Es war der letzte Tag meines bisherigen Lebens. Danach war alles anders. Halloween 2001, das erste Halloween nach den Anschlägen, die mehr als nur ein Leben veränderten. Ich glaube nicht an Omen, aber was waren die Wahnsinnsflüge dieser Terroristen anderes als das? Ein Omen, das viele übersahen, weil es sie überwältigte. Denk mal darüber nach! Wenn alles mit allem zusammen hängt, dann war diese Katastrophe für uns alle ein Zeichen. Keines für die Masse, das meine ich nicht. Sie war eine persönliche Warnung an jeden Einzelnen. Und sie wollte mir sagen: Dieses Halloween wird dich verändern, Jakob, es wird dein Herz zerreißen und dich zu dem machen, was du verabscheust.

Als die Anschläge geschahen, machte ich mir keine Gedanken über ihren Einfluss. Wir nehmen die Dinge immer erst dann ernst, wenn sie uns betreffen. Oder kennst du jemanden, der tagtäglich die Verhungernden in Afrika beweint? Nein, solange es uns nicht direkt betrifft, bleiben wir gelassen. Doch das ist nur eine Maske. Nichts weiter. Es zählt, was darunter ist. Und davor fürchten wir uns, vor dem wahren Gesicht.

Alles beginnt mit einer Maske, die wir mit dem Verlust der Kindheit zu tragen beginnen, und alles endet im erstarrten Totengesicht. Auch meine Geschichte beginnt mit einer Maske. Denn bevor wir sie fallen lassen können, müssen wir sie erst einmal tragen.

Halloween, das Fest der Verkleidungen. Man trägt eine Maske über der Maske. Sozusagen. Und was wir an diesem Tag tragen wirkt echter als das, was darunter ist.

 

Meine Schwester und ich, wir feierten Halloween schon seit Kindertagen. Lange bevor dieses Fest so bekannt wurde in Deutschland, bevor du in jedem Supermarkt alles Notwendige erwerben konntest, was sonst nur zur Karnevalszeit erreichbar war. Meist nähte meine Schwester unsere Kostüme. Jedes Jahr waren es andere. Ob wir diesmal Räuber und Piraten oder Engel und Heilige sein wollten, hing stets von den Filmen und Büchern ab, die wir die Monate zuvor konsumiert hatten. Ich glaube, wir waren zehn Jahre alt gewesen, als wir das erste Mal um die Häuser zogen. Und wir waren schon fünfzehn oder sechzehn, als wir mehr wollten als das. Uns verlangte es nach anderen Kostümen, nach intensiveren Erfahrungen.

Es begann mit den Filmen, die wir schauten. Oder es begann schon davor, mit unserer Neugier, sie schauen zu wollen. Passend zum Festtag sahen wir nun alljährlich Halloween, den Klassiker von John Carpenter. Jahre bevor Rob Zombie ein Remake drehen sollte, das mir den Atem verschlug. Nein, eine bestimmte Szene verschlug mir den Atem. Weil sie mich an das Halloween nach den Anschlägen erinnerte.

Es war also der Klassiker von 1978, der mich dazu inspirierte, ein Messer aus dem Besteckkasten unserer Eltern zu nehmen – das lange Fleischermesser natürlich, nicht so lang wie im Film und doch imposant – und am besagten Abend hinter meiner Schwester herzulaufen, einen irren Blick zu imitieren und ihren Namen zu schreien.

„Larissa!“, schrie ich und bemühte mich um eine kratzige, tiefe Stimme, „Larissa, ich werde dich kriegen und zerrr-fetzzzz-eeen! Du kannst mir nicht entkommen!“

Meine Schwester versuchte nicht zu lachen, wenn sie bei der Jagd durch das Wohnzimmer lief, an unseren Eltern vorbei, und dabei um Hilfe rief.

