Epilog
Ich übernehme es, diesen Epilog zu den Memoiren meiner Lebensgefährtin zu komponieren, weil sie momentan zu beschäftigt ist. Damit will ich keineswegs andeuten, daß sie im Jenseits neue Abenteuer erlebt und meine alte Corona über die Gabe verfügt, Botschaften der Dahingeschiedenen aufzufangen, so interessant und informativ das auch wäre; vielmehr hat ihre Termination nicht stattgefunden. Anna sagt, wegen des Benway-Gegenmittels; Molly ist überzeugt, es waren die Gnome. Ich persönlich, auch wenn es vielleicht eingebildet klingt, glaube, es waren meine Bemühungen in unserer letzten Nacht – oder der Nacht, von der wir glaubten, es sei unsere letzte –, die das Wunder vollbrachten. Doch kommt es darauf an? Sie lebt, ist wohlauf und wird von Tag zu Tag jünger.
Seit ihrer Termination, die nicht stattgefunden hat, sind ungefähr acht Wochen vergangen, und inzwischen sind die Anzeichen der Verjüngung nicht mehr zu übersehen. Rosige Stellen kommen unter der verschorften Fungodermis zum Vorschein, die immer schneller abblättert. Sie gehören zu einer neuen Haut aus Phytogewebe. Wir sind Zeuge eines langandauernden Häutungsvorgangs, vergleichbar mit einer Schlange, die ihre Haut abstreift. Es ist ziemlich aufregend.
Die Ereignisse vom 15. November. Molly begriff natürlich als letzte, daß sie nicht off line gegangen war. Sie glaubte fest, ihr wäre mit Hilfe von P-10 ein nahtloser Übergang gelungen. Sie stand aus dem Rollstuhl auf, wanderte wie im Traum befangen durch die Wohnung und betrachtete jede Person und jeden Gegenstand, als wäre alles Maja, Nachbilder einer rasch verblassenden Welt. Unnötig zu sagen, daß wir im ersten Moment zu verblüfft waren, um zu reagieren, bis auf unseren Sohn, der sich einbildete, seinen Auftrag im Jenseits zu Ende führen zu müssen. Er geleitete Molly zurück auf den Balkon und sagte, das wäre der Weg zu den höheren Ebenen. Anna und mich verfluchte er und nannte uns die menschlichen Wächter des Tores, die gekommen wären, um Candidas Erlösung zu verhindern. »Spring!« befahl er. »Spring! Solange du Gelegenheit hast.«
Nun, man kann sich denken, daß wir keine Zeit verloren, unserer Rolle als Wächter gerecht zu werden – wir hatten nicht die geringsten Skrupel. Ich bekam Molly zu fassen, als sie über das Geländer steigen wollte, und Anna half mir, sie ins Schlafzimmer zu tragen, doch in dem Augenblick brach die Hölle los, denn trotz seines fortgeschrittenen Alters war mein Sohn noch rüstig genug, um uns einen guten Kampf zu liefern. Er stürmte hinter uns her und packte Mollys Arm, seine Pilger klammerten sich an ihn und Molly, und es entstand ein Tauziehen, bei dem meine Liebste in Stücke gerissen zu werden drohte. Dann biß Dreckspatz P-10 ins Bein. Ich gab Anna ein Zeichen, und wir ließen beide zur gleichen Zeit los, so daß die ganze Bande in einem Knäuel auf dem Boden landete, mit Molly obendrauf. Anna hob sie auf und brachte sie aus der Gefahrenzone, während ich Dreckspatz von meinem Sohn wegzerrte, dessen Haut sich trotz seines Alters als bemerkenswert fest erwiesen hatte. Bis auf einen gehörigen Schrecken ist der alte Narr ungeschoren geblieben. So gelang es uns also, dem Fiasko ein Ende zu setzen und sie zu retten, obwohl wir uns von P-10 vorwerfen lassen mußten, eine verdammenswerte und sündhafte Tat begangen zu haben. Jetzt wäre Candida zu einem neuen Lebenszyklus verdammt.
