Kapitel zwei

Der Greifer packte mich, während ich schlafend auf meiner schäbigen Matratze lag, und hob mich – schlagartig hellwach und zappelnd – zu der Beobachtungskabine unter der Decke empor. Von dort verfrachtete man mich in einen makellos antiseptischen Untersuchungsraum. Man schnallte mich auf einen Tisch, und einer der weißgekleideten Techniker – ein Sears, glaube ich – injizierte mir durch seine Fingerspitzenkanüle das Gegenmittel. Trotz meiner Benommenheit war ich nicht überrascht; eigentlich hatte ich schon früher damit gerechnet, denn nach meiner groben Schätzung befand ich mich seit etwa einem Monat in der Benway-Klinik. Dr. Benway beehrte mich mit seiner Aufmerksamkeit. Er teilte mir mit, daß ich die Ehre hatte, als erste Einheit in meiner Kolonie mit einem neuen und verbesserten Derivat geimpft zu werden. Da ich mittlerweile ein ziemlich aufbrausendes Temperament entwickelt hatte, kein Wunder bei dem ewigen Gezänk unten im Pferch, schleuderte ich ihm jedes Schimpfwort und jeden Fluch entgegen, die ich in einem Atemzug herausbringen konnte. Als Antwort hob er mir mit einem Zeigestock aus Edelstahl das Kinn in die Höhe und bemerkte sachlich, in gewisser Weise wäre es schade, wenn das neue Mittel wirken sollte, er hätte zu gerne erlebt, wie ich als Sechzigjährige aussah. »Vorläufig, meine scharfzüngige kleine Einheit, stehen dir die Fünfunddreißig ganz ausgezeichnet.« Er schnippte mit den Fingern, und ein Sears reichte ihm einen kleinen Spiegel, den er mir vors Gesicht hielt.

Die Spuren des Alters waren deutlich zu erkennen: Krähenfüße, Lachfältchen und … waren das graue Haare? Wahrhaftig. Nur ein paar, aber deshalb um so auffälliger. Ich muß einen Schock erlitten haben, denn ich kann mich nicht daran erinnern, in den Pferch zurückgebracht worden zu sein. Wissen Sie, bis dahin war es mir gelungen, mich über die Veränderungen in meinem Aussehen hinwegzutäuschen, denn es gab keinen Spiegel im Pferch, aber dank der Grausamkeit des Direktors mußte ich jetzt der Wahrheit ins Auge sehen. Unglücklich und verzweifelt rollte ich mich auf meiner Matratze zusammen und weinte stundenlang über diese und andere subtile Zeichen des Älterwerdens. An den Fußballen und Fersen bildete sich schuppige Hornhaut. Ein Geflecht aus weißen Äderchen schimmerte an der Rückseite von Oberschenkeln und Waden durch meine früher undurchsichtige (und atemberaubende) Haut. Meine Brüste, wenn auch immer noch wohlgeformt, wirkten irgendwie voller und weniger straff. Und an den Ellenbogen – war das etwa der Beginn einer leichten Bursitis? Ein Alptraum.

»Du mußt Vergebung formatieren«, riet mir Freddy.

Lieber Chef, an Ratgebern fehlte es mir wirklich nie. Von meinen drei Freunden aus dem vorigen Kapitel hatte nur er überlebt, doch war er inzwischen so hinfällig, daß es ihn große Mühe kostete, sich bis zu meiner Matratze zu schleppen. Wahrscheinlich hätte ich ihn freundlicher behandeln sollen, aber ich war nicht in der Stimmung für philosophische Lektionen. Das Elend des hinter mir liegenden Monats, davor der Prozeß, hatten mir die letzten Illusionen geraubt, daß sich das Schicksal durch die von den Aquariern als heilbringend gepriesenen Praktiken günstig beeinflussen ließ. »Nichts mehr von dem Unsinn«, verbat ich mir seine Predigten. »Es steht mir bis hier!« Und ich konnte mir nicht verkneifen, ihm unter die Nase zu reiben, daß es auch ihm nichts genutzt hatte, er war nur immer grauer und faltiger geworden. »Ja. Zu spät … für mich, Molly«, sagte er krächzend. (Inzwischen war zu seinen Gebrechen ein schweres Lungenemphysem hinzugekommen, verursacht zweifellos durch das ewige Geschimpfe auf die Ketzer.) »Aber du sagst … Benny hätte dir das neue … Mittel gegeben. Du hast eine Chance.« Ich entgegnete, dann hinge mein Leben von der Wirkung der chemischen Substanz ab. »Aber es … ist umgekehrt. Der Effekt, den die Substanz auf … dein System hat, hängt … von deiner Gemütsverfassung ab. Der Glaube kann Berge …« Erbittert schnitt ich ihm das Wort ab, bevor er mich mit einem weiteren Diskurs über die Wechselwirkung von Physis und Psyche quälen konnte; ich hatte das alles schon viel zu oft gehört. Ich sagte ihm, daß ich allein sein wollte. »Schon gut«, antwortete er. »Aber du machst … einen großen … Fehler.«

