12
War das möglich? Hatten sie wirklich den besten Donnerstagabend aller Zeiten gehabt, oder hatte sie nur die Bons falsch zusammengerechnet? Brandy klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Bar und fixierte die Abrechnung. Da musste irgendwo ein Fehler sein. Sie würde das Ganze noch mal rechnen müssen.
»Hey, Milk Dud«, rief sie. »Wie spät ist es?«
Die Küchentür sprang auf, und Dudley Matheson steckte seinen rasierten Kopf heraus, um den er ein dunkelblaues Tuch gebunden hatte. Seine blauen Augen blickten erstaunlich freundlich drein, wenn man bedachte, dass er seit vier Uhr hier schuftete, kochte, abwusch – und ganz nebenbei diesen Spitznamen hasste.
»Die Snapper kuscheln jetzt, meine Liebe.« Er hielt einen kleinen Kühlbehälter hoch. »Hier ist schon der Köder, Jimmy holt mich in fünf Minuten am Steg ab.«
»Ehrlich? Schon so spät?« Sie lebte lange genug auf den Keys, um zu wissen, dass die kleinen Lümmel nach zwei Uhr nachts zur Paarung zusammenkamen, und wer als Fischer etwas auf sich hielt, fuhr dann hinaus, um sie in flagranti zu erwischen. »Kein Wunder, dass ich so am Ende bin.«
»Die letzte Horde von Touristen hat gar kein Ende gefunden, was?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Die werden morgen auf jeden Fall schwer durchhängen. Auf ihrem Bon sind mehrere hundert Posten.« Sie deutete auf den Taschenrechner. »Das war ein guter Teil von unserem heutigen Rekordumsatz.«
»Die Küche ist fertig und zu«, sagte Dudley. »Gehst du vorne raus? Ich bring dich zu deinem Wagen.«
Sie schnitt eine Grimasse in Richtung der Bons. »Ich will die Zahlen noch mal durchgehen, damit ich Lena morgen gleich die korrekte Summe durchgeben kann.«
Er schüttelte den Kopf. »Keine Chance, Boss. Lena hat strenge Anweisung hinterlassen, dass du auf keinen Fall mit Bargeld allein zum Auto gehen darfst.«
»Ich nehme das Geld gar nicht mit, Dud. Ich werde es hier einschließen. Außerdem parke ich gleich neben der Küchentür, du musst mich also wirklich nicht begleiten. Du gehst vorne raus, ich schließe hinter dir ab und nehme den Hinterausgang.«
Sein Blick verriet, dass ihm der Plan gar nicht gefiel.
»Komm schon.« Sie sprang von ihrem Barhocker und zog den Schlüsselbund aus der Tasche ihrer Shorts. »Du hast so hart und so lange gearbeitet; du hast dir den Angeltrip verdient.«
Er zögerte, doch sie ging einfach an ihm vorbei, entriegelte die Tür und zog sie für ihn auf.
»Bist du sicher, Brandy? Mir macht es nichts aus, zu warten.«
»Alles okay.« Sie gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Auf geht’s zu den Fischen. Fang am besten gleich so viele, dass wir sie morgen auf die Karte setzen können. Da verdienen wir uns dann ’ne goldene Nase dran, und du bekommst auch einen Anteil.«
Er grinste und warf ihr eine Kusshand zu, ehe er zum Jachthafen hinunterging, wo schon eine ganze Reihe Dieselschiffe tuckerten. Sie schloss die Tür ab und widmete sich wieder ihrer Abrechnung, die wunderbarerweise beim zweiten Mal dasselbe Ergebnis brachte wie beim ersten Mal.
Irgendwann löschte sie dann das Licht im Gastraum, schloss das Geld im Büro ein, nahm sich noch eine Cola light für den Heimweg und ging durch die Küche, die Milk Dud nach Kräften gewienert hatte. Nachdem sie die letzte Lampe ausgeschaltet hatte, schob sie den Riegel zur Seite und trat nach draußen, wo sie einen Schluck Cola nehmen wollte.
