Die Heiligkeit der Muße

Warum wir Rituale brauchen

Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte waren Rituale gesellschaftlich fest verankert. Sie dienten dazu, den Menschen, der als Kulturwesen ständig zu Triebverzicht gezwungen ist, zu entlasten, indem sie ihm Nischen des Nichtstuns, der Entspannung, der Feierlichkeit, der Besinnung und der Ekstase gewährten. Ob Erntedankfest, Karneval oder Gottesdienst, ob Sonntagsspaziergang, Feierabendbier oder die genüsslich gerauchte Zigarette an der Bar: Das Ritual markierte einen Zwischenraum, in dem man die Betriebsamkeit des Alltags vergessen, ja, in dem man sogar Grenzen überschreiten durfte, die für das menschliche Zusammenleben normalerweise obligatorisch sind. Für viele Urvölker etwa war es kennzeichnend, dass sie auf die Verspeisung bestimmter Tiere verzichteten, die ihnen als heilig galten. Im Rahmen ritueller Totemmahlzeiten aber wurde das Verbot gemeinschaftlich-ekstatisch überschritten, die Menschen tanzten, tranken, aßen, das heilige Tier wurde einverleibt – und mit ihm das Fundament der Kultur, der Glaube an das Totem.

Auch die großen Religionen feiern bis heute Rituale der lustvollen Verbotsüberschreitung wie das ›Fastenbrechen‹. In islamischen Ländern etwa steht am Ende des Fastenmonats Ramadan, des neunten Monats des islamischen Mondkalenders, das mehrtägige ›Zuckerfest‹ an; und in christlichen Kulturen endet die Fastenzeit mit dem Osterfest und dem Verzehr des Osterlamms, das Jesus Christus und dessen Auferstehung symbolisiert.

Natürlich haben Rituale viele Funktionen, auf die wir weiter unten noch zu sprechen kommen werden; nicht zuletzt dienen sie dazu, dem Tag eine Struktur zu geben, das Dasein in eine Ordnung zu überführen. Doch Rituale sind auch dazu da, um gesellschaftlich legitimierte Ausnahmezustände zu ermöglichen, in denen der Mensch sich der Muße hingeben, sich besinnen, träumen, phantasieren, in Ruhe rauchen, trinken, essen und, nicht zuletzt, feiern darf. Die mit der Feier verbundene Ausgelassenheit dient dabei durchaus nicht nur der Triebabfuhr, sondern auch dem Gemeinschaftsgefühl: Das Volksfest etwa, das seinen Namen nicht umsonst trägt, holt den Einzelnen aus seiner Isolation und seiner Alltagsgeschäftigkeit heraus, bindet ihn in feierliche Traditionen ein und erzeugt so ein tiefes Gefühl der Zugehörigkeit. »Man kann nicht zur gleichen Zeit individueller Akteur, der sich selbst bestimmt, und Verkörperung der sozialen Struktur und überlieferten Konventionen der Gesellschaft sein«, schreibt der amerikanische Soziologe Albert Bergensen in seiner Abhandlung über Die rituelle Ordnung. »Man befindet sich entweder in der einen oder der anderen Realität, und das Ritual ist der Mechanismus, der die zerstreuten Gefühle der Individuen einigt und das Erlebnis der Gemeinschaft hervorbringt.«

