Dritter Teil. Die Gilbert-Inseln
Erstes Kapitel
Butaritari
In Honolulu hatten wir der »Casco« und Kapitän Otis Lebewohl gesagt, und unsere nächste Abenteuerfahrt geschah unter veränderten Verhältnissen. Plätze für mich, meine Frau, Mr. Osbourne und meinen chinesischen Bedienten, Ah Fu, wurden belegt auf einem winzigen Handelsschoner, dem »Equator« unter Kapitän Dennis Reid, und an einem sonnigen Junitag des Jahres 1889 verließen wir, nach hawaiischer Sitte zum Abschied mit Blumengirlanden geschmückt, den Hafen und fuhren unter günstigem Wind auf Mikronesien zu.
Das ganze Gebiet der Südsee ist eine Schiffswüste, besonders der Teil, den wir jetzt durchqueren sollten. Post gibt es auf diesen Inseln nicht, jede Verbindung ist eine zufällige, man kann zwar Pläne machen, irgendwohin zu reisen, aber es ist sehr die Frage, ob man wirklich hingelangt. Ich hatte zum Beispiel die Hoffnung, die Karolinen zu erreichen und über Manila und die chinesischen Häfen wieder zurückzukehren, es war uns aber bestimmt, in Samoa wieder aufzutauchen und von neuem durch den Anblick der Berge erfrischt zu werden. Seit der Abendglanz auf den Höhen von Oahu verblaßte, waren sechs Monate verstrichen, und wir hatten nicht einen Erdenfleck gesehen, der so hoch gewesen wäre wie ein Bauernhaus. Unsere Straße war die flache See gewesen, unsere Wohnung niedrige Korallen, unsere Nahrung Pökelfleisch und Konserven; ich hatte gelernt, Haifischfleisch als Abwechslung willkommen zu heißen; ein Berg, eine Zwiebel, eine frische Kartoffel oder ein Beefsteak waren längst unserem Gesichtskreise entschwunden, und wir sehnten uns nach ihnen.
Unsere beiden Aufenthaltsplätze, Butaritari und Apemama, liegen nahe am Äquator, Apemama ungefähr dreißig Meilen entfernt. Beide haben ein herrliches Ozeanklima, Tage blendender Sonne und erfrischenden Windes, Nächte voll himmlischer Klarheit. Beide sind etwas größer als Fakarava und messen in der größten Breite vielleicht eine Viertelmeile von Strand zu Strand. Auf beiden wächst eine derbe Art des Taro, ihre Kultur ist die Hauptbeschäftigung der Eingeborenen, und die dazu notwendigen Hügel und Gräben ergeben eine zierlich bewegte Landschaft und erfreuen das Auge. Im übrigen bieten sie ganz das gewöhnliche Aussehen eines Atolls: den niedrigen Horizont, die weit ausgedehnte Lagune, die riedgrasartige Linie der Palmwipfel, die Eintönigkeit und Schmalheit des Landes, die überragende Größe und das Übergewicht der See und des Himmels. Das Leben auf solchen Inseln ist in mancher Beziehung ähnlich dem Leben an Bord eines Schiffes. Das Atoll wird bald wie ein Schiff als Tatsache hingenommen, und die Insulaner werden genau wie eine Schiffsbesatzung bald zum Mittelpunkt des Interesses. Die Inseln sind stark bevölkert, unabhängig, Sitze kleiner Könige, erst neuerdings zivilisiert und wenig besucht. In den letzten zehn Jahren haben sich manche Veränderungen breitgemacht, die Frauen gehen nicht mehr unbekleidet bis zur Heirat, die Witwe schläft nicht mehr nachts mit dem Schädel des verstorbenen Gatten und geht nicht mehr am Tage mit ihm spazieren. Schußwaffen sind eingeführt, und die Schwerter aus Haifischzähnen werden als Kuriositäten verkauft. Vor zehn Jahren waren alle diese Dinge und Sitten noch im Gebrauch; zehn Jahre weiter, und die alte Gesellschaft wird gänzlich verschwunden sein. Wir kamen in einem glücklichen Augenblick an, als diese Gebräuche noch bestanden und in Apemama noch fast unangetastet waren.
Dicht bevölkert und unabhängig – Schlupfwinkel von Menschen, die mit einem gewissermaßen ländlichen Pomp regiert werden – das war der erste und immer wiederkehrende Eindruck von diesen kleinen Inseln. Als wir über die Lagune auf die Stadt von Butaritari zusteuerten, sahen wir einen niedrigen Küstenstrich besät mit braunen Dächern von Häusern; die des Palastes und der Sommerwohnung des Königs waren aus Wellblech und glitzerten hell in der Nähe der Dorfecke; die königlichen Farben flogen im Winde an einer hohen Fahnenstange; direkt vor uns lag auf einem künstlichen Inselchen das Gefängnis wie eine Art Warnungssignal. Selbst bei diesem ersten Anblick aus der Ferne machte der Ort kaum den Eindruck eines Dorfes, was er wirklich ist, sondern eher den einer kleinen ländlichen und doch königlichen Hauptstadt, was er ebenfalls ist.
Die Lagune ist seicht. Da Ebbe war, wateten wir ungefähr eine Viertelmeile in lauwarmem, flachem Wasser und stiegen schließlich in brennender Sonnenhitze an Land. Die Leeseite einer Äquatorinsel ist nachmittags in der Tat ein windstiller Platz; an der Ozeanküste weht der Passatwind böig und kühl; auch weiter draußen auf der Lagune bläst er noch und treibt die Kanus vorwärts, aber das dichte Buschwerk fängt ihn an der Küste völlig ab, und auf den Städten brüten Schlaf, Schweigen und Moskitoschwärme.
Man kann also sagen, daß wir Butaritari gewissermaßen überrumpelten. Nur wenige Einwohner waren noch an der Nordecke, wo wir landeten, im Freien. Als wir vorwärts schritten, trafen wir sehr bald niemand mehr an und schienen eine tote Stadt zu durchforschen. Nur zwischen den Pfosten der offenen Häuser sahen wir die Bevölkerung ausgestreckt zur Mittagsruhe, manchmal eine ganze Familie zusammen unter einem Moskitonetz, dann wieder einen einzelnen Schläfer auf einer Plattform wie einen Toten auf der Bahre.
Die Häuser waren von verschiedener Größe, manche wie Spielzeug, andere wie Kirchen. Einige konnten ein Bataillon aufnehmen, andere waren so klein, daß sie kaum ein Liebespaar beherbergen konnten; nur in einem Kinderzimmer findet man, wenn man die Spielsachen untereinander mengt, so verschiedene Größenverhältnisse. Manche Behausungen waren offene Schuppen, andere wie überdachte Bühnen, wieder andere hatten Wände, in denen kleine Fenster waren. Einige waren auf Pfählen in der Lagune errichtet, der Rest stand durcheinander auf einer grünen Fläche, durch die sich der Weg wie ein Sandstreifen zog, oder auf den Uferbänken eines Wasserstreifens, der wie ein flaches Hafenbecken anmutete. Alle ohne Ausnahme waren aus einem einzigen Baum hergestellt, Palmholz und Palmblätter das Baumaterial, kein Nagel war eingetrieben, kein Hammerschlag erklungen beim Bau, sie wurden zusammengehalten durch Bänder aus Palmfasern.
In der Mitte der Hauptstraße steht die Kirche wie eine Insel, ein hohes, dunkles Gebäude mit vielen Fensterreihen, ein Rahmen von reichem Maßwerk trägt das Dach, und durch die beiden Türen übersieht man weithin die Straße. Die Ausmaße des Gebäudes erschienen, in solcher Umgebung und aus solchem Material hergestellt, großartig, und wir durchschritten das Schiff mit einem Gefühl, wie es Besucher einer Kathedrale befällt. Bankreihen sind auf beiden Seiten. In der Mitte stehen unter einem sonderbaren Thronhimmel zwei Stühle für den König und die Königin, wenn sie ihre Anbetung verrichten wollen; über ihren Häuptern hängt an einem roten Baumwollstrick ein Reifen, offenbar von einem großen Faß, der schief herabbaumelt und mit roten und weißen Wimpeln aus demselben Stoff geschmückt ist.
Das war das erste Anzeichen königlicher Würde, und bald darauf standen wir vor seinem Zentralsitz. Der Palast ist aus eingeführtem Holz nach europäischen Plänen gebaut, das Dach aus Wellblech, der Hof von Mauern umgeben, die Pforte von einer Art Wachthaus gekrönt. Man kann das Gebäude nicht geräumig nennen, ein Arbeiter in den Vereinigten Staaten wohnt manchmal bequemer, aber als wir die Möglichkeit hatten, das Innere zu besichtigen, fanden wir es reich über Inselerwartungen hinaus geschmückt mit Anzeigen und Bildern aus illustrierten Zeitungen. Selbst vor dem Tore stehen Schätze der Krone in aller Öffentlichkeit: eine ziemlich große Glocke, zwei Kanonen und eine einsame Granate. Die Glocke kann man nicht läuten und die Kanone nicht abfeuern, sie sind Sehenswürdigkeiten, Beweise des Reichtums, Stücke königlicher Pracht, die wie Statuen auf einem Platz zur allgemeinen Bewunderung stehen. Ein gerader Wasserstreifen geht wie ein Kanal fast bis zum Palasttor, die Kaimauern sind vorzüglich gebaut aus Korallen; gegenüber der Mündung steht wie eine Art ländlicher Schmuckbau das Gefängnis in die Lagune gleich einem Warnungsturm. Vasallenhäuptlinge, benachbarte Monarchen, kommen mit Tributen herbeigerudert, so könnte man sich vorstellen, sie sehen mit Staunen diese großen öffentlichen Gebäude und stehen entsetzt den Mündungen der schweigenden Kanonen gegenüber. Unmöglich, den Ort zu schauen und sich nicht vorzustellen, er sei für festliche Aufzüge bestimmt. Aber der sorgfältig hergerichtete Schauplatz war damals leer, das königliche Haus verlassen, Türen und Fenster standen offen, das ganze Stadtviertel war in Schweigen versunken. Auf der gegenüberliegenden Kanalbank schlief unter freiem Himmel als einziger sichtbarer Einwohner auf überdachter Bühne ein alter Herr, und drüben auf der Lagune hißte ein Kanu ein gestreiftes Segel, der einzige bewegliche Gegenstand.
Der Kanal hat an der Südseite einen Pier oder Damm mit einer Brustwehr. Weit draußen hört die Brustwehr auf, und der Kai erweitert sich zu einer länglichen Halbinsel in die Lagune hinein, der luftigen Sommerresidenz des Königs. In der Mitte steht ein offenes Haus oder festes Zeltlager, das man hier maniapa nennt oder, wie man das Wort jetzt ausspricht, maniap', mindestens vierzigmal sechzig Fuß im Geviert. Das eiserne Dach, das hoch ist, aber sehr tief nach unten reicht, so daß eine Frau sich beim Eintreten bücken muß, ruht außen auf Korallenpfeilern, innen auf einem Holzgerüst. Der Boden besteht aus zerbrochenen Korallen und wird durch die Gerüstpfeiler in Längsabschnitte eingeteilt, das Haus steht weit genug von der Küste, daß die Brise frei hindurchwehen und die Moskitos vertreiben kann; unter den niedrigen Giebelwänden sieht man die Sonne glitzern und die Wellen auf der Lagune tanzen.
Eine ganze Weile hatten wir nur schlafende Menschen angetroffen, und als wir den Pier entlang wanderten und schließlich unter dies leuchtende Dach traten, waren wir überrascht, das Haus von einer Gesellschaft wacher Leute angefüllt zu sehen, ungefähr zwanzig, die den Hof und die Wachtmannschaft von Butaritari bilden. Die Damen des Hofes flochten eifrig Matten, die Wachtleute gähnten und rekelten sich. Ein halbes Dutzend Gewehre lagen auf einem Felsblock, und eine Axt lehnte gegen einen Pfeiler, die Bewaffnung dieser schläfrigen Musketiere. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein geschlossenes kleines Holzhaus mit dünnen Vorhängen, und es zeigte sich bei näherem Zusehen, daß es ein Abort nach europäischem Muster war. Vor diesem Häuschen lag, auf einigen Matten hingestreckt, Tebureimoa, der König; hinter ihm, an der Holzwand des Häuschens, stellten zwei gekreuzte Gewehre die Liktorenbündel dar. Er trug Pyjamas, die im traurigen Widerspruch standen zu seiner Dickleibigkeit, seine Nase war hakenförmig und unmenschlich, sein Körper massig aufgeschwemmt, sein Blick furchtsam und trübe: er schien von Schläfrigkeit übermannt und gleichzeitig wachgehalten durch Befürchtungen: ein Rajah aus dem Pfefferlande, von Opium berauscht und dem Marsch einer holländischen Armee lauschend, sieht vielleicht nicht anders aus, wir lernten uns später besser kennen, und immer hatte ich denselben Eindruck; er schien stets schläfrig, aber doch immer lauernd und sprungbereit, und es besteht kein Zweifel, daß er aus Gewissensbissen oder Furcht seine Zuflucht zu übermäßigen Betäubungsmitteln nahm.
Der Rajah schien an unserem Erscheinen nicht das geringste Interesse zu nehmen, aber die Königin, die in einem purpurnen Gewande neben ihm saß, war zugänglicher, und auch ein Dolmetscher war anwesend, der so aufdringlich war, daß seine Geschwätzigkeit schließlich die Ursache unseres Abschieds wurde. Er hatte uns bei unserer Ankunft begrüßt. »Dies ist der ehrenwerte König, und ich bin sein Dolmetscher«, hatte er mit mehr Würde als Wahrheit gesagt. Denn er nahm keine Stellung ein bei Hofe, schien mit der Inselsprache sehr schlecht vertraut und machte wie wir nur einen Höflichkeitsbesuch. M. Williams war sein Name, er war ein amerikanischer Neger, ein entsprungener Schiffskoch und Barkeeper auf Butaritari, in der Kneipe » The Land we Live in«. Ich habe niemals einen Menschen getroffen, der mit soviel Worten sowenig Wahres sagte. Weder die Verdrießlichkeit des Königs noch meine eigenen Bemühungen, ihn abzuschütteln, machten auf ihn den geringsten Eindruck, und als die Audienz zu Ende war, redete der Schwarze immer noch weiter.
Die Stadt lag noch im Schlummer oder hatte gerade begonnen, sich zu erheben und zu strecken, noch war sie in Hitze und Schweigen gehüllt. Um so lebhafter war der Eindruck, den wir von dem Haus auf der Insel mitnahmen, von dem mikronesischen Saul zwischen seinen Wachen und dem schwatzhaften David, Mr. Williams, der die schläfrigen Stunden mit seinem Gewäsch erfüllte.
Zweites Kapitel
Die vier Brüder
Das Königreich Tebureimoas umschließt zwei weitere Inseln, Groß- und Klein-Makin, ungefähr zweitausend Untertanen zahlen ihm Tribut, und zwei halbwegs unabhängige Häuptlinge müssen ihm in bedingter Form huldigen. Die Bedeutung der Stellung hängt von dem Manne ab, er kann ein Niemand und kann absoluter Herrscher sein, und beide Extreme haben die heute Lebenden mitgemacht.
Beim Tode des Königs Tetimararoa, Tebureimoas Vater, folgte ihm der älteste Sohn, Nakaeia. Er war ein Bursche von gewaltiger Körperkraft, herrisch, gewalttätig, von einer gewissen barbarischen Sparsamkeit und einiger Geschäftsintelligenz. Er allein trieb Handel auf seinen Inseln und machte Profite, er war Pflanzer und Kaufmann, und seine Untertanen verrichteten Sklavendienste für ihn. Wenn sie lange und gut gearbeitet hatten, so rief ihr Fronmeister einen Feiertag aus und sorgte für ein allgemeines Trinkgelage, an dem er teilnahm. Manchmal bereitete er es in großartiger Weise vor: für sechshundert Dollar Gin und Brandy wurden herbeigeschafft, das schmale Land ertönte vom Lärm der Lustbarkeiten, und es war nichts Außergewöhnliches, die schwankenden Untertanen zu sehen, wie sie ihren betrunkenen Monarchen auf dem Vorderdeck eines gestrandeten Schiffes herumführten, alle miteinander schreiend und singend, König und Volk. Auf ein Wort aus Nakaeias Mund hörte das Gelage auf, Makin wurde wieder zu einer Insel der Sklaven und Temperenzler, und am Morgen mußte die ganze Bevölkerung auf den Straßen oder in den Taropflanzungen sein und unter seinem blutunterlaufenen Blick arbeiten.
Die Furcht vor Nakaeia erfüllte das Land. Es gab keine geregelte Gerichtsbarkeit, keine Untersuchungen, keine Gerichtsbeamten; es scheint nur eine Strafe gegeben zu haben, die Todesstrafe, und die Formen des Strafvollzuges waren gewaltsame Gefangennahme am Tage und Ermordung in der Nacht. Der König selbst spielte den Scharfrichter, seine Schläge wurden heimlich ausgeteilt und nur mit Hilfe und Unterstützung seiner eigenen Weiber. Sie waren seine Ruderer. Eine, die einst eine Krabbe fing, erschlug er sofort mit der Ruderpinne. In solcher Knechtschaft gehalten, fuhren sie ihn nachts zu der Stätte seiner Rache, die er allein wahrnahm, worauf er befriedigt mit seiner weiblichen Mannschaft heimkehrte. Die Insassen des Harems nahmen eine Stellung ein, die uns schwer begreiflich ist. Zugtiere, immer in Todesfurcht, behüteten sie doch stillschweigend das Leben des Königs, sie waren trotz allem Frauen und Königinnen, und es war Vorschrift, daß niemand ihr Antlitz sehen durfte. Sie töten durch ihren Anblick wie Basilisken; eine dieser weiblichen Ruderer zufällig zu sehen, war ein Verbrechen, das nur mit Blut gesühnt werden konnte. Zu Lebzeiten Nakaeias standen rund um den Palast hohe Kokospalmen, die über die Umzäunung hinausragten. Eines Abends, als Nakaeia unten mit seinen Weibern beim Abendessen saß, geschah es, daß der Eigentümer des Palmenhaines in einem Baumwipfel Palmwein abzapfte, zufällig blickte er hinunter, und da der König in demselben Augenblick hinaufsah, begegneten sich ihre Augen. Sofortige Flucht rettete den unfreiwilligen Frevler, aber während des Restes der Regierungszeit des Herrschers mußte er sich verstecken und verbarg sich bei Freunden in abgelegenen Winkeln der Insel. Nakaeia verfolgte ihn ohne Unterlaß, wenn auch vergeblich, und die Palmen, die die Tat verursacht hatten, wurden rücksichtslos niedergelegt. Das war das Ideal weiblicher Reinheit auf einer Insel, wo reife Jungfrauen nackt umhergingen wie im Paradiese. Und doch fand der Skandal seinen Weg in Nakaeias wohlbehüteten Harem. Er war damals Eigentümer eines Schoners, den er als Erholungsstätte benutzte, und wohnte an Bord, wenn das Schiff vor Anker lag. Dorthin befahl er eines Tages ein neues Weib. Sie gehörte zu denen, die ihm vorbehalten waren, das heißt, wie ich vermute, daß er verheiratet war mit ihrer Schwester, denn der Ehemann einer älteren Schwester hat Anspruch auf die jüngeren. Alle Vorbereitungen wurden getroffen, sie kam herbei, gesalbt, mit Blumen geschmückt, beladen mit feinen Matten und den Familienjuwelen, zur Hochzeit, wie ihre Freunde glaubten, zum Tode, wie sie selbst genau wußte. »Nenne mir den Namen des Mannes, und ich werde dich verschonen«, sagte Nakaeia. Aber sie war verschlossen und schweigsam und rettete ihren Liebhaber. Die Königinnen erdrosselten sie zwischen den Matten.