„Er ist verrückt geworden! Mama! Papa! Tut doch was! Jakob ist verrückt geworden!“

Ich sehe sie noch heute vor mir, das Mädchen Larissa. Ihr Körper nicht ganz ausgewachsen, ein wenig zu dünn, zu schlaksig, und ihr fehlte noch das nötige Selbstvertrauen, um sich mit der Anmut einer jungen Frau zu bewegen. Ihr blondes Haar wippte auf und ab. Sie sprang beim Laufen. Und ich sehe ihre Ellenbogen, wie sich die Arme beugten und streckten während des Laufs.

Das Einzige, was unsere Eltern taten, war zu überlegen, ob sie uns verbieten sollten, diese Filme zu sehen. Es waren immer diese Filme, die unser Vater von einem Arbeitskollegen auslieh und selbst niemals schaute. Insgeheim hofften Larissa und ich, dass unsere Eltern lachend den Kopf schüttelten, wenn wir schließlich weg waren am Halloween-Abend. Vater würde unserer Mutter in der Küche auflauern und sie so erschrecken, wie meine Schwester und ich es untereinander taten. Ich habe nie erfahren, ob es so geschehen war, aber ich mag die Vorstellung.

Für Süßes oder Saures waren wir zu alt geworden und die Nachbarn in unserem Dorf hatten das Spiel nie ganz verstanden. Als Teenager waren Partys angesagt, auf denen wir Alkohol trinken und uns für das andere Geschlecht aus den Augen verlieren würden. So symbiotisch wie wir aufgewachsen waren, zweieiige Zwillinge waren wir, so sehr sehnten wir uns nach fremden, zärtlichen Berührungen, die über das Streicheln des Rückens und Küsschen auf die Wange hinaus gingen. Es war auf Madlens Halloween-Party, dass wir beide unsere Unschuld verloren, als hätten wir uns abgesprochen.

Mit unserer Volljährigkeit änderte sich noch mehr. Nicht nur, dass wir endlich den Führerschein machten und uns eine gemeinsame Wohnung suchten. Vor allem war es uns nun erlaubt, in Videotheken zu stöbern. Wir mussten uns nicht mehr auf die Auswahl des Arbeitskollegen unseres Vaters verlassen. Und noch mehr, wir durften uns die Filme legal kaufen. Damals gab es noch nicht diese Angebote. Besonders nicht zu Filmen, die man ungeschnitten, mit jeder noch so blutrünstigen Szene haben wollte. Man gab so viel Geld dafür aus, das heute für fünf Filme reicht. Doch Larissa und ich, wir wollten das ganz große Kino für Zuhause. Von unseren ersten Gehältern ersparten wir uns eine Laserdisc-Anlage, das Beste, was damals zu haben war. Und jetzt rate mal, welchen Film wir uns als erstes für dieses Medium besorgten.

Ich werde diesen Tag nicht vergessen. Trotz unseres Alters nun – ich glaube, wir waren zwanzig – und trotz der Ernsthaftigkeit, mit der uns das Leben jetzt begegnete – unsere Mutter litt seit geraumer Zeit an Brustkrebs und Vater verlor gerade seine Arbeitsstelle – wurden wir für diesen einen Moment in unsere Kindheit zurück versetzt. Wie sehr wir uns stets gefreut hatten, wenn unser Vater neue Filme mit nach Hause brachte, Nightmare und American Werewolf, Basket Case und American Monster, Die Todesparty und Hellraiser – doch noch tiefer war diese Art von Freude, als wir die Laserdisc von Halloween in der Hand hatten. Die Erfüllung eines lang gehegten Traumes.

Aber da war noch etwas anderes, das unseren Kauf erst vollkommen machte. Der Laden, in dem wir unsere Filme erwarben, verfügte auch über ein Regal voll Merchandising. Etwas, das du heute im weiten Netz auf Knopfdruck bestellen kannst, schien damals noch für gewöhnliche Menschen in Deutschland unerreichbar – außer du warst ein Star Wars-Fan, aber das waren meine Schwester und ich nie. Damals war es noch etwas Besonderes, Freddys Krallen in die Hand zu nehmen oder sie sogar anzuziehen und Leatherface im Miniaturformat zu erblicken, wie er seine Kettensäge schwang, oder Pinhead mit dem Würfel in seinen Händen. Und da waren auch diese Masken.