Je aufgeklärter nun aber eine Kultur ist, desto weniger orientiert sie sich an althergebrachten Ritualen, vorgegebenen Lebensrhythmen und festen Ordnungen. Das ist natürlich keineswegs nur negativ zu sehen: Wer sehnt sich schon nach unbequemen Sonntagskleidern, obligatorischen Frühmessen, verbindlichen Abendessenszeiten, Häuptlingen und Totemtieren zurück? Im modernen 21. Jahrhundert wollen wir selbst entscheiden, wann wir essen und was wir essen, wie wir unseren Sonntag gestalten und wie unseren Alltag. Vielmehr noch: Können gemeinschaftsstiftende Rituale nicht sogar zutiefst besorgniserregend und entmündigend sein? Schließlich lebte nicht zuletzt der Nationalsozialismus von ekstatischen Gemeinschaftsgefühlen, die durch sorgsam durchgeplante Zeremonien erzeugt wurden. Je aufgeklärter eine Gesellschaft ist, desto weniger setzt sie auf Verzauberung als vielmehr auf Vernunft, auf die verantwortungsvolle Selbstbestimmung des je Einzelnen – und das ist zunächst einmal, als ein Ausdruck zunehmender Freiheit und Eigenverantwortlichkeit, durchaus positiv zu bewerten. Die Kehrseite dieser Entwicklung aber ist, dass es eben jene Zwischenräume, in denen der Mensch seine selbstkontrollierende Vereinzelung aufgeben, in denen er sich fallen lassen und trotzdem gehalten fühlen darf, immer seltener gibt. Momente der Feierlichkeit, der Ekstase, der Ruhe, die ehemals gesellschaftlich gewährleistet waren, verschwinden zusehends, im spätmodernen Zeitalter der Flexibilisierung können wir rund um die Uhr arbeiten, rund um die Uhr einkaufen, rund um die Uhr ins Internet. In immer stärkerem Maße ist der Mensch selbst dafür verantwortlich, wie er seine Zeit einteilt, wann er arbeitet, wann er konsumiert, wann er sich eine Pause gönnt, ob und wie er sich seine eigenen Rituale schafft. Klar definierte Feierabende und der ›heilige‹ Sonntag gehören der Vergangenheit an, wer sich Zeit nimmt und den lieben Gott, wie man sagt, einen guten Mann sein lässt, muss das vor seinem Gewissen rechtfertigen.

»Der ehemals ekstatische Kollektivkörper, der sich in der räumlichen Verdichtung seiner spezifischen Körperlichkeit versichert und sich als zusammenströmendes und losbrechendes Kollektivwesen erlebt, wird abgelöst von abstrakt-anonymen Strukturen, die als vom Individuum immer schon antizipierte Steuerungs- und Regulationsmedien wirksam werden«, schreibt die Soziologin Hannelore Bublitz. »Durch das Medium einer abstrakten ›Masse‹ gefiltert, werden die vereinzelten Individuen zu Voyeuren ihrer eigenen Existenz und unterliegen der reflexiv im Medium des Blicks auf ihr Innerstes gerichteten (Selbst-)Kontrolle, die sich als ständige Selbstprüfung ausweist.« Der zusammenströmende Kollektivkörper, von dem Bublitz spricht, gründet sich auf gesellschaftliche Verbote und Tabus, die gemeinschaftlich-ekstatisch zu überschreiten in bestimmten Momenten erlaubt war. Heute hingegen haben wir jene ›abstrakt-anonymen‹ Regeln, auf die sich unsere Kultur gründet, zutiefst verinnerlicht – an die Stelle des Kollektivkörpers ist das sich selbst kontrollierende Individuum getreten.

Welche Auswirkungen diese Verlagerung des Verbots von außen nach innen hat, lässt sich an einem Beispiel gut verdeutlichen. Wie wir gesehen haben, wird der Verzehr des verbotenen Totemtiers in ›primitiven‹ Gesellschaften gemeinschaftlich zelebriert, und gerade im Akt der Überschreitung des kulturstiftenden Verbots fühlen sich die Menschen aufs Engste miteinander vereint – ja, je ekstatischer die Transgression, desto stärker das Gemeinschaftsgefühl. In säkularisierten Kulturen gibt es keine für alle verbindlichen Speiseverbote mehr, wohl aber individuell errichtete Essensregeln, die sich an Diätrichtlinien orientieren: Ob Kartoffeldiät, Glyxdiät, Zitronensaftkur oder Reisdiät: Die Regeln, was gegessen werden darf und was nicht, sind streng, und häufig entwickeln die Hungernden, in aller Regel sind es Frauen, eine ganz ähnliche Angst vor den tabuisierten Lebensmitteln wie der ›Primitive‹ vor dem Totemtier: O Gott, Butter! Nein, bloß keine Schokolade! Sollte das Diät-Totemtier dann aber in einer schwachen Minute doch verzehrt werden, in aller Heimlichkeit versteht sich, nagen die Schuldgefühle: Das Tabu wurde gebrochen, das streng Verbotene einverleibt – und je exzessiver der Tabubruch, desto größer das Schuldgefühl.

