter ihr erstreckten sich Pflanzen in allen Größen und Farben. Ein Gewächshaus, wie es schien. Komisch, vom Auto aus hatte ich das gar nicht gesehen.
Die Frau sah zu uns hinüber. Das muss die Familie Malke sein. Sie wirken anmutig. Dahinter die Figaros. Wunderschön. Klar, Vampire. Sie schnaubte amüsiert. Da sind ja auch Professor Falk und Professor Ambul bei ihren Familien. Sie nickte ihnen höflich zu. Dann sah sie uns und ihr Mund klappte auf. Ist das ...? Überall wird davon erzählt. Sie ist es wirklich. Sie ist so wunderschön und er ist genauso beeindruckend. Sind sie ein Paar? Ein Vampir und eine Hexe? Ihre Gedanken wurden immer leiser. Aber dadurch wurde alles um mich herum lauter.
Wieder einmal spielten meine Sinne verrückt. Mein Kopf drohte zu zerplatzen und meine Ohren taub zu werden. Meine Nase nahm alle möglichen Gerüche auf. Mir wurde übel. Meine Sicht wurde mal stärker, mal schwächer. Die Luft schmeckte in einem Moment ekelerregend, dann plötzlich magisch. Magisch?
Bitte Jas, dich an einem ruhigen Ort zu bringen, Vanessa. Das war Kurar. Er war bei mir.
Ich bat Jas darum und wir setzten uns auf eine Bank an der Mauer, die das Schloss umgab und der Lärm von der Straße war nur noch ein Rauschen. Ein Summen. Mein Kopf wurde klarer und ich spürte Magie um mich herum. Frage Jas bitte, ob wir erscheinen dürfen.
Wieso? Wieso macht ihr es nicht einfach? Ihr seid Götter. Götter können tun und lassen was sie wollen.
Kurar lachte. Nicht alles. Also, bitte frag Jas. Du wirst es schon verstehen.
Ich sah zu Jas hinüber. Er hatte mich die ganze Zeit über angesehen.
Jas, dachte ich leise. Ich griff nach seiner Hand und drückte sie leicht. Er erwiderte den Händedruck. Ich soll fragen, ob es dir etwas ausmacht, wenn die Götter erscheinen. Ich wartete auf seine Antwort. Erst sah er mich ausdruckslos an, dann kehrte ein komischer Ausdruck in sein Gesicht zurück. Okay, ... wenn es sein muss. Ich nickte ihm zu und drückte leicht seine Hand. Gleichzeitig fragte ich mich, weshalb dieser leere, abweisende Ausdruck in seinem Gesicht zu lesen war.
Bist du bereit?
Bereit wofür? Dieses Mal lachte Inis auf. Ach Vanessa, wir wollen uns zeigen. Ach so, na dann.
Ich spürte Magie um mich herum und Kurars Aura, dann Inis und zwei weitere Götter. Voller Ehrfurcht verbeugte ich mich und Inis lachte wieder. Steh bitte auf und öffne deine Augen. Ich tat wie geheißen. Mir blieb der Mund offen stehen. Ich wollte sie nicht anstarren, aber ich konnte nicht anders.
Vor mir stand, wie ich vermutete, Kurar. Er war ein wirklich gut aussehender Mann. Sein Haar war kurz und voll. Seine Züge wirkten wachsam und dennoch freundlich. Kluge hellgraue Augen blickten mich an. Dahinter stand Inis. Sie war eine richtig hübsche Frau. Sie hatte goldenes Haar, hochgesteckt, zu einer kunstvollen Frisur. Ihre Gesichtszüge waren freundlich und warm. Ihre Augen waren himmelblau und ein Lächeln umspielte ihren kleinen Mund. Hinter Inis standen die anderen zwei Götter. Beide waren, wie die anderen, auf ihre Weise hübsch. Die Frau wirkte älter. Sie hatte ein weises Gesicht und helle, braune Augen sahen mich aufrichtig an. Der Mann hatte harte Gesichtszüge und er wirkte sehr jung. Auf seinem Gesicht spiegelte sich dennoch viel Erfahrung. Durchdringende, hellgrüne Augen sahen durch mich hindurch.
Ich nickte ihnen zu.