Ich sagte ja, alles beginnt mit einer Maske.

Passend zu unserer ersten Laserdisc kaufte ich mir vom Geld, das für das Sparen auf ein Auto bestimmt gewesen war, Michaels Myers Halloween-Maske. Ja, damit begann es. Mit dieser verfluchten Maske. So oft habe ich mir in den letzten Jahren gewünscht, sie niemals gekauft zu haben. Manchmal wünsche ich mir sogar, dass es diesen Laden nie gegeben hat. Aber wenn du es realistisch haben willst, zumindest hätte ich verhindern können, diese Maske zu tragen. Doch wer konnte es ahnen? Ich nicht, wir beide nicht. Du vielleicht? Weißt du, was kommt? Oder glaubst du es nur zu wissen?

 

Wir verließen nie unser Dorf. Und unsere Eltern waren so tief mit der Umgebung verbunden, dass sie nie auf den Gedanken gekommen wären. Auch Madlen zog nicht weg und ihre Partys zu Halloween erlangten einen gewissen Ruf in unserem Dorf und seiner Umgebung. Jeder unter Dreißig fühlte sich an jenem Abend dazu aufgerufen, dorthin zu gehen. Man könnte sagen, Madlens Feier etablierte das Fest, zumindest bei uns. Ihre Eltern gewährten der feiernden Masse stets uneingeschränkten Zugang, außer in ihr Schlafzimmer natürlich, in dem Larissa aber damals ihre Jungfräulichkeit verloren hatte, so wie ich meine in Madlens Bett.

Es war das Jahr von Scream, als ich zum ersten Mal die Maske des Michael Myers trug. Das muss 1997 gewesen sein, als die Hommage an das Slasher-Genre auf die Leinwand kam. Es war auch das Jahr, in dem Madlen aus ihrer Feier ein größeres Ereignis machte – mit einer Leinwand, auf der Klassiker gezeigt wurden, tonlos während Musik spielte, außer bei Halloween, den die meisten Gäste gebannt verfolgten, während vereinzelt Pärchen irgendwo rummachten.

Im Esszimmer fand sich eine lange Buffet-Tafel, auf der neben den obligatorischen Hackbällchen, Broten und Salaten auch Schalen standen, in die Neuankömmlinge mit verbundenen Augen greifen mussten. So wurden geschälte Pflaumen zu Augäpfeln, rohe Bratwürste in Ketchup zu Innereien und Plastik-Insekten zu einer beißenden Bedrohung. Die meiste Zeit spielte laute Musik und es gab jede Menge zu trinken. Wahrscheinlich waren Larissa und ich nicht die Einzigen, die den 31. Oktober mehr herbei sehnten als sonst einen Feiertag.

So gerne ich Madlen auch mochte, aber sie gehörte nicht zu uns, zu den Anhängern von Horrorfilmen, ihren Mythologien. Ich glaube, sie wollte nur ausreichend soziale Kontakte um sich wissen. Darum tat sie sich so schwer damit, als es vorbei war, als keiner mehr auf ihre Partys gehen wollte, nach dem, was 2001 geschehen ist.

 

Ich trug Michael Myers Halloween-Maske. Das Erste, was mir in den Sinn kam, war, mich zu fragen, wie er es all die Stunden, wahrscheinlich Tage oder Wochen darunter aushalten konnte. Ich schwitzte schon nach zehn Minuten und das Ding stank erbärmlich nach Plastik. Aber für den Effekt wollte ich sie die Nacht über tragen, nur hin und wieder anheben, um zu trinken oder eine zu rauchen. Ich wollte eine Rolle spielen. Nicht selten gelang es mir, die Leute um mich zu erschrecken, nur weil ich in ihrer Nähe stand und so tat, als würde ich sie beobachten. Mein Kostüm war ein Overall, den mein Vater mir stets lieh. Und ich hatte mir passend zum Fest ein eigenes Fleischermesser besorgt, das es mit der Länge aus dem Film sehr gut aufnehmen konnte.