»Diese Kultur hat ein Problem mit dem alltäglichen Heiligen«, schreibt Robert Pfaller. »Ihr sind offenbar jene räumlichen und zeitlichen Ausnahme-Zonen verloren gegangen, in denen sie es öffentlich feiern und als glamourös würdigen konnte. Solange es eine öffentliche Sphäre der Feierlichkeit gab, die vom profanen Alltag getrennt war, konnte das Ambivalente dort aufgehoben werden und gesellschaftlich akzeptabel bleiben – unter der Bedingung eben, dass es als Ausnahmeerscheinung von den übrigen profanen Räumen und Zeiten gesondert blieb. An dieser öffentlichen, heiligen Sphäre muss nun eine Beschädigung aufgetreten sein: Offensichtlich ist sie nicht mehr in der Lage, die ambivalenten Güter der Gesellschaft zu absorbieren und als ambivalent zu erhalten; dadurch blieben sie als Störungen im profanen Raum übrig, und ihre affektive Qualität erscheint als ›entmischt‹, das heißt, nur noch schmutzig.« Das ›Heilige‹, von dem Pfaller spricht, ist das Heilige im primitiven, ursprünglichen Sinne, das niemals nur rein, sondern immer auch unrein ist – ansonsten wäre das Heilige kaum mit einem Berührungsverbot, mit einem Tabu belegt. Wenn es nun eine Kultur versteht, beide Seiten des Heiligen in Ritualen lebbar zu machen, findet sich der Mensch auch in seinen ›schlechten‹, ›unreinen‹, ›verdorbenen‹, ›verbotenen‹ Seiten in ihr aufgehoben. Unsere Kultur aber, meint Pfaller, ist eine Kultur der Entmischung: Akzeptiert wird nur noch das Reine, Gute, Vernünftige. Rauchen zum Beispiel war schon immer ungesund und schädlich, und trotzdem wurde es bis vor Kurzem an öffentlichen Orten zelebriert. Ja, die Feierlichkeit des Rauchens ist für Pfaller sogar nachgerade ein Sinnbild des alltäglichen Heiligen, das zwangsläufig das Moment der Unvernunft, des Zaubers, des Mythischen in sich trägt: »Insbesondere an den kleinen Ritualen der Tabakkultur, die oft den Charakter eines Abwehrzaubers (zum Beispiel gegen peinliches Warten) und einer Versicherung des eigenen Stolzes haben, ist dieser zeremonielle, feierliche Charakter deutlich: Mit Feuer und Rauch wird schließlich auch in fast allen Religionen und Magien operiert, um heilige Zonen von profanen abzugrenzen, und die kultische Bezugnahme auf filmische Vorbildmythologien ist in jedem Akt des Rauchens spürbar – jedenfalls solange noch Filme gezeigt werden dürfen, in denen Lauren Bacall in lasziver Weise Humphrey Bogart um Feuer ersucht.« Das Rauchen ist eine Möglichkeit, dem Warten eine Form, ja Stil zu geben. Heute leben wir in der Zeit des Rauchverbots. Kneipen und Clubs gleichen, was ihren Charme angeht, in einem immer stärkeren Maße einer Schulaula, und in Bayern darf mittlerweile noch nicht einmal mehr auf dem Oktoberfest geraucht werden. Das ist natürlich gesund, keine Frage. Der Preis aber ist, dass dem Menschen immer weniger erlaubt wird, seine ›schmutzige‹, unvernünftige Seite genussvoll an öffentlichen, atmosphärischen Orten zu leben. Wer heute rauchen will, muss das draußen oder zu Hause tun, so als würde er eine lästige, für andere unzumutbare Notdurft erledigen. Das Rauchen ist eine Peinlichkeit und Ungehörigkeit, die man besser vor den anderen verbirgt. Die Entlastungsfunktion, die Rituale ehemals innehatten, indem sie Unanständiges öffentlich lebbar machten, kehrt sich auf diese Weise um in eine Schuld, die der Einzelne selbst zu tragen hat: Soll doch jeder sehen, wo er mit seinem Schmutz bleibt!