Die fragliche Dame allerdings dankte uns von ganzem Herzen, als sie ihre wahre Situation begriff, und wurde so lebhaft und unternehmungslustig, daß sie ihre Krücke wegwarf (der einzige Gegenstand, der tatsächlich das Tor zu den höheren Ebenen passierte). Zu meiner besonderen Freude erklärte sie sich ebenso leichten Herzens bereit, ihre starren und veralteten Ansicht über das Leben aufzugeben. In den Trichter damit! Die Ergebnisse ihrer neuen Einstellung sind glänzend und nicht zu verkennen. Sie macht derart gute Fortschritte, daß sie nach sechs Monaten ihrer alten Haut und ihren alten Überzeugungen vollständig entwachsen sein müßte, und ich hoffe, sie wird sich zur gläubigen Aquarierin entwickeln – natürlich zu einer populären Spulenkomponistin.
Wissen Sie, kurz nach ihrer ›Termination‹ präsentierte sie mir ihre Autobiographie – eine ziemliche Überraschung, muß ich zugeben, und ich dachte, ich wäre der einzige mit literarischen Ambitionen! Sie besteht darauf, daß ihr Werk nichts Herausragendes ist, nur eine lose Folge einzelner, in konventionellem Erzählstil aneinandergereihter Episoden, und lobt die alte Corona für etwaige literarische Feinheiten im Text. Trotzdem mußte ich sie beglückwünschen zu ihrer Beachtung von Handwerk, Stil und dramatischem Aufbau, obwohl mir etwas zuviel Nebensächlichkeiten und Details enthalten zu sein scheinen und eine einfühlsame Überarbeitung und Straffung hier und da nicht schaden könnte. Doch im ganzen gesehen, ist es ein rundum gelungenes Erstlingswerk. Es stimmt schon, ein Hauch von Rokoko (eine der Stiloptionen der Corona) kommt stellenweise zum Vorschein, und der Stil ist nicht unbedingt einheitlich, aber die Mängel beeinträchtigen nicht wesentlich ihre ganz eigene Art zu erzählen. Und der Inhalt ist natürlich einfach sensationell. Darüber hinaus gelingt es ihr vielleicht sogar, ihren Namen reinzuwaschen und den Hexer von Armstrong – Micki Dee – zu entmachten. Am besten auch Sensei Inc., United Systems und den Rest des korrupten TWAC-Verwaltungsrats. Wenn nicht das, dann hoffe ich wenigstens, daß die Enthüllungen in dem Buch die Bastarde gehörig in Verlegenheit bringen.
Doch immer schön der Reihe nach. Ihre Spule muß erst noch an die Home-Media-Vertriebsstellen ausgeliefert werden, und dann gilt es abzuwarten, wie sie sich verkauft. Noch ist es zu früh, um große Pläne zu schmieden. Trotzdem kann ich nicht widerstehen, sie wegen einer Fortsetzung zu necken – Die weiteren Abenteuer von … –, aber sie wird jedesmal ungehalten, wenn ich darauf zu sprechen komme, und redet sich damit heraus, daß sie viel zu beschäftigt ist. Sie selbst kommt nur dann auf ihr Werk zu sprechen, wenn ihr etwas einfällt, das sie vergessen hat. Bei solchen Gelegenheiten macht sie sich Vorwürfe, den Leser betrogen zu haben, weil sie doch versprochen hätte, wirklich alles zu erzählen. »Glaub mir, Molly, das ist ein Punkt, um den du dir keine Sorgen zu machen brauchst«, beruhige ich sie. »Aber Tad«, sagt sie zu mir, »es gäbe noch so vieles zu sagen über Eva und Roland und die Hart-Pauleys (sie wurden tatsächlich im Telegrammstil abgehandelt!) und das Kloster und den Palast in Frontera – wußtest du, daß ich ihn komplett neu dekoriert habe? – und Andro und …« – »Genug!« sage ich. »Genug!« Manchmal ist sie unmöglich.