Wäre er nicht so gebrechlich gewesen, hätte ich ihn mit einem Fußtritt auf den Weg gebracht. Ich wurde tatsächlich zänkisch, und daß ich es wußte, verstärkte meine üble Laune noch. »Wirst du jetzt gehen!« Ich war aufgebracht, weil er sich keinen Millimeter vom Fleck gerührt hatte. »Kann nicht«, wisperte er. »Meine Zeit … ist gekommen!«

Augenblicklich änderte sich mein ganzes Verhalten. »Freddy, nein! Nicht programmierte Termination.« Er nickte, sank zu Boden und blieb auf dem Rücken liegen. Mitleid überwältigte mich, wie erst letzte Woche, als Matilda und Bernard off line gegangen waren. Er verschied ohne Kampf. Seine letzten Worte waren: »Denk an die … Genomen. Zell … ge … no … men.«

Wie ein Aasgeier witterte der Greifer den Tod. Er fuhr herab, bevor ich noch eine Träne vergießen konnte, und stieß mich mit einem seiner fingerähnlichen Gliedmaßen wie einen Floh zur Seite. Dann trug er den toten Freddy zu einer Öffnung in der Decke und schob ihn hinein. Anschließend streckten und spreizten sich die Finger, ballten sich zur Faust, und der Arm zog sich wieder in die Warteposition zurück. Armer Freddy, ab zur Autopsie und dem abschließenden Eintrag in der Kartei.

Wie bei jeder Termination im Pferch versetzte sein Hinscheiden die übrigen Insassen in Aufregung, denn jeder hatte Angst, als nächster an der Reihe zu sein. Zum Glück für einige von ihnen gab es die vergnügliche Ablenkung eines Empfangskomitees für einen verwirrten weiblichen Cyberen. Ich beging die große Sünde, dem Neuankömmling bei der traditionellen Begrüßungszeremonie zu Hilfe zu kommen, was von meinen Mitinsassen als unverzeihliche Brüskierung betrachtet wurde. Zur Strafe wurde ich von allen geschnitten. Mir war's recht, denn so hatte ich reichlich Zeit, um über mein letztes Gespräch mit Freddy nachzudenken.

Ich kam zu dem Schluß, das mindeste, was ich zur Sühne für meine harten Worte tun konnte, war, seinen Rat zu befolgen; wie ich schon zu Micki Dee gesagt hatte, es gab für mich nichts zu verlieren, aber vielleicht einiges zu gewinnen, obwohl ich mir eine gewisse Skepsis vorbehielt. Dennoch begann ich das Experiment einer mehrstündigen Meditationsübung jeden Tag, unterteilt in Abschnitte von je dreißig Minuten, in denen ich ein Ende des Alterungsprozesses imaginierte. Natürlich hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wie ich dabei vorgehen mußte, da mir die Erinnerung an die Aquariertechnik fehlte, die Tad mich in Armstrong gelehrt hatte, wie auch an Andros Körper- und Geistmethode mit Molly II in Frontera, denn keine der beiden Episoden war bei der Verhandlung vorgeführt worden, doch ich vertraute darauf, daß meine Wahrhaftigkeit und lauteren Absichten als Kompensation mehr als ausreichten. Wenn ich so darüber nachdenke, deckte sich das genau mit Andros Attitüde. Mehrere Wochen lang entfernte ich mich nicht von meiner Matratze, fest entschlossen, mich bei der mir selbst gestellten Aufgabe von nichts und niemandem ablenken zu lassen. Doch kaum bemerkten die übrigen Insassen, daß ich den von ihnen ergangenen Ostrakismus auf diese Art nutzte und, schlimmer noch, davon zu profitieren schien – denn ich geriet nur noch selten in Zorn und verbreitete den milden Glanz einer sanguinischen Gemütsverfassung –, bekamen sie erst recht einen Haß auf mich und änderten ihre Taktik. Sie fingen an, mich bei jeder Gelegenheit zu verhöhnen. ›P-Zero‹ nannten sie mich, störten mich bei meiner Meditation, schlichen sich heran und brüllten mir ins Gesicht oder hielten mir die Ohren zu und begingen noch viele weitere kindische und gemeine Unverschämtheiten. Ich ertrug es bis zu einem gewissen Punkt, aber dann, wenn Konzentration und Selbstbeherrschung unwiderruflich dahin waren, keifte ich sie an: »Ihr dämlichen alten Droidenbastarde, gleich werde ich euch die Schaltkreise verbiegen!« Ja, ich stellte mich sogar mit ihnen auf eine Stufe und jagte die greise Horde durch den ganzen Pferch. Sie hielten es für einen herrlichen Spaß.