Nakaeia war gefürchtet, aber es scheint nicht, daß man ihn haßte. Taten, die für uns wie Morde aussehen, trugen für seine Untertanen das ehrwürdige Gesicht der Gerechtigkeit, seine Orgien machten ihn populär, die Eingeborenen sprechen noch heute mit Hochachtung von der Festigkeit seines Regiments, und selbst die Weißen, denen er sich lange widersetzte, und die er fernhielt, gaben ihm den Namen eines vollkommenen Gentleman im nüchternen Zustande, wie die stehende Südseephrase lautet.
Als er auf dem Totenbett lag, ohne Nachkommen zu haben, rief er seinen nächstältesten Bruder, Nanteitei, zu sich, hielt ihm eine Rede über die Politik eines Königs und sagte ihm warnend, er sei für einen Herrscher zu schwach. Die Warnung wurde zu Herzen genommen und eine Zeitlang nach dem Muster Nakaeias regiert. Nanteitei schaffte die Wachen ab und ging allein mit einem Revolver in einem Lederbeutel umher. Um seine Schwäche zu verbergen, hüllte er sich in finsteres Schweigen; man konnte den ganzen Tag zu ihm reden, ihm gute Ratschläge geben, ihn tadeln, ermahnen und ihm drohen – alles blieb unbeantwortet. Die Zahl seiner Weiber war siebzehn, viele von ihnen waren reiche Erbinnen, denn das königliche Haus war arm, und die Heirat war damals ein Hauptmittel, den Thron zu befestigen. Nakaeia beschäftigte seinen Harem für sich selbst, Nanteitei verdingte ihn an andere. Damals baute die Firma Messrs. Wightman einen Pier mit einer Veranda am Nordende der Stadt. Das Mauerwerk war die Arbeit der siebzehn Königinnen, die dort wie Fischerknechte Sklavendienste verrichteten und im Wasser wateten; aber der Mann, der die Dachdeckerarbeiten verrichtete, durfte nicht anfangen, bevor sie fertig waren, damit er nicht etwa zufällig hinunterschauen und sie sehen könne.
Das war vielleicht das letzte Auftreten der Haremsarbeiterinnen, denn schon hatten sich hawaiische Missionare in Butaritari niedergelassen, Maka und Kanoa, zwei tapfere, kindliche Männer. Nakaeia wollte ihre Lehren nicht, er war vielleicht eifersüchtig auf ihre Anwesenheit, da er aber doch menschliches Empfinden besaß, hatte er eine gewisse Vorliebe für die beiden. In seinem Hause erschlug er mit eigener Hand vor den Augen Kanoas drei Seeleute von Oahu, indem er auf ihrem Nacken kniete, um sie zu erstechen, und bedrohte den Missionar, falls er dazwischenträte, aber er verschonte ihn nicht nur, sondern rief ihn später, als er geflohen war, zurück mit Ausdrücken der Hochachtung. Nanteitei, der schwächere Mann, geriet immer mehr und mehr unter ihren Einfluß. Maka, ein fröhlicher, liebenswürdiger, aber in seiner Art sehr energischer Mann, gewann steigenden Einfluß auf den König und trug bald den Sieg davon. Nanteitei trat mit dem königlichen Hause in aller Öffentlichkeit über, und mit einer Strenge, die von liberalen Missionaren verworfen wird, wurde der Harem sofort aufgelöst, eine Tat von schwerwiegender Bedeutung. Der Thron war jetzt verarmt, sein Einfluß gebrochen, die Verwandten der Königinnen waren beleidigt, und sechzehn Hauptfrauen, manche davon sehr reich, wurden auf einmal auf den Markt geworfen. Ich fuhr mit einem Seemann aus Hawaii, der nacheinander mit zwei von diesen Frauen, die plötzlich zu Witwen geworden waren, verheiratet war und wegen schlechter Führung nacheinander von ihnen verabschiedet wurde.
Daß zwei bedeutende und reiche Damen – denn beide waren wohlhabend – einen Fremdling von einer anderen Insel heirateten, kennzeichnet die Auflösung der Gesellschaft. Die Gesetze wurden außerdem völlig umgeändert, nicht immer zum Besseren. Ich liebe Maka Mann, als Gesetzgeber hat er zwei Fehler: er ist zu weich in der Bestrafung von Verbrechen und zu hart im Verbieten unschuldiger Vergnügungen.
Krieg und Aufruhr folgten gewöhnlich einer Reform, aber Nanteitei starb an einer zu starken Dosis Chloroform im ruhigen Besitz des Thrones, und erst unter der Regierung des dritten Bruders, Nabakatokia, eines Mannes von starkem Körper und schwachem Geist, brach der Sturm los. Die Herrschaft der großen Häuptlinge und Vornehmen scheint seither das Fundament der Monarchie gewesen zu sein und hat vielleicht manchmal die Alleinherrschaft auch abgelöst. Die Altmänner, wie sie genannt wurden, haben das Recht, mit dem König im Redehaus zu sitzen und zu debattieren, und die höchste Gewalt des Königs liegt in der Formel, mit der er die Debatte schließt: »Das Reden ist zu Ende!« Bei der langen Alleinherrschaft von Nakaeia und den Wandlungen unter Nanteitei waren die Altmänner ohne Zweifel unwillig über ihre Zurücksetzung und ohne Frage eifersüchtig auf den Einfluß von Maka. Verleumdungen oder vielmehr Spötteleien wurden in Umlauf gesetzt, ein Witzwort machte die Runde in der Gesellschaft: man erzählte, daß Maka der Kirche gesagt habe, der König sei der erste Mann auf der Insel und er selbst der zweite, und durch diese erdichtete Beleidigung erregt, erhoben sich die Häuptlinge und veranstalteten Versammlungen in Waffen. Im Laufe eines Vormittags wurde der Thron Nakaeias gestürzt. Der König saß im Maniap' vor dem Palasttor in Erwartung seiner Rekruten, Maka ihm zur Seite, beide voller Angst; inzwischen hatte ein Häuptling an einer Haustür am Nordeingang der Stadt Posten gefaßt und fing die Hilfstruppen ab, als sie herankamen. Sie erschienen einzeln oder in Gruppen, alle das Gewehr oder die Pistole über den Rücken geschwungen. »Wohin geht ihr?« fragte der Häuptling. »Der König rief uns«, pflegten sie zu sagen. »Hier ist euer Platz, setzt euch«, antwortete der Häuptling. In unglaublicher Untreue gehorchten sie alle. Und als so von beiden Seiten genug Truppen zusammengekommen waren, wurde Nabakatokia herausgerufen und ergab sich. Zu dieser Zeit wurden in fast allen Gebieten der Inselgruppe die Könige ermordet, und auf Tapituea hängt das Skelett des letzten Königs bis auf diesen Tag im Hauptredehaus der Insel, eine Drohung für Ehrgeizige. Nabakatokia war glücklicher, sein Leben und seine Königswürde blieben ihm erhalten, aber seine Macht wurde ihm genommen. Die Altmänner veranstalteten ein öffentliches Redefest, die Gesetze wurden fortwährend geändert, ohne jemals in Kraft zu treten, das Volk hatte Gelegenheit, den Verdiensten Nakaeias nachzutrauern, und der König, der die Mitgift reicher Frauen und die Dienstleistungen seiner Weibertruppen entbehren mußte, geriet nicht nur in Mißachtung, sondern auch in Schulden.
Er starb einige Monate vor meiner Ankunft auf den Inseln, und niemand bedauerte ihn, sondern alle blickten hoffnungsvoll auf seinen Nachfolger. Dieser war seinem Rufe nach der Familienheld. Er allein unter den vier Brüdern hatte Nachkommen, einen erwachsenen Sohn, Natiata, und eine dreijährige Tochter. An ihn wandte sich Nabakatokia in der Stunde der Revolution zuerst um Hilfe, und in früheren Jahren war er die rechte Hand des gewaltigen Nakaeia gewesen. Nontemat', Herr Leichnam, war sein bezeichnender Spitzname, und er hatte ihn wohlverdient. Immer wieder hatte er auf Befehl Nakaeias Häuser in der Stille der Nacht umzingeln lassen, die Moskitonetze durchschnitten und ganze Familien abgeschlachtet. Hier war die Hand von Eisen, hier war ein zweiter Nakaeia. Er kam, herbeigerufen von dem tributpflichtigen Klein-Makin, wo er die Regentschaft führte, er wurde als König eingesetzt und entpuppte sich als Strohmann und Feigling, ein schwerfälliges Spielzeug der Volksredner, und der Leser hat im Sommerhaus gesehen, was von ihm unter dem Namen Tebureimoa übriggeblieben war.
Der Wandel im Charakter dieses Mannes wurde auf der Insel viel besprochen, und man führte ihn bald auf den Opiumgenuß, bald auf das Christentum zurück. Nach meiner Ansicht schien überhaupt kein Wandel vorzuliegen, sondern vielmehr äußerste Beharrung. Herr Leichnam fürchtete seinen Bruder, König Tebureimoa fürchtete die Altmänner, die Furcht vor dem Bruder stachelte ihn an zu Verzweiflungstaten, die Furcht vor den Altmännern machte ihn unfähig zu irgendeiner Regierungstat. Er spielte früher die Rolle eines Helden, indem er die Richtung des geringsten Widerstandes verfolgte und andere zu seinem eigenen Schutz abschlachtete. Jetzt, da er älter und schwerfällig ist, ein Konvertit, ein Bibelleser, vielleicht voll Reue, jedenfalls des Hasses vieler Menschen gewiß, belastet mit der Erinnerung an Gewalttaten und Blutvergießen, kapituliert er vor den Altmännern, berauscht sich mit Opium und hockt in Furcht und Angst unter seinen Wachtmannschaften. Dieselbe Feigheit, die das Messer des Meuchelmörders in seine Hand zwang, beraubt ihn des königlichen Szepters.
Eine Erzählung, die man mir zutrug, und eine winzige Beobachtung, die ich machen konnte, sind bezeichnend für seine beiden Charaktereigenschaften. Ein Häuptling auf Klein-Makin fragte in einer leichtsinnigen Stunde: »Wer ist Kaeia?« Der Wind trug das Wort hinüber, und Nakaeia legte die Angelegenheit in die Hände eines dreiköpfigen Ausschusses. Herr Leichnam war Vorsitzender, das zweite Mitglied starb vor meiner Ankunft, das dritte lebte noch, war wohlauf und von so ehrwürdigem Aussehen, daß wir ihm den Namen Abou ben Adhem gaben. Herr Leichnam hatte Gewissensbisse, denn der Mann auf Klein-Makin war sein Adoptivbruder. In solchem Falle war es nicht sehr fein, überhaupt zu erscheinen, und den Todesstreich zu führen, den man sonst von ihm wohl erwartete, würde mehr als peinlich gewesen sein. »Ich werde den Streich führen«, sagte der ehrwürdige Abou, und Herr Leichnam stimmte, sicherlich mit einem Seufzer, dem Kompromiß zu. Das Wild wurde also in den Busch gelockt, man veranlaßte den Mann, einen Holzblock auf die Schultern zu nehmen, und als seine Arme erhoben waren, schlitzte ihm Abou mit einem Hieb den Bauch auf. Da nun der Gerechtigkeit Genüge getan war, wandte sich die Kommission in kindischem Schrecken zur Flucht, aber das Opfer rief sie zu seiner Seite zurück. »Ihr braucht jetzt nicht fortzulaufen,« sagte der Mann, »ihr habt mir dies angetan, nun bleibt!« Das Sterben dauerte ungefähr zwanzig Minuten, und die Mörder saßen inzwischen bei ihm, eine Szene für Shakespeare. Alle Augenblicke dieses gewaltsamen Todes, das Blut, die ermattende Stimme, die verzerrten Gesichtszüge, der Farbenwechsel haben sich dem Gedächtnis des Herrn Leichnam eingeprägt, und da er sie an dem Bruder, den er verriet, studierte, hat er einigen Grund, über die Möglichkeiten eines Verrates nachzudenken. Niemals war ich einer Sache gewisser als der tragischen Gedanken des Königs, und doch habe ich ihn nur einmal unversehens überrascht. Einst hatte ich ihm eine Botschaft zu überbringen. Es war wieder einmal die Stunde der Mittagsruhe, aber einige Leute, die sich draußen umhertrieben, verwiesen uns auf ein geschlossenes Haus an der Kanalbank, wo Tebureimoa unbewacht liege. Wir traten ohne Zeremonien ein, da wir ziemlich eilig waren. Er lag am Boden auf einem Mattenbett und las reuig in seiner Bibel von den Gilbertinseln. Bei unserem plötzlichen Eintritt richtete sich der schwerfällige Mann halb auf, so daß die Bibel zu Boden fiel, starrte uns einen Augenblick verwirrt an und sank wieder auf die Matte zurück. So schaute Eglon auf Ehud.
Die Gerechtigkeit der Tatsachen ist sonderbar und höchst eigenartig gerecht: Nakaeia, der Urheber dieser Taten, starb im Frieden, indem er von der Gewalt eines Königs redete; sein Werkzeug erlitt täglich den Tod für seine erzwungene Mittäterschaft. Nicht die Natur der Handlungen, sondern die Übereinstimmung zwischen den Taten und den Umständen verdammen oder erlösen den Menschen, und Tebureimoa war von Anfang an in Widersprüche verwickelt. Zu Hause, in einer ruhigen Nebenstraße eines Dorfes, wäre er ein würdiger Zimmermann geworden, und selbst jetzt, von allen Teufeln besessen, entwickelt er manche Tugenden. Er besitzt kein Land, nur den Nießbrauch solcher Ländereien, die beschlagnahmt sind unter dem Gesetz, er kann sich nicht wie früher durch Heiraten bereichern, Sparsamkeit ist die Hauptsicherung seiner Zukunft, und er kennt und übt sie. Elf ausländische Händler zahlen ihm eine Lizenz von hundert Dollar. Ungefähr zweitausend Untertanen entrichten eine Kopfsteuer von einem Dollar für den Mann, einen halben Dollar für das Weib und einen Schilling für das Kind, was, wenn man die Umwechselgebühren abrechnet, ungefähr eine Summe von dreihundert Pfund im Jahr ergibt. Er war seit ungefähr neun Monaten König und hatte seiner Frau ein seidenes Kleid und einen Hut gekauft – die Kaufsumme ist nicht bekannt – und sich selbst eine Uniform für dreihundert Dollar, hatte die Photographie seines Bruders zur Vergrößerung nach San Franzisko gesandt für zweihundertfünfzig Dollar, hatte die Schuldenerbschaft des Bruders wesentlich verringert und immer noch Goldstücke in seiner Tasche. Er war also ein liebevoller Bruder, ein guter Verwalter und außerdem ein geschickter Zimmermann, der gelegentlich das Holzgerüst seines Palastes ausbesserte. Es ist nicht zu verwundern, daß Herr Leichnam Tugenden besitzt, aber daß Tebureimoa eine Liebhaberei hatte, überraschte mich.
Drittes Kapitel
Rund um unser Haus
Als wir den Palast verließen, waren wir immer noch Seefahrer, die zufällig an Land sind, aber innerhalb einer Stunde hatten wir unser Hab und Gut in einem der sechs Fremdenhäuser von Butaritari untergebracht, nämlich in dem, das gewöhnlich von Maka, dem hawaiischen Missionar, bewohnt wurde. Zwei Firmen von San Franzisko haben hier Niederlassungen, Messrs. Crawford und Messrs. Wightman Brothers, die erstere beim Palast mitten in der Stadt, die zweite am Nordeingang, jede mit einem Laden und einer Bar. Unser Haus stand auf dem Gelände von Wightman, zwischen dem Laden und der Bar, innerhalb einer Umzäunung. Auf der anderen Seite der Straße lagen Eingeborenenhäuser versteckt im Buschrand, und eine dichte grüne Mauer von Palmen hielt jeden Windhauch ab. Eine kleine sandige Bucht der Lagune schnitt hinten in das Grundstück ein, begrenzt von einem Pier mit einer Veranda, der Arbeit von Königinnenhänden. Zur Flutzeit segelten die Boote hier herein, um Ladungen in Empfang zu nehmen. War die Flut nicht hoch genug, so ankerten die Boote eine halbe Meile entfernt, und eine große Menge von Eingeborenen stieg die Piertreppen hinunter, schob sich über den Sand in Reihen und Gruppen, watete mit Koprasäcken bis zum Gürtel im Wasser und schlenderte zurück, um neue Lasten zu holen. Das Geheimnis des Koprahandels plagte mich, als ich dasaß und den Profit auf Treppe und Sand fallen sah.
Vor dem Hause strömte von kurz nach vier Uhr morgens bis neun Uhr abends das Stadtvolk ununterbrochen auf der Straße vorüber, Familien gingen zu den entfernten Gebieten der Insel, um auf ihren Ländereien Kopra zu ernten, Frauen wandten sich dem Busch zu, um Blumen für die Abendtoilette zu sammeln, und zweimal täglich gingen die Palmweinzapfer mit Messer und Schale ausgerüstet vorbei. Beim ersten Morgengrauen und dann wieder am Spätnachmittag bummelten sie vorüber, um zu ihrem Geschäft in den Baumwipfeln zu gelangen, bogen hier und da in den Busch ab und verschwanden vom Angesicht der Erde. Ungefähr um dieselbe Stunde, wenn die Flut in der Lagune nicht zu hoch steht, ist man wahrscheinlich auch selbst auf dem Marsch über die Insel zum Bad und betritt dicht auf ihren Fersen die Wege des Palmenhains. Obgleich die Sonne noch nicht aufgegangen ist, flackern im Osten schon Feuerbrände auf, und die gewaltigen Passatwolken erglühen und verkünden als Vorboten der Sonne den kommenden Tag. Die Brise strömt uns entgegen, hoch oben in den Palmenwipfeln, ihrem Spielzeug, ertönt lautes Rauschen; wohin man auch blickt, nirgendwo ist ein menschliches Wesen, nur die Erde und der rauschende Wald. Und über unserem Kopf ertönt im dichten Laubwerk der Gesang eines unsichtbaren Sängers, von fernher antwortet ein zweiter Baumgipfel, und noch weiter weg, im Herzen der Wälder, sitzt verborgen und schaukelnd ein dritter Minnesänger. So hocken überall auf der Insel in der Höhe die Palmweinzapfer, ihr Gewerbe führt sie auf die Gipfel, sie blicken rundum auf die See, halten Ausschau nach Schiffen und schmettern wie große Vögel ihre Gesänge in die Morgenfrühe. Sie singen mit einer gewissen Wollust und bacchantischen Fröhlichkeit. Volltönig und melodiös senkt sich plötzlich ihre Stimme von den Baumwipfeln nieder, woher sonst das Gezwitscher der Vögel dringt. Und doch sind diese Lieder keineswegs leichter Singsang, die Worte sind uralt, außer Gebrauch und heilig, wenige verstehen sie, vielleicht niemand vollkommen, aber es wurde allgemein angenommen, daß die Zapfer »beten, um guten Wein zu bekommen, und von ihren früheren Kriegen singen«. Das Gebet wird denn auch erhört, und wenn die Schale mit dem schäumenden Naß zu unserer Tür gebracht wird, ist es ein Getränk, an dem man sein Wohlgefallen haben kann. Den ganzen Vormittag kann man immer wieder kosten, es gärt, wird immer schärfer und wird zu einem neuen Getränk, das nicht weniger köstlich ist, aber im Laufe des Tages schreitet die Gärung rasch fort, und der Trank wird herbe; nach zwölf Stunden ist es Brothefe, nach zwei Tagen ein teuflisches Rauschgift, die Ursache von Verbrechen.