Die Dose wurde ihr aus der Hand gerissen, als ein Mann sie auf den Gehsteig stieß und sie mit seinem ganzen Gewicht zu Boden drückte.
Verdammt! Mehr wütend als ängstlich versuchte sie, ihren Kopf zu drehen, doch eine starke Hand drückte ihn nach unten.
»Ich habe kein Geld«, brachte sie heraus.
»Wo ist sie?« Die Stimme grollte in ihrem Ohr.
Was redete er da? »Ich habe kein Geld«, wiederholte sie. Könnte sie auf die fünfhundert Dollar in bar verzichten? Na klar. Ansonsten hatte sie zum Glück nur Kreditkarten dabei. Ob er sie zwang, die Kneipe wieder aufzuschließen? Was würde er ihr antun? Sie wand sich, um ihren Angreifer zu sehen. »Ich schwör’s, meine Küchenhilfe hat die Kasse mitgenommen.«
Ein Knie rammte sich in ihren Rücken und trieb ihr schmerzvoll die Luft aus den Lungen. »Wo ist Maggie Varcek?«
Maggie Varcek? »Ich verstehe nicht, was Sie wollen.«
Etwas bohrte sich in ihren Rücken, auf der Höhe ihres Herzens. Verdammte Scheiße, der Typ hatte eine Knarre. Sie erstarrte. »Ich habe fünfhundert Dollar«, schob sie rasch nach. »Drin. Bitte, tun Sie mir nicht weh.«
»Stell dich nicht so an«, klang es rau an ihrem Ohr. »Wo steckt Maggie?«
Maggie? »Sie meinen Lena? Meine Geschäftspartnerin?« War ihr Name nicht Varcek gewesen, ehe sie Smitty geheiratet hatte? War das nicht Quinns zweiter Vorname? Die Panik vernebelte ihr Hirn.
»Sie ist nicht hier.« Sie konnte nichts erkennen außer einem Arm in einem langärmeligen T-Shirt. War das der Typ mit dem Schlangen-Tattoo?
»Das weiß ich.« Er zwang ihren Kopf zu Boden, sodass sich ihr Wangenknochen auf den Beton drückte. »Du wirst mir jetzt sagen, wo sie steckt, und zwar sofort.«
»Sie ist weggefahren. Mit … ihrem Freund.«
Er riss an ihrem Haar. »Wohin?«
»Ich weiß nicht. Nach Miami.« Das war eine große Stadt. Da würde er sie nie finden. »Ich schwöre, ich weiß nichts Genaueres.«
»Und das Kind?«
»Er ist bei ihr. Aber bitte, ich weiß nicht, wohin sie gefahren sind. Wirklich. Tun Sie mir nicht weh.«
»Ich werde dir wehtun.« Ihr Magen verwand sich, und Angst stieg in ihr auf. »Ich werde dir so wehtun, dass du nur noch tot sein willst. Morgen.«
Sie rang nach Luft, denn die Panik schnürte ihr die Kehle zu. Morgen würde er ihr wehtun? Sie würde tot sein wollen?
»Bitte. Ich kann Ihnen nicht helfen.« Erst als die Tränen ihre Wange benetzten und ihr in den Mund rannen, wurde ihr bewusst, dass sie weinte.
Vom Hafen drangen Stimmen und Männerlachen herauf.
Er lockerte seinen Griff, vielleicht sah er jemanden kommen. Sie versuchte, sich loszureißen, doch er stieß sie wieder zu Boden. »Ich mein’s ernst, Brandy.« Dass er ihren Namen benutzte, traf sie wie ein Fausthieb. »Ich komme wieder, und ich hole mir, was ich will.«
Die Stimmen kamen näher, und plötzlich spürte sie ihn nicht mehr. Sie rührte sich nicht vom Fleck. Würde sie gleich eine Kugel in den Kopf bekommen, oder war das vielleicht doch nur ein böser Traum gewesen?
Seine Schritte entfernten sich ebenso wie die unbekannten Retter vom Hafen. Zitternd wie Espenlaub, richtete sich Brandy ganz langsam auf, kam mühsam auf die Beine, wandte sich der Tür zu und griff nach ihren –
Verdammt! Die Schlüssel! Sie durchsuchte die Dunkelheit mit den Augen, und das Wimmern, das sie hörte, schien nicht ihrer eigenen Kehle zu entspringen.