Die notwendige Folge der gesellschaftlichen Entritualisierung und Individualisierung ist, dass der Mensch, so er überhaupt noch an Ritualen festhält, diese für sich ganz allein lebt – und zwar nicht zuletzt auch deshalb, weil ihm in einer individualisierten Hochleistungsgesellschaft schlichtweg die Zeit, die Gelegenheit und durchaus auch die Kraft fehlen, andere an seiner Feier teilhaben zu lassen. Wenn die Personalmanagerin nach einer durchgearbeiteten Woche gestresst nach Hause kommt, dann steht ihr der Sinn weniger nach einer ritualisierten Kollektiverfahrung oder gar gemeinschaftlicher Ekstase als vielmehr nach Ruhe und Erholung, weshalb das Wochenende mit einer Heilkräuter-Entspannungs-Badewannenprozedur eingeläutet wird, in der Kerzen genauso wenig fehlen dürfen wie die Peelingmaske für Gesicht und Dekolleté. Heute hat jeder und jede einen anderen Feierabend, manchmal auch gar keinen, am Wochenende stehen Tagungen und Konferenzen an, und wenn einmal ein Abend ohne Termin im Kalender steht, verbringt man ihn lieber allein, um endlich einmal ›abzuschalten‹ und zu entspannen.

Die Kehrseite einer ritualisierten Selbstfürsorge aber ist die gesellschaftliche Atomisierung: »Wenn man sich selbst die Ehrerbietung erweisen könnte, die man wünscht, dann könnte die Gesellschaft dahin tendieren sich in Inseln aufzulösen, bewohnt von einzelnen kultischen Menschen, jeder in ständiger Anbetung seines eigenen Schreins.« So schrieb der Soziologe Erving Goffman in den sechziger Jahren, nicht ahnend, dass die moderne Gesellschaft des 21. Jahrtausends einem Archipel gleichen würde. Dienten Rituale früher der Vergemeinschaftung, dienen sie heute eher der Isolierung des Einzelnen vom nervtötenden Rest: Wenn ich schon die ganze Woche über kommuniziere und funktioniere, dann will ich wenigstens am Wochenende meine Ruhe haben!

Rituale geben Orientierung, und sie geben Halt. Insbesondere in Phasen des Übergangs sorgen sie dafür, dass der Mensch sich nicht verliert und den Wechsel heil übersteht. »Veränderungen sind Störungen und Gefahren, die zu mildern oder zu verhindern es Übergangsrituale braucht«, meint der Religionswissenschaftler Axel Michaels. Ob Hochzeit, Prüfung oder Sommersonnenwende, ob Arbeitsbeginn oder Arbeitsende, Tages- oder Jahreswechsel: Durch Rituale werden Phasenumbrüche markiert und auf beruhigende Weise reglementiert. »Das Feierabendbier zwischen fünf und sechs«, so der Schriftsteller Peter Bichsel, »war eingebettet in ein Ritual«, man traf sich an einem bestimmten Ort, trank eine Stunde lang und wechselte gemeinsam über vom Arbeits- in den Freizeitmodus. Diesen Zweck erfüllt heute (neben Badewanne und Individualsportart) die Vorabendserie. Ab kurz nach fünf wird bei der Arbeit nervös auf die Uhr geschaut und, sofern sich das Gespräch mit der Kollegin nicht rechtzeitig abwürgen lässt, im Auto ordentlich aufs Gas getreten. Zu Hause das immergleiche Schmieren von Broten in der Küche (denn genossen werden kann die Serie aus irgendeinem Grund nur kauend), jetzt noch die Kissen (das große hinten, das kleine vorn) zurechtrücken, Handy stumm stellen, Vorhänge zu, Füße hoch. Ein hektischer, fast ängstlicher Rundumblick: Ist alles so, wie es sein soll? Habe ich an alles gedacht? Mechanischer Griff zur Fernbedienung. Für eine Zehntelsekunde der panische Gedanke: Oh Gott, wenn jetzt der Fernseher nicht funktioniert! Was wäre mein Feierabend ohne Sex and the City? Ein gähnendes Loch. Die totale Sinnlosigkeit. Fast zittrig drückt der Daumen den kleinen roten Knopf. Der Bildschirm fiept, aus schwarz wird bunt, da sind sie, die vertrauten Bilder, die vertraute Melodie. Sofort lässt die hochgesteigerte Erregung nach, die Glieder entspannen, als tauchten sie in warmes Badewannenwasser ein. Alles ist gut.

