KAPITEL 18

Noch vierundzwanzig Stunden bis zur Übergabe, und sie waren keinen Schritt weiter. Nur eines wussten sie: Ihr Versteck war aufgeflogen. Sie mussten von hier fort, bevor Schlimmeres passierte, als dass nur das Boot abtrieb.
Christoph war schon dabei, seine Sachen wieder in den Rucksack zu packen. Dabei beschäftigte ihn die Frage, wo sie nun hinsollten. Vermutlich blieb nichts, als nach Hause zurückzukehren. Er wusste zwar noch nicht, wie er das seinen Eltern erklären sollte, aber das spielte im Moment nur eine untergeordnete Rolle. Die wichtigere Frage war: Wie bekamen sie schnell heraus, was hinter den Daten steckte, um sich, wie von Laura vorgeschlagen, an einen Journalisten wenden zu können?
Laura verstaute alle eingekauften Lebensmittel in einer großen Plastikkiste.
„Es kann nicht anders sein“, sagte sie, „die haben uns wirklich nur entdeckt, weil sie dein Handy geortet haben. Das ist ja nun nicht mehr bei uns. Wenn ich mein Telefon auch noch ausschalte, können wir immer noch untertauchen.“
Besonders überzeugend fand Christoph die Idee nicht. Bisher hatten seine Verfolger alles von ihm gewusst, als ob er rund um die Uhr beschattet wurde, was vielleicht auch der Fall war. Jedenfalls schien der Gegner mächtiger zu sein, als dass sie so einfach von der Bildfläche verschwinden konnten.
„Trotzdem“, widersprach Laura und betrachtete nachdenklich eine halb leere Colaflasche. „Wir müssen zum Gegenangriff übergehen. So, wie wir geplant haben.“
„Über Facebook?“ Christoph zuckte resigniert die Schultern. „Wir haben doch noch immer kein Foto von dem Typen.“
„Aber wir haben ein verbranntes Auto!“, erinnerte Laura ihn. „Und ich denke, die Polizei ist für jeden Hinweis dankbar. Schließlich kennen wir sein Nummernschild.“
Eigentlich keine schlechte Idee, fand Christoph. Andererseits wusste er nicht, wie der Motorradfahrer reagieren würde, wenn er ihn bei der Polizei meldete.
„Wer spricht von dir?“, fragte Laura. Sie ließ die Lebensmittelkiste stehen, wühlte sich durch nach hinten zur Koje und holte ihr Netbook hervor. „Das müssen Benni und Lukas mit übernehmen! Wenn mehrere Zeugen unabhängig voneinander bestätigen, dass sie den Motorradfahrer in der Nähe von Autos gesehen haben, die kurz danach brannten, machen sie dem Typ die Hölle heiß!“
Laura kam wieder nach vorn, startete den Computer, schob den Internet-Stift hinein und tippte eine E-Mail an ihren Bruder Daniel, weil sie die Aufnahme des Nummernschildes von Christophs Handy benötigten. Anschließend rief sie Lukas an, um ihren Plan mit ihm zu bereden.
Christoph hörte zu und steckte dabei den Kopf aus der Kajüte, um den Bootssteg und die Straße im Auge zu behalten. Vielleicht lag der Motorrad-Typ wieder auf der Lauer?
Daniel schien gerade ebenfalls am Computer zu sitzen. Denn noch bevor Laura ihr Gespräch mit Lukas beendet hatte, erschien auf dem Netbook eine Antwortmail. Sie schaute mit einem Auge drauf, redete dabei weiter mit Lukas, zeigte auf den Bildschirm und drückte Christoph das Netbook in die Hand.
Er las die Mail von Daniel, der ihnen mitteilte, dass mehrere Anrufe auf dem Handy eingegangen waren. Die meisten von Benni und Lukas, aber dann erschien noch eine Nummer, die nicht in Christophs Telefonverzeichnis auftauchte und die er noch nie gesehen hatte. Eine Festnetznummer, ziemlich lang. Vielleicht eine direkte Durchwahl.