Das sind Dyara und Wilee. Dyara ist die Göttin des Wassers und Wilee des Feuers oder des Krieges. Er lächelte mich an. Dann wandte er sich zu Jas. Ich sah auch zu ihm. Jas guckte gequält.
»Was ist? Jas?« Ich sah zu Inis hinüber. Sie schüttelte bloß ihren schönen Kopf. Jas stand mit einer ruckartigen Bewegung auf, gab mir einen flüchtigen Kuss und murmelte »Entschuldigung«. Dann war er weg.
Ich blickte ihm traurig hinterher. Was war bloß mit ihm los? Wieso war er so? Wieso hatte er eingewilligt und nicht einfach Nein gesagt?
Weil er dich liebt und sich testen wollte. Dieser Gedanke kam von Dyara. Ich sah sie verwundert an. Testen? Sie nickte. Kurar unterbrach uns. Das können wir ein andermal erläutern. So und jetzt zu anderen Dingen. Ich sah aufmerksam zu ihm hinüber. Wir reden natürlich über deine Gaben.
Meine Gaben? Welche?
Er lachte. Ich meine zu fliegen und Gedanken lesen. Du kannst sicherlich noch andere Dinge oder?
Ich überlegte einen Moment. Ich glaube, ich kann menschliche Auren spüren und meine Sinne nicht zu vergessen. Die sind völlig durcheinander.
Diesmal lächelte Wilee. Ich war ehrlich überrascht, dies bei ihm zu sehen. Ja, das sind auch Gaben. Gaben, die sehr selten sind. Wir sahen, wie du auf andere Dinge reagierst. Du hast dich dieses Mal dagegen gewehrt. Aber wäret ihr dort nicht weggegangen, wärest du wahrscheinlich zusammengebrochen. Es ist sehr wichtig, dass du die Kontrolle und Beherrschung behältst.
Ich nickte ihm zu.
Jetzt trat Dyara hervor und sprach: Wenn du es wünschst, können wir diese Fähigkeit wieder von dir nehmen. Du würdest alles wieder wie ein normaler Mensch wahrnehmen können. Aber dazu müssten wir auch deine anderen Gaben sperren.
Ich sollte wieder ein normales Mädchen sein. Sollte auf meine neuen machtvollen Hexenfähigkeiten verzichten?
Große Macht, ja, sagte mir eine Stimme in meinem Innern. Du musst dich ja natürlich nicht sofort entscheiden. Es gibt aber auch noch andere Möglichkeiten.
Die wären? Oh, entschuldige bitte. Ich wollte nicht neugierig sein und dich unterbrechen.
Die weise Frau lächelte mich an. Neugier ist eine sehr starke Eigenschaft von dir und es ist nichts Schlechtes dabei. Aber zu viel ist auch nicht immer hilfreich. Sie machte eine kurze Pause, ehe sie weitersprach: Wir würden deine Kräfte eindämmen und dich lehren, wie man sie benutzt. Wie du die vier Elemente beherrschst, deine Sinne zielgerichtet einsetzen kannst. Wie du deine Gabe, das Fliegen verbesserst und Gedanken liest. Dies wäre eine zweite Möglichkeit. Ich wog das Pro und Kontra ab. Beides war verführerisch.
Dabei bedenke bitte, Kurar sprach nun zu mir, dass es sehr viel Zeit und Kraft in Anspruch nehmen wird. Also, welche der beiden Möglichkeiten nimmst du an?
Ich dachte noch einmal nach und entschied mich: »Das zweite.«
Alle vier lächelten zufrieden. Dann soll es so sein, wir dämmen jetzt deine Sinne ein. Lege dich auf die Bank und schließe deine Augen.
Ich tat wie geheißen und dachte eine Weile lang nach. Wo war Jas?
Er ist hinter der Ecke und wartet auf dich. Wir sind gleich fertig. Die Geräusche um mich herum wurden leiser, die Gerüche angenehmer und nicht mehr so stark. Mein Kopf hörte auf zu schmerzen.
Ich blickte auf und die Götter traten zurück. Fertig? Sie nickten. Dann verschwanden sie einer nach dem anderen, zuerst Wilee, dann Dyara, danach Kurar und zum Schluss Inis. Sie murmelten leise Abschiedsworte.