Ihre gegenwärtigen Aktivitäten. Sie leistet Freiwilligenarbeit im Underground-Skyway und hilft im örtlichen LRA-Büro, aber der überwiegende Teil ihrer Zeit gilt der Erforschung des Benway-Gegenmittels. Weil sie so ein aktives Leben führt, hat sich die Notwendigkeit ergeben, einen neuen Namen für sie zu erfinden, der zu dem Gesicht paßt, ohne das sie nie aus dem Haus geht. Ich sollte vielleicht erklären, daß ihre Heilung (Metamorphose?) uns in eine arge Zwickmühle brachte. An Dr. Benway konnten wir uns nicht wenden; wäre sie ihm noch einmal in die Hände gefallen, hätte er eine Art diabolische Vivisektion durchgeführt, um das Offensichtliche zu beweisen – daß sie noch lebt. Andererseits waren wir alle der Meinung, die Tatsache, daß es eine Heilungschance für die vorprogrammierte Termination gibt, sei von zu großer Bedeutung, um sie geheimzuhalten, selbst um ihretwillen. Also beschlossen wir zu guter Letzt, eigene Forschungen durchzuführen, gleich hier auf den Inseln, unter der Schirmherrschaft der LRA, die uns sehr geholfen hat. Man brachte uns mit Dr. Sheribeeti zusammen – derselbe Gebieter, der vor Gericht Molly einwandfreie Funktionstüchtigkeit attestierte. Tagsüber lehrt er an der Universität von Malibu, an den Wochenenden arbeitet er für den Underground-Skyway, also ist er mit unseren Problemen vertraut. Doch seinen besonderen Wert macht aus, daß er in den Techniken der Aquarierwissenschaften bewandert ist. Aus dem Grund kommt er unter der Woche jeden Abend her, zu privaten Sitzungen mit Molly, bei denen sie mit den Zellgenomen kommunizieren. Sie sehen also, Molly hat wirklich einen vollen Terminkalender, wie ich schon sagte. Ich selbst arbeite immer noch beim Skyway und sammle für Neu-Horizont. Anna geht es auch gut, obwohl sie in letzter Zeit ein wenig kürzer treten muß, weil wir unser erstes Kind erwarten. Sie ist ziemlich aufgeregt und macht sich Sorgen, immerhin wird sie mit dreiundvierzig Jahren das erste Mal Mutter, aber Molly, deren Beispiel uns die Kraft gibt zu glauben, daß alles möglich ist, hilft ihr, positiv zu denken.
Und doch ist meine teure Lebensgefährtin nicht ganz zufrieden mit ihrem Los. Sie hat mir gestanden, daß es in gewisser Weise beruhigend war, ein VVD zu haben, weil man sich bewußt auf die Termination vorbereiten konnte, während sie jetzt nicht die leiseste Ahnung hat, wann ihre Zeit gekommen ist, und sich fürchtet, unvorbereitet überrascht zu werden. Es könnte in der nächsten Minute sein, nächste Woche, Monat, Jahr, Jahrzehnt, sogar Jahrhundert – niemand kennt die natürliche Lebensspanne eines Humanophyten der neunten Generation. Diese Angst ist für sie neu und erschreckend, aber offen gesagt, ich finde ihre Sorge amüsant. »Ich kann die Ungewißheit nicht ertragen«, klagt sie. Was soll man darauf antworten? »Willkommen im Club.«
Thaddäus Locke
Los-Angeles-Archipel
17. Januar 2090
* Für Leser aus dem Provinzorbiter dürfte eine erklärende Bemerkung über Gesichtsmodels angebracht sein. Man benutzt sie zur Prägung bzw. Entfernung künstlicher Gesichtszüge. Das Gesicht des Betreffenden wird mit einem synthetischen Gel, vergleichbar einer Schlammpackung, überzogen. Anschließend wird das auf ›Prägung‹ geschaltete Model vorgelegt. Nach dreißig Sekunden ist die gewünschte Physiognomie fixiert. Zum Zweck der Entfernung wird der Prozeß umgekehrt. Da die künstliche Haut in vollem Umfang atmungsaktiv ist, kann die Maske eine Woche oder länger getragen werden, obwohl aus hygienischen Gründen darauf verzichtet werden sollte. Im allgemeinen werden ›Gesichter‹ nur von weiblichen Gebietern getragen, allerdings gibt es Männer, die aus beruflichen Gründen nicht darauf verzichten mögen. Es ist nicht üblich und gilt als unhöflich, zu Hause, im Kreis der Familie ein Gesicht zu tragen, doch die meisten Damen aus Gebieterin Lockes Freundeskreis würden sich vor Gästen niemals ohne sehen lassen.
* Slangausdruck für Melamin, das gängige interplanetare Tauschobjekt.
* Für Leser, die über die Inseln nicht Bescheid wissen (oder nicht über die Erde), sei folgendes angemerkt: Das Gebiet hatte bereits den Folgen des Treibhauseffekts flächenmäßig Tribut zahlen müssen; bei den Rekorderdbeben der 2030er entstanden die Bucht von Los Angeles, die Anaheim-See und der Lake Catastrophe (das ehemalige San Fernando Valley), außerdem die acht Hauptinseln: Malibu, Santa Monica, Hollywood, Los Angeles, Pasadena, Big Bear, Anaheim und Palos Verdes.