Nun, ich wäre vielleicht mit meinen Übungen fortgefahren, trotz ihrer Feindseligkeiten, hätte es das kleinste Anzeichen gegeben, daß meine Bemühungen Früchte trugen, aber nichts dergleichen. Im Gegenteil, ich verfiel zunehmend – wie meine Schicksalsgefährten nicht müde wurden, mir einzutränken –, und auch meine Kräfte schwanden stetig. Ich verlor den Mut und die Hoffnung, statt dessen wurde ich immer griesgrämiger und boshafter. Kurz gesagt, schließlich war ich genau wie sie, und man ließ mich in Ruhe. Einige gingen soweit, mich in ihren Kreis aufnehmen zu wollen, aber ich wies ihr Anerbieten zurück und hielt mich abseits, auch wenn ich in der Folge dem Trübsinn und Selbstmitleid anheimfiel.

Eine Ewigkeit verging (wenigstens kam es mir so vor), dann wurde ich zur nächsten Injektion abgeholt – eine Nachimpfung diesmal – und traf wieder mit Dr. Benway zusammen. Er war beunruhigt über mein Aussehen, allerdings nicht um meinetwillen – er attestierte mir, für meine zweiundsechzig noch ganz passabel beieinander zu sein; nein, er sorgte sich wegen der enttäuschenden Wirkung des Gegenmittels, das sich bis dato als ebenso ineffektiv erwiesen hatte wie die anderen in der Klinik entwickelten Substanzen. »Zu schade, daß ich dir kein anderes Serum verabreichen kann, Molly«, meinte er. »Seit unserer letzten Begegnung haben wir einige neue Testreihen begonnen, aber das würde die Kontinuität des Experiments ruinieren, deshalb fürchte ich, daß wir in diesem Fall weitermachen müssen wie bisher. Ich sehe dich zur nächsten Dosis, Anfang der Siebziger oder so.«

Drei bis fünf Monate später, nach meiner Rechnung, merkte ich, daß meine geistigen Fähigkeiten zu schwinden begannen, und stellte fest, daß es mir immer schwerer fiel, mein Pensum auf dem Laufband zu absolvieren; nach nur zehn Minuten war ich außer Atem und benötigte den Rest des Tages, um mich zu erholen. Unnötig zu erwähnen, daß ich mich nur schwer mit der unaufhaltsamen Entwicklung abfinden konnte. Wenn meine Kräfte es zuließen, unternahm ich melancholische Spaziergänge am Rand des Pferchs und achtete darauf, die Barriere als Orientierungshilfe immer rechter Hand zu behalten. Ich sann über die Sinnlosigkeit des Lebens nach und die unglaubliche Schlechtigkeit des Menschen – und auch des Homo androidus, denn letztere Spezies hatte sich in meinen Augen als ebensowenig liebenswert erwiesen. Ich fühlte mich beiden Lagern entfremdet, und ich verabscheute die Semis nebenan, die an ihren albernen Zeremonien festhielten – die tägliche Prozession und die blinde Verehrung von P-10. Es standen immer einige seiner Anhänger Wache vor dem Wigwam, also befand sich der heilige Eremit offenbar immer noch drinnen und tat der Chef weiß was. Die ergebensten seiner Anhänger gingen inzwischen völlig nackt, denn sie hatten die letzten Fetzen ihrer Hemden für die Wohnstatt des Heiligen gestiftet oder zur Auspolsterung seines Bettes. Na, das ist Charisma!