Das Schwein hatte ihren Schlüsselbund mitgenommen. Mitsamt Autoschlüssel, Hausschlüssel, Kneipenschlüssel … Sie stieß ein leises Stöhnen aus.
Lena. Sie musste Lena anrufen. Mit zitternden Fingern holte sie ihr Handy aus der Tasche und drückte die Schnellwahltaste, während ihr Blick panisch die Straße auf und ab wanderte. Hier oben war es still. Weiter vorn, am Hafen, herrschte geräuschvolle Betriebsamkeit.
Sie machte ein paar Schritte in die Richtung, während sie auf Lenas Antwort wartete, doch nur die Mailbox sprang an. Beinahe überzeugt davon, dass der Fremde hinter der nächsten Ecke lauerte, steuerte sie auf den Hafen zu. Was für ein Glück, dass ihre besten Freunde Fischer waren.
»Und wie genau bist du an diesen Termin gekommen?« Maggie spähte durch die Windschutzscheibe des Porsches auf das bescheidene dreistöckige Gebäude, das von zwei elegant schimmernden Bürotürmen flankiert wurde.
»Oh, nur die übliche Gallagher-Taktik.«
»Du hast also gelogen.«
Er warf ihr ein schiefes Lächeln zu, während er seinen Gurt löste. »Ich habe Ms James’ tüchtige Sekretärin davon überzeugt, dass ich ein potenzieller neuer Kunde für die Spedition bin, der aber leider nur eine Stunde Zeit hat an diesem Vormittag. Sie sagte, sie würde mich zwischenschieben.« Er reichte ihr ein Handy, das sie als ihr eigenes erkannte. »Das hast du im Gästehaus vergessen. Ich bin jetzt übrigens Nummer eins in deiner Schnellwahlliste.«
Natürlich, was sonst.
»Du musst mich anrufen oder mir eine SMS schicken, wenn du Lola James herauskommen siehst, während ich da oben bin. Ich hoffe aber, dass sie tatsächlich so ein Workaholic ist, wie in ihrer Akte steht, und ich sie in ihrem Büro erwische.«
Auf dem Weg von Star Island in die Innenstadt war Maggie die Unterlagen durchgegangen und hatte mit Erschrecken festgestellt, wie viel Informationen Dans Firma aus einem Namen gewinnen konnte. Sie schlug die Akte wieder auf und betrachtete das Foto, das eine bildschöne Latina inmitten einer Schar Verehrer auf einer Networking-Party zeigte; es war ein Ausschnitt aus einem Hochglanzmagazin.
»Ich hätte sie nie im Leben wiedererkannt«, sagte sie. »Unfassbar, dass die unscheinbare graue Maus zu so einer Schönheit herangewachsen sein soll.«
»Oh, das ist das Werk eines begabten venezolanischen Chirurgen. Was mich eher überrascht, ist, dass ihre Firma sauber zu sein scheint. Jedenfalls auf dem Papier. Aber darüber werde ich noch mehr herausfinden.«
Sie klappte die Akte zu und hielt ihm die offene Handfläche entgegen. »Die Schlüssel, bitte.«
»Du fährst doch nirgendwohin.«
»Nein, aber willst du mich im Ernst ohne Klimaanlage hier sitzen lassen? Die Schlüssel.«
Er legte sie ihr in die Hand, schloss ihre Finger darüber und zog sie näher an sich heran. Einen Augenblick lang rechnete sie damit, dass er sie küsste, doch er warf ihr nur einen Blick zu – den gleichen sengenden Blick wie gestern Abend, als sie ihn auf der Couch hatte sitzen lassen, einen Blick, der ihr sagte, dass es irgendwann passieren würde, ob sie wollte oder nicht. Ein Versprechen oder eine Drohung?