In dem einen oder anderen Moment, wenn du es gar nicht erwartet hättest, dann wärst auch du erschrocken zurück gewichen. Du hättest deinem Gesprächspartner zugeflüstert: Wer ist denn dieser Psychopath? Der steht einfach nur da und bewegt sich kein Stück. Und dieses verfluchte Messer ist so lang wie sein Unterarm. Wenn du Glück gehabt hättest, wusste die Person, mit der du sprachst, dass ich es war, und sie hätte geantwortet: Das ist Jakob, Larissas Bruder. Das macht er immer so. Aber meistens wussten sie es nicht und es hieß nur: Keine Ahnung. Komm', lass uns verschwinden! Der Typ ist mir unheimlich.

So erwuchs ich oder besser mein Kostüm über die nächsten zwei Jahre zu einer eigenen Attraktion auf Madlens Partys. Neue Anwohner oder Freunde von Freunden, die nur zu Besuch waren, waren stets so zahlreich, dass der Gag nicht langweilig wurde. Während meine Schwester sich also jedes Jahr ein neues Kostüm einfallen ließ (Hexe, Mrs. Vorhees, Zombie, Vampirella), so blieb ich meiner Maske treu. Unsere morbide Faszination ging so weit, dass Larissa mich mit Michael ansprach, kaum hatte der Monat Oktober begonnen. Ich glaube, eines Tages wären wir aus diesem Quatsch heraus gewachsen – man ist irgendwann immer zu alt für irgendwas – aber dafür bekamen wir keine Chance.

Halloween 2001. Du liest diese Geschichte, um zu erfahren, was in jenem Jahr geschehen ist. Was interessieren dich meine Erinnerungen? Du willst doch immer gleich zur Sache kommen. Tut mir leid, wenn es nicht so war. Nein, eigentlich tut es mir nicht leid. Es ist meine Geschichte und du musst mit mir Schritt halten. Es ist schmerzhaft genug, daran zu denken, also kümmere ich mich nicht weiter um deine Forderungen.

 

Madlens Party. Mittlerweile war Scream längst für das Heimkino erschienen, das zunehmend von der DVD beherrscht wurde. Es war das erste Jahr, in dem sie ein Double Feature zeigen wollte. Schließlich sah man meine Maske auch in diesem Film, wenn auch nur kurz. Alles war wie immer, als wir in ihrem Haus eintrafen. Larissa ging diesmal als Mortisha Adams und kam mir in ihrem Kostüm fremd vor. Das gefiel mir, weil es das Besondere an diesem Abend unterstrich. Das Anders-Sein.

Wir waren die Ersten, wie immer eine Stunde zu früh. Ich nutzte dann stets die Gelegenheit, ohne Maske zu sein. Sobald es an der Tür klingelte, würde ich sie aufsetzen und einen weiteren Abend zwischen Euphorie und Hyperventilation verbringen. Madlen sah an diesem Abend umwerfend aus, eine nahezu perfekte Monroe-Kopie. Ich war versucht, die alte Geschichte zwischen uns aufzuwärmen, obwohl ich wusste, dass Larissas Freund Martin seine Schwester mitbringen würde. Vielleicht war ich an diesem Abend zu sehr abgelenkt gewesen, zu sehr in meinen widersprüchlichen Gefühlen und dem Verlangen nach Sex gefangen, als dass ich es früher hätte bemerken können. Etwas stimmte nicht, aber es war nur ein Grummeln im Bauch, das ich für Hunger hielt.

