5. KAPITEL
Um eine Einzelzelle für Nike zu schaffen, musste Atlas sieben Insassen auf andere Zellen verteilen – die auch ohne diese Verlegung bereits überfüllt waren. Doch es war die Zeit und Mühe wert. Er konnte den Gedanken an sie mit diesem Erebos einfach nicht ertragen. Wie sie mit diesem Bastard dieselben Dinge tat, die sie einst mit ihm, Atlas, getan hatte.
Nie. Im. Leben.
Niemals.
Und möglicherweise, ganz vielleicht, gab es da eine winzige Chance, dass er all das gar nicht tat, um sie zu bestrafen – sondern vielmehr wegen der Lust, die in ihm erwacht war. In ihren Armen war er zum Leben erwacht. Beim letzten Mal war es genauso gewesen, doch damals hatte er es noch als Gefängniskoller abgetan. Jetzt konnte er es nicht mehr abtun. Er war kein Gefangener, er war ein Wärter. Er war zum Leben erwacht, und er brauchte mehr. Mehr von ihr, einzig und allein von ihr. Doch sie behauptete, sie habe bloß mit ihm gespielt.
Mit ihm gespielt, verflucht noch mal! Das als Lüge zu entlarven war für ihn wichtiger als der nächste Atemzug. Der ihm ziemlich wichtig war. Er verstand das nicht. Schließlich war sie eine Verdammte, die auf ewig weggesperrt war, sie würden niemals ein gemeinsames Leben führen können! Nicht einmal, wenn er sie befreite. Denn dann würde er eingesperrt oder hingerichtet werden. Anders als sie war er nicht bereit, das zu riskieren.
Doch dass sie vor Jahrhunderten alles riskiert hatte … weckte tiefe Demut in ihm. Dieses Gefühl hatte er noch immer nicht verwunden.
Sie musste ihn immer noch wollen.
Eine Woche lang bemitleidete sich Atlas für seine Misere und fragte sich, was er tun sollte. Und während der ganzen Zeit blieb er Nikes neuer Zelle fern. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, an sie zu denken. Was tat sie gerade? Dachte sie an ihn? Träumte sie von ihm und diesem unglaublichen Kuss?
Jedenfalls tat er das. Sobald er die Augen schloss, sah er ihr vor Erregung glühendes Gesicht. Ein Gesicht, das bezaubernd war. Von „keine schöne Frau“ zu „hübsch“ zu „bezaubernd“ in nicht einmal einer Woche. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Aber das Lob ihrer Schönheit war berechtigt. Ihre Wimpern waren lang und dicht wie schwarzer Samt. Samt, der sinnliche schokoladenfarbene Augen umrahmte. Ihre Wangen waren seidig, zarte Haut, die dazu einlud darüberzustreichen – und ihre vollen roten Lippen schmeckten süßer als Ambrosia. Und all diese Kraft … Allein bei der Erinnerung daran spürte er seinen Schaft härter und länger werden. Mit wilder Hemmungslosigkeit hatte sie ihm den Rücken zerkratzt. Die Spuren waren noch immer zu sehen.
Na gut. Dann hatte er eben nicht die Wahrheit gesagt. Sie waren definitiv noch nicht miteinander fertig. Diesen Rausch musste er unbedingt noch einmal erleben.
Schließlich ertrug er es nicht länger, sie nicht zu sehen. Zum Glück war seine Schicht vorbei. Eine Schicht, die daraus bestanden hatte, durch die Korridore zu patrouillieren, die Gefangenen in ihren Zellen zu überwachen und dafür zu sorgen, dass alle ruhig blieben.
Das hätte ihn langweilen sollen. Schließlich war er ein Krieger. Doch das tat es nicht. Und das wiederum hätte ihn ärgern sollen. Immerhin hatte er ungezählte Jahrhunderte an diesem Ort verbracht – und sich geschworen, niemals zurückzukehren, wenn er erst einmal entkommen war. Doch Ärger verspürte er ebenso wenig. Er hatte diesen Job gewollt, um in Nikes Nähe zu sein. Um seine Rache zu bekommen, hatte er sich damals gesagt. Jetzt war er sich da nicht mehr so sicher. Heute, und eigentlich schon die ganze Woche über, war er voller Elan durch die Gänge geschritten – das Wissen im Hinterkopf, dass er einfach nur um eine Ecke biegen musste, um sie zu erblicken.
Was er sich natürlich nicht gestattet hatte. Bis jetzt. Endlich würde er sie sehen.
Sobald sie in sein Blickfeld kam, erhitzte sich sein Blut, und die Luft in seinen Lungen fühlte sich an, als würde sie ihn von innen heraus verbrennen. Nike saß auf ihrer Pritsche, die Finger um das metallenen Bettende geschlossen, den Oberkörper leicht vorgebeugt und die Knie an die Brust gezogen. Ihr Haar lag perfekt, und ihre verengten Lider verbargen ihre braunen Augen vor ihm – und die Gefühle, die sich darin spiegeln mussten. Dafür sah er die Schatten, die ihre Wimpern auf ihre Wangen warfen. Schatten, die er mit dem Finger nachfahren könnte. Oder mit der Zunge.