Die Aura der vier verschwand und kalte Arme legten sich sofort um mich. Jas.
»Lass uns zurückgehen.« Er nickte und wir gingen die dunklen Straßen zurück. Meine Familie wartete schon auf uns. Mom sah mich ungeduldig an. »Wo wart ihr denn?« Bevor ich antworten konnte, sagte Jas: »Sie war erschöpft und ich brachte sie zu einer Bank an einem ruhigen Ort.« Meine Mutter verstand und nickte. Sie glaubte ihm. Hätte ich etwas gesagt, wäre sie gleich mit Argwohn angekommen.
Während wir langsam zum Schloss gingen, blickte ich mich um. Das Gemäuer stand auf einer weiten grasbewachsenen Anhöhe, an der ein Wald grenzte. In weiter Ferne sah ich einen großen See. Nein, kein See. Das ist das Meer, sagte Dyara. Gefällt es dir?
Ja, es ist wundervoll hier.
Wie fühlst du dich?
Viel besser, nochmals vielen Dank.
Wir erreichten nun die Eingangstür und blieben davor stehen. Das riesige Eichentor war mindestens sechs Meter hoch. Es schwang auf und ein großer schlanker Mann trat vor uns. Er trug einen dunklen Umhang. Auf der Brust war das Wappen der Schule gestickt. Darauf abgebildet waren ein Drache, eine Fee, ein Zwerg und eine Nymphe. Der Drache, so erfuhr ich von Dyara, stand für das Element Feuer, die Fee für die Luft, der Zwerg bedeutete Erde und die Nymphe Wasser.
»Herzlich willkommen in der zauberhaften Schule Linderno. Einige von euch sind neu hier. Ich hoffe, ihr lebt euch gut ein und gebt euer Bestes.
Es gibt vier Häuser. Das erste Haus sind die Hexen, das zweite die Zauberer, das dritte die Vampire und das vierte die Werwölfe. Es gibt Regeln, an die sich jeder halten muss. Wer eine Regel verletzt oder missachtet, darf seine Sachen packen und nach Hause fahren. Für gute Leistungen bekommt das Haus Punkte, für Verstöße werden welche abgezogen. Welches Haus im Halbjahr die meisten Punkte gewonnen hat, erhält eine Belohnung, zum Beispiel eine Bildungsreise in ferne Länder. Wer am Ende des Jahres der Punktsieger ist, erhält einen Gral mit großem Wissensschatz, der jährlich neu vergeben wird. Zurzeit befindet sich der Gral im Besitz des Hauses der Zauberer.
Allen Bewohnern wird der Zugang zu einzigartigem Wissen und Macht gewährt, sowie dem Ausbau und der Verbesserung der angeborenen Fähigkeiten ermöglicht.
Keine Sorge, die Gewinner dürfen die Macht und das Wissen des Grals nicht im Wettbewerb nutzen. So hat jedes Haus im neuen Schuljahr eine faire Chance, ihn zu gewinnen.«
Er wendete sich ab und begrüßte die Eltern.
»Alle neuen Schüler bitte hierher.« Ich drehte mich um. Emma und
Elli standen an einem erhöhten Podest. Darauf war eine große
schlanke zierliche Frau und hielt ein Klemmbrett in der Hand. »Alle
da. Gut. Ich bin Professorin Susana. Ich bin die Leiterin des
ersten Hauses. So und jetzt stellt euch mal alle in Gruppen. Die
Hexen links, daneben die Zauberer, dann die Vampire und zuletzt die
Werwölfe. Schön. So,
alle verteilt? Ja, dann machen wir gleich weiter. Alle Häuser
suchen sich einen Kapitän heraus. Ihr müsst gut und klug auswählen.
Die Kapitäne müssen Verantwortung und schwierige Aufgaben
übernehmen.« Sie endete und guckte. Wir waren elf Mädchen. Die
Zauberer waren zwölf Jungen. Die Vampire und Werwölfe bestanden
größtenteils aus Jungen. Acht Jungen und fünf Mädchen. Insgesamt,
aus allen Häusern waren wir einundzwanzig Mädchen und
achtundzwanzig Jungen.