Ritualisierte Handlungen, so Christoph Wulf und Jörg Zirfas in ihrem Buch Die Kultur des Rituals, »rahmen spezifische Praktiken im alltäglichen Leben so, dass durch ihre Restriktivität … unbestimmtes in bestimmtes Verhalten transformiert wird. In diesem Zusammenhang bilden Rituale einen relativ sicheren, homogenisierten Ablauf. Die mit ihnen verbundenen Techniken und Praktiken dienen der Wiederholbarkeit der notwendigen Vollzüge, ihrer Steuerbarkeit und Kontrollierbarkeit …« Alltagsrituale haben also durchaus auch eine ganz pragmatische Funktion: Wer Rituale hat, spart sich Zweifel, denn es muss nicht jedes Mal wieder neu überlegt werden, ob man morgens beim Bäcker Mohnbrötchen oder Croissants bestellt, ob nach Feierabend Sport getrieben wird und am Mittwoch die Lieblingsserie auf dem Programm steht. Und natürlich hilft die Automatisierung der Handlung dabei, sie einigermaßen zügig zu vollziehen: Wer jeden Morgen Müsli isst, bereitet es routinierter zu als jemand, der das nur ausnahmsweise tut; ganz abgesehen davon, dass der Ritualmüsliesser peinlichst darauf achtet, dass immer alle Zutaten vorhanden sind, während der Ab-und-zu-Müsliesser womöglich erst noch zum Supermarkt laufen muss. Doch Vorsicht: Das Ritual ist mehr als einfach nur Routine! Die Routine ist profan, das Ritual dagegen heilig. Ihm wohnt Feierlichkeit inne. Und genau diese Feierlichkeit ist es auch, die Ritualmenschen so beneidenswert macht: Indem sie Alltagshandlungen ritualisieren, machen sie aus ihnen etwas Außergewöhnliches. Sie verleihen ihnen einen Wert, man möchte fast sagen: einen metaphysischen Glanz, wie man ihn sonst nur aus religiösen Praktiken kennt. Das an sich Profane (Brot und Wein) wird in Sakrales verwandelt, indem man es einbettet in ein Zeremoniell, der Ritualmensch versteht es, sich jeden Tag sein ganz privates Abendmahl zu bereiten.

Allein, was manchen Menschen ohne große Mühen gelingt und sie bewunderungswürdig macht, wirkt bei anderen angestrengt, gar gezwungen. Wie ein Pastor den Gottesdienst zelebriert, so zelebriert manch ein Ritualmensch seine Mahlzeiten, seine Morgengymnastik, seinen Feierabend vor dem Fernseher: nämlich nach ganz bestimmten Gesetzen und mit einer Gewissenhaftigkeit, als müsste bei jedwedem Regelbruch mit fürchterlichsten Konsequenzen gerechnet werden. Eine solche Zwanghaftigkeit resultiert, psychoanalytisch gesprochen, aus einer als verboten empfundenen und also gründlich verdrängten Triebregung, die der Mensch durch die Gesetzmäßigkeit der Handlung niederzuhalten versucht: Nur wenn ich die Handlung immer gleich vollziehe, geschieht kein Unglück, sprich: macht sich die Triebregung nicht bemerkbar und mein Gewissen verschont mich! Die Handlung wirkt wie ein Abwehrzauber gegen den Trieb respektive gegen die Strafe des Über-Ichs, allerdings ohne dass dem Handelnden dieser Zusammenhang bewusst wäre; und der psychoanalytische Begriff für ein derartiges Verhalten lautet: Zwangsneurose.