* Eine der Eigentümlichkeiten bei der Entwicklung von Semis ist, daß sich in den meisten Fällen der Reifeprozeß nach der Geburt beschleunigt. Nach ein bis zwei Jahren sind sie erwachsen.
* Der Chef ist ein in einen Behälter eingeschlossenes Organomyzetgehirn von der Größe einer Melone und befindet sich an einem geheimen Ort irgendwo im Firmenorbiter.
* Pop, Grams, Dips, Orbs usw. sind illegal zusammengepanschte Imitationen der von Pirouet nach einer geheimen Formel hergestellten Datapillen und rufen elektronisch verstärkte Tagträume von außerordentlicher Eindringlichkeit und Realität hervor, die anders als bei normalen Halluzinogenen nach Belieben beeinflußt werden können. Dennoch, der Gebrauch über einen längeren Zeitraum hinweg kann zu Gewöhnung und Abhängigkeit führen.
* Für jene, die mit dieser Praxis nicht vertraut sind (die Mehrzahl meiner Leser, vermute ich): Abonnenten sind Kunden, die einen Langzeitvertrag mit der Agentur abgeschlossen haben, in den meisten Fällen, um sich die Dienste eines bevorzugten Freudenmädchens zu sichern.
* Damals wußte ich noch nicht, daß Semis zweifach verflucht sind, denn nicht nur sind sie an die Lebensspanne der Androiden gebunden, sie altern auch innerhalb dieses Zeitraums. Deshalb machte Tad junior, der nach meiner Schätzung damals etwa zehn Jahre alt gewesen sein muß, den Eindruck eines Mannes von fünfunddreißig.
* Ausschließlich für Top-Politiker und Industriemanager entwickelte Datapillen. Sie enthalten einen Basistext mit Formeln für Ansprachen und Interviews, die der Benutzer je nach Anlaß und Bedarf abwandeln kann. Grundlegende Standpunkte, Antworten sowie logistische, geographische und faktische Informationen schützen vor peinlichen Versprechern und Wissenslücken.
* Für all jene, die über die Feinheiten des Kodex nicht Bescheid wissen: Semis werden als Halbmenschen klassifiziert; nur in Frontera gelten sie vor dem Gesetz als Halbandroiden. Überall sonst im Sonnensystem werden ihnen im Zweifelsfall die Menschenrechte zugestanden. Der Punkt war das Hauptproblem für die Resolution der Pacht/Optionsrechtskontroverse zwischen Frontera und der TWAC im Jahre 2083.
* Ein brezelförmiges Symbol aus miteinander verbundenen Kreisen, dessen Bedeutung mir bis heute niemand zufriedenstellend erklären konnte. Ich vermute, es hat etwas mit Stärke durch Einigkeit zu tun.
* Zum Zeitpunkt des Gerichtsverfahrens war Jubilee beinahe fünf, auf den Menschen übertragen also zwischen achtzehn und einundzwanzig.
* Das Gericht untersagte den Gebrauch von T-Max mit der fadenscheinigen Begründung, daß es sich um eine experimentelle Droge handelte. Der wirkliche Grund war der, daß man fürchtete, die Routineanwendung eines solchen Hilfsmittels als Vorbeugemaßnahme gegen Falschaussagen könnte dazu führen, daß die Hälfte der Fälle, mit denen man gemeinhin vor den Kadi zog, durch eine außergerichtliche Einigung geregelt werden würde. Die katastrophale Folge wäre eine Schwemme von sehr kostspieligen und hochqualifizierten Androidenjuristen gewesen und ein Überfluß an menschlichen Arbeitgebern für ebendiese. Kurz, für den Berufsstand wären harte Zeiten angebrochen, hätte man die Wahrheit in das Rechtswesen eingeführt.
* Die eigentliche Datei befand sich vakuumversiegelt in dem Zylinder; beim Herausnehmen wäre sie durch den Kontakt mit der Luft sofort unbrauchbar geworden.
* Mein Sohn war lediglich zwei Jahre jünger als ich, deshalb bestand nach den Begriffen des menschlichen Äquivalenzalters kaum ein Unterschied zwischen uns; wir waren beide hochbetagt.