»Hm, wie ich sehe, habt ihr Schwierigkeiten, richtig zu entscheiden. Ich helfe euch mal.« Sie ging zu den Werwölfen und zog einen großen, schlanken Jungen hervor. Er hatte dunkles kurzes Haar. Sein Gesicht war straff, dennoch freundlich. Seine Haut war braun. Ich konnte diesen Jungen einfach nicht beschreiben.
Dann ging Professorin Susana zu den Vampiren und zog, zu meiner Überraschung, Jas hervor. Er stellte sich nach vorn. Sie ging zu den Zauberern und stellte nach langer Überlegung einen Jungen nach vorn. Er hatte braunes längeres Haar.
Professorin Susana ging auf uns zu und winkte mich zu sich. Ich soll diese Aufgabe übernehmen? Wusste sie überhaupt, wen sie vor sich hat? Ganz gewiss war ich keine Führungskraft. Unsicher ging ich zu ihr.
»Jetzt sind eure Kapitäne gewählt. Es gibt in den höheren Stufen auch welche. Ihr könnt euch mit diesen in Verbindung setzen. So und jetzt kommen die Kapitäne bitte zu mir. Ihr Übrigen geht bitte zu Professorin Kiara. Sie steht am Tor und wird euch in den Saal begleiten. Vorher verabschiedet ihr euch noch von euren Familien, bitte.«
Die anderen nickten und gingen weg. Emma und Elli umarmten mich. Ich war überrascht, dass alle anderen Mädchen mir Glück wünschten und es war freundschaftlich gemeint, was sie sagten. Keine Eifersucht oder dergleichen. Die Gruppe entfernte sich.
Wir vier standen nun da und wussten nicht, was wir machen sollten. Jas grinste mich an.
»Nun gut, wir müssen uns beeilen, sonst essen sie alles ohne uns auf.« Sie lächelte uns strahlend an. »Kommt näher. Es gibt vier Jahrgänge, ihr seid der erste. Bis zu eurem zwanzigsten Lebensjahr werdet ihr hier zur Schule gehen und dann verlasst ihr sie, ich hoffe mit einem guten Abschluss und könnt eine Ausbildung beginnen.«
Der große Braunhaarige fragte: »Und wie sind Sie darauf gekommen, dass wir die richtigen sind?«
»Das ist eine gute Frage. Ich habe bis jetzt immer die Schüler ausgesucht und sie sind sehr weit gekommen. Ihr habt Potenzial, ihr habt bestimmte Gaben, ihr seid offen und ehrlich. Genau diese Dinge sind wichtig. Ihr seid unterschiedlich, dennoch gleich. Nun lasst uns in den Saal gehen und uns ein köstliches Mahl auf der Zunge zergehen lassen.«
Wir gingen ihr hinterher. Jas nahm meine Hand. Bist du aufgeregt? Ich nickte. Wir. Kannst du es fassen? Ich grinste ihn an. Er tat dasselbe.
Wir gingen durch das riesige Tor hindurch und kamen in die
Eingangshalle. Professorin Susana blieb stehen und sagte mit ihrer
weichen Stimme: »Dies ist die Eingangshalle. Ihr seht zu meiner
linken eine Tür. Dort hinter ist der Saal. Zu meiner rechten ist
auch eine Tür. Dort ist der Ballsaal. Ihr werdet ihn im Laufe der
nächsten Wochen noch zu Gesicht bekommen. Geradeaus seht ihr eine
große Treppe. Sie führt
zum ersten Stock. Dort sind alle Räume für die Schulfächer
Verwandlung, Geschichte der Zeit, Zaubertränke und Verteidigung.
Wir haben extra hergerichtete Räume für diese Fächer. Tierwesen und
Kräuterkunde finden meist im Freien statt.
Jeder Jahrgang hat einen bestimmten Raum in einem Fach. Wenn ihr noch andere Fächer belegen wollt, dann gebe ich euch eine Liste, ihr füllt sie aus und gebt sie mir dann wieder zurück. Alles soweit klar?« Wir nickten.
Dann fragte der große Dunkle: »Und wo sollen wir schlafen?« Die Frage kam ein bisschen blöd rüber. Ich musste lächeln. Er sah zu mir. »Ich meine, wo sind unsere Häuser und so.« Er musste jetzt auch lächeln.