Gegen zehn Uhr am Abend war das Haus voll. Mit voll meine ich wirklich voll! Geister und Feen, Serienkiller und Frankensteins Monster, Hexen, Vampire, Sportler, Berühmtheiten, sie alle waren über das Anwesen verteilt, eine Armada skurriler Figuren. Sie saßen auf der Treppe im Flur und im Garten, einige standen sogar vor dem Haus. Nur das Schlafzimmer der Eltern blieb unbegehbar. Sie hatten es vor ihrem Abschied verschlossen – ich weiß das, weil ich probierte, die Tür zu öffnen. Nur für den Fall, dachte ich, und wurde enttäuscht.

Die Musik war an und der Bass dröhnte durch das Haus, brachte den Boden zum Beben. Einige tanzten schon. Noch lauter sogar waren einzelne Gespräche oder das Grölen der Jüngeren, wenn sie sich gegenseitig erschreckten oder sich anfeuerten, ein volles Glas Whiskey auszutrinken. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu gekommen war, aber ich saß schließlich zwischen Madlen und Martins Schwester Sarah auf dem Sofa vor dem Fernseher, vor den später die Leinwand gelassen wurde, und beide Frauen hatten jeweils eine Hand auf meinen Oberschenkeln.

Vielleicht war es das Blut, das mir aus dem Kopf und in die Hose gerutscht war oder Sarahs tiefer Ausschnitt ihres Engelskostüms. Ich weiß auch das nicht. Als jemand direkt vor mir stand, erkannte ich ihn zunächst nicht, so abgelenkt war ich. Ganz in schwarz gekleidet – aber hey, das waren viele an diesem Abend, ob Kleid oder Hose – erst als ich aufblickte, erkannte ich meine Schwester. Larissa hatte sich für ihre Rolle bleich geschminkt, aber unter ihrem Make-up lag das echte Entsetzen.

„War er die ganze Zeit hier?“, fragte sie Madlen, doch Sarah antwortete dafür: „Wo soll er denn sonst gewesen sein? Und wo ist Martin?“

Larissa starrte einen Moment unentschlossen auf die beiden Hände, die meine Oberschenkel streichelten, dann verschränkte sie die Arme vor der Brust. Sie sprach in einem Ton, den ich noch nie vernommen hatte, zumindest nicht aus ihrem Mund.

„Nimm die Maske ab, Jakob!“, befahl sie.

Es muss skurril ausgesehen haben, aber andererseits, was war nicht skurril an diesem Abend? Für meine Schwester brach ich meinen Eid und hob die Maske über den Kopf. Eigentlich war ich froh darüber. Endlich kam Luft an mein Gesicht und durch die offene Veranda-Tür wehte ein leichter Wind herein. Madlen und Sarah nahmen ihre Hände von mir, standen auf und verschwanden im Getümmel der Feierenden. Larissas Ausdruck war erleichtert. Sie blickte mich an, als ob sie mich noch nie gesehen hätte oder einen lange verloren geglaubten Menschen endlich entdeckt hatte. Dann stürzte sie nach vorne, fiel mir um den Hals und setzte sich auf meinen Schoß, als sei sie ein Kind, das beschützt werden wollte.

„Ich bin so froh, dich zu sehen, Jakob“, flüsterte sie. Ich hatte Mühe, alles zu verstehen, obwohl ihre Lippen direkt an meinem rechten Ohr waren.

Das merke ich. Was ist denn los?“ Wie der Bruder, der ich war, streichelte ich über ihren Rücken, um sie weiter zu beruhigen.

Madlen und Sarah hatten sich etwas zu trinken besorgt und waren nun zurückgekehrt. Sie reichten uns je ein Bier und wirkten wenig irritiert, dass meine Schwester sich an mich klammerte, und setzten sich zu uns.

„Alles klar?“, fragte Madlen und streichelte ihr ebenfalls über den Rücken.