»Geh schon.« Sie schob ihn weg und versuchte, ihre Hand samt dem Schlüssel aus seinem Griff zu entwinden. »Geh und spiel den neuen Kunden.«
Er drückte ihre Hand noch einmal und machte sich auf den Weg über den Parkplatz, im Schlendergang, die breiten Schultern gestrafft, enge Jeans auf seinen schmalen Hüften und den festen Schenkeln, die sie gestern Abend ein paar selige Augenblicke lang unter sich gehabt hatte.
Als er im Gebäude verschwunden war, beobachtete sie die in der Sonne glitzernden Glastüren, die sich beständig öffneten und schlossen, um Leute hinein- und hinauszulassen. Niemand davon war Lola James.
Weitere fünf Minuten vergingen, bis ein Mann mit langem dunklem Haar erschien. In dem Moment, als er auf die Straße trat, setzte er eine Sonnenbrille auf und sah sich um. Irgendetwas an seinem Gang, seiner Haltung –
Ramon! Das war Ramon Jimenez. Ohne den Blick von ihm zu nehmen, griff sie nach ihrem Handy. Er ging zu demselben dunkelblauen Kleinwagen, den er auch an jenem Abend gefahren hatte, als Dan ihn aus der Bar geworfen hatte.
Sie durfte ihn nicht verlieren. Er war eine wichtige Verbindung zu Quinns Entführern, zu den Glückskeks-Sprüchen und zu El Viejo. Sie setzte sich auf und steckte den Schlüssel in die Zündung. Würde Dan sie umbringen, wenn sie dem Kerl folgte? Oder wäre er enttäuscht, wenn sie ihn laufen lassen würde?
Sie drückte die Eins auf ihrem Handy und überlegte, was sie tun sollte. Was, wenn er in diesem Moment gerade mit Lourdes sprach? Sie beschloss, eine SMS zu schreiben, und tippte rasch Ramon hier ein, während der blaue Wagen sich bereits rückwärts in Bewegung setzte.
Nachdem sie die Nachricht gesendet hatte, warf sie das Telefon auf den Beifahrersitz und drückte mit aller Kraft den Schalthebel in den Rückwärtsgang, so, wie es auf dem Knauf aufgezeichnet war.
»Mist.« Die Kupplung! Das war keine Automatik, wie sie es gewohnt war. Sie musste ja erst die Kupplung treten, bevor sie den Schalthebel bewegen konnte.
Ramons Wagen wartete auf eine Lücke im Verkehr. Wenn er Richtung Osten fuhr, hatte sie Glück. Wenn nicht, konnte es komplizierter werden.
Er bog rechts ab, und sie schickte einen Dank an Baba und das Universum.
Nachdem er an ihr vorbeigefahren war, kam noch ein Wagen, doch das machte nichts, denn sie konnte ihn immer noch sehen. Sie drehte das Steuer, trat leicht auf die Kupplung und schob den Schalthebel in den ersten Gang. Als sie auf das Gaspedal trat, schoss sie wie eine Rakete los und verfehlte um Haaresbreite das Heck des vor ihr parkenden Wagens.
»So ein –« Sie ging so abrupt vom Gas, dass sie fast den Motor abgewürgt hätte. Verdammt, diese Kiste zu fahren war ganz schön heikel. Bei Dan sah das immer so einfach aus.
Ramon ordnete sich auf die linke Spur ein und steuerte den vielspurigen Biscayne Boulevard an, der vom Freitagabendverkehr verstopft war. Sie schaffte es, sich eine Spur weiter links einzuordnen und war dankbar, dass sie dank des stockenden Verkehrs im ersten Gang bleiben konnte.
Das Handy klingelte genau in dem Moment, als die Ampel umsprang und Ramon auf die Linksabbiegerspur wechselte. Sie musste sich beeilen, um die Kreuzung überqueren zu können, solange der Pfeil grün war. Der Motor röhrte verzweifelt nach dem zweiten Gang.
Mit schwitzenden Händen ignorierte sie das Läuten, trat die Kupplung und bewegte gleichzeitig den Schalthebel, um den zweiten Gang genau in dem Moment einzulegen, als Ramon abbog und die Ampel auf Gelb umsprang.