»Das werden wir euch nachher noch zeigen. Jetzt gehen wir erst einmal speisen.« Mein Magen knurrte zustimmend.
Professorin Susana ging voran. Sie stieß die eine Tür auf und ging hindurch. Der Dunkle folgte ihr, dann der Braunhaarige, dann ich und gefolgt von Jas. Der Saal war riesig und die Luft summte von den Stimmen, derer, die bereits zum Essen Platz genommen hatten.
Die große, kuppelartige Decke wurde von reich verzierten Säulen getragen. Große Fenster ließen das Tageslicht herein. Die Schüler saßen an vier langen Tischen, die bereits reich gedeckt waren.
Quer dazu stand ein weiterer Tisch für die Lehrer. Professorin Susana blieb am Lehrertisch stehen. Dann nahm sie vier goldene Bänder und band sie um unseren Arm. »Daran erkennen die anderen Schüler euren Status«, flüsterte sie. »Ihr könnt euch nun zu euren Freunden gesellen.« Ich drehte mich um und suchte Emma und Elli.
Ich fand sie nicht weit von mir entfernt. Sie saßen in der Mitte einer Mädchengruppe. Ich ging auf sie zu. Sie lächelten mich breit an. Ich erkannte alle acht Gesichter wieder. Die Gruppe kicherte. Mein Blick glitt den Tisch entlang. An unserem saßen nur Mädchen, große, kleine, schlanke, dicke, zierliche und muskulöse. Sie waren aber dennoch auf eine merkwürdige Weise schön. Wirklich alle.
Ich setzte mich zwischen Emma und Elli. »Hi«, sagte ich in die Runde rein. Sie begrüßten mich auch und schon ging der Tratsch weiter. »Hast du schon gehört...« und »Nein wirklich ...« oder »Ich habe etwas anderes gehört, nämlich ...«
Ich musste nicht zuhören, denn ich las es ja in ihren Gedanken. Das war ein seltsames Gefühl, das musste ich schon zugeben. Vor ein paar Wochen konnte ich noch nicht meine ganze Umgebung kilometerweit hören.
Die Mädchen fragten mich dies und jenes. Ich antworte ihnen geistesabwesend, aber freundlich. Ich konnte zwar die Gedanken der Restlichen im Raum nicht hören, aber ich konnte ihre Aura spüren und das war sehr hilfreich. Alle Mädchen um mich herum waren freundlich, nett und nicht so wie die meisten anderen. Sie waren eifersüchtig, hatten fiese Gedanken. Ich spürte es. Sehr deutlich sogar.
Die Werwölfe saßen neben uns rechts an der Wand. Die Zauberer saßen links neben den Gang und daneben die Vampire. Wieso waren die Vampire und Werwölfe so weit voneinander entfernt? Konnten sie sich nicht leiden? Haben sie sich diesen Tisch allein ausgesucht oder wurden sie so hingesetzt? Lauter Fragen schwirrten in meinem Kopf umher.
Ein Mädchen kicherte. Wow, irgendwann mussten sie ja auf das Thema Jungs kommen. Jedes Mädchen fand mindestens fünf Jungen süß. Was mich aber am meisten ärgerte: Alle um mich herum, außer Emma und Elli, gefiel Jas am besten.
Er sieht ja so toll aus. Ob er eine Freundin hat? Er sieht einfach göttlich aus.
Lauter solche Gedanken. Nein danke, das wollte ich gar nicht wissen. Ich schloss meine Augen und versuchte, die anderen um mich herum auszublenden.
Ich könnte ihn ja irgendwie dazu bringen, mit mir auszugehen. Ein kleiner Trick und schon ... Die Gedanken sind so immer weitergegangen.
Erschrocken öffnete ich meine Augen wieder.
Wer hatte das gedacht? Ich sah mich um. Niemand an diesem Tisch. Ich guckte weiter. Streckte weiter meinen Geist aus. Die Wölfe waren es nicht. Ein Vampir? Ich fand die Gedankenstimme wieder. Sie war unter den anderen am lautesten. Es war ganz einfach. Die Stimme gehörte einem wunderschönen Vampirmädchen. Sie hatte langes, glattes, silbernes Haar. Ihr Gesicht... unbeschreiblich. Ihr Name war Silver. Klar, passend zu den Haaren.