Zieht man nun in Betracht, dass unsere Kultur, wie gerade ausgeführt, die ›schmutzigen‹ Triebanteile des Menschen nicht mehr aufzufangen weiß, wird offenbar, dass die zunehmende Neurotisierung der Kultur mit deren Entritualisierung in einem Zusammenhang steht: Weil der Mensch selbst mit seinem Schmutz fertig werden muss, zelebriert er ihn ganz für sich allein in traurigen Zeremonien, die nicht Lust, sondern nur Unlust mit sich bringen; in Zeremonien, die das Leben nicht feiern, sondern in denen es, zumindest subjektiv, ums nackte Überleben geht – fürchtet doch der Zwangsneurotiker tatsächlich um sein Leben, sobald die Handlung einmal nicht in gewohnter Weise ausgeführt werden kann. »Das neurotische Zeremoniell besteht in kleinen Verrichtungen, Zutaten, Einschränkungen, Anordnungen, die bei gewissen Handlungen des täglichen Lebens in immer gleicher oder gesetzmäßig abgeänderter Weise vollzogen werden.« So schrieb Sigmund Freud Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Aufsatz Zwangshandlungen und Religionsübungen. »Man kann die Ausübung eines Zeremoniells beschreiben, indem man es gleichsam durch eine Reihe ungeschriebener Gesetze beschreibt, also z. B. für das Bettzeremoniell: der Sessel muß in solcher, bestimmter Stellung vor dem Bette stehen, auf ihm die Kleider in gewisser Ordnung gefaltet liegen; die Bettdecke muß am Fußende eingesteckt sein, das Betttuch glattgestrichen; die Polster müssen so und so verteilt liegen, der Körper selbst in einer genau bestimmten Lage sein; dann erst darf man einschlafen. In leichten Fällen sieht das Zeremoniell so der Übertreibung einer gewohnten und berechtigten Ordnung gleich. Aber die besondere Gewissenhaftigkeit der Ausführung und die Angst bei der Unterlassung kennzeichnen das Zeremoniell als ›heilige Handlung‹. Störungen derselben werden meist schlecht vertragen; die Öffentlichkeit, die Gegenwart anderer Personen während der Vollziehung fast immer ausgeschlossen.«

Damit beschreibt Freud, was im 21. Jahrhundert immer normaler zu werden scheint: nämlich eine einsame Zelebration von Alltagshandlungen, die einer, wie Freud es nennt, »Privatreligion« gleichkommen. An die Stelle der kollektiven und öffentlichen Religionsausübung tritt zunehmend ein individueller, von der Außenwelt zumeist abgeschotteter ›Gottesdienst‹, dessen transzendenter Gehalt sich nur dem je Einzelnen erschließt. Das nimmt nicht selten auch extreme Formen an: Über eine Million Menschen begeben sich hierzulande mindestens ein Mal in ihrem Leben in ärztliche Behandlung, weil sie unter ihrem zwanghaften Verhalten leiden. Wie ferngesteuert müssen sie immer wieder dieselben Handlungen vollziehen, müssen sich ständig die Hände waschen, ihren Herd kontrollieren, können nur auf diesem und keinem anderen Stuhl sitzen etc. Das ist natürlich etwas anderes, als sich Morgen für Morgen das immergleiche Müsli und den immergleichen Tee auf die immergleiche Weise zuzubereiten oder jeden Tag vor dem Abendessen exakt dieselbe Joggingstrecke abzulaufen. Aber wo hört das Ritual auf und fängt die Neurose an? »Zu Zwangshandlungen im weiteren Sinne können alle beliebigen Tätigkeiten werden, wenn sie durch kleine Zutaten verziert, durch Pausen und Wiederholungen rhythmiert werden«, schreibt Freud. »Eine scharfe Abgrenzung des ›Zeremoniells‹ von den ›Zwangshandlungen‹ wird man zu finden nicht erwarten.«