Die Menschen haben bemerkenswert arabische Gesichtszüge, tragen oft Bärte und Schnurrbärte, sind oft buntfarbig gekleidet, manche haben Arm- und Fußspangen, sie schreiten alle einher wie spanische Edelleute und erwidern den Gruß mit hochmütiger Miene. Die Dandies beiderlei Geschlechts tragen das Haar turbanartig zu krausem Wust gedreht, und ein spitzer Stab wird wie die Dolche der Japaner als Kamm benutzt und zierlich zwischen die Locken gesteckt. Die Frauen schauen unter ihrem Haarbüschel entzückend aus. Die Rasse kann sich mit den Tahitiern an Weibesschönheit nicht messen; ich bezweifle, ob der Durchschnitt groß ist, aber manche der niedlichsten Mädchen und eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe, waren Gilbertinerinnen. Butaritari ist als Handelszentrum der Gruppe europäisiert, der farbige Überwurf oder das weiße Hemdgewand werden allgemein getragen, das letztere abends; der Exporthut, beladen mit Blumen, Früchten und Bändern, ist bedauerlicherweise nicht unbekannt und die charakteristische Frauenkleidung der Gilbertinseln nicht mehr allgemein im Gebrauch. Das Ridi ist sein Name, ein entzückendes Schürzchen oder Gürtelchen aus den geräucherten Fasern der Kokospalmblätter, nicht unähnlich geteerten Stricken; das untere Ende erreicht knapp die Mitte des Schenkels, das obere ist so niedrig über die Hüfte gelegt, daß es kaum zu haften scheint. Ein Niesen, denkt man, müßte genügen, um die Dame ganz zu enthüllen. »Das gefährliche, haarbreite Ridi« war unsere Bezeichnung dafür, und in dem Streit über die Frauenkleidung gefällt es unglücklicherweise niemand: die Prüden verdammen es als ungenügend, die Leichtsinnigeren finden es nicht liebenswert genug. Aber wenn eine zierliche Gilbertinerin am vorteilhaftesten aussehen soll, muß sie dies »Gewand« tragen. Mit ihm allein und sonst nur nackt bewegt sie sich in unvergleichlicher Ungezwungenheit, Grazie und Lebendigkeit, die die Dichtung Mikronesiens rühmt. Steckt man sie in ein langes Gewand, so flieht die Charme, und sie rudert einher wie eine Engländerin. Zur Zeit der Abenddämmerung waren die Vorübergehenden immer prächtiger gekleidet. Die Männer strömten herbei in allen Farben des Regenbogens – oder wenigstens der öffentlichen Läden – und Männer und Frauen schmückten sich mit wohlriechenden frischen Blumen. Eine kleine weiße Blüte wird bevorzugt, bald wie zierliche Sterne einzeln in das Frauenhaar gesät, bald zu dichtem Kranz geflochten. Bei Hereinbruch der Nacht wurde die Menge auf den Straßen manchmal dichter, und das Stapfen und Schurren nackter Füße nahm kein Ende, die Spaziergänger waren meistens ernst, das Stillschweigen wurde nur manchmal unterbrochen von kichernden und hin und her huschenden jungen Mädchen, selbst die Kinder waren still. Um neun schlug von der Kathedrale die Schlafglocke, und das Leben in der Stadt hatte ein Ende. Um vier am nächsten Morgen wird das Signal in der Dunkelheit wiederholt, und die unschuldigen Gefangenen werden in Freiheit gesetzt, aber sieben Stunden müssen alle im Hause weilen – ich wollte gerade sagen: hinter verschlossenen Türen, von einer Gegend, wo Türen und selbst Wände Ausnahmen sind –, sie müssen also wenigstens unter ihren luftigen Dächern verweilen oder sich unter zeltförmigen Moskitonetzen zusammenrollen. Wenn eine wichtige Botschaft übermittelt oder jemand auf die Reise geschickt werden soll, so muß der Bote sich der Polizei deutlich mit einem großen Feuerbrand von Kokosnußfasern ankündigen, das wie ein lebendiges Freudenfeuer die Häuser entlang flackert. Die Polizei selbst wandert im Dunkeln und späht in der Nacht aus nach Übeltätern. Ich haßte ihre heimtückische Anwesenheit; besonders ihr Hauptmann, ein gerissener alter Mann in weißer Kleidung, umschlich nachts meine Wohnung, so daß ich es fertiggebracht hätte, ihn zu verprügeln, aber der Kerl war ja vom Gesetz geschützt.
Keiner der elf Händler aus den Niederlassungen kam zur Stadt, kein Kapitän ging in der Lagune vor Anker, ohne daß wir sie innerhalb einer Stunde zu Gesicht bekamen. Das war zurückzuführen auf die Lage unseres Hauses zwischen dem Laden und der Bar Sanssouci, wie man sie nannte. Mr. Rick war nicht nur der Geschäftsführer von Messrs. Wightman, sondern auch Konsularagent für die Vereinigten Staaten, Mrs. Rick war die einzige weiße Frau auf der Insel und eine von den beiden einzigen im Archipel. Auch ihr Haus mit den kühlen Veranden, Bücherregalen und bequemen Möbeln hatte nicht seinesgleichen zwischen Jaluit und Honolulu. Jeder besuchte sie infolgedessen, außer denen, die sich nach Südseemanier herumstritten um den letzten Cent beim Koprahandel oder über irgendeine Differenz beim Geflügelkauf. Aber selbst diese wurden bald, wenn sie nicht von Norden erschienen, im Süden sichtbar, denn Sanssouci zog sie an wie mit Stricken. Auf einer Insel mit einer weißen Gesamtbevölkerung von zwölf Köpfen hätte man eine der beiden Schankstuben als überflüssig ansehen können, aber jeder Deckel paßt zu seinem Topf, und die beiden Lokale auf Butaritari sind in der Praxis für Kapitäne und Schiffsbesatzungen höchst angenehm: The Land we live in wird stillschweigend den Matrosen überlassen, Sanssouci gehört den Offizieren. So aristokratisch waren meine Gewohnheiten und so groß meine Furcht vor Mr. Williams, daß ich niemals die erstere Bar besuchte, aber in der anderen, dem Klublokal oder vielmehr dem Kasino der Insel, verbrachte ich regelmäßig meine Abende. Sie war klein, aber hübsch eingerichtet, und abends beim Lampenlicht funkelten die Gläser und strahlten die bunten Bilder wie ein Theater zur Weihnachtszeit. Die Bilder waren Plakate, das Glas schlecht genug, das Holz des Raumes von ungeschickter Hand zusammengefügt, aber das Ganze erschien auf dieser verwunschenen Insel wie unerhörter Luxus und unglaublicher Reichtum. Hier wurden Lieder gesungen, Geschichten erzählt, Kunststücke vorgeführt und Spiele gespielt. Ricks, wir, der Norweger Tom als Barkeeper, ein oder zwei Kapitäne von den Schiffen und die drei oder vier Handelsleute, die von abgelegenen Teilen der Insel in ihren Booten oder zu Fuß herbeigekommen waren, bildeten gewöhnlich die Gesellschaft. Die Händler, alle ehemalige Seeleute, sind komisch stolz auf ihren neuen Beruf. »Südseekaufleute« ist der Titel, den sie bevorzugen. »Wir sind alle Seeleute hier« – »Kaufleute, bitte« – »Südseekaufleute« – das war die Art der Unterhaltung, die sich endlos wiederholte, und die niemals ihren Reiz zu verlieren schien. Wir fanden sie immer schlicht, klug, heiter, tapfer und gefällig und erinnern uns von Zeit zu Zeit mit Vergnügen an diese Händler von Butaritari. Ein schwarzes Schaf war allerdings unter ihnen. Ich erzähle von ihm unter Angabe seines Wohnortes gegen meine sonstige Gepflogenheit, denn in diesem Falle habe ich keine Rücksicht zu nehmen; der Mann ist typisch für die Klasse der Schurken, die einstmals das ganze Gebiet der Südsee in Verruf brachten und noch heute auf den wenig besuchten Inseln von Mikronesien hausen. Man sagte von ihm im Hafen, daß er ein vollkommener Gentleman sei im nüchternen Zustande, aber ich habe ihn niemals anders als betrunken gesehen. Die wenigen unangenehmen und barbarischen Züge der Mikronesier hatte er mit der List eines Sammlers herausgefunden und sie tief in den Boden seiner ihm angeborenen Bosheit gepflanzt. Er hatte unter der Anklage eines verruchten Mordes gestanden, war freigesprochen worden und hatte sich der Tat seither immer großsprecherisch gerühmt, was mich vermuten läßt, daß er unschuldig war. Seine Tochter ist entstellt durch eine grausame Mißhandlung, die er versehentlich beging, denn er wollte seine Frau treffen und geriet in der Dunkelheit der Nacht und im Rausch des Kokosbrandys an das unrichtige Opfer. Die Frau floh und verbirgt sich seither im Busch bei den Eingeborenen, während der Gatte noch immer vor tauben Ohren ihre zwangsweise Rückkehr verlangt. Er kennt kein besseres Geschäft als Eingeborene betrunken zu machen, um ihnen dann die Summe der verwirkten Geldstrafe gegen Überlassung einer hohen Hypothek vorzuschießen. »Respekt vor den Weißen« ist sein ewiges Gerede: »Was dieser Insel fehlt, ist der Respekt vor den Weißen!« Auf seinem Wege nach Butaritari, wo ich mich damals aufhielt, fand er Spuren seiner Frau bei einigen Eingeborenen im Busch und machte einen Vorstoß, um sie gefangenzunehmen, worauf einer ihrer Begleiter ein Messer zog und der Gatte die Flucht ergriff. »Nennen Sie das den richtigen Respekt vor den Weißen?« rief er aus. Bald nachdem wir seine Bekanntschaft gemacht hatten, bewiesen wir unseren Respekt für diese Art von Weißen, indem wir ihm bei Todesstrafe das Betreten unseres Grundstückes verboten. Von nun ab lungerte er oft in der Nachbarschaft herum, möglicherweise mit Gefühlen des Neides oder Racheplänen, sein weißes hübsches Gesicht, das ich stets mit Verachtung sah, blickte uns über den Zaun zu allen Stunden des Tages an, und einmal rächte er sich, indem er uns eine niedrige Inselbeleidigung zurief, die uns keineswegs traf, aber seinen englischen Lippen unglaublich gemein stand.
Unser Gelände, das dieser Ausbund von Würdelosigkeit umwandelte, war ziemlich ausgedehnt. In einer Ecke war ein Gitterwerk mit einem langen Tisch aus rohem Holz, hier war vor einiger Zeit das Fest des vierten Juli mit seinen denkwürdigen Folgen, von denen wir noch berichten müssen, gefeiert worden, hier nahmen wir unsere Mahlzeiten ein, hier bewirteten wir den König und die Edlen von Makin mit einem Diner. In der Mitte stand das Haus mit Vorder- und Hinter- Veranda und drei Innenräumen. Auf der Veranda hängten wir unsere Kriegsschiffhängematten auf, dort arbeiteten wir tagsüber und schliefen wir nachts. Im Hause waren Betten, Stühle, ein runder Tisch, eine feine Hängelampe und Bilder der königlichen Familie von Hawaii. Das Bild der Königin Viktoria sagt nichts, aber die Gemälde von Kalakaua und Mrs. Bishop verraten allerlei, und wirklich waren wir heimliche Bewohner des Pfarrhauses. Am Tage unserer Ankunft war Maka abwesend, treulose Verwalter öffneten die Tore, und der liebenswürdige, sittenreine Mann, ein geschworener Feind von Alkohol und Tabak, fand bei der Rückkehr seine Veranda von Zigaretten bestreut und sein Wohnzimmer entwürdigt durch Flaschen. Er stellte nur eine Bedingung: auf den runden Tisch, den er zu Sakramentsfeiern benutzte, sollten wir keinen Alkohol setzen; in jeder anderen Beziehung beugte er sich vor den vollendeten Tatsachen, verweigerte die Annahme von Miete, zog sich in ein Eingeborenenhaus jenseits des Weges zurück und suchte die entlegensten Orte der Insel nach Lebensmitteln für uns ab, wobei er sein Boot selbst bediente. Er machte Schweine für uns ausfindig an geheimnisvollen Orten, denn man sah hier sonst überhaupt keine Schweine, er brachte uns Geflügel und Taro. Als wir dem Monarchen und dem Adel unser Festmahl gaben, besorgte er uns alles für die Tafel, überwachte die Kocherei, sprach das Gebet bei Tisch, und als auf das Wohl des Königs getrunken wurde, begann er mit einem englischen Hip-Hip-Hip das Hochrufen. Niemals hatte er eine glücklichere Eingebung, denn das Herz des verfetteten Königs schlug hoch in seiner Brust bei dem Ruf. Alles in allem hatte ich niemals ein liebenswürdigeres Wesen gesehen als diesen Pastor von Butaritari. Fröhlichkeit, Güte, edle und freundschaftliche Gefühle strahlten von diesem Manne aus in Rede und Geste. Er liebte es zu übertreiben, die Rolle des Augenblicks schauspielerisch zu gestalten, Lungen und Muskeln anzustrengen und mit seinem Körper zu reden und zu lachen. Er besaß die Morgenheiterkeit von Vögeln und gesunden Kindern, und sein Humor wirkte ansteckend. Wir waren allernächste Nachbarn und trafen uns täglich, aber unsere Begrüßungen dauerten minutenlang ohne Unterbrechung, wir schüttelten uns die Hände, klopften uns auf die Schultern, taten, als ob wir Seiltänzer und Hanswürste wären, und lachten, daß uns die Seiten weh taten über irgendeinen Witz, der kaum ein Kichern erregt hätte in einer Kinderschule. Es konnte fünf Uhr in der Frühe sein, die Palmweinzapfer waren soeben erst vorübergegangen, die Straße war leer, der Schatten der Insel erstreckte sich noch weit in die Lagune hinaus: aber diese Anregung stimmte mich den ganzen Tag hindurch fröhlich.
Trotzdem hatte ich Maka im Verdacht, daß er im geheimen melancholisch sei; dieses Höchstmaß von Frohsinn konnte kaum immer echt sein. Außerdem war er lang, hager, sein Gesicht war mit Runzeln und Furchen bedeckt, er war schon ein wenig ergraut, und seine Haltung am Sonntag war fast saturninisch. An diesem Tage gingen wir in Prozession zur Kirche oder, wie ich immer sagen muß, zur Kathedrale: Maka als dunkler Fleck in der heißen Landschaft in Zylinder, schwarzem Gehrock und schwarzen Hosen, unter dem Arm das Gesangbuch und die Bibel, seine Züge voll ehrwürdigem Ernst. Neben ihm Mary, sein Weib, eine ruhige, weise und ansehnliche ältere Dame, streng gekleidet; ich selbst folgte ihnen mit sonderbaren und lebhaften Gedanken. Lange Zeit vorher hatte ich unter Glockenklang, Flußrauschen und Vogelgesang Sonntag für Sonntag einen Geistlichen, in dessen Haus ich wohnte, durch ein grünes schottisches Tal begleitet, und tief berührten mich die Ähnlichkeiten, die Unterschiede und die große Zahl der Jahre und der Todesfälle. In der großen dämmerigen Palmholzkathedrale betrug die Zahl der Anwesenden selten mehr als dreißig, die Männer saßen auf der einen Seite, die Frauen auf der anderen, ich selbst ehrenhalber unter den Frauen, und da diese kleine Missionsgemeinde sich dicht um die Plattform scharte, fühlten wir uns winzig in dem runden Gewölbe. Die Texte wurden in Wechselrede gelesen, die Gemeinde wurde in der Kirchenlehre geprüft, ein blinder junger Mann wiederholte jede Woche eine große Anzahl von Psalmen. Hymnen wurden gesungen – ich habe niemals schlechter singen hören –, und dann folgte die Predigt. Zu sagen, daß ich nichts verstand, wäre eine Lüge. Gewisse Dinge hatte ich mit Gewißheit zu erwarten gelernt, die Namen Honolulu und Kalakaua, die Worte Cap'n-man-o'wa' und Schiff sowie die Beschreibung eines Sturmes auf hoher See kamen unfehlbar vor, und nicht selten wurde ich außerdem mit der Erwähnung meines eigenen Herrschers belohnt. Das übrige war Geräusch für meine Ohren und Schweigen für meinen Geist: immer größer wurde die Langeweile, unerträglich die Hitze, der harte Stuhl und der Blick durch die weit offenen Türen auf die glücklicheren Heiden im Grünen. Schlaf brütete in meinen Gliedern und Augen, Schlaf summte in meinen Ohren, er hatte die Herrschaft in der dämmerigen Kathedrale, die Versammelten drehten sich hin und her, streckten sich, stöhnten und grunzten laut, dehnten gähnend die Liedernoten: Laute, wie man sie manchmal von Hunden hört, wenn sie den Höhepunkt tragischer Bitternis und Langeweile erreicht haben. Vergebens schlug der Prediger auf den Tisch, vergebens rief er die Hörer einzeln beim Namen. Ich selbst war vielleicht ein wirksameres Reizmittel, und wenigstens einem alten Herrn bereitete der Anblick meines erfolgreichen Kampfes gegen den Schlaf – ich hoffe wenigstens, daß er erfolgreich war – einen heiteren Zeitvertreib. Wenn er nicht gerade Fliegen fing oder seinem Nachbarn einen Schabernack spielte, starrte er unverwandt und grausamen Blickes auf die einzelnen Stadien meiner Agonie, und einst, als sich der Gottesdienst seinem Ende näherte, zwinkerte er mir durch die Kirche hindurch zu.
Ich berichte lächelnd von diesem Gottesdienst, aber ich war immer anwesend, immer mit Hochachtung vor Maka, immer mit Bewunderung über seinen tiefen Ernst, seine flammende Energie, das Feuer seines begeisternden Auges und die bewegte Aufrichtigkeit seiner Rede. Ihm zuzusehen, wie er allwöchentlich ein totes Pferd peitschte und ein verloschenes Feuer anfachte, war stets eine Lehre der Stärke und Standhaftigkeit. Es ist fraglich, ob der Erfolg nicht größer gewesen wäre, wenn man die Mission besser unterstützt und ihn von geschäftlichen Belastungen befreit hätte. Ich selbst bin anderer Meinung und glaube, daß nicht Vernachlässigung, sondern Strenge seine Herde verringert hat, jene Strenge, die einstmals eine Revolution hervorrief, und die heute bei einem so lebensnahen und liebenswürdigen Mann den Betrachter in Erstaunen setzt. Kein Lied, kein Tanz, kein Tabak, kein Alkohol, keine Lebensfreude – nur Arbeit und Kirchenbesuch: das ist die Sprache seines Antlitzes, und das Antlitz ist das des polynesischen Esaus, aber die Stimme ist die Stimme eines Jakobs aus einer anderen Welt. Ein Polynesier ist im besten Falle eine höchst eigenartige Figur als Missionar auf den Gilbertinseln, denn er kommt aus einem Lande, das unkeusch in höchstem Maße ist, in Gegenden, die offensichtlich streng sittlich sind; er entstammt einem Volk, das von Gespensterfurcht besessen ist, und lebt unter Leuten, die verhältnismäßig kühn sind gegenüber den Schrecken der Nacht. Diese Gedankengänge drängten sich mir eines Morgens auf, als ich zufällig im Mondschein draußen war und die ganze Stadt im Dunkeln liegen sah, während am Bett des Missionars die treue Lampe brannte. Es bedarf keines Gesetzes, keines Feuers und keiner wachsamen Polizei, um Maka und seine Landsleute davon abzuhalten, während der Nacht ohne Laterne spazierenzugehen.