Ich starrte sie an und sie bemerkte es. Ihre Augen waren rot. Ich schluckte. Sie guckte einen Moment lang eindringlicher. Ich bemerkte ein komisches Zwicken an meiner Stirn. Silver neigte den Kopf wieder zu den anderen und lächelte. Was war das gewesen? Dieses Zwicken? War es ... kann sie auch Gedanken lesen? Viele solcher Fragen schwirrten in meinem Kopf umher. Ich konnte meinen Blick immer noch nicht von ihr nehmen.
»Vanessa?« Ich blickte auf. Ein schönes herzförmiges, liebliches Gesicht mit hellbraunen Augen sah mich an. Ihr Haar war hellbraun und schien durch die Sonne etwas rötlich. »Ja?« Jessi lächelte. »Hier, dein Stundenplan.« Sie gab mir ein komisch aussehendes Blatt Papier.
»Danke«, murmelte ich und sah darauf. Die Häuser hatten einige Unterrichtsstunden gemeinsam. Zuerst hatte ich zwei Stunden Geschichte der Zeit mit den Zauberern. Dann zwei Stunden Verwandlung mit den Wölfen und zuletzt eine Stunde Kräuterkunde, wieder mit den Zauberern.
Ein summender Ton erklang und alle Schüler erhoben sich. Die Gruppe um mich herum blieb jedoch sitzen, genauso wie die anderen neuen. Eine kleine runde Frau mit grüner Kleidung, Professorin Kiara, kam auf uns zu.
»Hallo, meine Lieben. Ich bin Frau Professor Kiara, Lehrerin im Fach Kräuterkunde. Ich werde euch herumführen. Eure erste Stunde fängt heute erst um zehn Uhr fünfundvierzig an.«
Sie ging voran durch die Tür und wir folgten ihr. Alle. Die Vampire, Wölfe und Zauberer mit dabei.
Wir gingen links die große Treppe hinauf, die in einen langen Flur führte, der offensichtlich zwei Flügel des Schlosses verband. Der linke wirkte hell und freundlich, der rechte aber dunkel und abweisend.
Professorin Kiara blieb stehen und drehte sich zu uns herum.
Geradeaus ging es von der Treppe einen langen Gang entlang. Ich spürte Magie. Irgendwie zurückweisend. War da eine unsichtbare Barriere?
Die Professorin zeigte, nach links. Von uns aus war es rechts. »Diese ganze Seite nennen wir den linken Flügel. Hier sind unter anderem die Unterrichtsräume der Fächer Geschichte der Zeit und Heilung sowie der Krankenflügel und die Bibliothek.« Sie zeigte nun nach rechts. Also von uns aus nach links. »Das ist der rechte Flügel. Hier sind die Räume der Fächer Verwandlung, Verteidigung und Zaubertränke sowie der Weg zum Eulenhaus.« Sie machte eine kurze Pause. »Und geradeaus sind eure Schlafgemächer. Sie sind in vier Abteilungen eingeteilt. Je nach Haus natürlich. Wir nennen es den Hauptflügel.« Sie ging voran. Ich spürte ein seltsames Kribbeln, als wir ihr folgten. Es war wirklich Magie. Ich war erstaunt darüber. Sonnenlicht, das durch unzählige Fenster hereinströmte, erhellte den Gang. Einige Vampire zischten aufgebracht. Der lange Gang war mit vielen Bilder von den Abschlussklassen, mit den jeweiligen Abschlussnoten und den Besten der Jahrgänge seit Bestehen der Schule verhangen.
Ich ging an einem vorbei und ein komischer, dennoch leiser Aufschrei drang aus meiner Kehle. Dieses Bild zeigte einen sportlichen jungen Mann, der mich angrinste. Es war kein anderer als mein Dad.
Plötzlich spürte ich kühle Arme, die mich umschlangen und ich schloss die Augen. Es war Jas und es tat so gut, zu spüren, dass er da war. Er berührte leicht meine Stirn. Ich würde gerne hier weiter herumstehen, dich in den Armen haltend, aber wir müssen weiter, sonst verpassen wir noch den Anschluss. Das weißt du.
Ich seufzte und öffnete die Augen. Er nahm meine Hand und wir gingen den anderen hinterher.