Ich muss hier raus“, sagte meine Schwester, stand von mir auf und nahm meine Hand. Sie brauchte nichts weiter zu sagen. Wir gingen in den Garten und suchten uns eine Stelle unter Bäumen, etwas abseits, setzten uns auf zwei Steine. Dort verharrten wir ein paar Sekunden in Stille, bis wir mit unseren Flaschen anstießen.

Sagst du es mir jetzt?“, fragte ich. Aber ich meinte es nur zur Hälfte ernst. An diesem Abend war ich nie ganz bei ihr gewesen. In meinem Kopf flackerte stets der Gedanke auf, ich würde heute mit Madlen und Sarah im Schlafzimmer verschwinden. Welcher Mann wäre dadurch nicht abgelenkt gewesen? Doch es hätte mir zu denken geben müssen. Ich hätte mehr unternehmen müssen. Irgendwas. So wurde das, was Larissa mir dort draußen im Dunkeln des Gartens erzählte, lediglich ein unheimliches Vorspiel zu dem, was ich mir vom Abend erwartete. Eine Gruselgeschichte, die zu keinem anderen Tag im Jahr gepasst hätte.

Sie sagte: „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Wenn ich das Ende erzähle, hältst du mich bestimmt für verrückt.“

„Dann fange am besten beim Anfang an“, sagte ich und legte einen Arm um sie. Es war etwas windig und Regen lag in der Luft. Schließlich war Herbst und wir hatten unsere Jacken im Haus gelassen. Nun, mein Overall schützte mich vielleicht vor der Kälte, aber Mortisha Adams' Kleid war aus einem dünneren Stoff.

Ich hatte Stress mit Martin“, fuhr sie fort, „er wollte es unbedingt in Madlens Bett tun. Du weißt schon. Und tu nicht so, als ob du nicht wüsstest, wovon ich rede, Jakob. Es ist aber etwas ganz anderes, wenn man es mit Madlen selbst in ihrem Bett tut. Außerdem hatte ich Lust zu tanzen und nach dem Sex hätte ich mich zu müde dafür gefühlt. Also ging ich wieder hinunter – er hatte mich nämlich unter einem Vorwand nach oben gelockt. Doch anstatt dass er gute Miene zum bösen Spiel machte, keifte er mich an, was für eine verkrampfte Tusse ich wäre. Okay, in letzter Zeit lief nicht viel zwischen uns. Aber ich sehe nicht ein, warum er deswegen so ein Arschloch sein musste.

Jedenfalls hat er die Party verlassen. Erst wollte ich mich betrinken, aber schon beim ersten Schluck Cola Rum wurde mir schlecht. Ich hatte keine Lust, mit Madlen darüber zu sprechen und schon gar nicht mit Sarah. Die hätte mir womöglich noch vorgeworfen, dass ich ihren Bruder nicht richtig befriedige. Also suchte ich dich. Konnte ja nicht ahnen, dass du mit den beiden warst.“

Sie hörte auf zu reden, hob ihren Kopf und starrte in den dunklen, bewölkten Himmel. Ein Seufzen entfuhr ihr und ich drückte kurz an ihrer Schulter, dann legte sie ihren Kopf an mich. Eine Geste, die ich noch heute vermisse, weil sie die Nähe und Vertrautheit widerspiegelte. Wenn ich mich entscheiden muss, an was ich mich am liebsten erinnere, dann ist es das. Ihren Kopf an meiner Schulter, das Haar kitzelt sanft meine Nase und ihr Atmen passt sich dem meinen an. In diesen Momenten waren wir eins.

Aber jetzt hast du mich ja gefunden“, sagte ich, „und du hast mir das Ganze erzählt. Ich finde, Martin ist es nicht wert, dass du dir den Abend...“

Sie hob ihren Kopf, dass ich abrupt verstummte. In ihren Augen lag wieder dieses Entsetzen, das mich schon vorhin irritiert hatte.

„Du verstehst nicht, Jakob. Ich dachte, ich hätte dich schon gefunden, bevor ich es tatsächlich tat.“

Das musst du mir erklären“, sagte ich und trank einen Schluck Bier. Larissa nickte und nahm ebenfalls einen Schluck, einen tiefen, ausgiebigen. Als musste sie sich Mut antrinken.