Viertes Kapitel
Geschichte eines Tabus
Am Morgen nach unserer Ankunft (Sonntag, 14. Juli 1889) waren unsere Photographen früh wach. Wieder einmal durchschritten wir eine schweigende Stadt, viele lagen noch schlafend im Bett, manche saßen träumend in ihren offenen Häusern, nirgendwo ein Laut der Unterhaltung oder Geschäftigkeit. In dieser Stunde vor den starken Schatten des Tageslichts schien das Stadtviertel beim Palast und Kanal ein Landungsplatz aus Tausendundeiner Nacht oder aus klassischen Dichtungen zu sein; hier war das richtige Ziel für Feenschiffe, hier mochte ein abenteuernder Prinz an Land gehen, um neue Bekanntschaften zu machen und Neues zu erleben, und das Inselgefängnis, das auf dem dämmerigen Antlitz der Lagune schwamm, lag da wie eine zweite Gralsburg. An solchem Ort und zu solcher Stunde empfing man nicht den Eindruck einer Reise in fremde Länder, sondern vielmehr den vergangener Zeiten; es schien uns, als hätten wir nicht viele Breitengrade durchquert, sondern als wären wir Hunderte von Jahren zurückversetzt und hätten gleichzeitig Heimat und Jetztzeit verlassen. Ein paar Kinder folgten uns, meistens nackt, alle schweigend; im klaren, pflanzenreichen Wasser des Kanals wateten einige schweigende junge Mädchen, die braunen Schenkel entblößt, und eines der Maniap's vor dem Palasttor zog uns an durch leises, aber erregtes Stimmengesumm.
Die ovale Hütte war voll von Menschen, die mit gekreuzten Beinen dasaßen. Der König war anwesend in gestreiften Pyjamas, seine Rückendeckung bildeten vier Wachtsoldaten mit Winchesterbüchsen, seine Miene und Haltung zeigte ungewöhnliche Erregtheit und Entschlossenheit, Gläser und schwarze Flaschen machten die Runde, und das Gespräch war laut, allgemein und angeregt. Ich war zunächst geneigt, diese Szene als verdächtig zu betrachten. Aber die Stunde schien ungeeignet für ein Gelage, das Trinken war außerdem durch das Landesgesetz und die Vorschriften der Kirche verboten, und während ich noch zögerte, zerstreute die strenge Haltung des Königs meine letzten Zweifel. Wir waren gekommen, um ihn, umgeben von seinen Wachen, zu photographieren, und bei der ersten Andeutung dieser Absicht revoltierte seine Frömmigkeit. Wir wurden an die Heiligkeit des Tages, eines Sonntags, erinnert, an dem du nicht photographieren sollst, und kehrten mit einem Floh im Ohr zurück, die verschmähte Kamera unter dem Arm.
In der Kirche überraschte es mich ein wenig später, daß der Thron unbesetzt blieb. Ein so begeisterter Sonntagsanhänger mußte eigentlich Zeit gefunden haben, anwesend zu sein. Meine Zweifel belebten sich wieder, und bevor ich zu Hause war, erhielt ich Gewißheit. Tom, der Barkeeper von Sanssouci, war im Gespräch mit zwei Abgesandten des Hofes. Der » keen«, sagten sie, wünschte » din«, und wenn Gin nicht vorhanden sei, » perandi«, Brandy. Kein din, war Toms Antwort, und kein perandi, aber pira, Bier, wenn sie es wünschten. Anscheinend wollten sie kein Bier haben und zogen sich verdrießlich zurück.
»Was bedeutet das alles?« fragte ich, »veranstaltet die Insel ein Zechgelage?«
Es war in der Tat so. Am vierten Juli hatte man ein Festgelage gegeben, und der König hatte auf Anraten der Weißen das Tabu für alkoholische Getränke aufgehoben. Es gibt ein Sprichwort von Pferden, das sich kaum auf das höchstentwickelte Tier anwenden läßt, von dem man vielleicht richtiger sagt, ein einzelner könne es zum Trinken bringen, aber zwanzig nicht zum Aufhören. Das Tabu war vor zehn Tagen aufgehoben und noch nicht wieder auferlegt. Zehn Tage lang hatte die Flasche in der Stadt die Runde gemacht, oder man hatte, wie wir am gestrigen Nachmittag gesehen hatten, betäubt geschlafen. Der König, von den Altmännern und seinen eigenen Gelüsten bestimmt, hielt die Erlaubnis immer noch aufrecht, verschleuderte alle seine Ersparnisse im Trunk und nahm an Saufgelagen teil, ja, er gab den Ton an. Die Weißen waren die Anstifter dieser Krisis, auf ihren eigenen Vorschlag hin hatte man zuerst die Genehmigung erteilt, und eine Zeitlang war es ihnen im Interesse des Handels ohne Zweifel recht, daß das Trinken anhielt. Dies Vergnügen war ihnen nun schon eine Weile vergangen, das Gelage hatte sich, wie man zugab, über die Maßen hinausgezogen, und es entstand die Frage, wie man es zu einem Ende bringen könnte. Daher die Weigerung Toms. Aber diese Weigerung war nur für den Augenblick bestimmt und hatte offenbar keinen Erfolg, denn die Boten des Königs, von Tom in Sanssouci zurückgewiesen, würden in » The Land we live in« von dem habgierigen Mr. Williams versorgt werden.
Der Gefahrengrad war damals nicht leicht abzuschätzen, und ich neige heute zu der Ansicht, daß man ihn etwas übertrieb. Aber die Haltung von Trunkenbolden selbst bei uns in der Heimat ist immer eine ängstliche Angelegenheit, und bei uns zu Hause ist die Bevölkerung von den Niedrigsten bis zu den Höchsten nicht mit Revolvern und Repetiergewehren bewaffnet; auch gehen wir nicht städteweise auf den Bummel, oder ich möchte sagen staatweise, während hier König, Magistrat, Polizei und Armee sich alle zu allgemeiner Betrunkenheit vereinigten. Auch muß man bedenken, daß wir hier auf Barbareninseln weilten, die selten besucht werden und erst seit kurzer Zeit und nur teilweise zivilisiert sind. In der Tat ist auf den Gilbertinseln eine immerhin beträchtliche Anzahl von Weißen, hauptsächlich durch eigenes Verschulden, umgekommen, und die Eingeborenen haben in mehr als einem Fall Neigung gezeigt, eine Metzelei als Unglücksfall darzustellen und nichts übrigzulassen als abgenagte Knochen. Dieser letzte Umstand war der Hauptgrund gegen ein plötzliches Schließen der Bars, denn die Barkeeper standen mitten in der Bresche und hatten es mit Verrückten zu tun. Mit ziemlicher Sicherheit würde die Verweigerung von Alkohol jeden Augenblick eine Schlägerei hervorrufen können, und die Schlägerei könnte das Signal für ein Blutbad werden.
Montag, den 15. Juli. Zu derselben Stunde wie gestern kehrten wir zu demselben Maniap' zurück. Ausgerechnet Kümmel machte in Gläsern die Runde, in der Mitte saß der Kronprinz, ein fetter junger Mann, umgeben von vollen Flaschen, und gebrauchte eifrig den Korkenzieher. König, Häuptlinge und Volk hatten alle den hängenden Mund, die schlaffe Haltung und den starren, glänzenden Blick des Trinkers am frühen Morgen. Es war uns klar, daß wir ungeduldig erwartet wurden, der König zog sich schleunigst zurück, um sich anzuziehen, die Wachen wurden nach ihren Uniformen gesandt, und wir blieben in Erwartung dieser Vorbereitungen zurück mit einem Haus voll betrunkener Eingeborenen. Die Orgie war schon weiter fortgeschritten als am Sonntag. Der Tag versprach sehr heiß zu werden, es war bereits schwül, die Höflinge waren schon berauscht, und immer noch machte der Kümmel die Runde, der Kronprinz spielte den Kellner. Flämische Ungezwungenheit folgte flämischen Exzessen, und ein lustiger hübscher Kerl, bunt gekleidet, mit einem großen Turban von gekräuseltem Haar, erheiterte die Gesellschaft durch einen heiteren Flirt mit einer Dame in unbeschreiblicher Manier. Wir wurden in dieser Wartezeit abgelenkt durch die Betrachtung der sich versammelnden Wachtmannschaften, die europäische Waffen, europäische Uniformen und, zu ihrem Schmerz, europäische Schuhe trugen. Wir blickten zu, wie einer dieser Krieger mit diesem Kleidungsstück gleich Mars bewaffnet wurde: zwei Männer und eine starke Frau waren kaum stark genug, ihm die Schuhe anzuziehen, und nach einer einzigen Parade ist die Armee für eine Woche verkrüppelt.
Schließlich öffneten sich die Tore des Königshauses, die Armee schritt heraus, ein Mann nach dem andern, mit Gewehren und Achselstücken, die Fahnen senkten sich unter dem Torweg, Se. Majestät folgte in seiner goldbesetzten Uniform, die Gemahlin Sr. Majestät kam hinterher in Federhut und reich verziertem Seidengewande, die königlichen Sprößlinge folgten: so entwickelte sich der Hofstaat von Makin auf der selbstgewählten Bühne. Dickens könnte berichten, wie ernst sie alles nahmen, wie betrunken sie waren, wie der König unter dem aufgestülpten Hut in Schweiß zerfloß, wie er sich neben die größte seiner zwei Kanonen stellte, erhaben, majestätisch, aber nicht ganz gerade, wie die Truppen schwankten, ausgerichtet wurden und wieder zusammensanken, wie sie und ihre Donnerbüchsen gleich Schiffsmasten in die verschiedensten Richtungen wiesen, und wie ein Amateurphotograph sie nun in Augenschein nahm, gruppierte und zurechtrückte, um immer wieder alles verändert zu finden, bevor er den Apparat erreichte.
Die Sache sah sich lustig an, aber ich weiß nicht, ob es richtig war, darüber zu lachen, und unser Bericht über diese Umstände wurde bei unserer Rückkehr mit ernstem Kopfschütteln aufgenommen.
Der Tag hatte schlecht begonnen, elf Stunden trennten uns noch vom Sonnenuntergang, und jeden Augenblick konnten beim geringsten Anlaß Unruhen ausbrechen. Das Wightman-Gebäude war im militärischen Sinne unhaltbar, denn an drei Seiten standen Häuser und dichtes Buschwerk, die Stadt sollte nach Gerüchten über tausend ausgezeichnete neue Waffen beherbergen, und ein Rückzug auf die Schiffe war, wenn er dringlich wurde, unmöglich zu bewerkstelligen. Unsere Unterhaltung mochte an diesem Morgen stark der Unterhaltung in den englischen Garnisonen vor der Sepoy-Meuterei ähneln: hartnäckiges Bezweifeln kommenden Unheils, die feste Überzeugung, daß, wenn etwas geschähe, nichts übrigbliebe, als kämpfend zugrunde zu gehen, eine halb heitere, halb ängstliche Gemütsverfassung, in der wir die weiteren Entwicklungen abwarteten, alles das mochte ähnlich sein.
Der Kümmel war bald zu Ende, und wir waren kaum zurückgekehrt, als der König uns folgte, um mehr zu verlangen. Herr Leichnam hatte sein entsetzliches Gewand nun abgelegt, sein unförmiger Leib war wieder in gestreifte Pyjamas gehüllt, ein Wachtsoldat führte die Leibgarde an, das Gewehr nachschleifend, und Se. Majestät war außerdem begleitet von einem Walfischfänger aus Rarotongan und dem lustigen Höfling mit dem kraushaarigen Turban. Ich habe nie lebhaftere Abgesandte gesehen. Der Walfischfänger gaffte und weinte in seiner Betrunkenheit, der Höfling ging wie auf Eiern, der König selbst war sogar scherzhaft aufgelegt. Er saß auf einem Stuhl in Ricks Wohnzimmer und ließ sich durch unsere Bitten und Drohungen in keiner Weise bewegen. Er wurde sogar gescholten, man führte geschichtliche Beispiele an, drohte ihm mit Kriegsschiffen und befahl ihm, das Tabu sofort wiederherzustellen: nichts rührte ihn im geringsten. Es solle morgen geschehen, sagte er, heute stehe es außerhalb seiner Macht, heute dürfe er nicht. »Ist das königlich?« rief Mr. Rick unwillig aus. Nein, es war nicht königlich; wäre der König ein königlicher Charakter gewesen, so würden wir selbst eine andere Sprache geführt haben, und königlich oder nicht, er trug bei dieser Unterredung den Sieg davon. Die Kräfteverhältnisse waren allerdings nicht gleich, denn der König war der einzige Mann, der das Tabu wiederherstellen konnte, aber Ricks waren nicht die einzigen, die Getränke verkauften, er brauchte nur festzubleiben, um uns wankend zu machen. Sie stritten sich noch ein wenig herum, um das Gesicht zu wahren, und dann ging diese höchst berauschte Deputation in heller Freude fort und führte einen Kasten Brandy auf einer Schubkarre mit sich. Der Mann aus Rarotongan, den ich vorher niemals gesehen hatte, schüttelte mir die Hände, als ob er eine weite Reise anträte. »Mein liebe Freund!« rief er aus, »lebe wohl, mein liebe Freund!« Kümmeltränen standen in seinen Augen, der König torkelte, der Höfling tänzelte: eine äußerst eigenartige Gruppe trunkner Kinder, denen man diese Kiste voll Irrsinn anvertraut hatte.
Man konnte mit dem besten Willen nicht behaupten, daß die Stadt ruhig sei. Den ganzen Morgen war die Stimmung erregt, überall herrschte Bewegung, die Eingeborenen sammelten sich zu Rotten auf der Straße. Aber es war bereits halb zwei, als uns plötzlich Stimmengeschrei aus dem Hause rief, und wir fanden die ganze weiße Kolonie wie auf ein verabredetes Zeichen bereits versammelt. Sanssouci wurde vom Pöbel überrannt, Treppe und Veranda waren voll von Menschen, aus allen Kehlen rangen sich unaufhörlich unartikulierte Laute, unverständlich wie das Blöken junger Lämmer, aber ärgerlicher. Auf dem Wege stand Se. Königliche Hoheit, die ich vor kurzem noch als Kellner gesehen hatte, und schrie auf Tom ein; auf der obersten Stufe stand Tom mitten im Getöse und brüllte den Prinzen an. Eine Weile umschwärmte das Pack noch heulend die Bar, dann erfolgte ein wütender Angriff, der Mob wich zurück, kehrte wieder und wurde von neuem zurückgeworfen. Über der Treppe schwamm ein Meer von Köpfen, und plötzlich zogen drei Männer einen vierten in ihrer Mitte gewaltsam mit sich fort durch die auseinanderstiebende Menge. An Haar und Händen wurde er, den Kopf auf die Knie niedergedrückt, das Gesicht verborgen, von der Veranda heruntergerissen, worauf er heulend den Weg entlang ins Dorf entwischte. Hätte er sein Gesicht gehoben, so hätten wir gesehen, daß er blutüberströmt war, aber nicht von seinem eigenen Blut. Der Höfling mit dem kraushaarigen Turban hatte die Kosten dieses Krawalles mit dem unteren Teil eines Ohres bezahlt.
So ging der Tumult vorüber mit einer einzigen Verwundung, die für Herzlose komisch scheinen mag. Aber rund um uns sahen wir ernsthafte Gesichter, und Tom schloß die Läden der Bar, eine Tatsache, die Bände sprach. Mochte die Kundschaft zu anderen Türen gehen und Mr. Williams verdienen, soviel er wollte – Tom hatte für heute genug vom Schnapsverkauf. Tatsächlich hatte alles an einem Haar gehangen. Ein Mann hatte versucht, einen Revolver zu ziehen, aus welcher Ursache weiß ich nicht, und vielleicht hätte er selbst darüber keinen Aufschluß geben können. Ein Schuß in dem überfüllten Raum würde sicher jemand getroffen haben, und wo so viele Bewaffnete und Betrunkene zusammen waren, hätte er sicher weitere im Gefolge gehabt. Die Frau, die die Waffe sah, und der Mann, der sie an sich riß, hatten vielleicht die weiße Kolonie gerettet.
Der Pöbel zog sich allmählich stumpfsinnig zurück, und für den Rest des Tages ließ man unsere Nachbarn in Frieden, es wurde fast einsam um uns. Aber die Beruhigung beschränkte sich nur auf diesen Platz, » din« und » perandi« flossen an anderen Stellen in Strömen, und wir mußten noch einmal einer Gewalttätigkeit zuschauen, wie sie auf den Gilbertinseln üblich ist. In der Kirche, wohin wir gingen, um zu photographieren, wurden wir plötzlich durch ein heftiges Geschrei aufgeschreckt. Die Szene, auf die wir durch die Türen dieser großen schattigen Halle blickten, blieb uns unvergeßlich. Die Palmen, die sonderbaren, zerstreuten Häuser, die Inselflagge, die an dem hohen Mast wehte: alles lag in glühender, unerträglicher Sonnenhitze. Mitten dazwischen wälzten sich auf dem Gras zwei Weiber. Die Kämpfenden waren um so leichter voneinander zu unterscheiden, als die eine nackt war bis auf das Ridi und die andere ein Holoku (Hemdgewand) trug von ziemlich auffälliger Farbe. Die erstere lag oben, hatte ihre Zähne in das Gesicht der Gegnerin gegraben und schüttelte sie wie einen Hund, die andere schlug und kratzte vergebens. So sahen wir sie einen Augenblick wie Schlangen sich wälzen und winden, dann bildete der Pöbel einen Ring um sie und schloß sie ein.
Wir fragten uns ernsthaft, ob wir in dieser Nacht an Land schlafen sollten, aber wir waren fahrendes Volk, das weither gekommen war, um Abenteuer zu erleben. Es wäre in der Tat inkonsequent gewesen, wenn wir uns beim ersten Anzeichen eines wirklichen Abenteuers zurückgezogen hätten, und wir ließen statt dessen unsere Revolver von Bord holen. In der Erinnerung an Taahauku hielten Mr. Rick, Mr. Osbourne und meine Frau auf den öffentlichen Straßen eine Waffenprobe ab und schossen unter den bewundernden Blicken der Eingeborenen auf Flaschen. Kapitän Reid vom »Equator« blieb mit uns an Land, um nötigenfalls zur Hand zu sein, während wir uns zur gewohnten Stunde schlafen legten, angenehm erregt von den Ereignissen des Tages. Die Nacht war herrlich, die Stille bezaubernd, aber als ich in meiner Hängematte lag und in den hellen Mondschein und die riesigen Palmen sah, verfolgte mich das häßliche Bild der beiden Weiber, nackt und halb bekleidet, in feindlicher Umarmung verbissen. Die Verletzungen, die sie sich beibrachten, waren wahrscheinlich nicht erheblich, aber ich hätte mit geringerer Empörung Totschlag und Metzelei ansehen können. Die Rückkehr zu dieser alten Kampfmethode, der Anblick menschlicher Bestialität und Roheit erschütterten mich mehr als die Verlustziffern unserer Schlachten – Elemente unserer Staatsgeschichte, die wir gern vergessen, und bei denen wir, wenn wir klug sind, nicht verweilen. Verbrechen, Seuchen und Tod bringt jeder Tag, unsere Phantasie verarbeitet sie rasch. Sie sträubt sich aber instinktiv gegen alles, was uns den Zustand des Menschengeschlechtes auf den tiefsten Stufen der Entwicklung ins Gedächtnis zurückruft, da wir mit Tieren, selbst tierisch, ohne jede Ordnung wüst dahinlebten und als behaarte Männer mit behaarten Frauen in den Höhlenwohnungen alter Zeit hausten. Und doch, um gerecht zu sein gegen diese barbarischen Insulaner, dürfen wir die Scheunen und Verließe unserer Großstädte nicht vergessen, und ich darf nicht vergessen, daß ich, um zu speisen, einstmals durch Soho in London ging und, angewidert von dem, was ich sah, den Appetit verlor.