Oh ja. Sie war bezaubernd.
„Wo ist deine Freundin?“, hörte er ihre seidige Stimme. Doch unter dieser Seide meinte er eine Spur Wut zu entdecken.
War sie wütend, dass er hergekommen war? Oder dass er so lange weggeblieben war?
„Ich hab keine Freundin.“ Auch wenn Mnemosyne weiterhin versuchte, das zu ändern.
Obwohl er sie jedes verdammte Mal abwies.
Nike zuckte mit den Schultern. „Schade für dich, dass sich Huren nie auf jemanden festlegen.“
Er wusste, dass in ihren Augen er die Hure war, und knackte mit dem Kiefer. Doch das hatte er wohl verdient. „Ich hab getan, was ich tun musste, um zu entkommen, Nike. Das bedeutet nicht, dass ich nichts für dich …“ Nein. Oh nein. Dieses Thema würde er nicht anschneiden. Er hatte nichts für sie empfinden wollen, und doch war es passiert. Doch da ihn das nicht davon abgehalten hatte, sie zu benutzen, würde ihr nichts von dem gefallen, was er dazu zu sagen hatte. „Ich bin mir sicher, auch du würdest alles tun, um hier rauszukommen.“
Ihr Gesichtsausdruck verdunkelte sich, doch sie widersprach ihm nicht. „Und, bist du gekommen, um mich zu befreien?“
„Wohl kaum.“
„Warum bist du dann hier? Wir haben einander nichts mehr zu sagen.“
Weil du alles bist, woran ich noch denken kann. Er hätte sie niemals tätowieren dürfen. Das hier hätte vermieden werden können. Oder auch nicht. Er mochte mit anderen geschlafen haben, vor vielen Jahren und in der verzweifelten Hoffnung, von diesem Ort zu fliehen. Doch es war ihr Gesicht gewesen, das er sich dabei vorgestellt hatte.
Ohne den Blick von ihr abzuwenden, lehnte er sich mit dem Rücken an die Gitterstäbe und verschränkte die Arme vor der Brust. „Es gibt so einiges zu sagen. Über den Kuss.“
Sie gähnte und klopfte sich mit der Hand auf den wunderschönen Mund. Einen Mund, den er überall auf seinem Körper spüren wollte. „Ich würde jetzt lieber schlafen.“
Soso. Sie wollte ihn also immer noch glauben machen, der Kuss hätte sie ungerührt gelassen. Und ein Teil von ihm glaubte ihr wirklich. Ein unsicherer Teil seiner selbst, der nie gewusst hatte, wie er mit ihr umgehen sollte – ihr, die ihm in jeder Hinsicht gewachsen war. Ja, selbst was ihre körperliche Kraft anging, auch wenn er das gern bestritt. Ein andere Teil in ihm, der männliche, wusste, dass sie alles genossen hatte, was er getan hatte. Sie hatte seinen Namen geschrien, Himmel noch eins, und dabei hatte er sie noch nicht einmal zum Höhepunkt gebracht.
„Du behauptest also, du willst mich nicht?“, fragte er in ebenso seidigem Ton wie sie.
„Nicht mal ein bisschen.“
„Wirklich?“ Wie zufällig ließ er eine Hand zu seinem Hosenbund sinken, drehte den Knopf hin und her, und ihre Augen folgten der Bewegung. Schon jetzt war sein Schwanz hart, stemmte sich gegen die einengende Hose, schob sich unter dem Bund hervor. Auf der Spitze glitzerte es feucht. „Nicht mal eine Winzigkeit?“
Sie schluckte. „N…nein.“ Plötzlich klang sie heiser. „Aber apropos Winzigkeit … an dir ist doch nichts dran.“
Lügnerin. Sie wollte ihn. Und er war riesig, nur um das mal festzuhalten. Atlas erinnerte sich, wie er sie gedehnt hatte, als er in ihr gewesen war. Der Drang, sie zu besitzen, stieg wieder in ihm hoch – umso intensiver, als sich leise Befriedigung hineinmischte.
„Ich krieg dich noch, Nike. Das verspreche ich dir.“
„Geh … einfach weg“, erwiderte sie und klang plötzlich fast … deprimiert. Sie legte sich auf die Seite, dann drehte sie sich auf den Rücken und wandte sich schließlich von ihm ab. „Wir sind fertig miteinander, schon vergessen?“
Großer Fehler. Der Anblick ihres Rückens, selbst verhüllt von diesem schlabberigen Gewand, erinnerte ihn an das, was er getan hatte, und entflammte sein Blut von Neuem. Was auch immer er dafür tun musste, er würde diese Frau besitzen.
„Ich schätze, das finden wir noch raus“, entgegnete er, bevor er sich zum Gehen wandte.
Um nachzudenken. Und Pläne zu schmieden.