Laura beendete das Gespräch mit Lukas.
„Alles klar“, sagte sie. „Er wird das regeln mit der Polizei.“
„Und wir?“, fragte Christoph und zeigte ihr die Mail mit der Telefonnummer. „Ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte.“
Sie rief ein Telefonbuch mit Rückwärtssuche auf, ließ die letzten drei Zahlen, die sie für die Durchwahlnummer hielt, weg, tippte stattdessen eine Null ein und die Enter-Taste.
„Bingo!“, rief sie. „Du glaubst nicht, wer dich da angerufen hat.“
„Sag schon!“
„Dein Finanzamt!“
„Hä?“ Christoph glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Das Finanzamt? Was wollte das von ihm? Das hatte ihn noch nie angerufen. Woher hatten die überhaupt seine Handynummer?
„Hast du schon mal eine Steuererklärung abgegeben?“, fragte Laura.
Er verneinte. Noch nie!
Laura verzog das Gesicht. „Vielleicht ist das der Grund des Anrufes? Ich meine, du jobbst doch im Getränkemarkt? Verdienst also Geld. Musst du das nicht versteuern?“
Nicht, soweit er wusste. Gleich an seinem ersten Arbeitstag hatte er Thomas, den Chef des Marktes, gefragt.
Nicht nötig, hatte der geantwortet. Christoph jobbte nur samstags vormittags, verdiente gerade mal 130 Euro im Monat. Da bräuchte er keine Steuererklärung abzugeben.
Laura zog die Schultern hoch. „Ich hab da keine Ahnung.“
Das fehlte ihm gerade! Um sich jetzt auch noch um Steuerformalitäten zu kümmern, fehlte ihm im Moment wirklich jeglicher Nerv. Und plötzlich fiel ihm ein: „Was mache ich denn eigentlich, wenn ich eine Million verdiene? Mit dem Finanzamt, meine ich.“
Laura sprang auf und schaute ihn böse an. „Du verdienst keine Million! Verstanden? Wir lassen uns auf keinen Deal mit Gangstern ein. Was glaubst du, wozu wir den ganzen Mist hier machen?“
Abwehrend hob er die Hände. „Schon in Ordnung!“
Aber um den Anruf sollte er sich kümmern. Den Job im Getränkemarkt zu verlieren, konnte er sich nicht leisten. Also musste da alles seine Ordnung haben. Er lieh sich Lauras Handy und tippte die Nummer ein.
Besetzt. Er versuchte es gleich ein zweites Mal. Drei Mal musste er es insgesamt probieren und sehr lange klingeln lassen, ehe endlich jemand den Anruf entgegennahm.
Christoph nannte seinen Namen und erklärte, dass er angerufen worden war.
„Ihre Steuernummer?“
„Ich hab keine. Vielleicht geht es ja gerade darum?“
„Wie war noch mal Ihr Name?“
Christoph nannte ihn.
„Moment.“
Er wartete.
Dann: „Sie sind nicht im System.“
„Mag sein“, gab er zu. „Aber Sie haben ja mich angerufen.“
„Ich nicht.“
„Ja, ich weiß auch nicht, wer.“ Allmählich wurde er ungeduldig. „Aber ich hatte die Nummer auf dem Display. Nun hätte ich gern gewusst, wer mich angerufen hat und was derjenige von mir wollte. Durchwahl 113.“
„Moment!“ Erneutes Warten. Dann: „Die Durchwahl 113 steht nicht in meinem Verzeichnis.“
„Na super! Und jetzt?“
„Keine Ahnung!“ Die Telefondame wusste auch nicht weiter. „Warten Sie doch einfach, bis Sie nochmal angerufen werden.“
Toller Tipp. Danke. Er beendete das Gespräch und teilte Laura mit: „Da kennt mich niemand. Und die Nummer, von der ich angerufen werde, gibt’s nicht.“
Damit war klar, dass der Anruf keinesfalls mit Christophs Job im Getränkemarkt zu tun hatte.