Fünftes Kapitel
Geschichte eines Tabus (Fortsetzung)
Dienstag, den 16. Juli. Es regnete in der Nacht plötzlich und laut nach Gilbertinselart. Vor Tagesanbruch weckte mich ein Hahnenschrei, und ich wanderte über unser Gelände auf die Straße. Das Unwetter war vorüber, der Mond schien in unvergleichlichem Glanz, die Luft lag totenstill wie in einem geschlossenen Raum, und doch hallte die ganze Insel wider, als wenn starke Regenschauer niedergingen. Es plätscherte in Strömen von den Dächern, und in längeren Zwischenräumen fielen Tropfen laut hörbar von den hohen Palmen. In diesem starken Licht der Nacht lag das Innere der Häuser unkenntlich wie eine schwarze Masse, wenn der Mond nicht unter das Dach glitt, seine Silberstreifen zog und schräge Säulenschatten auf den Boden warf. Nirgends in der Stadt sah man Lampen oder glühende Asche, kein Mensch rührte sich, ich glaubte, ich sei allein wach, aber die Polizei tat treulich ihre Pflicht, wachte insgeheim und zählte die Stunden. Ein wenig später schlug der Wächter langsam und mehrere Male die Glocke der Kathedrale: vier Uhr, der Weckruf. Sonderbar, daß in einer Stadt, die sich der Trunkenheit und dem Aufruhr ergeben hatte, die Abend- und Morgenglocke noch ertönte und beachtet wurde.
Der Morgen kam und brachte wenig Veränderung. Der Ort lag noch still da, das Volk schlief, die Stadt schlief. Selbst diejenigen, die wach waren, meistens Frauen und Kinder, hielten Ruhe und blieben unter dem dunklen Schatten der Strohhütte, so daß man stehenbleiben und angestrengt hinsehen mußte, um sie zu erkennen. Durch die einsamen Straßen und vorbei an den schlafenden Häusern zog in früher Stunde eine Deputation zum Palast, der König wurde plötzlich geweckt und mußte, wahrscheinlich mit Kopfschmerzen, unangenehmen Wahrheiten lauschen. Mrs. Rick, die die schwierige Landessprache genügend beherrschte, war die Sprecherin, sie erklärte dem kranken Monarchen, daß ich ein intimer persönlicher Freund der Königin Viktoria sei, daß ich ihr sofort nach meiner Rückkehr Bericht erstatten würde über Butaritari und daß, wenn mein Haus noch einmal von Eingeborenen überfallen würde, ein Kriegsschiff abgeschickt werde, um Repressalien zu ergreifen. Das waren nun kaum Tatsachen, sondern gerechtfertigte und notwendige Umschreibungen, zugeschnitten auf unseren Breitengrad, und sie machten sichtlich Eindruck auf den König. Er war sehr betroffen und sagte, er habe wohl gehört, ich sei ein Mann von einiger Bedeutung, aber er habe sich nicht träumen lassen, daß es so schlimm stehe. Und so wurde das Haus des Missionars bei einer Strafe von fünfzig Dollar mit dem Tabu belegt.
Das erzählte man uns nach der Rückkehr der Deputation, nichts weiter, und ich schloß daraus, daß sich viel mehr zugetragen hatte. Der erlangte Schutz war willkommen; es war höchst lästig und die unangenehmste Aufregung des gestrigen Tages gewesen, daß sich unser Haus von Zeit zu Zeit mit betrunkenen Eingeborenen füllte, zwanzig oder dreißig zu gleicher Zeit, die um Alkohol baten, unser Eigentum betasteten, schwer wieder loszuwerden waren, und mit denen man sich nicht gern herumstritt. Der Freund der Königin Viktoria, der bald zu ihrem Sohn erhoben werden sollte, war gegen alle Belästigungen geschützt. Nicht nur mein Haus, sondern auch die Nachbarschaft wurde in Ruhe gelassen, selbst auf unseren Spaziergängen wurden wir bewacht, man räumte uns alles Unangenehme aus dem Wege, und wir sahen nur Schönes, wie Leute, die ein Krankenhaus besuchen. Ungefähr acht Tage lang ließ man uns so aus und ein gehen und wie in einem Narrenparadies leben, indem man uns glauben machte, der König habe sein Wort gehalten, das Tabu sei wieder aufgerichtet und die Insel wieder nüchtern.
Dienstag, den 23. Juli. Wir aßen in einer offenen Drahtumzäunung, die für den vierten Juli errichtet worden war, zu Mittag, und hier pflegten wir auch bei Lampenlicht, Kaffee und Tabak auszuruhen. In diesen Zonen senkt sich der Abend herab ohne fühlbare Abkühlung, der Wind legt sich vor Sonnenuntergang, der Himmel erglüht eine Weile, wird blasser und dunkelt zu der Bläue der tropischen Nacht herab. Rasch und unmerkbar verstärken sich die Schatten, die Sterne vervielfachen sich, man blickt um sich, und der Tag ist vorüber. Dann pflegte unser chinesischer Koch quer über den Platz herbeizukommen in einem Strahlenkranz von Licht, den sein Schatten zerteilte, und wenn die Lampe auf dem Tisch stand, war ringsumher tiefe Nacht. Die Gesichter unserer Gesellschaft und die Drähte der Laube hoben sich leuchtend ab von einem Hintergrund aus Blau und Silber, auf dem Palmwipfel und spitze Hausdächer sich matt abzeichneten. Hier und da glänzte ein schimmerndes Blatt oder eine Steinkante vereinzelt auf. Sonst war alles versunken. Wir hingen wie die Milchstraße im Leeren, wir saßen vor aller Welt blind da inmitten der Dunkelheit, die alles verhüllte, und unsichtbar schlichen auf leisen Sohlen und mit gedämpften Stimmen die Insulaner im Sand der Straße herbei, um uns zu beobachten.
Am Dienstag, als die Dunkelheit hereingebrochen und die Lampe gerade gebracht worden war, traf ein Wurfgeschoß mit hartem Schlag den Tisch, prallte zurück und flog dicht an meinem Ohr vorbei. Drei Zoll mehr seitwärts, und diese Zeilen wären niemals geschrieben worden, denn das Ding sauste wie eine Kanonenkugel. Man vermutete, es sei eine Kokosnuß, obgleich ich schon damals glaubte, sie sei doch zu klein und sehr sonderbar gefallen.
Mittwoch, den 24. Juli. Wieder war die Dunkelheit hereingebrochen und die Lampe gerade gebracht, als sich dieselbe Geschichte wiederholte. Wieder flog der Gegenstand hart an meinem Ohr vorbei. Eine Nuß hatte ich willig hingenommen, eine zweite wies ich energisch zurück. Eine Kokosnuß fliegt nicht schräg herab an einem windstillen Abend und nicht in einem Winkel von fünfzehn Grad zum Horizont; Kokosnüsse fallen auch nicht an aufeinanderfolgenden Nächten zur selben Stunde und am selben Ort wieder. In beiden Fällen schien auch ein ganz besonderer Augenblick gewählt worden zu sein, nämlich der, als gerade die Lampe herausgetragen war; eine ganz besondere Person wurde bedroht, und zwar das Haupt der Familie. Ich glaubte, mit Recht oder Unrecht, man wollte mich einschüchtern, das Wurfgeschoß sei ein Stein, der geschleudert wurde, nicht um mich zu treffen, sondern um mich zu erschrecken.
Es gibt nichts, was einen Mann in größere Wut versetzen könnte, ich rannte auf den Weg, wo die Eingeborenen wie gewöhnlich in der Dunkelheit spazierengingen, Maka schloß sich mir mit einer Laterne an, ich lief von einem zum andern, starrte in ganz unschuldige Gesichter, stellte unnütze Fragen und stieß nutzlose Drohungen aus, dann trug ich meine Wut, die des Sohnes irgendeiner historischen Königin würdig war, zu den Ricks. Sie hörten mich niedergeschlagen an, versicherten mir, daß der Streich, einen Stein in eine Familienmahlzeit hineinzuschleudern, nicht neu sei, daß Unheil drohe, und daß man die Erregung der Eingeborenen daraus erkennen könne. Und dann kam die Wahrheit, die uns solange verheimlicht wurde, ans Licht. Der König hatte sein Versprechen gebrochen, er hatte die Deputation getauscht, das Tabu war noch nicht wieder aufgerichtet, » The Land we live in« verkaufe immer noch Alkohol, und jener Stadtteil drüben sei durch Unruhen und Streitereien immer noch bedroht. Aber Schlimmeres stand bevor: ein Festmahl war für den Geburtstag der kleinen Prinzessin in Vorbereitung, und die tributpflichtigen Häuptlinge von Kuma und Klein-Makin wurden jeden Tag erwartet. Ihre Gefolgschaft war zahlreich und ziemlich wild, beide waren wie ein Douglas der Urzeit von zweifelhafter Loyalität. Kuma, ein kleiner dickbäuchiger Bursche, besuchte niemals den Palast, betrat nie die Stadt, sondern saß am Strand auf einer Matte, sein Gewehr über die Knie gelegt, um sein Mißtrauen und seine Verachtung öffentlich kundzutun. Karaiti von Makin, der allerdings kühner war, hielt man nicht für freundlicher gesinnt, und nicht nur diese Vasallen waren eifersüchtig auf den Herrscher, sondern auch ihre Anhänger auf beiden Seiten teilten den Haß. Schon hatten Reibereien stattgefunden, und Schläge waren ausgeteilt, die jeden Augenblick durch Blutvergießen heimgezahlt werden konnten. Einige Fremdlinge waren schon eingetroffen und bereits betrunken. Wenn das Gelage fortgesetzt wurde, nachdem der ganze Haufe hier war, mußte man einen Zusammenstoß und vielleicht eine Revolution befürchten.
Der Verkauf von Alkohol auf dieser Inselgruppe ist eine Folge der Eifersüchteleien verschiedener Händler. Einer macht den Anfang, die andern sind gezwungen mitzutun, und wer den meisten Gin hat und ihn am rücksichtslosesten verkauft, dem wird der Löwenanteil an der Kopraernte zugesichert. Alle empfinden, daß dies Mittel äußerst gewagt und keineswegs sicher, anständig und würdig ist. Ein Händler auf Tarawa, durch starke Konkurrenz erregt, brachte viele Kasten Gin herbei und erzählte mir, daß er nachher Tag und Nacht in seinem Haus gesessen habe, bis alles ausgetrunken sei, denn er habe nicht gewagt, den Verkauf einzustellen oder fortzugehen, weil der ganze Busch ringsumher voll lärmender Trunkenbolde gewesen sei. Besonders in der Nacht, wenn er vor Angst nicht schlafen konnte und überall Schüsse und Rufe in der Dunkelheit hörte, habe er die heftigsten Gewissensbisse gehabt.
»Mein Gott,« überlegte er sich, »wenn ich mein Leben wegen eines so verruchten Geschäftes verlieren sollte!« Immer wieder haben sich in der Geschichte der Gilbertinseln solche Szenen wiederholt, der reuige Händler saß bei der Lampe, sehnte den Tag herbei, horchte unter Todesangst auf Geräusche, die einen Mord ankündigen konnten, und faßte gute Vorsätze für die Zukunft, denn das Geschäft ist leicht begonnen, aber gefährlich zu enden. Die Eingeborenen sind in ihrer Art gerecht und gesetzestreu, bezahlen ihre Schulden und folgen den Vorschriften ihrer eigenen Sitten. Wenn das Tabu wiederhergestellt ist, hören sie auf zu trinken, aber der Weiße, der sich der Bewegung entgegenstemmen will, indem er den Verkauf von Alkohol verweigert, tut es auf eigene Gefahr.
Daraus war bis zu einem gewissen Grade die Angst und Hilflosigkeit Mr. Ricks zu erklären. Er und Tom hatten, alarmiert durch die Schlägerei in der Bar Sanssouci, den Verkauf eingestellt, und zwar ohne Gefahr, weil » The Land we live in« noch mit dem Ausschank fortfuhr. Man behauptete außerdem, sie hätten zuerst damit begonnen. Welche Schritte konnten unternommen werden? Konnte Mr. Rick Mr. Müller, mit dem er schlecht stand, aufsuchen und zu ihm sprechen: »Ich hatte einen Vorsprung vor dir, jetzt bist du mir voraus, und ich bitte dich, auf deinen Gewinn zu verzichten. Ich habe meine Schenke in aller Sicherheit geschlossen, weil du noch weiterverkaufst, aber jetzt glaube ich, hast du lange genug damit fortgefahren. Ich werde unruhig, und weil ich Angst habe, bitte ich dich, eine bestimmte Gefahr zu laufen!«? Daran war nicht zu denken. Man mußte irgend etwas anderes ausfindig machen, und nur eine einzige Person am einen Ende der Stadt war wenigstens nicht interessiert am Koprahandel. Sonst war eigentlich wenig zu meinen Gunsten als Abgesandter zu sagen. Ich war im Wightman-Schoner angekommen, ich lebte auf dem Wightman-Grundstück, ich war täglich mit den Wightmanleuten zusammen. Es war unerhört genug, daß ich mich nun unaufgefordert in die Privatangelegenheiten des Crawfordagenten einmischen und ihn drängen wollte, seine Interessen zu opfern und sein Leben aufs Spiel zu setzen. So schlecht der Ausweg war, so gab es doch keinen anderen, und da ich außerdem seit dem Vorfall mit dem Stein begierig war, irgend etwas zu unternehmen, so reizte mich der Gedanke an ein so heikles Gespräch, und ich glaubte, es sei eine gute Taktik, mich draußen zu zeigen.
Die Nacht war sehr dunkel, in der Kirche war Gottesdienst, und das Gebäude schimmerte aus allen Spalten wie eine düstere schottische Kirche. Ich sah sehr wenig andere Lichter, aber vernahm das undeutliche Geräusch von vielen Menschen, die in der Dunkelheit unterwegs waren, und das dumpfe Murmeln leiser Unterhaltungen, die geheimnisvoll klangen. Ich glaube, daß ich mich oft umwandte, als ich vorwärts schritt. Die Bar Müllers war nur teilweise erleuchtet und ganz ruhig. Die Pforte war verschlossen. Ich konnte den Riegel mit dem besten Willen nicht entfernen: kein Wunder, denn ich stellte nachher fest, daß er vier oder fünf Fuß lang sei wie bei einer Festung. Als ich noch daran zerrte, kam ein Hund aus dem Hause gelaufen und schnappte verdächtig nach meinen Händen, so daß ich gezwungen war zu rufen: »Heda! Ihr Leute im Hause!« Mr. Müller kam herbei und steckte sein Kinn in der Dunkelheit durch die Latten. »Wer ist dort?« fragte er in einem Ton, der Fremde nicht gerade willkommen hieß.
»Mein Name ist Stevenson«, sagte ich.
»Oh, Mr. Stevenson, ich habe Sie nicht erkannt, kommen Sie herein.«
Wir traten in den dunklen Laden, wo ich mich gegen den Tisch lehnte und er sich gegen die Wand. Alles Licht kam aus dem Schlafzimmer, wo die Familie soeben zu Bett gebracht wurde. Es fiel mir gerade ins Gesicht, während Mr. Müller im Schatten stand. Ohne Zweifel erriet er das, was kommen sollte, und suchte sich vorteilhaft zu stellen, aber für einen Mann, der jemand überzeugen will und nichts zu verbergen hat, war mein Standort der bessere. »Hören Sie zu,« begann ich, »man sagt mir, daß Sie den Eingeborenen Alkohol verkaufen.«
»Andere haben vor mir dasselbe getan«, entgegnete er scharf.
»Sicher,« sagte ich, »und ich habe nichts mit der Vergangenheit zu tun, sondern nur mit der Zukunft. Ich wünsche, daß Sie mir versprechen, die Spirituosen mit größter Vorsicht auszugeben.«
»Aus welchem Grunde?« fragte er und fügte spöttisch hinzu: »Fürchten Sie für Ihr Leben?«
»Das gehört nicht zur Sache«, erwiderte ich. »Sie wissen so gut wie ich, daß diese Spirituosen nicht verkauft werden sollten.«
»Tom und Mr. Rick haben sie zuerst verkauft!«
»Ich habe mit Tom und Mr. Rick nichts zu tun, aber soviel ich weiß, verweigern sie den Verkauf.«
»Ich will Ihnen glauben, daß Sie nichts mit ihnen zu tun haben. Dann fürchten Sie also für Ihr Leben!«
»Lassen Sie das jetzt!« rief ich, vielleicht ein wenig gereizt. »Sie wissen selbst sehr genau, daß mein Verlangen vernünftig ist. Ich erwarte nicht, daß Sie auf Ihren Gewinn verzichten, obgleich es mir besser scheint, es würden überhaupt keine Spirituosen hierhergebracht.«
»Ich sage nicht, daß ich anderer Meinung bin. Ich habe nicht angefangen«, unterbrach er mich.
»Ich behaupte das ja auch nicht,« sagte ich, »und ich verlange nicht von Ihnen, daß Sie sich Verluste zufügen. Ich bitte Sie nur, mir von Mann zu Mann Ihr Wort zu geben, daß Sie keinen Eingeborenen betrunken machen wollen.«
Bis jetzt hatte Mr. Müller eine Haltung angenommen, die mich sehr ärgerte, aber sie fiel ihm schwer, da er gefühlsmäßig ganz auf meiner Seite stand, und nun verschlechterte er seine Position. »Ich verkaufe ja nicht«, sagte er.
»Nein,« stimmte ich ihm zu, »jener Schwarze tut's, er kauft und verkauft für Sie, Sie haben ihn in Ihrer Gewalt, und ich bitte Sie – ich habe meine Frau hier – Ihre Autorität zu gebrauchen.«
Rasch machte er wieder die alten Ausflüchte. »Ich leugne nicht, daß ich es könnte, wenn ich wollte,« sagte er, »aber es besteht keine Gefahr, die Eingeborenen sind alle ruhig, Sie haben nur Sorge um Ihr Leben.«
Ich liebe es nicht, ein Feigling genannt zu werden, wenn auch nur andeutungsweise, und nun verlor ich meine Selbstbeherrschung und stellte ihm zu früh mein Ultimatum.
»Sprechen Sie sich klar aus«, rief ich. »Weigern Sie sich, meine Bitte zu erfüllen?«
»Weder weigere ich mich, noch gebe ich nach«, antwortete er.