Doch dann ging die verdammte Karre tatsächlich aus. Mit einem frustrierten Stöhnen trat sie auf die Bremse, drehte den Zündschlüssel, gab Gas und schoss in die Kreuzung, als der Abbiegerpfeil erlosch und das Telefon verstummte.
Sie riss das Lenkrad nach links und fand sich schließlich fünf Fahrzeuge hinter Ramon wieder.
Beim Versuch, näher zu ihm aufzuschließen, schnitt sie einen Wagen und bedankte sich bei einem Fahrer, der sie die Spur wechseln ließ. Hundert Meter vor der nächsten Kreuzung ordnete sich Ramon rechts ein.
Maggie sah in den Rückspiegel und betete für eine Lücke, als erneut das Telefon klingelte.
Das musste Dan sein, der sicher stinksauer auf sie war, weil sie einfach abgehauen war.
Ramon bog rechts ab, und sie schlitterte auf die rechte Spur, noch immer überfordert von der Kraft dieses Motors, und noch immer vier Autos hinter Ramon. Ohne zu blinken, ließ sie den Wagen in die Biegung rollen, während sie nach dem Telefon griff, die grüne Taste drückte und es wieder hinwarf.
»Ich weiß, ich weiß, du bist sauer auf mich. Aber ich bin Ramon auf den Fersen, er hat gerade die Flagler Street gekreuzt, und ich will sehen, wohin er fährt. Anschließend komme ich zurück und hole dich ab. Ich wollte nur auf keinen Fall die Chance verpassen, ihm zu folgen. Vielleicht fährt er zu Viejos Haus zurück; vielleicht findet gerade wieder eine Drogenlieferung statt. Und? Hast du Lola getroffen?«
»Lena, was bitte ist da los?«
»Brandy!« Maggie schnappte überrascht nach Luft. »Ich dachte, Dan wäre dran.«
»Ich bin heute Nacht um zwei von einem brutalen Kerl überfallen worden, der von mir wissen wollte, wo du bist.« Angst war etwas, das sie von Brandy nicht kannte, und der panische Unterton in der Stimme ihrer Freundin machte sie ganz elend.
»Oh Gott, das tut mir so leid.«
»Du bist Maggie Var … oder so, stimmt’s? Das ist dein Name. Danach hat der Typ nämlich gefragt.«
Nur sehr wenige Menschen kannten sie als Maggie Varcek. Und die meisten davon gehörten zum Jimenez-Clan. »Brandy, du musst unendlich vorsichtig sein!«
»Ach nee, Sherlock. Er will heute wiederkommen. Das hat er mir schon angedroht. Und er hat meine sämtlichen Schlüssel!«
»Wo bist du jetzt?«
»Bei Milk Dud. Ich geh hier nicht weg. Und schon gar nicht mehr in die Nähe der Bar. Ich hab Angst, Lena.«
»Musst du nicht. Ich schick dir Hilfe. Versprochen.« Superman-Bodyguards. Dan würde eine ganze Armee runterschicken.
Der Verkehr wurde dichter, als sie sich der Second Avenue näherten, und Maggie schwirrte der Kopf. Wenn Ramon hier war, konnte er dann gestern Abend Brandy überfallen haben? Es waren nur ein paar Stunden Fahrt von Miami nach Marathon.
»Hast du gesehen, wie er aussah? War er ein Latino?« Vielleicht einer von Viejos Männern.
»Ich konnte überhaupt nichts erkennen. Er hat mich zu Boden gedrückt, mir eine Waffe in den Rücken gehalten und –«
»Oh Brandy.« Maggie seufzte vor Mitgefühl. »Es tut mir so leid, dass ich dich da mit hineinziehe.«
»In was denn?«, wollte Brandy wissen. »Was zur Hölle geht da vor, Lena?«
»Das ist nicht so einfach zu erklären.« Maggie hörte, wie ihre Freundin am anderen Ende schnaubte. »Ehrlich, es geht um Leben und Tod. Oh shit, der biegt ab, wart eine Sekunde!«
Nach einem raschen Blick in den Rückspiegel trat sie das Gaspedal durch, schaltete knirschend und schnitt beim Spurwechsel ein anderes Fahrzeug. Sie fuhr über eine Ampel, die längst rot war, und schlitterte quietschend in die quer verlaufende Straße hinein. Hoffentlich bemerkte Ramon sie nicht – aber es waren acht Autos zwischen ihnen, darunter mehrere ausladende SUVs, an denen man kaum vorbeisehen konnte.