Wenn ich diese oder jene Handlung nicht nach ganz bestimmten Regeln ausführe, so lautet die unbewusste Gewissensangst des Neurotikers, dann wird fürchterliches Unglück geschehen! Vergleichsweise harmlose Handlungen dieser Art kennt jeder: Nur wenn ich nicht auf die Ritzen zwischen den Gehsteigplatten trete, bekomme ich morgen die Zusage, klappt die Prüfung, liebt sie mich etc. Andere zählen Zaunpfähle oder Straßenlaternen, um sich zu beruhigen, und wieder andere klopfen jedes Mal mit dem Fuß auf, wenn die Tram eine Station erreicht. Die Regeln, die diesen Handlungen zugrunde liegen, stehen natürlich in keiner objektiv logischen Beziehung zu dem zu erwartenden Unheil, genauso wenig, wie dreistündiges Händewaschen wirklich eine Schuld bereinigen könnte. Der Zusammenhang von Neurose und Unheilserwartung ist vielmehr ein verschobener, ganz ähnlich, wie auch Traumbilder nur verschoben auf die unbewussten Ängste und Wünsche des Träumers hinweisen. Das wiederum heißt aber, dass Zwangshandlungen fürs Unbewusste durchaus einen Sinn ergeben – und aus diesem Grund sind sie für den Neurotiker so unerlässlich wie für einen religiösen Menschen das Beten. »Dem Schuldbewusstsein der Zwangsneurotiker entspricht die Beteuerung der Frommen, sie wüssten, daß sie im Herzen arge Sünder seien; den Wert von Abwehr- und Schutzmaßregeln scheinen die frommen Übungen (Gebete, Anrufungen usw.) zu haben, mit denen sie jede Tätigkeit des Tages und zumal jede außergewöhnliche Unternehmung einleiten.«

Dieser Glaube, dass nur ein immergleiches Zeremoniell das Unheil abwenden kann, wird durch unsere Kultur in vielerlei Hinsicht unterstützt – praktizieren wir doch allenthalben gewisse Handlungen, die bei näherem Hinsehen zwanghaft anmuten und dennoch auf dem Beipackzettel stehen. Nur wenn Sie unsere Antifaltencreme morgens und abends verwenden (Tipp: Reinigen Sie sich vorher Ihr Gesicht mit unserer Reinigungsmilch), sehen Sie an Ihrem nächsten Geburtstag nicht aus wie Keith Richards! Identifizieren Sie sich mit unserer Marke! Fühlen Sie sich unvollkommen, unrein und schlecht, wenn Sie einmal aus irgendeiner Not heraus ein anderes Produkt verwenden müssen! Rechnen Sie mit plötzlichen Hautveränderungen, die nichts anderes sind als die gerechte Strafe!

Der moderne Mensch lebt ständig in der diffusen Angst, dass irgendetwas zum Vorschein kommt. Dieses ›irgendetwas‹ ist eine Triebregung, die zu unterdrücken und zu verdrängen unsere auf Selbstkontrolle gründende Kultur in einem immer stärkeren Maße gebietet und die, sobald sie sich bemerkbar macht, eine Unheilserwartung auslöst. Vergegenwärtigen wir uns diesen Zusammenhang im Folgenden an einem konkreten Beispiel, an dem Beispiel einer berufstätigen Frau, die am Abend vor einer wichtigen Projektpräsentation einen hässlichen Pickel, ein ›Riesending‹, in ihrem Gesicht entdeckt. Für was steht dieses ›Ding‹? Und warum kann die Frau nicht anders, als es zwanghaft anzustarren?