»Sie werden sich bald überzeugen, daß Sie das eine oder andere zu tun haben, und zwar sofort!« rief ich aus und fuhr fort, indem ich einen leichteren Ton anschlug: »Sehen Sie, Sie sind im Grunde ein guter Mensch. Ich weiß, woran Sie sich stoßen, Sie glauben, daß ich zum gegnerischen Lager gehöre. Ich sehe, Sie sind ein anständiger Kerl, und Sie wissen genau, daß ich recht habe.«
Wieder wechselte er die Stellung. »Wenn die Eingeborenen begonnen haben zu trinken, ist es nicht klug, sie zu stören«, warf er ein.
»Ich übernehme die Verantwortung für die Bar«, sagte ich. »Wir sind drei Männer mit vier Revolvern, wir kommen sofort, wenn Sie uns rufen, und halten den Platz gegen das ganze Dorf.«
»Sie wissen nicht, was Sie sagen, es ist zu gefährlich!« rief er aus.
»Sehen Sie,« sagte ich, »mir liegt nicht viel daran, mein Leben zu verlieren, von dem Sie soviel sprechen, aber ich wünsche es so hinzugeben, wie es mir paßt, nämlich dadurch, daß ich dieser ganzen Bestialität ein Ende mache.«
Er redete eine Weile über seine Pflichten gegenüber der Firma, aber ich beachtete es nicht und war meines Sieges sicher. Er wartete nur auf eine günstige Gelegenheit, sich zu ergeben, und blickte um sich, um irgend etwas zu finden, was die Spannung lösen könne. Im Lichtschein, der vom Schlafzimmer aus hereindrang, sah ich eine Zigarrenspitze auf dem Tisch liegen. »Sie hat eine schöne Farbe«, sagte ich.
»Wünschen Sie eine Zigarre?« fragte er.
Ich nahm sie und hielt sie hoch, ohne sie anzuzünden. »Geben Sie mir jetzt Ihr Versprechen!« sagte ich.
»Ich verspreche Ihnen, daß Sie nicht durch Eingeborene belästigt werden sollen, die in meiner Bar getrunken haben«, antwortete er.
»Das ist alles, um was ich bitte«, sagte ich, und bewies gleich, daß es nicht alles sei, indem ich sofort bat, einmal seine Vorräte kosten zu dürfen. Soweit unsere Unterredung kritisch gewesen war, war sie nun abgeschlossen. Mr. Müller betrachtete mich jetzt nicht mehr als einen Abgesandten seiner Konkurrenten, verzichtete auf die abwehrende Haltung und sprach so, wie es ihm ums Herz war. Ich stellte fest, daß er den Verkauf bereits eingestellt hätte, wenn er es gewagt hätte. Um so mehr war ihm der Gedanke an eine Einmischung von einer Seite zuwider, die ihn nach seinen eigenen Angaben verführt und dann im Stich gelassen hatte; die andern waren jetzt in Sicherheit und wollten ihn zu einer gefährlichen Handlung verleiten, durch die sie alles gewinnen und er alles verlieren konnte. Ich fragte ihn, was er von den Gefahren hielte, die die Zecherei im Gefolge haben könne.
»Schlimmeres als Sie«, antwortete er. »Die ganze Nacht haben sie ringsumher geschossen, und die Kugeleinschläge habe ich auch gehört. Ich sagte zu mir: ›Das ist fatal!‹ Was mich wundert, ist, daß Sie auf Ihrem Ende der Stadt sich aufregen. Ich wäre der erste, der dran glauben müßte.«
Seine Verwunderung war unüberlegt. Der Trost, der zweite zu sein, ist nicht groß; die Tatsache, nicht die Reihenfolge des Dranglaubenmüssens interessierte uns.
Scott spricht bescheiden davon, daß man dem Augenblick des Kampfes entgegenblicke »mit einem Gefühl, das der Freude ähnelt«. Diese Ähnlichkeit scheint eher eine Übereinstimmung zu sein. Im modernen Leben gibt es keine langsame Fühlungnahme, man wird ungeduldig, wenn sich etwas langsam hinauszögert, und unser Blut ist erregt, wenn wir den Tatsachen gegenüberstehen und sogleich Vorteile erringen können, wir wollen auf die Probe gestellt werden und beweisen, was wir sind. Das traf jedenfalls auf meine Familie zu, die vor Freude zitterte beim Herannahen der Unruhen. Wir saßen bis tief in die Nacht hinein wie eine Schar Schuljungens, putzten die Revolver und spannen Pläne für den morgigen Tag, der ohne Zweifel aufregend und ereignisreich genug sein konnte. Die Altmänner sollten versammelt werden, um mir wegen der Tabufrage gegenübergestellt zu werden, Müller konnte uns jeden Augenblick rufen, um seine Bar zu besetzen, und wenn Müller versagen sollte, so beschlossen wir im Familienrat, wollten wir die Sache selbst in die Hand nehmen, » The Land we live in« vor die Mündung der Pistolen bringen und den vielsprachigen Williams nach unserer Pfeife tanzen lassen. Soweit ich mich unserer Stimmung erinnere, würde es dem Mulatten, glaube ich, nicht gut ergangen sein.
Mittwoch, den 24. Juli. Gut, daß diese Gewitterwolken sich still verzogen, wenn es auch eine Enttäuschung war. Ob die Altmänner die Unterredung mit dem Sohn der Königin Viktoria scheuten, ob Müller heimlich vermittelte, oder ob der Schritt erfolgte, weil der König sich fürchtete und das Fest herannahte: das Tabu war am frühen Morgen wieder verhängt. Keinen einzigen Tag zu früh, denn die Boote begannen in Scharen anzukommen, und die Stadt füllte sich mit den großen wilden Vasallen Karaitis.
Die Folgen hafteten den Händlern noch eine Weile im Gedächtnis. Unter Zustimmung aller Anwesenden verfaßte ich eine Petition an die Regierung der Vereinigten Staaten und erbat ein Gesetz gegen den Alkoholhandel auf den Gilbertinseln. Und auf allgemeines Verlangen fügte ich in meinem eigenen Namen einen kurzen Bericht über die letzten Ereignisse hinzu. Vergebliche Mühe, denn alles ruht wahrscheinlich ungelesen und vielleicht ungeöffnet in irgendeinem dunklen Winkel von Washington.
Sonntag, den 28. Juli. Dieser Tag brachte das Nachspiel zu den Zechereien. Der König und die Königin wohnten in europäischen Kleidern, gefolgt von der bewaffneten Garde, zum erstenmal dem Gottesdienst bei und hockten in zweifelhafter Würdigkeit hoch oben unter dem Faßreifen. Vor der Predigt kletterte Se. Majestät vom Thronsessel herunter, stand in schlaffer Haltung auf dem Kiesboden und schwor in einigen Worten dem Trunk ab. Die Königin folgte ihm mit einer noch kürzeren Formel. Alle Leute in der Kirche wurden darauf persönlich angeredet, jeder hielt die rechte Hand hoch, und die Sache war erledigt: Thron und Kirche waren wieder versöhnt.
Sechstes Kapitel
Das fünftägige Fest
Donnerstag, den 25. Juli. Die Straße war an diesem Tage stark belebt durch die Anwesenheit der Leute von Klein-Makin. Sie sind durchgängig größer als die Leute von Butaritari, waren wegen des Festtages mit gelben Blättern bekränzt und trugen prächtige, grellfarbige Gewänder. Man sagt, daß sie wild und auf diese Auszeichnung stolz sind. Tatsächlich schien es uns, als ob sie, ihrer barbarischen Tugenden wohl bewußt, in der Stadt umherstolzierten wie die Hochländer in ihren Plaids auf den Straßen von Inverneß.
Am Nachmittag sah man das Sommerhaus gerammelt voll von Menschen, viele standen draußen und drängelten wie Kinder bei uns zu Hause vor einem Zirkus, um einen Blick unter das niedrige Dach zu werfen. Es war die Gesangstruppe von Makin, die ihre Proben abhielt für den Tag des Wettbewerbes. Karaiti saß in der ersten Reihe dicht bei den Sängern, wohin auch wir gebeten wurden, um neben ihm zu sitzen, wahrscheinlich zu Ehren der Königin Viktoria. Eine gewaltige, atemraubende Hitze lag unter dem eisernen Dach, und die Luft war schwanger vom Duft der Kränze. Die Sänger saßen gruppenweise auf der Erde, feingeflochtene Matten um die Hüften, Kokosnußfedern als Ringe auf den Fingern, die Häupter gekrönt mit gelben Blättern. Eine verschiedene Anzahl von Solisten erhob sich zu den verschiedenen Gesängen, die den Hauptteil der Musik ausmachten. Aber alle Gruppen in ihrer Gesamtstärke trugen ständig zur Wirkung bei, auch wenn sie nicht sangen. Sie markierten scharf den Takt, äfften einander nach, schnitten Grimassen, warfen Köpfe und Blicke hin und her, ließen die Federn an ihren Fingern flattern, klatschten in die Hände oder schlugen an ihre linke Brust, daß es laut dröhnte wie eine Kesselpauke. Der Rhythmus war prächtig, die Musik barbarisch, aber voll bewußter Kunst. Ich bemerkte, daß gewisse Kunstgriffe ständig angewandt wurden. Eine plötzliche Änderung des Schlusses, glaube ich, wurde ohne Unterbrechung des Rhythmus vorgenommen, der durch plötzliche dramatische Erhöhung der Stimmlage und schwingendes allgemeines Gestikulieren betont wurde. Die Stimmen der Solisten begannen in großen Tonunterschieden und rauhem Mißklang, um allmählich zusammenzufließen. Dann fiel der volle Chor ein und übertönte sie. Die gewöhnlich gehetzte, bellende, unmelodische Tonfolge wurde manchmal herrlich unterbrochen von einer psalmenähnlichen Melodie, die oft gut erfunden war oder es wenigstens schien, aus dem Gegensatz heraus. Der Rhythmus wechselte oft, und am Schlusse jedes Vortrages, wenn das Tempo rasch und wild geworden war, folgten diese Takte:
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Es ist schwer zu begreifen, wie sie soviel Feuer und Besessenheit in diese gehämmerten Schlußrhythmen legen können. Alles vereinigt sich: Stimme, Hände, Augen, Blätter und flatternde Fingerringe, der Chor schwingt hin und her vor unseren Augen, der Gesang dröhnt pulsierend in den Ohren, die Gesichter verzerren sich vor Begeisterung und Anstrengung.
Bald darauf erhob sich die ganze Truppe, die Trommler bildeten einen Halbkreis für die Solisten, die manchmal fünf oder mehr zählten. Die folgenden Gesänge waren höchst dramatisch. Obgleich ich niemand hatte, der mir irgendeine Erklärung gab, konnte ich manchmal schattenhafte, aber entschiedene Umrißlinien einer Handlung feststellen, und ich wurde beständig an gewisse streithaft verwickelte Szenen unserer großen Opern daheim erinnert: genau so heben sich hier einzelne Stimmen aus dem allgemeinen Vortrag heraus und treten wieder zurück, genau so trennen sich die Darsteller und kommen wieder zusammen, schütteln die erhobene Faust und rollen das Auge zum Himmel – oder zur Galerie. Schon das geht über das primitive Vorbild des Tespiskarrens hinaus, die Kunst dieses Volkes ist bereits jenseits des Embryostadiums: Gesang, Tanz, Trommeln, Quartett und Solo – es ist ein vollentwickeltes Drama, wenn auch in kleinen Umrissen. Von allen sogenannten Tänzen in der Südsee waren die in Butaritari bei weitem die besten. Das »Lula«, das der eilige Globetrotter in Honolulu sehen kann, ist ohne Zweifel die langweiligste aller menschlichen Erfindungen, und der Zuschauer gähnt ob seiner Länge wie bei einer Universitätsvorlesung oder einer Parlamentsdebatte. Aber der Tanz der Gilbertinseln hat geistige Elemente, er erregt, reißt mit sich fort und hält im Bann, er besitzt das Wesen aller echten Kunst, eine unerforschliche innere Bedeutung. Wo so viele mitwirken und alle im gegebenen Augenblick dieselbe rasche, kunstvolle und oft willkürliche Bewegung machen müssen, ist die Belastung durch Proben selbstverständlich außerordentlich groß. Aber sie beginnen als Kinder, man kann oft ein Kind und einen Mann zusammen in einem Maniak sehen: der Mann singt und gestikuliert, das Kind steht vor ihm mit strömenden Tränen und ahmt zitternd Bewegung und Ton nach; der Künstler auf den Gilbertinseln muß wie alle Künstler seine Kunst in Schmerzen lernen.
Es könnte den Anschein haben, als ob ich in meinem Lob zu weit ginge, aber ich gebe hier eine Stelle aus dem Tagebuch meiner Frau wieder, die beweist, daß nicht ich allein bewegt war, und die das Bild abrundet: »Der Dirigent gab das Zeichen, und alle Tänzer schwangen die Arme, bewegten ihre Körper hin und her und klopften in vollendetem Rhythmus gegen die Brust. Das war die Einleitung. Die Darsteller blieben sitzen, ausgenommen von zweimal drei und zweimal einem einzigen Solisten. Diese standen in der Gruppe und machten kleine Bewegungen mit den Füßen, während ihr Körper bei dem Gesang leise rhythmisch mitschwang. Nach diesem Vorspiel trat eine Pause ein, und dann begann die richtige Oper – denn es war nichts Geringeres als das –, eine Oper, in der jeder Sänger ein vollendeter Schauspieler war. Der Hauptdarsteller schien sich in leidenschaftlicher Ekstase, die ihn vom Kopf bis zu den Füßen beherrschte, zu verwandeln. Einmal war es, als wehe ein starker Wind über die Bühne – die Arme und die befiederten Finger erbebten in einer so starken Bewegung, daß auch meine Nerven mitzitterten: Kopf und Körper beugten sich wie ein Kornfeld im Stoßwind. Mein Blut wurde heiß und kalt, Tränen drangen mir in die Augen, meine Gedanken verwirrten sich, ich fühlte einen fast unwiderstehlichen Drang, mich den Tänzern anzuschließen. Ich glaube das eine Drama ziemlich genau verstanden zu haben; ein wüster, wilder alter Mann spielte die Solopartie. Er sang von der Geburt eines Prinzen, und wie er zärtlich gewiegt wurde in den Armen der Mutter, von seiner Kindheit, da er sich vor den Freunden auszeichnete im Schwimmen, Klettern und allen athletischen Sports, von seiner Jünglingszeit, da er mit dem Boot ins Meer hinausfuhr und fischte, von seiner Manneszeit, da er eine Frau heiratete, die einen Sohn von ihm in ihren Armen trug. Dann folgte Kriegsalarm und eine große Schlacht, deren Ausgang eine Zeitlang zweifelhaft war, aber der Held siegte wie alle Helden, und mit einem riesigen Siegesgeschrei schloß das Stück. Es gab auch komische Stücke, die großes Vergnügen bereiteten. Während eines Vortrages ergriff mich ein alter Mann hinter mir am Arm, drohte mir mit schelmischem Lächeln und sagte kichernd irgend etwas, was ich ungefähr auslegte wie: ›O ihr Frauen, ihr Frauen, es ist wahr, ihr seid alle gleich!‹ Ich fürchte, es war kein Kompliment. Niemals sah man das geringste Zeichen jener häßlichen Unanständigkeiten der östlichen Inseln. Alles war reine und einfache Poesie. Die Musik war so schwierig wie die unsere, obgleich sie nach anderen Gesetzen aufgebaut war. Ein oder zweimal überraschte mich eine Tonfolge, die der besten englischen Kirchenmusik sehr ähnlich war, aber sie dauerte nur einen Augenblick. Schließlich fand eine längere Pause statt, und diesmal waren die Tänzer alle auf den Beinen. Mit der Entwicklung des Dramas wuchs das Interesse. Die Schauspieler munterten einander auf und riefen die Zuhörer und den Himmel droben an, berieten sich miteinander, und die Verschwörer bildeten eine Gruppe. Es war genau wie in der Oper, die Trommeln fielen an geeigneten Stellen ein, Tenor, Bariton und Baß waren vorschriftsmäßig, nur daß die Stimmen alle denselben Umfang besaßen. Eine Frau sang einmal von der hinteren Reihe mit einer sehr feinen Altstimme, die verdorben war, weil man sie künstlich nasal gemacht hatte. Ich bemerkte, daß alle Frauen diese unangenehme Unsitte angenommen hatten. Einmal war ein Knabe von engelhafter Schönheit der Solist, und ein andermal wurde ein Kind von sechs oder acht Jahren, sicher ein Wunderkind, das ausgebildet wurde, in die Mitte gestellt. Der kleine Kerl war zuerst entsetzlich furchtsam und scheu, aber zum Schluß wurde er warm und zeigte viel dramatisches Talent. Der wechselnde Ausdruck auf den Gesichtern der Tänzer war so sprechend, daß man sehr dumm sein mußte, um sie nicht zu verstehen.«
Unser Nachbar bei der Vorstellung, Karaiti, ist Sr. Butaritarischen Majestät in Gestalt und Gesichtsschnitt ähnlich, er ist gleich ihm würdig, trägt einen Bart und sieht aus wie ein Orientale. Im Charakter scheint er das Gegenteil zu sein: beweglich, lächelnd, jovial, witzig und fleißig. Zu Hause arbeitet er auf seiner eigenen Insel wie ein Sklave und läßt sein Volk wie ein Sklaventreiber arbeiten. Er hat Interesse für neue Ideen. Der Händler George erzählte ihm von Flugmaschinen. »Ist das wahr, George?« fragte er. »Es steht in der Zeitung«, antwortete George. »Nun gut,« sagte Karaiti, »wenn jener Mann das mit seiner Maschine tun kann, so kann ich es ohne Maschine.« Und er entwarf und verfertigte ein Paar Flügel, befestigte sie an seinen Schultern, ging zum Ende des Piers, warf sich in den freien Raum und fiel plump ins Meer. Seine Weiber fischten ihn heraus, denn seine Flügel hinderten ihn am Schwimmen. »George,« sagte er innehaltend, als er nach Hause ging, um sich umzuziehen, »George, du lügst«. Er hatte acht Frauen, denn in seinem kleinen Reich befolgte man noch die alten Gebräuche, aber er schien verwirrt, als man es meiner Frau erzählte. »Erzähle ihr, daß ich nur eine mitgebracht habe«, sagte er besorgt. Im großen ganzen gefiel uns dieser schwarze Douglas sehr, und als wir weitere Einzelheiten über die Beunruhigung des Königs hörten und mit unseren eigenen Augen sahen, daß alle Waffen im Sommerhaus versteckt worden waren, beobachteten wir mit um so mehr Bewunderung den Urheber all dieser Furcht, der auf seinen mächtigen Beinen mit seinem großen lächelnden Gesicht offenbar unbewaffnet und bestimmt ohne Begleitung durch die feindliche Stadt trottete. Der rote Douglas, der dickbäuchige Kuma, hatte wohl von dem Gelage gehört und war auf seinem Lehen geblieben; seine Vasallen kamen also ohne Befehlshaber zum Fest und vermehrten die Gefolgschaft Karaitis.
Freitag, den 26. Juli. Abends in der Dunkelheit marschierten die Sänger von Makin auf der Straße vor unserem Hause auf und sangen den Gesang der Prinzessin: »Dies ist der Tag, heute wurde sie geboren, Nei Kamaunava wurde heute geboren, eine wunderschöne Prinzessin, die Königin von Butaritari.« So ging es, wie man mir sagte, in endloser Wiederholung. Das Lied paßte natürlich nicht für den Tag, die Vorstellung war nur eine Probe. Aber sie war gleichzeitig eine Serenade, eine zarte Aufmerksamkeit für uns von unserem neuen Freund Karaiti.