In die kurze Gesprächspause meldete das Handy einen eingehenden Anruf. Das musste aber jetzt Dan sein.
»Wo bist du?«, fragte Brandy.
»In Miami, und mehr musst du auch gar nicht wissen. Quinn ist in Sicherheit, er steht unter Rundumschutz. Und ich …« Verfolge einen Ex-Häftling über den Biscayne Boulevard. »Versuche herauszufinden, wer ihn entführen wollte und wie wir diese Leute stoppen können.«
»Was wollen die von dir, Lena?«
Ramon fand eine leere Spur und gab Gas, sodass Maggie nichts anderes übrig blieb, als es ihm nachzutun.
»Etwas Wertvolles.«
Sie packte den Schalthebel, schwenkte auf die benachbarte Fahrbahn und ließ ihn nicht aus den Augen, während er sich der Brücke über den Miami River näherte, um Richtung Süden weiterzufahren. Sie blickte auf das blaue Schild über der Kreuzung. Brickell Avenue.
»Etwas Wertvolles von dir? Na, dann viel Spaß.«
Brickell Avenue? Hier wohnte doch Lola James!
»Hör zu, Brandy, ich muss Schluss machen.« Sie musste Dan anrufen und ihm sagen, wo sie war. »Aber bleib auf alle Fälle bei Dudley, und sieh zu, dass immer jemand bei dir ist. Heute Abend werden Profis kommen und dir helfen. Versprochen. Die werden auch die Bar sichern.«
Der eingehende Anruf piepte erneut.
»Okay«, sagte Brandy. »Aber das ist richtig Kacke, wir haben nämlich gestern Abend Mordsumsatz gemacht.«
»Das Wichtigste ist, dass dir nichts passiert – alles andere ist mir egal. Ich muss jetzt auflegen. Ich hab dich lieb. Pass auf dich auf.«
»Du auch.«
Die Verbindung endete in dem Moment, als Ramon auf die wesentlich langsamere rechte Spur wechselte; die Gehsteige waren hier mit Palmen gesäumt, auf künstlichen Hügeln reckten sich schicke Apartmentblocks in den Himmel. Ramon bremste scharf, wendete in die Gegenrichtung und parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Maggie fuhr vorbei und hätte am liebsten vor Wut auf ihr Lenkrad eingehämmert, während sie verzweifelt nach einer Lücke im Verkehr suchte.
Im Außenspiegel konnte sie verfolgen, wie Ramon ausstieg. Sie hatte keine andere Wahl, als zu warten, bis der nächste Lkw vorbei war, und dann selbst zu wenden; die einzige freie Stelle war ein Behindertenparkplatz, den sie nahm, während Ramon zu Fuß die Straße überquerte.
Als ihr Handy erneut klingelte, hatte sie nicht einmal die Gelegenheit, Hallo zu sagen.
»Wo zum Teufel steckst du, Maggie?«
»Ich bin Ramon nachgefahren, und er geht gerade in –«
»Was?«
»Hör mir einfach mal zu«, beharrte sie. »Ich bin ihm zu dem Haus in der Brickwell Avenue gefolgt, Nummer 2180. Ist das nicht die Adresse aus Lolas Akte?«
»Denk nicht mal dran, Maggie. Komm hierher zurück. Sofort.«
Sie dachte daran, aber nicht lange. Ramon zu Fuß zu folgen war wirklich dumm und gefährlich.