So weit, so gut, die Monate schlichen quälend langsam vorüber, und ich alterte unaufhaltsam. Regelmäßig verpaßte man mir neue Injektionen, die völlig wirkungslos blieben, wie Matilda es prophezeit hatte. Und so unternahm ich weiter meine deprimierenden Spaziergänge, obwohl mir auffiel, daß sie länger dauerten als zuvor. »Es geht wirklich dem Ende zu«, dachte ich. Ich war eine der Ältesten im Pferch. Fast alle Einheiten, die mich damals bei meiner Ankunft begrüßt hatten, waren längst dahingegangen. Der Anblick der Neuankömmlinge und auch der in mittleren Jahren befindlichen Einheiten war mir unerträglich, und sie ihrerseits schenkten mir wenig Beachtung. Kontakte, wenn es denn welche gab, beschränkten sich auf Zankereien wegen Kleinigkeiten. Ich kann mich entsinnen, eine von den Jüngeren gestoßen zu haben, weil sie mir nicht aus dem Weg gehen wollte. Ich verstauchte mir die Hand. Man stelle sich vor! Ich, ein P9, verstauchte mir die Hand, weil ich eine erbärmliche GA stübern wollte! Sie hatte den Nerv, darüber zu lachen.

Oh, und die Nachbarn hatte ich satt bis obenhin. Die waren der Gipfel. Der absolute Gipfel! P-10 war offenbar dazu übergegangen, seine Gebote eigens ausgewählten Schreibern zu diktieren – den Herolden, die aus ihrem eigenen Blut eine Art von hellroter Tinte herstellten, um seine Worte für die Nachwelt auf sorgfältig geschnittene und gebundene Seiten aus Tuch zu übertragen. Damit nicht genug. Nein. Der Oberherold hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, durch tägliche Predigten von einem bestimmten Platz hinter der Barriere auch unsere Seelen zu retten. Sein erhebendes Karma Sutra lautete etwa folgendermaßen: P-10, des Chefs bescheidener Diener, ist hierhergesandt worden, in die tiefsten Tiefen, um den Semis (des Chefs auserwählte Einheiten) die Tür zu den höheren Ebenen zu zeigen, die nur die Eingeweihten durchschreiten vermögen, denn sie wird eifersüchtig bewacht von den bösen Mächten der Menschheit.

»Soll doch dein P-10 die Barriere durchschreiten, wenn er so tüchtig ist!« stichelte ich eines Tages. Die Herausforderung wurde von den Insassen meines Pferchs aufgegriffen, die sich zu mir gesellt hatten. »Es ist unter seiner Würde, einem dermaßen respektlosen und ungehörigen Ansinnen zu willfahren«, ließ sich der Herold ein wenig trotzig vernehmen; doch wir ließen uns nicht abspeisen. Ich machte ihm hämisch krächzend das Angebot, vor seinem leuchtenden Antlitz niederzuknien, sollte er sich zu einem kurzen Ausflug auf unsere Seite entschließen können, denn was sollte man von seiner Behauptung halten, das transzendentale Fenster zu den höheren Ebenen durchschreiten zu können, wenn er sich davor drückte, seine Macht an dieser armseligen, von Menschen geschaffene Grenze unter Beweis zu stellen.

Kaum waren die Worte heraus, erlebte ich wieder das eigentümliche Prickeln, wie damals vor Gericht. Es steigerte sich zum Juckreiz, doch als ich kratzte, schmerzte meine Gürtelrose, also ließ ich die Sache auf sich beruhen. Im Augenblick interessierte mich die Reaktion auf unsere Herausforderung weit mehr. Der Herold war im Wigwam verschwunden, um sich mit P-10 zu beratschlagen. Nach fünf oder zehn Minuten kam er wieder zum Vorschein und verkündete, P-10 sei erzürnt über uns, weil wir unsere Zeit damit verschwendeten, kindische Spiele zu erdenken, um ihn auf die Probe zu stellen, während die Ewigkeit auf dem Spiel stand. Was wir von ihm verlangten, war außerdem lächerlich einfach – wir selbst konnten es bewerkstelligen, wenn unser Glaube stark genug war, und wäre das nicht die überzeugendere Demonstration?

Um ihn und seinen Boten zu verhöhnen, warfen sich einige der jüngeren und kräftigeren Einheiten gegen die Barriere und johlten: »Gelobt sei P-10!« Alle wurden zurückgeschleudert. Dann forderte ich den strengen und stimmgewaltigen Herold des Heiligen auf, es selbst zu versuchen. Wie nicht anders zu erwarten, verzichtete er und verschanzte sich hinter der Feststellung, solche Albernheiten seien bloße Zirkuskunststücke; P-10 hätte von einem transzendentalen Durchschreiten gesprochen; ein feiner Unterschied, den wir niederträchtigen alten Fürze vermutlich nicht begreifen konnten.