Sonnabend, den 27. Juli. Wir hatten für den heutigen Abend eine Vorstellung mit der Laterna magica in der Kirche angekündigt, und das veranlaßte den König, uns zu besuchen. Zu Ehren des schwarzen Douglas (wie ich vermute) waren seine gewöhnlichen zwei Wächter nun auf vier vermehrt, und die Rotte machte einen ausländischen Eindruck, wie sie hinter ihm hertrottete in Strohhüten, kurzen Röcken und Jacken. Drei von ihnen trugen ihre Gewehre umgedreht, die Kolben über den Schultern, die Mündungen drohend gegen den plumpen Rücken des Königs gerichtet; der vierte hatte seine Flinte auf den Nacken geworfen und hielt sie mit ausgestreckten Armen wie einen Geradehalter. Der Besuch dauerte außerordentlich lange; der König, nun nicht mehr von Gin angeregt, sagte und tat nichts. Er saß zusammengebrochen im Stuhl und ließ seine Zigarre ausgehen. Es war heiß, es war einschläfernd, es war grausam langweilig; keine Abwechslung, als in der Gestalt Tebureimoas nach letzten Spuren des »Herrn Leichnam«, des Menschenschlächters, zu suchen. Seine Habichtsnase, roh eingedrückt und abgeplattet an der Spitze, schien uns wahrhaftig nach mitternächtiger Mordtat zu riechen. Als er sich verabschiedete, bat mich Maka, ihn beim Herabschreiten der Verandatreppe oder vielmehr -leiter zu beobachten. »Alter Mann«, sagte Maka. »Ja,« sagte ich, »und doch glaube ich, nicht bejahrt.« »Junger Mann,« erwiderte Maka, »vielleicht vierzig«. Und ich habe inzwischen gehört, daß er wahrscheinlich noch jünger ist. Während die Laterna magica vorgeführt wurde, strich ich draußen im Dunkeln umher. Die Stimme Makas, der erregt die Bibelbilder erklärte, schien nicht nur die Kirche, sondern auch die ganze Nachbarschaft zu erfüllen. Sonst war alles still. Bald darauf erhob sich in der Ferne leises Singen und näherte sich; eine Prozession kam auf dem Wege heran, und der heiße, reine Geruch von Männern und Frauen traf mein Gesicht. An der Ecke hielten sie an, stutzig geworden durch die Stimme Makas und das Aufflammen und Verdunkeln der Kirche. Sie hatten keine Lust näherzugehen, das war klar. Es waren die Leute von Makin, wahrscheinlich unentwegte Heiden, wie ich glaube, Verächter des Missionars und seines Werkes. Plötzlich brach jedoch ein Mann aus der Gesellschaft aus, rannte so schnell er konnte und floh in die Kirche hinein; im nächsten Augenblick folgten ihm drei weitere, und gleich darauf war es eine Horde von zwanzig, die alle für ihr Leben dahinstürzten. So stand die kleine Horde der Heiden unentschlossen an der Ecke und schmolz angesichts der Verlockungen einer Laterna magica wie ein Gletscher im Frühling zusammen. Die Entschlosseneren redeten vergebens auf die Deserteure ein; noch drei folgten in schuldbewußtem Schweigen und flohen, und als der Führer schließlich den Witz oder die Autorität fand, seine Truppe in Bewegung zu setzen und den Gesang wieder zu beleben, zogen die Musikanten mit stark verminderten Kräften ihres Weges dahin im Dunkeln.
Inzwischen leuchteten im Innern die Lichtbilder auf und verblaßten. Ich stand eine Weile unbeobachtet hinter den Zuschauern und sah vor mir ein Liebespaar das Schauspiel mit Interesse verfolgen, wobei der Jüngling Erklärungen gab und wie Adam Zärtlichkeiten mit den Unterweisungen verband. Die wilden Tiere, besonders ein Tiger, und jenes alte Schulbeispiel, der Schläfer und die Maus, wurden mit Freudenschreien begrüßt, aber das Hauptwunder und größte Entzücken bildeten die Bilder aus den Evangelien. Maka war nach Ansicht seines betrübten Weibes der Situation nicht ganz gewachsen. »Was ist mit meinem Mann los? Warum kann er nicht reden?« rief sie aus. Ich glaube, daß die große Gunst der Gelegenheit den Mann verwirrt hatte, er taumelte gewissermaßen vor Glück, und ob er nun gut oder schlecht sprach: die Vorführung dieser frommen »Gespenster« brachte tatsächlich in diesem ganzen Inselbezirk die Stimmen der Spötter zum Schweigen. »Da seht ihr,« ging die Rede, »die Bibel ist wahr!« Und als wir später zu dieser Insel zurückkehrten, erzählte man uns, daß der Eindruck immer noch lebendig sei, und daß diejenigen, die die Bilder gesehen hatten, zu den anderen sagten: »O ja, es ist alles wahr, diese Dinge haben sich zugetragen, wir haben die Bilder gesehen.« Die Beweisführung ist nicht so kindlich, wie sie scheint, denn ich bezweifle, ob diese Inselbewohner außer der Photographie irgendein anderes Wiedergabeverfahren kennen, so daß das Bild irgendeines Vorkommnisses für einen starken Beweis des wirklichen Geschehens gelten mußte. Alles nach dem alten englischen Melodramagrundsatz: »Die Kamera kann nicht lügen, Joseph!« Diese Tatsachen belustigten uns um so mehr, als unsere Platten teilweise albern und spaßhaft waren, und ein Bild (Christus vor Pilatus) wurde mit großer Heiterkeit aufgenommen, in die selbst Maka sich veranlaßt sah einzustimmen.
Sonntag, den 28. Juli. Karaiti kam mit einer Bitte um Wiederholung der »Gespenster« – dieses war das gebräuchliche Wort –, und als er die Zusage bekommen hatte, wandte er sich ab und verließ meine bescheidene Hütte ohne den Schatten eines Abschiedsgrußes. Es schien mir unklug, auch nur die winzigste Geringschätzung einzustecken. Die Zeiten waren zu schwierig gewesen und immer noch kritisch. Königin Viktorias Sohn war gezwungen, die Ehre seines Hauses aufrechtzuerhalten. Karaiti wurde also am Abend zu Ricks geladen, wo Frau Rick mit scharfen Worten über ihn herfiel und Königin Viktorias Sohn ihn mit entrüsteten Blicken musterte. Ich war der Esel im Löwenfell, ich konnte nicht brüllen in der Sprache der Gilbertinseln, aber ich konnte ihn anstarren. Karaiti erklärte, er habe mich nicht beleidigen wollen, entschuldigte sich in vernünftiger, herzlicher und männlicher Weise und gewann sofort seine Unbefangenheit wieder. Er ließ sich einen Dolch zur Prüfung vorlegen und verkündete, er wolle morgen in der Frühe kommen, um einen Preis zu machen, heute sei Sonntag. Diese Höflichkeit eines Helden mit acht Frauen überraschte mich. Der Dolch sei gut, »um Fische zu töten«, sagte er verschlagen und hatte vermutlich Fische mit zwei Beinen im Auge. Sonderbar genug ist es, daß in Ostpolynesien »Fisch« der gebräuchliche beschönigende Ausdruck für Menschenopfer ist. Nach der Bevölkerung seiner Insel gefragt, rief Karaiti seine Vasallen, die draußen vor der Tür saßen und auf ihn warteten, und sie nannten die Zahl vierhundertfünfzig, aber Karaiti fügte heiter hinzu, es würden bald viel mehr sein, denn alle Frauen seien in anderen Umständen. Lange bevor wir uns trennten hatte ich seine Beleidigung ganz vergessen. Er jedoch trug sie im Gedächtnis und hatte den anmutigen Einfall, in der Frühe des nächsten Tages zurückzukehren, uns einen langen Besuch abzustatten und sich höchst förmlich zu verabschieden, als er fortging.
Montag, den 29. Juli. Endlich kam der große Tag. In den ersten Abendstunden erklang lautes Händeklatschen und der Lobgesang auf Nei Kamaunava. Die melancholischen, langsamen und manchmal drohenden Rhythmen wurden stellenweise von schrecklichem Geschrei unterbrochen. Das kleine Menschenkind, das in den dunklen Stunden auf diese Weise gefeiert wurde, sah man mittags im Grünen ganz nackt, völlig unbeachtet und gleichmütig spielen.
Das Sommerhaus auf dem künstlichen Inselchen hob sich ab gegen die schimmernde Lagune und erglänzte in der Sonne, die auf dem Wellblech lag. Den ganzen Tag war es umgeben von heiteren Männern und Frauen, drinnen dichtgefüllt mit Insulanern jeden Alters und jeder Größe, in allen Stadien der Nacktheit und Eleganz. Wir saßen so dichtgedrängt, daß ich einmal eine wunderbar schöne Frau auf meinen Knien trug, während zwei nackte kleine Straßenjungen ihre Füße gegen meinen Rücken stemmten. War irgendwo eine Dame im feierlichen Gewand des Holoku, in Hut und Blumen, so konnte die nächste Nachbarin im nächsten Augenblick irgendeinen kleinen Tuchfetzen von ihren fetten Schultern streifen und wie ein Denkmal von Fleisch dastehen, eher bestrichelt als bedeckt von dem haarbreiten Ridi. Kleine Damen, die sich zu groß dünkten, unbekleidet auf einem so hohen Fest zu erscheinen, sah man draußen im hellen Sonnenschein stillstehen, ihre zierlichen Ridis in der Hand: einen Augenblick später waren sie voll bekleidet und betraten den Konzertsaal.
Die beiden Sängergruppen auf den beiden Seiten standen auf, um zu singen, und setzten sich, um auszuruhen: Kuma und Klein-Makin im Norden, Butaritari und die anliegenden Dörfer im Süden, beide Gruppen in barbarischer Pracht. In der Mitte zwischen diesen gegnerischen Lagern der Troubadoure war eine Bank aufgestellt, und hier thronten der König und die Königin zwei oder drei Fuß über der horchenden Menge auf dem Boden – Tebureimoa wie gewöhnlich in seinem gestreiften Pyjama mit einer Tasche über einer Schulter, die nach Inselsitte ohne Zweifel seine Pistolen enthielt; die Königin in einem purpurnen Holoku, das weiße Haar herunterhängend, einen Fächer in der Hand. Die Bank war so gestellt, daß den Fremden die Frontseite zugekehrt war, eine wohlberechnete Höflichkeitsbezeugung. Wenn nun die Reihe an Butaritari war zu singen, so mußte das Paar sich auf der Bank umdrehen, die Ellbogen auf die Lehne stützen und uns den Anblick ihrer breiten Rücken zeigen. Das königliche Paar erquickte sich manchmal an einer Tonpfeife, und das stattliche Gepränge wurde außerdem noch erhöht durch die Gewehre einer Wachabteilung.
In dieser königlichen Umgebung hörten wir, während wir selbst am Boden hockten, verschiedene Lieder von der einen oder anderen Partei; dann zogen sich der königliche Hofstaat und die Wachen zurück, und Königin Viktorias Sohn und Schwiegertochter wurden durch Zuruf aufgefordert, den freien Thron einzunehmen. Unser Stolz wurde vielleicht ein wenig gedämpft, als sich uns auf unseren erhabenen Plätzen ein gewisser verschwenderischer Taugenichts von einem Weißen zugesellte, und doch war ich froh darüber, denn der Mann hatte eine oberflächliche Kenntnis der Eingeborenensprache und konnte mir eine gewisse Vorstellung vom Inhalt der Lieder geben. Das eine war patriotisch und forderte Tembinok' von Apemama, den Schrecken der Inselgruppe, zu einem Überfall heraus. Ein anderes Lied sang vom Tarosäen und Erntefest. Manche hatten historische Themen und feierten Könige und berühmte Ereignisse ihrer Zeit, zum Beispiel ein Trinkgelage oder einen Krieg. Eines zum mindesten war eine Art Familiendrama und wurde von der Makintruppe ausgezeichnet gespielt. Es erzählte die Geschichte eines Mannes, der sein Weib verloren hat, zunächst ihren Verlust beklagt und dann eine andere sucht; die ersteren Strophen werden ausnahmslos von Männern gespielt, aber gegen Schluß erscheint eine Frau, die ihren Gatten verloren hat, und es schien so, als ob das Paar sich miteinander tröste, denn der Schluß schien von glücklicherer Vorbedeutung. Von einigen Liedern sagte mir mein Nachbar kurz, sie handelten wahrscheinlich von Frauen, aber das hatte ich auch selbst erraten. Jede Gruppe wurde, wie ich erwähnen will, durch eine oder zwei Frauen verstärkt. Sie waren alle Solisten, wirkten nicht sehr oft mit, sondern standen untätig im Hintergrund der Bühne und sahen mit Ridi, Halsband und aufgestecktem Haar tatsächlich aus wie europäische Ballettänzerinnen. Wenn die Lieder irgendwie dreister wurden, traten diese Damen besonders in den Vordergrund, und es war sonderbar zu sehen, daß nach jedem Auftritt die Vortänzerin so tat, als werde sie von Scham überwältigt und sei weitergegangen, als sie gewollt habe. Ihre männlichen Mittänzer taten, als trieben sie sie fort wie jemand, der sich mit Schande bedeckt hat. Derartige Zierereien begleiteten gewisse wirklich unanständige Tänze auf Samoa, wo sie sehr wohl am Platze sind. Hier war es anders, die Worte in dieser offenherzigen Welt waren vielleicht kraß genug, um einen Droschkenkutscher erröten zu machen, aber die freieste Gebärde war eben dies Spiel angeblicher Scham. Für diese Rollen zeigten die Frauen manche Begabung, sie waren keck, sie waren niedlich, sie waren gewandt, sie waren zeitweise wirklich amüsant, und einige von ihnen waren hübsch. Aber alles das ist nicht das Gebiet des Künstlers: die ganze Weite des Himmelsraumes liegt zwischen diesem Herumspringen und Äugeln und den fremdartigen rhythmischen Bewegungen und leidenschaftlichen, fast wahnsinnigen Gesichtern, mit denen die besten männlichen Tänzer uns in einem Ballett auf den Gilbertinseln gefangenhielten.
Fast vom ersten Augenblick an war es klar, daß die Leute der Stadt unterlegen waren. Ich hatte sie sicher für gleich gut gehalten, wenn ich nicht die andere Truppe vor Augen gehabt hätte, um mein Urteil zu korrigieren und mich ständig daran zu erinnern, daß hier irgend etwas Unbestimmbares noch hinzukam, das eigentlich Entscheidende. Als der Chor von Butaritari sich in den Hintergrund gedrängt sah, wurde er verwirrt, machte Fehler und brach zusammen. Inmitten dieses Wirrwarrs von Rhythmen würde ich selbst die Mängel gar nicht bemerkt haben, aber die Zuhörerschaft erfaßte sie rasch und begann zu spotten. Um allem die Krone aufzusetzen, begann die Makin-Gruppe einen Tanz von wahrhaft ausgezeichneter Schönheit. Ich weiß nicht, um was es sich handelte, ich war zu sehr gefangen, um zu fragen. In einem Akt brachte ein Teil des Chors fast die Wirkung unserer Orchester hervor, indem man in einem sonderbar fremdartigen Falsett kreischte; in einem anderen hüpften die Tänzer mit ausgestreckten Armen wie Clowns umher und rannten reihenweise durcheinander mit ungeheurer Schnelligkeit und Ausgelassenheit. Ich sah nie eine humoristischere Szene; in jedem europäischen Theater würden sie einen Sensationserfolg gehabt haben, und die Inselzuhörer krümmten sich vor Lachen und Beifall. Das brachte die andere Gruppe außer sich, und sie vergaßen sich selbst und jeden Anstand. Nach jedem Akt oder jeder Figur des Balletts pausieren die Darsteller einen Augenblick stehend, und der nächste Akt wird durch Händeklatschen im Dreitakt eingeleitet. Kurz vor Schluß der ganzen Ballettaufführung setzen sie sich hin, das Zeichen für die andere Gruppe aufzustehen, aber nun wurden alle Regeln durchbrochen. In der Pause, die dem Beifallssturm folgte, sprang die Gruppe von Butaritari plötzlich auf die Füße und begann in höchst unschöner Weise eine eigene Darbietung. Es war sonderbar zu sehen, wie die Leute von Makin sie anstarrten; niemals sah ich in Europa einen Tenor mit derselben verwirrten Würdigkeit in eine zischende Zuschauermenge starren. Aber gleich darauf wurden sie zu meiner Überraschung ruhiger, gaben den ungesungenen Teil ihres Balletts auf, nahmen ihre Sitze ein und duldeten, daß ihre ungalanten Gegner zu Ende spielten. Aber das genügte nicht. Bei der ersten Pause schritt Butaritari wieder in häßlicher Weise ein, Makin folgte erregt ihrem Beispiel, und die beiden Tänzergruppen blieben nun dauernd stehen, klatschten in die Hände und lösten sich willkürlich nach jeder Pause ab. Ich erwartete, daß jeden Augenblick eine Schlägerei beginnen würde, wobei unsere Lage inmitten der Gruppen höchst fatal gewesen wäre. Aber die Leute von Makin fanden einen besseren Ausweg, nach einer neuerlichen Unterbrechung wandten sie sich ab und verließen das Haus. Wir folgten ihnen, erstens, weil sie die wirklichen Künstler waren, und zweitens, weil sie Gäste und in gemeiner Weise behandelt worden waren. Eine große Anzahl unserer Nachbarn tat dasselbe, so daß der Laufsteg von einem Ende zum andern angefüllt war mit Deserteuren und der Butaritarichor zu seiner eigenen Unterhaltung im leeren Hause allein weiterspielen konnte; er hatte den Streit gewonnen und die Zuhörerschaft verloren. Es war ohne Zweifel ein Glück, daß niemand betrunken war, aber betrunken oder nüchtern: wo wäre sonst eine so erregte Versammlung ohne Schlägerei auseinandergegangen?