Eigentlich ist es leicht, dich auf so einer Party zu finden, Jakob. Ich halte einfach Ausschau nach Michael Myers. Als ich ihn im Wohnzimmer nicht fand und auch nicht im Garten, ging ich zur Haustür hinaus. Ich sprach Florian an. Weißt du, mit dem ich arbeite. Aber er zuckte nur mit den Schultern, bis seine Freundin bemerkte: Geht Jakob nicht als Michael Myers? Da hinten steht er. Und wirklich, da warst du. Oder ich glaubte, dass du das warst. Auf der anderen Straßenseite unter einem Baum stand Michael Myers. Im Dunkeln sah er genauso aus wie du in deinem Kostüm. Die weiße Maske, die nach William Shatners Gesicht geformt ist, der graue Overall, die schweren, dunklen Stiefel. Er stand einfach da, unter dem Baum im Schatten, wie im Film, wenn er Laurie die ersten Male auflauert. Ich verließ die Gruppe vor dem Haus und rief dir schon von Weitem zu. Was machst du da? Warum bist du nicht drinnen? Willst du hier den Stalker spielen? Ich lachte sogar, als ich die Straßenseite wechselte, weil mich der starre Anblick kurz von Martin ablenkte. Als ich dich endlich erreicht hatte, rührtest du dich immer noch nicht. Da schlug ich sachte gegen deine Schulter.

Hör zu, Jakob, sagte ich, ich muss mit dir reden.

Als du dich immer noch nicht bewegtest, wurde ich langsam sauer. Ich dachte, du musst doch wissen, wenn etwas Wichtiges los ist. So, wie du es immer weißt.“

„Aber ich war es nicht“, stellte ich fest.

Nein, Jakob“, bestätigte meine Schwester und trank wieder, „das warst du ganz bestimmt nicht. Als ich schließlich ungeduldig wurde, bat ich dich, die Maske abzunehmen. Wenn du hier so einen Scheiß abziehst, will ich dir dabei wenigstens in die Augen sehen. Und du bewegtest dich noch immer nicht, ich meine, er... Er blieb einfach stoisch stehen.

Dann reichte es mir und ich packte die Maske am Hals.

Schon als ich sie hoch schob – er wehrte sich nämlich nicht – war irgendetwas ganz falsch. Die Haut war so bleich und rosa wie von frischem Fleisch. Aber ganz schrumpelig, viel zu viele Falten. Das konntest du nicht sein, dachte ich, aber es war zu spät. In meiner Wut war die Handlung nur eine kurze Bewegung. Ich zog die Maske über seinen Kopf.

Er packte mein Handgelenk, so fest, dass mir noch jetzt der Knöchel schmerzt. Er riss mir die Maske aus der Hand und stieß mich zurück. Jetzt konnte ich zum ersten Mal in sein aufgerissenes, fleischfarbenes Gesicht blicken und schrie auf.

Seine Augen waren ohne Lider und ragten aus ihren Höhlen hervor, dass ich fürchtete, sie würden gleich herausfallen. Seine Nase war überzogen mit Knorpeln und eitrigen Pickeln. Aus einigen sickerte eine grünliche Flüssigkeit. Die Haut war so bleich und rosa wie der Hals, vernarbt und sie schimmerte klebrig im Mondlicht. Am schlimmsten war sein Mund. Zuerst dachte ich, er grinste. Aber es waren nur zwei tiefe Schnitte, die seine Wangen hinauf führten. Seine Lippen waren aufgeplatzte, schmale Hautfetzen und sein Kopf war umgeben von wirren Haaren, mal lange Büschel, mal kurze Borsten, dann wieder freie Hautstellen.