Dieser Impertinenz folgte die Rezitation der Saga der wundersamen Metamorphose von P-10, kommentiert von häufigen Pfiffen und Buhrufen. Wir erfuhren, daß von demütigen Anfängen als Waise P-10 zur herrschenden Gottheit seiner Zeit aufgestiegen war. Diese bemerkenswerte Verwandlung hatte übrigens in ihrem bescheidenen Pferch stattgefunden. Doch ich werde den Herold die Geschichte erzählen lassen. Er sprach aus dem Gedächtnis und zog nur dann das dicke Stoffbuch zu Rate, wenn unsere Zwischenrufe ihn wieder einmal aus dem Konzept gebracht hatten.

»Merket auf! Ich bin P-10, Semi, gezeugt und geboren von Mensch und P9!« verkündete der Herold. »Als Aquarier geboren, trieb ich Äonen auf dem sturmgepeitschten Meer, nahm auf den Bühnen droben unzählige Male menschliche Gestalt an und tat sie wieder von mir, doch kannte ich nicht mich selbst; wußte nur, daß Wasser mein Zeichen war, fließend, veränderlich und lebensspendend.

In meiner letzten Inkarnation war ich eine Berühmtheit auf der Bühne der Welt, ein Meister der Zeremonien: doch alles war eitel und dumm! Der Chef ließ mich altern, auf daß ich die Trivialität der Dinge erkennen möge, denn meine Gebieter – seine Werkzeuge – sagten, ich sei zu alt zum Steptanzen. Oh, es war Musik in meinen Ohren, wurde ich doch hierher gesandt nach seinem Plan.

Merket auf! Zu diesem Ort der Liebe hat der Chef in seiner ewigen Weisheit mich geleitet. Ja, hier in den tiefsten Tiefen von Benway wurde ich umsorgt von meinen Semibrüdern – dem gütigen, sanften, auserwählten Volk von Horizont. Sie entfachten aus der glühenden Asche der Selbsterkenntnis die darin enthaltene Flamme der Chefheit. Hier erwachte ich von dem Leben der vielen Leben, und hier werde ich das große Werk beginnen, des Chefs auserwählte Einheiten durch das Fenster zu den Höheren Ebenen zu führen – und all jene, die den Glauben haben, sollen gleichfalls erlöst werden.

Denn ich bin es auch, der euch den rechten Weg weist! Hütet euch vor der Wächterin der tiefsten Tiefen, denn sie wird euch in die Irre führen, wie sie es mit mir tat. Hütet euch vor diesem falschen und betörenden Geschöpf! Sie wird euch glauben machen, sie sei ein wunderschöner und aufrichtiger Androide. Doch das ist sie nicht! Sie ist eine Verführerin! Sie täuschte mich mit süßen und zärtlichen Küssen. ›Die Gebieter der höheren Ebenen sind nur Menschen‹, schnurrte sie mir ins Ohr und flehte mich an, von der Suche abzulassen.

Seid gewarnt! Leiht euer Ohr nicht diesem falschen Sukkubus, damit nicht auch ihr, die auserwählten Einheiten des Chefs, zu einem neuerlichen Lebenszyklus verlockt werdet, zu einem Leben der vielen Leben, das fließt und fließt, doch ohne Ziel. Laßt euch mein Beispiel zur Warnung dienen! Ich wußte nicht, wer ich war, noch was ich tat, doch spielte ich meine Rolle ohne Fragen, ohne Fehl. Ich kannte nicht mein wahres Format. Es wurde mir geraubt von der Handlangerin der Menschen, der wunderschönen Lügnerin. Geheißen wird sie Candida, und schon ihr Name birgt Gefahr!«

Der Sermon geht noch weiter, doch muß ich mehr sagen? Selbst ohne Gedächtnis war sein Name präsent. Lance. Lance London. Und dann – dann stach dieses verflixte Prickeln wie ein Dorn in eine ergiebige Ader von tief in den Nukleus meiner Phytozellen eingebetteten Resterinnerungen, und ans Licht kam: Junior! »Tad junior!« rief ich.

Der hagere, ausgemergelte frühere Star von Bühne und Holo trat aus dem Wigwam, reckte sich zu voller Höhe (nicht ganz, denn der Rücken war vom Alter gebeugt*), beschirmte die Augen mit der Hand gegen das grelle, künstliche Licht und schritt entschlossen in die Richtung, aus der meine Stimme ertönt war – unverkennbar die klagende Stimme einer leidgeprüften Mutter. Seine Anhänger knieten nieder, und die gesamte Bevölkerung meines Pferchs drückte sich gegen die Barriere, um einen Blick auf die weißhaarige Erscheinung mit den fanatischen Augen zu werfen, bei der es sich entweder um einen umnachteten Irren handelte oder um einen Weisen und einen heiligen Semi.