Die letzte Vorführung und der Höhepunkt dieses Festtages war von uns vorbereitet: die zweite und unwiderruflich letzte Vorführung der »Gespenster«. Rund um die Kirche saßen Gruppen draußen in der Nacht, wo sie nichts sehen konnten; vielleicht schämten sie sich hineinzugehen, sicher aber bereitete es ihnen ein schattenhaftes Vergnügen, sich auch nur in der Nähe aufzuhalten. Drinnen war ungefähr die Hälfte des großen Raumes gedrängt voll. In der Mitte auf dem königlichen Thronsessel qualmte die leuchtende Laterna magica; einige Lichtstrahlen fielen auf das ernste Gesicht unseres Chinesen, der eine Drehorgel spielte, in mattem Schein sah man die Sparren des Dachgewölbes und ihre Schatten, die Bilder erschienen und verschwanden auf der Leinwand. Bei jedem neuen erhob sich Raunen, Flüstern und ein Geräusch von erschauernd hin und her rückenden Menschen, in das sich ein Chor kleiner Schreie mischte. Neben mir saß der Steuermann eines schiffbrüchigen Schoners. »In Europa oder den ›Staaten‹ würden sie sich wundern über solche Vorstellung«, sagte er, »in einem solchen Gebäude, das nur mit ein paar Stricken zusammengehalten wird.«
Siebentes Kapitel
Mann und Frau
Ein Händler, der an die Sitten Polynesiens gewöhnt ist, hat auf den Gilbertinseln umzulernen. Das Ridi ist nur ein spärliches Gewand. Noch vor dreißig Jahren gingen die Frauen nackt bis zur Hochzeit, innerhalb von zehn Jahren kam der Brauch ab, und diese Tatsachen vermitteln, besonders wenn man sie nur vom Hörensagen kennt, eine ganz falsche Vorstellung von den Sitten dieser Inselgruppe. Ein sehr kluger Missionar bezeichnete die Insel in ihrem früheren Zustand als »ein Paradies nackter Frauen« für die ansässigen Weißen. Jedenfalls war es ein platonisches Paradies, wo Lothario auf eigene Gefahr Abenteuer suchte. Seit 1860 haben vierzehn Weiße auf einer einzigen Insel aus demselben Grunde ihr Leben eingebüßt, alle wurden an Orten gefunden, wo sie keine Geschäfte hatten, und von einem erbosten Familienvater aufgespießt. Die Ziffer wurde von einem ihrer Zeitgenossen angegeben, der klüger gewesen und am Leben geblieben war. Die sonderbare Hartnäckigkeit dieser vierzehn Märtyrer sieht fast aus wie Monomanie oder eine ununterbrochene Folge romantischer Leidenschaften: Gin ist wahrscheinlich der eigentliche Hintergrund. Die armen Kerle saßen allein in ihren Häusern bei dem offenen Schnapskasten, sie tranken, ihr Verstand verwirrte sich, sie taumelten auf gut Glück zum nächsten Haus, und der Wurfspieß durchdrang ihre Leber. An Stelle eines Paradieses fand der Händler einen Archipel mit eifersüchtigen Gatten und tugendhaften Frauen. »Wenn man ihnen natürlich den Hof machen will, ist es wie überall sonst«, sagte ein Händler unschuldig, aber er und seine Begleiter taten es selten.
Man muß den Händler loben wegen eines Vorzugs: er ist oft ein liebevoller und treuer Gatte. Einige der schlimmsten Herumtreiber im Stillen Ozean, die Letzten der alten Schule, sind mir auf meinen Wegen begegnet, manche von ihnen waren von einem bewundernswerten Benehmen gegen ihre eingeborenen Frauen und einer ein verzweifelter Witwer. Die Stellung der Frau eines Händlers auf den Gilbertinseln ist übrigens außergewöhnlich beneidenswert. Sie teilt die Unverletzlichkeit ihres Gatten, die Abendglocke läutet in Butaritari vergeblich für sie. Lange nachdem das Geläute vorüber ist und die großen Damen der Insel für die Nacht in ihr Haus verwiesen sind, dürfen die privilegierten Freigelassenen noch durch die öden Straßen laufen und kichern oder im Dunkeln zum Bade gehen. Das ganze Warenlager ist zu ihrer Verfügung, sie gehen wie eine Königin gekleidet und schlemmen jeden Tag in Leckerbissen aus Konservenbüchsen. Sie, die vielleicht unter den Eingeborenen weder Achtung noch Stellung besaß, sitzt jetzt mit Kapitänen zusammen und wird an Bord der Schoner bewirtet. Fünf dieser privilegierten Damen waren zeitweise unsere Nachbarinnen. Vier davon waren hübsche, leichtfertige Mädel, verspielt wie Kinder und zum Schmollen geneigt wie Kinder. Sie trugen am Tage Kleider, aber neigten dazu, beim Dunkelwerden diese übernommenen Dinge abzustreifen und im angestammten Ridi auf dem Grundstück laut schreiend herumzutollen. Beständig spielten sie Karten, wobei Muscheln als Zahlpfennige dienten; man betrog sich fast immer untereinander, und das Ende einer Partie war, besonders wenn ein Mann mit dabei war, ein allgemeines Greifen nach den Muscheln. Die fünfte war eine Matrone. Es war ein malerischer Anblick, sie Sonntags zur Kirche segeln zu sehen, einen Schirm in der Hand, ein Kindermädchen folgend, das Baby in einem großen Hut vergraben, bewaffnet mit einer Patentmilchflasche. Der Gottesdienst wurde belebt durch ständiges Überwachen und Tadeln des Mädchens. Man konnte sich der Vorstellung nicht erwehren, daß das Baby eine Puppe und die Kirche ein europäisches Kinderzimmer sei. Alle diese Frauen waren gesetzlich verheiratet. Es ist wahr, daß die Heiratsurkunde der einen, die sie uns stolz zeigte, so lautete, daß sie »auf eine Nacht verheiratet« sei, und daß es ihrem lieblichen Partner freistehe, »sie zur Hölle zu schicken« am nächsten Morgen, aber sie war durch diesen feigen Trick weder besser noch schlechter daran. Eine andere war, wie ich hörte, auf einem meiner Bücher, in einer unberechtigten Nachdruckausgabe, verheiratet worden, es erfüllte den Zweck ebensogut wie die Bibel im Gerichtssaal. Trotz dieser Verlockungen der gesellschaftlichen Ausnahmestellung, der ausgezeichneten Kleidung, der verhältnismäßig vollkommenen Befreiung von Arbeit und einer regelrechten Eheschließung, die sogar Gesetzeskraft hatte, auch wenn sie über einer unberechtigten Buchausgabe geschlossen wurde, muß ein Händler oft lange suchen, bevor er sich verheiraten kann. Während ich mich auf der Inselgruppe aufhielt, ging einer schon acht Monate auf Freiersfüßen und war immer noch Junggeselle.
Innerhalb der reinen eingeborenen Gesellschaft waren die alten Gesetze und Gebräuche streng, aber nicht ohne den Stempel einer gewissen Großherzigkeit. Heimlicher Ehebruch wurde mit dem Tode bestraft, öffentliches Verlassen des Gatten dagegen vergleichsweise mit Recht als Tugend angesehen und ausgeglichen durch eine Beschlagnahme von Landbesitz. Der männliche Ehebrecher allein scheint bestraft worden zu sein. Die korrekte Haltung für einen eifersüchtigen Mann ist es, sich aufzuhängen, eine eifersüchtige Frau hat ein anderes Hilfsmittel: sie beißt ihre Rivalin. Vor zehn oder zwanzig Jahren war es ein mit der Todesstrafe bedrohtes Verbrechen, das Ridi einer Frau hochzuheben, noch heute ist es mit hoher Strafe an Besitz belegt, und das Bekleidungsstück selbst ist immer noch symbolisch heilig. Wenn in Butaritari ein Stück Land umstritten ist, so hat derjenige seinen Prozeß gewonnen, der zuerst ein Ridi am Tabupfosten aufhängt, da niemand außer ihm es berühren oder entfernen darf.
Das Ridi war das Kennzeichen nicht der Frau, sondern des Weibes, das Abzeichen nicht ihres Geschlechts, sondern ihrer Stellung. Es war das Halsband des Sklaven und das Fabrikzeichen von Waren. Die ehebrecherische Frau scheint man verschont zu haben: war der Gatte beleidigt, so würde es einen traurigen Trost bedeutet haben, seine Zugtiere zum Schlachthaus zu führen. Karaiti nennt seine acht Weiber bis auf den heutigen Tag »seine Pferde«, nachdem ihm ein Händler die Verwendung dieser Tiere auf dem Lande erklärt hat, und Nanteitei vermietete seine Weiber für Maurerarbeiten. Ehegatten, wenigstens diejenigen von hohem Rang, hatten Gewalt über Leben und Tod, selbst Weiße scheinen sie besessen zu haben, und ihre Weiber, die sich über die Grenze des Verzeihens hinaus vergangen hatten, beeilten sich, die Abbitteformel zu sprechen: » I Kana Kim.« Diese Wortfolge besitzt so große Kraft, daß ein verurteilter Verbrecher, der sie an einem bestimmten Tage vor dem König, seinem Richter, ausspricht, sofort freigelassen werden muß. Es ist ein Angebot der Demütigung, und merkwürdig genug ist das Gegenteil – eine Nachahmung – eine schwere Beleidigung in Großbritannien bis auf den heutigen Tag. Ich gebe eine Szene wieder zwischen einem Händler und seiner Frau, einer Gilbertinsulanerin, wie sie mir von dem Gatten, jetzt einem der ältesten Ansitzer, damals aber noch unerfahren, erzählt wurde.
»Geh und mache Feuer,« sagte der Händler, »und wenn ich Öl gebracht habe, werde ich Fische kochen.«
Die Frau grunzte ihn an nach Inselsitte.
»Ich bin kein Schwein, daß du mich angrunzen darfst«, sagte er.
»Ich weiß, daß du kein Schwein bist,« sagte die Frau, »aber ich bin auch nicht deine Sklavin.«
»Um sicher zu sein, daß du nicht meine Sklavin bist, und wenn es dir nicht paßt, bei mir zu bleiben, tust du besser, zu deiner Familie nach Hause zurückzukehren,« sagte er, »aber inzwischen geh und mache Feuer, und wenn ich Öl gebracht habe, will ich Fische kochen.«
Sie ging fort, scheinbar um zu gehorchen, und bald darauf, als der Händler sich umsah, hatte sie ein so gewaltiges Feuer entfacht, daß das Küchenhaus in Flammen aufging.
» I Kana Kim!« rief sie aus, als sie ihn herankommen sah, aber er beachtete es nicht und schlug sie mit einem Kochtopf. Der Fuß durchdrang ihren Schädel, Blut strömte heraus, man glaubte, sie sei tot, und die Eingeborenen umgaben in feindlicher Haltung das Haus. Ein anderer Weißer war anwesend, ein Mann von mehr Erfahrung. »Du wirst uns beide in den Tod bringen, wenn du so fortfährst,« rief er aus, »sie hatte gesagt ›I Kana Kim‹!« Wenn sie nicht » I Kana Kim« gesagt hätte, hätte er sie mit einem Kessel schlagen können; nicht der Schlag an sich war das Verbrechen, sondern die Mißachtung einer geheiligten Formel.
Polygamie, die besondere Unantastbarkeit der Frauen, ihre halb sklavische Stellung, ihre Absperrung im Harem des Königs, selbst ihr Vorrecht, beißen zu dürfen – alles das scheint eine mohammedanische Gesellschaftsordnung anzudeuten und die Ansicht, daß Frauen keine Seelen haben. Aber das ist durchaus nicht so, es hat nur den Anschein. Nachdem man diese eigenartigen Zustände in einem Hause kennengelernt hat, geht man zum nächsten und findet alles umgekehrt, die Frau ist Herrin, der Mann nur der erste ihrer Sklaven. Die Autorität liegt nicht beim Gatten als solchem oder bei der Frau als solcher, sie liegt beim Häuptling oder der Häuptlingsfrau, bei ihm oder ihr, je nachdem, wer die Ländereien der Sippe geerbt hat und Elternrechte der Sippe gegenüber vertritt, ihre Dienstleistungen entgegennimmt und ihre Abgaben bezahlt. Es gibt nur eine Quelle der Macht und einen Grund der Würde: Rang. Der König heiratete einen weiblichen Häuptling, und sie wurde seine Dienerin und mußte mit ihren Händen beim Pierbau von Messrs. Wightman arbeiten. Der König ließ sich von ihr scheiden, und sie gewann sofort ihre frühere Stellung und Macht zurück. Sie heiratete einen hawaiischen Seemann, und nun ist der Mann ihr Bedienter und kann jederzeit fortgejagt werden. Ja, diese niedriggeborenen Herren werden sogar körperlich bestraft und müssen wie erwachsene, aber gehorsame Kinder Züchtigungen hinnehmen.
Wir waren gute Freunde in einem solchen Haushalt, dem von Nei Takauti und Nan Tok'. Ich nenne die Dame des Hauses notwendigerweise zuerst. Eine Woche lang war meine Frau in unserem Narrenparadies allein zum Seestrand der Inseln gegangen, um Muscheln zu suchen. Es ist mir heute klar, daß das leichtsinnig war, und sie bemerkte bald einen Mann und eine Frau, die sie beobachteten. Was immer sie tat, ihre Wächter hielten sie ständig im Auge, und wenn der Nachmittag sich neigte und sie glaubten, sie sei nun lange genug draußen, nahmen sie sie in ihre Obhut und befahlen ihr durch Zeichen und in gebrochenem Englisch, nach Hause zurückzukehren. Auf dem Wege zog die Dame eine Tonpfeife aus dem Ohrringloch, der Gatte zündete sie an und händigte sie meiner unglücklichen Frau aus, die nicht wußte, wie man dieser unbequemen Gunstbezeugung ausweichen konnte, und als sie alle bei unserem Hause angelangt waren, setzte sich das Paar neben sie auf den Boden und benutzte die Gelegenheit, um zu beten. Seit jenem Tage waren sie Freunde unserer Familie, brachten dreimal am Tage wunderschöne Inselkränze von weißen Blumen, besuchten uns jeden Abend und brachten uns oft zu ihrem eigenen Maniap', wobei das Weib meine Frau an der Hand führte wie ein Kind das andere.
Nan Tok', der Gatte, war jung, außergewöhnlich hübsch, von bewährter Gutmütigkeit und litt in seiner sonderbaren Stellung unter der Unterdrückung seiner Heiterkeit. Nei Takauti, die Frau, wurde schon alt, ihr erwachsener Sohn aus einer früheren Ehe hatte sich gerade vor den Augen der Mutter in Verzweiflung über eine wohlverdiente Rüge aufgehängt. Vielleicht war sie niemals schön gewesen, aber ihr Gesicht war charaktervoll, und ihre Augen hatten ein dunkles Feuer. Sie war ein hoher weiblicher Häuptling, aber für eine Person ihres Ranges ausnahmsweise klein, zart und sehnig, mit mageren kleinen Händen und hagerem Hals. Ihr großes Abendgewand war stets ein weißes Hemd, und als Schmuck trug sie grüne Blätter oder zuweilen weiße Blüten im Haar und in den großen Ohrringlöchern. Der Gatte sah im Gegensatz dazu wechselvoll aus wie ein Chamäleon. Schenkte meine Frau Nei Takauti irgendeine hübsche Sache – eine Perlenschnur, ein Band, ein Stück buntes Zeug –, so erschien es am nächsten Abend an der Person von Nan Tok'. Es war klar, daß er eine Art Kleiderständer war, daß er Livree trug und in einem Wort die Frau seiner Frau war. Sie vertauschten die Rollen tatsächlich bis in die geringste Kleinigkeit, der Gatte zeigte sich als hilfsbereiter Engel in Krankheitsstunden, während die Frau Gefühls- und Herzlosigkeit spielte, wie man sie dem Manne nachsagt.
Wenn Nei Takauti Kopfschmerzen hatte, war Nan Tok' voll Aufmerksamkeit und Mitleid. Wenn der Gatte sich erkältet oder rasende Zahnschmerzen hatte, beachtete die Frau es nicht, wenn sie nicht spottete. Es ist immer die Aufgabe der Frau, die Pfeife zu füllen und anzuzünden: Nei Takauti gab die ihre schweigend dem angeheirateten Pagen, aber sie trug sie selbst, als ob der Page nicht ganz vertrauenswürdig sei. So verwahrte sie auch das Geld, aber er machte mit emsigem Eifer die Besorgungen. Eine Wolke auf ihrer Stirn verdunkelte sofort seine leuchtenden Blicke, und bei einem Morgenbesuch in dem Maniap' sah meine Frau, daß er Grund hatte, vorsichtig zu sein. Nan Tok' hatte einen Freund bei sich, einen unbesonnenen jungen Mann seines eigenen Alters und Geschlechts, und sie hatten sich gegenseitig zu lebhaftester Heiterkeit gesteigert, wobei man dann oft die Folgen nicht beachtet. Nei Takauti nannte ihren eigenen Namen, sofort hielt Nan Tok' zwei Finger hoch, sein Freund tat das gleiche, beide in höchster Verschlagenheit. Offenbar hatte die Dame zwei Namen, und soviel man aus dem lauten Lachen der beiden und der Zornesader auf der Stirn der Frau entnehmen konnte, hatte der zweite Name etwas Verfängliches. Der Gatte sprach ihn aus: sofort traf ihn eine wohlgezielte Kokosnuß von der Hand seines Weibes am Schädel, und die heiteren Stimmen der indiskreten jungen Leute verstummten für diesen Tag.
Die Bevölkerung von Ostpolynesien ist niemals in Verlegenheit, ihre Gesellschaftsformen sind alle festgelegt und umfassend, sie schreiben ihnen in allen Lebensumständen vor, was sie zu tun haben, und wie sie sich verhalten sollen. Die Gilbertiner sind offenbar freier und bezahlen diese Freiheit wie wir mit häufiger Verlegenheit. Das war auch der Fall bei diesem verdrehten Paar. Wir hatten ihnen einst bei einem Besuche eine Pfeife mit Tabak angeboten, und als sie genug hatten und Abschied nehmen wollten, fanden sie sich vor die Frage gestellt, ob sie den Rest des Tabaks mitnehmen oder zurücklassen sollten. Sie hoben den Block auf, legten ihn wieder zurück, reichten ihn sich untereinander zu und stritten sich, bis die Frau ganz verstört und der Gatte ganz alt aussah. Schließlich nahmen sie ihn mit, und ich wette, sie hatten das Grundstück noch nicht verlassen, als sie sich schon klar waren, das Falsche getan zu haben. Ein anderes Mal hatten wir sie recht ausgiebig mit einer großen Tasse Kaffee bewirtet, und Nan Tok' trank die seinige unter Schwierigkeiten und mit Unlustgefühlen aus. Nei Takauti nippte daran, sie mochte nicht mehr, glaubte offenbar, es sei ein Formfehler, die Tasse halb voll niederzusetzen, und befahl dem angeheirateten Knecht, den Rest auszutrinken. »Ich habe schon soviel getrunken, ich kann nicht mehr, es ist mir physisch unmöglich«, schien er zu sagen, aber sein strenger Vorgesetzter wiederholte mit heimlichen herrischen Zeichen den Befehl. Der unglückliche Kerl! Wir kamen ihm aus lauter Menschlichkeit zu Hilfe und nahmen die Tasse fort.
Ich kann über diesen komischen Haushalt nur lachen, aber ich erinnere mich der guten Leute mit Liebe und Hochachtung. Ihre Anhänglichkeit an uns war überraschend. Die Kränze stehen in hoher Achtung, die Blüten müssen in großer Entfernung gesammelt werden, und obgleich sie viele Diener hatten, die sie zu Hilfe rufen konnten, sahen wir sie oft selbst umherwandern, um Blüten zu sammeln, und die Frau beschäftigt, sie eigenhändig zu binden. Es war auch keine Herzlosigkeit, die Nei Takauti gegen die Leiden von Nan Tok' unempfindlich machte, sondern jene Gleichgültigkeit, die Männern oft eigen ist. Als meine Frau krank war, bewies sie sich als eifrige und liebenswürdige Pflegerin, und das Paar setzte sich im Krankenzimmer fest, was der Leidenden äußerst lästig war. Diese rauhe, tüchtige, herrschsüchtige alte Dame mit den wilden Augen hatte liebenswürdige und zärtliche Eigenschaften: sie schien den Stolz auf ihren jungen Gatten zu verbergen aus Furcht, ihn zu verwöhnen, und wenn sie von ihrem toten Sohn sprach, legte sich etwas wie Trauer auf ihr Gesicht. Aber ich glaube bei den Gilbertinern eine Männlichkeit des Empfindens und Gefühls festgestellt zu haben, die sie wie ihre harte und rauhe Sprache von ihren Brüdern auf den östlichen Inseln unterscheidet.