Es war eine fürchterliche Fratze, Jakob.“

Von allen Reaktionen, die ich meiner Schwester an jenem Abend hätte zeigen können, wählte ich eine, die ich bis heute bereue. Ich lachte. Kurz nur, aber es machte deutlich genug, dass ich Larissa nicht wirklich ernst nahm.

Verdammt, Jakob, ich hatte solchen Schiss! Ich bin sofort weggerannt. Erst, als ich wieder bei der Haustür war, habe ich mich umgedreht. Da sah ich, dass der Typ mittlerweile die Straßenseite gewechselt hatte und zum Eingang am Zaun schritt. Er folgte mir! Nach allem, was ich weiß, könnte er jetzt auf der Party sein. Darum habe ich eben so reagiert, als ich dich auf dem Sofa sah.“

Okay, jetzt beruhige dich. Nehmen wir mal an, da war jemand... Nein, widerspreche mir nicht, Larissa. Heute ist Halloween. Woher soll ich wissen, dass du mich nicht verarscht? Du weißt, dass wir das häufiger tun.“

Ich verarsche dich NICHT!“, schrie sie.

Gut, du verarscht mich nicht. Dann muss doch jetzt ein zweiter Michael Myers auf der Party sein, oder? Ich mache dir einen Vorschlag. Ich suche das Haus ab. Wenn er nicht da ist, mache ich weiter, wo ich aufgehört habe. Wir machen beide weiter, wo wir aufgehört haben, okay? Entspanne dich. Was soll schon passieren? “

Larissa nickte, ihr Blick glasig, die Lippen aufeinander gepresst. Wie gesagt, ich hätte so viel mehr bemerkt, wenn ich nicht von den beiden Frauen abgelenkt gewesen wäre. Dass Larissa kurz davor war zu weinen, zum Beispiel. Dass sie sich aus meiner Umarmung befreit hatte, als sei ich ein lästiger Verehrer. Das hatte nichts mehr mit ihrer unheimlichen Begegnung zu tun, sondern mit dem Spott, den ich ihr als Bruder entgegen brachte. Ich gebe zu, damals hat mich das Ganze amüsiert. Wir beide als die Jäger einer unheimlichen Fratze an Halloween. Auf einer Party, wo doch jeder unheimlich sein wollte. Du musst zugeben, der Gedanke ist amüsant.

Natürlich fanden wir den zweiten Michael Myers nicht. Ich bat Madlen sogar, das Schlafzimmer ihrer Eltern aufzuschließen, um sicher zu gehen, dass er sich nicht dort versteckte. Larissa zeigte mir auch die Stelle draußen auf der anderen Straßenseite und wir schalteten für kurze Zeit das Flutlicht im Garten ein, um alles überblicken zu können. Als wir in den Keller gingen, schlossen sich uns kurzerhand andere Feiernde an, die die Gelegenheit nutzten, um sich dort unten gegenseitig zu erschrecken. Wir sparten auch den Dachboden nicht aus. Nicht wie im Film Black Christmas, in dem der Killer bis zuletzt oben seine Leichen unbehelligt verborgen hatte.

Die Fratze war nirgends zu finden, jedenfalls nicht im Umkreis der Party. Einem mulmigen Gefühl schenkte ich keine weitere Beachtung. Vielleicht dachte ich, das kam vom Alkohol. Heute weiß ich, es war die Sorge um Larissa. Aber ich fragte sie nur kurz, ob nun alles okay war, ob sie jetzt sicher war, dass die Fratze nicht hier herum lungerte. Und als sie nickte, reichte mir das.

„Ich gehe was trinken“, sagte sie, „Amüsiere dich, Jakob.“

Meine nächste Entscheidung kann ich ebenso wenig rückgängig machen, wie alles zuvor auch nicht, aber sie bereue ich am meisten. Anstatt bei meiner Schwester zu bleiben und dafür zu sorgen, dass sie trotz allem noch einen angenehmen Abend hatte, suchte ich nach Sarah und Madlen und verschwand mit den beiden im Schlafzimmer. Diesmal verschlossen wir es von innen.