»Also gut. Ich bin nur zehn Minuten entfernt.« Sie stieß rückwärts aus ihrer Parklücke und fädelte sich wieder in den Verkehr ein. »Aber pass auf: Jemand hat Brandy gestern Abend überfallen. Jemand, der nach Maggie Varcek sucht. Niemand kennt mich unter diesem Namen, außer dir und dem Jimenez-Clan. Was hat Lola gesagt?«
»Nichts. Sieh zu, dass du schnellstmöglich zurückkommst, dann erzähl ich es dir.«
»Bin gleich da.« Sie sah zu, wie Ramon in das Wohnhaus verschwand. »Und, Dan, bitte, du musst jemanden nach Marathon schicken, der auf Brandy aufpasst. Der Typ hat gesagt, er kommt heute wieder. Und er hat die Schlüssel zur Bar.«
»Wird gemacht. Und jetzt schnell, Maggie.«
Auf dem Rückweg war der Verkehr gnädig zu ihr. Dan wartete vor dem Bürogebäude. Während er auf den Wagen zukam, wappnete sie sich gegen eine Standpauke. Das hättest du nicht tun dürfen. Ich habe dir gesagt, du sollst hierbleiben. Was hast du dir dabei gedacht?
»Gute Arbeit«, sagte er, als er einstieg und sich anschnallte. »Wie fährt er sich?«
Sie brachte ein Lächeln zustande. »Traumhaft.« Sie trat die Kupplung durch und legte sanft den ersten Gang ein. »Ich dachte, du wärst stinksauer, dass ich ihm gefolgt bin.«
»War ich auch. Dann hab ich mir Sorgen gemacht, weil du nicht ans Telefon gegangen bist. Aber ich hätte genauso gehandelt.«
Sie schwenkte in den Verkehr ein und warf ihm von der Seite einen Blick zu. »Und die Bodyguards für Brandy?«
»Lucy schickt noch heute ein Team auf die Keys.«
Sie nahm ihre Hand vom Schaltknüppel und legte sie auf seinen Arm. »Danke. Was ist mit Lola?«
»Sie ist verschwunden.«
»Verschwunden? Was meinst du damit?«
»Sie hat ihr Büro gestern Nachmittag verlassen und ist heute Morgen nicht gekommen.«
»Bestimmt ist sie zu Hause. Ramon ist gerade in ihre Wohnung gegangen.«
»Finden wir’s heraus. Ihrer Sekretärin zufolge ist sie selbst an Sonntagen meist in der Firma; und an Wochentagen kommt sie immer.«
Während er von dem Gespräch berichtete, nahm Maggie den Weg zurück zur Brickell Avenue, bis sie den Apartmentblock erreichten.
»Da steht sein Auto«, sagte sie und deutete darauf; dann wandte sie sich dem Eingang zu. »Und sieh mal. Da ist er ja.«
Ramon war so weit weg, dass sie seine Miene nicht lesen konnte, während er in dem überdachten Eingang stand und sich eine Zigarette anzündete. Ehe sie noch einmal atmen konnte, hatte Dan bereits seinen Gurt gelöst und die Hand am Türöffner.
»Was hast du vor? Willst du ihm am helllichten Tag auf offener Straße an den Kragen gehen?«
»Das kann ich ein bisschen dezenter. Fahr einfach zehn Minuten herum und komm dann zurück.«
»Ich finde bestimmt einen Parkplatz.«
Er sah die Reihe der parkenden Autos entlang. »Das bezweifle ich.« Noch ehe sie vollends zum Halt gekommen war, war er schon aus dem Wagen gesprungen, und sie fuhr weiter. Sie hatte damit gerechnet, dass er auf das Haus zuging, in Ramons Richtung, doch stattdessen überquerte er die Straße und steuerte ohne Umweg auf Ramons Wagen zu.
Diesmal sah er nicht sexy aus. Er sah aus wie jemand, der zu töten imstande war.
Ohne den Blick von ihm zu nehmen, trat sie auf das Gaspedal. Erst dann sah sie wieder auf die Straße – und stieg auf die Bremse, um wenige Zentimeter vor Ramon zum Stehen zu kommen.
Sie hielt den Atem an, weil sie fest damit rechnete, dass er sie erkannte, doch er schnippte nur seine Kippe auf ihre Motorhaube und schlenderte zu seinem Auto zurück.