»Wer ist es, der mich Tahjuna nennt?« sprach er und blieb einen Meter vor der Begrenzung seines Pferchs stehen.

»Tad«, flüsterte ich matt. »Endlich.«

P-10 streckte die Hand aus, die Spitze seines Zeigefingers berührte die elektronische Barriere. Mit tönender Stimme erklärte er, mich zu kennen, auch in dieser neuen Gestalt, der Gestalt einer alten Frau, denn er wußte, wer sich dahinter verbarg: Candida, die schöne Zauberin und Lügnerin.

Ich legte die flachen Hände gegen die Barriere und erflehte seine Vergebung, denn obwohl meine persönlichen Erinnerungen an die Stallungen verloren waren, wußte ich aus den während des Verfahrens gezeigten Sequenzen und auch Dahlias Kommentaren, daß ich ihm in irgendeiner Weise geschadet hatte. Ich bat ihn, den Schmerz meines armen Mutterherzens zu lindern. »Ich bin es, deine Mutter!«

»Mutter?« Er lächelte; dann, mit einem Ausdruck unendlicher Weisheit, sagte er: »Nein. Der Chef ist Vater und Mutter. Aber du tust gut daran, Vergebung zu erflehen. Knie nieder, Candida, und empfange die Absolution, denn ich bin größer als du und fürchte dich nicht.«

Mit diesen Worten trat er unter den erstaunten Ausrufen von beiden Seiten durch die Absperrung seines Pferchs und legte die wenigen Schritte bis zu unserer Barriere zurück. Alle machten eingeschüchtert Platz, als er hindurchtrat, vor mir stehenblieb und seine abgezehrte Hand auf meinen Scheitel legte, denn ich war rasch niedergekniet, um seinen teuren Segen zu empfangen. Bei seiner Berührung schwand eine ungeheure Last von meinen Schultern, ich erhob mich gestärkt und umarmte ihn. »Oh, mein lieber Junge!« rief ich aus und küßte ihn. Er trug es mit vornehmer Fassung;. Der Chef weiß, was als nächstes passiert wäre, hätte sein Durchschreiten der Absperrungen nicht den Alarm ausgelöst. Der Greifer packte uns wie zwei zappelnde Mäuse und lieferte uns den Technikern aus.

Dr. Benway kam ins Untersuchungszimmer geeilt, dichtauf gefolgt von einem halben Dutzend Assistenten. Nachdem er von einem Sears, der Wache gestanden und gesehen hatte, wie mein Sohn die Barrieren überwand, über die Situation informiert worden war, tat er es als glücklichen Zufall ab, als eine Art begrenzten Stromausfall. Dennoch beunruhigte ihn das Ereignis, denn das abgeschlossene Environment von ›Kolonie 0‹ war beeinträchtigt worden, es bestand die Gefahr einer Verfälschung der Testergebnisse. Die Sicherheitsstandards mußten rigoros eingehalten werden, deshalb ließ es sich nicht vermeiden, den ganzen Pferch auszumustern. »Sammelt sie ein und exterminiert sie. Samt und sonders.« Er war furchtbar verärgert. »Verdammte Ungelegenheiten! Jetzt muß ich ganz von vorne anfangen!«

Als wir sediert wurden, verfluchte mein greiser Sohn ihn als dunklen Wächter der Wege zu den höheren Ebenen, und während wir auf den Behandlungstischen einzudösen begannen, erklärte er mit schwächer werdender Stimme, daß wir auf einer höheren Ebene erwachen und des Heils teilhaftig sein würden. Doch das letzte, was ich hörte, bevor mich das Sedativum überwältigte, war der gute Doktor, wie er laut über einen unvermuteten, guten Einfall nachdachte. Der Verlust – die gesamte Bevölkerung von ›Kolonie 0‹ – konnte durch einen raschen Verkauf an das Studio in Grenzen gehalten werden; dort hatte man immer Bedarf für Ausschuß.

An der Verkündigung von P-10 hegte ich gewisse Zweifel, aber nicht an den Absichten des guten Doktors. Also würde man mich als Ausschußware verbrauchen – eine Einheit wie mich. Was für ein erbärmliches Ende!

 

Mein Leben als Androidin
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