14. KAPITEL
„Riecht gut, nach Angssst“, zischte plötzlich etwas neben Kadence. „Mmmh, Hunger.“
Schockiert starrte sie das Ding an. Ich habe mich schon verraten?
Gerade hatte sie beschlossen, etwas zu unternehmen, irgendeinen Weg zu finden, Geryon zu überzeugen, zum Tor zurückzugehen. Und jetzt das. Zur Hölle. Nein, dachte sie.
Geryon versuchte, sie hinter sich zu schieben, aber sie widersetzte sich. Dieses Mal würde sie sich nicht verstecken und ihn die Sache für sie regeln lassen. Dieses Mal kämpfte sie.
„Scher dich fort oder stirb“, drohte sie dem Dämon.
Das Wesen sah sie argwöhnisch an. „Sssieht ausss wie ich, nur warum riecht esss ssso gut?“ Es leckte sich über die Lippen, und Speichel troff ihm aus den Mundwinkeln. Mit schmutzig gelben Schuppen übersät reichte es Kadence gerade einmal bis zum Bauchnabel. Doch sie wusste, seine schmächtige Erscheinung täuschte. Unter diesen Schuppen konnten sich ungeahnte Kräfte verbergen.
Innerlich bebte sie. Vergiss nicht, wer du bist. Wozu du fähig bist.
Es kam näher. „Will sssschmecken.“
„Ich habe dich gewarnt“, sagte sie und bereitete sich mental auf die Konfrontation vor.
„Warte draußen, Kadence, bitte.“ Erneut wollte Geryon sich schützend vor sie stellen. „Lass mich das übernehmen.“
Sie hielt ihn mit dem Ellenbogen auf Abstand. „Nein. Es sind zu viele für dich allein.“
Während sie diskutierten, rückte der Dämon langsam dichter heran, die Klauen gierig ausgestreckt.
„Bitte, Kadence.“ Geryon legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Ich muss wissen, dass du in Sicherheit bist. Sonst werde ich abgelenkt sein, und ein unkonzentrierter Krieger ist ein toter Krieger.“
Nein, sie würden nicht sterben. Nicht hier und nicht jetzt.
„Verlang nicht von mir, mich wie ein Feigling zu verkriechen. Ich kann das nicht mehr, und ich will es auch nicht. Und außerdem: Wenn mein Plan funktioniert, musst du überhaupt nicht kämpfen.“ Sie war die Hüterin des Höllentors; es wurde langsam Zeit, dass sie sich auch so benahm. Früher hatte sie schließlich auch gehandelt, bestimmt, beherrscht, statt bloß tatenlos zuzusehen, was um sie herum geschah.
„Wenn reicht mir nicht. Nicht, wenn es um dein Leben geht.“
Ihr fehlte leider gerade die Muße, sich über seine rührende Besorgnis zu freuen. Jeden Augenblick konnte der Lakai zum Sprung ansetzen. Sie wusste es, fühlte es. Kadence drehte den Kopf, blickte dem Dämon tief in die Augen und griff dabei nach ihrer inneren Macht, überrascht, wie leicht sie Zugang dazu fand. Eigentlich hätte es sie nicht wundern sollen. Sie mochte versuchen, ihre Natur zu unterdrücken, doch unter der Oberfläche war sie immer da, ruhte niemals. Ein alles vernichtender Tornado, der nur darauf wartete, loszubrechen.
War das wütende Aufbäumen dieser Kraft, das sie bei Geryons letztem Kampf verspürt hatte, nicht ein eindrucksvoller Beweis dafür?
„Keinen Schritt weiter“, befahl sie der Kreatur. Die blinzelte … und blieb wie angewurzelt stehen. Anscheinend war der Lakai zwar weiterhin bei vollem Bewusstsein, sein Körper allerdings gehorchte jetzt Kadence, der Göttin der Unterdrückung.
Für einen langen Moment erfreute sie sich an ihrer Leistung, verblüfft, wie einfach es gewesen war, und zugleich stolz. Sie hatte es geschafft. Der Dämon machte nicht einen einzigen Versuch, sie anzugreifen, obwohl in seinen schwarzen Augen purer Hass glühte.
„Irgendetwas ist passiert“, sagte Geryon, hörbar verwirrt.
„Ich bin passiert“, erklärte sie mit hoch erhobenem Kinn. „Und das ist noch lange nicht alles. Pass auf.“ An den Dämon gewandt sagte sie: „Heb die Arme über den Kopf.“
Prompt fügte er sich und riss beide Arme hoch, ohne den leisesten Widerspruch von sich zu geben. Kein Wunder, schließlich erstreckte sich ihr Einfluss nicht nur auf seine Gliedmaßen, sondern ebenso auf seine Fähigkeit zu sprechen.
Ein bisher ungekanntes Hochgefühl durchströmte sie. Endlich, zum allerersten Mal, war es ihr gelungen, ihre Gabe für etwas Gutes einzusetzen: dass sie jemanden beschützte, den sie unendlich lie… bewunderte. Bei den Göttern. Liebe? War es etwa das, was sie für Geryon empfand? Sie liebte es, mit ihm zusammen zu sein, und auch dieses Gefühl der Zuversicht, das er ihr vermittelte. Aber bedeutete das, sie hatte ihr Herz an ihn verloren? So leichtsinnig war sie nicht, oder?
Bald schon würden sich ihre Wege wieder trennen.
„Sieh doch, Kadence.“ Geryon zeigte auf die Meute, die sich um die Steinplatte geschart hatte. „Sieh, was geschehen ist.“
Sie folgte seinem Finger mit dem Blick und keuchte fassungslos. Jeder ihrer Feinde stand reglos da, wie vom Donner gerührt, die Arme in die Luft gestreckt. Selbst die gefolterten Seelen hatten aufgehört, sich zu bewegen. Kein Gelächter mehr, keine Schreie. Nur das Geräusch ihres eigenen Atems durchbrach die Stille.
„Du hast das getan?“, fragte Geryon.
„Ich … ja.“
„Ich bin beeindruckt. Überwältigt.“
Sie hätte platzen können vor Freude. Er bewunderte sie. War vermutlich sogar stolz auf sie.
„Danke sehr.“
„Können sie mich hören?“ Als sie nickte, breitete sich ein kaltes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Dann brüllte er die Kreaturen an: „Aufgemerkt, ihr Gesindel. Geht und bestellt euren Herrschern, dass der Wächter hier ist und dass er die Absicht hat, sie ein für alle Mal zu vernichten.“ An Kadence gerichtet fügte er hinzu: „Du kannst sie jetzt freilassen.“
„Bist du sicher? Ich könnte ihren Körpern befehlen, zu zerfallen und zu sterben.“ Und diese Körper würden sich ihrem Willen beugen. Macht … so unermesslich süß …
„Ich bin sicher. Sie sind hier, um zu bestrafen, sie erfüllen also eine Funktion. Davon abgesehen: Dank dir werden sie uns den Gefallen tun, die Herrscher zu uns zu führen.“
Obwohl sie große Lust gehabt hätte, die Dämonen wenigstens noch das eine oder andere Kunststück vorführen zu lassen, tat sie, worum Geryon bat. Im Bruchteil einer Sekunde waren die Kreaturen frei und stürzten aus der Taverne, so schnell sie nur irgend konnten.
„Wir müssen uns vorbereiten“, sagte Geryon ernst.
„Auf?“
„Die Schlacht.“
Sie konnte ihn nicht davon abhalten, mit ihr in diesen Kampf zu ziehen. Es sei denn, sie würde ihn dazu zwingen, allein zum Tor zurückzugehen. Was sie durchaus tun könnte – und nun, da sie sich wieder erinnerte, wie man die Kontrolle erlangte, müsste er ihr gehorchen. Macht … Doch sobald er ihren Einflussbereich verlassen hätte, würde er auf dem Absatz kehrtmachen und wiederkommen, da war sie sich sicher. Zu groß war die Entschlossenheit, die in seinen Augen funkelte.
Aber jetzt kannst du ihn beschützen, dachte sie dann, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Die Schlacht“, wiederholte sie mit einem knappen Nicken. „Klingt nach Spaß.“