Teil 3: Katharsis
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Sie saßen in Alberts Zimmer, er lag auf dem Bett, starrte in die Luft. Simon wusch mit unermüdlicher Genauigkeit die geschwollene Hand, und jedesmal, wenn das feuchte Tuch sie berührte, zuckte Alberts schlaffes Gesicht ein wenig. Maria schrie nicht mehr; ihr Blick war leer. Jenny hingegen wirkte weniger bestürzt, vielmehr nervös, so, als wollte sie jeden Moment den anderen etwas sagen. Thomas war erschüttert. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fühlte er sich machtlos.
„Thomas, hör zu, wir müssen hier weg!“, sagte Jenny und wartete auf die Reaktion.
Thomas schaute nicht einmal auf. Simon hatte ihnen bereits von der Linie erzählt. Die Sache hatte eine Diskussion ausgelöst, doch als Simon erklärt hatte, dass die Kratzspur neben dem Auto begann und offenbar erst nach dem Mord an Klaus gezogen worden war, war Thomas verstummt und hatte nicht mehr widersprochen.
Sie konnten nicht einfach ins Auto steigen, losfahren und zusehen, ob sie an der Linie erschossen werden würden oder nicht. Natürlich mussten sie weg, aber sie brauchten eine Strategie.
„Bist du sicher, dass du keinen Empfang hast?“, fragte Simon in Jennys Richtung. Sie verschränkte die Hände, wie jedes Mal, wenn die Sprache auf ihr Telefon kam. „Nein, hab ich doch gesagt.“
Simon schüttelte den Kopf.
„Schau dir das an – weißt du, was das heißt? Man hat ihn gefoltert. Das muss ein Hammer oder sowas gewesen sein –“
„Hör auf!“, sagte Thomas scharf.
„Aber warum?“, fragte Simon nach einer Weile. „Ich verstehe den Sinn nicht. Wer hat so einen Hass auf uns? Was haben wir getan?“
Es war kein Schrecken in seinem Ausdruck, vielmehr Verwirrung. Die Fragen waren an Thomas gerichtet, und den erfüllte es mit ohnmächtiger Wut, dass er sie nicht beantworten konnte.
„Ich denke nicht, dass es uns im Moment weiterbringt, darüber nachzudenken“, entgegnete Thomas schließlich.
„Ich hole Jörg heraus“, fügte er nach einer Weile hinzu. „Wir brauchen jetzt jede Hilfe.“
Keiner antwortete. Es war klar, Jörg und Albert waren damit rehabilitiert. Thomas ging, und sobald er weg war, war Jenny anzumerken, dass sie etwas sagen wollte und noch die richtigen Worte suchte.
„Hört zu, ich weiß nicht, was Thomas denkt, aber ich will so schnell wie möglich weg. Wir dürfen uns nicht von ihm hier festhalten lassen! Er bringt uns in Gefahr. Wir haben uns lange genug herumkommandieren lassen!“
Sie versuchte, vernünftig zu klingen, aber dazu zitterte ihre Stimme zu sehr.
„Halt einfach das Maul, okay?“, zischte Simon.
Jenny zog sich zurück, verärgert, weil ihre Strategie nicht funktionierte. Simon legte die Hand vorsichtig aufs Bett und beugte sich zu Alberts Gesicht.
„He, was ist mit dir? Sag was! Was ist passiert?“
Alberts Mund bewegte sich leicht, dann war er wieder ruhig. Er schien überhaupt nicht mehr zu blinzeln.
„Der ist völlig weg. Das muss ein Schock sein; er braucht dringend ärztliche Versorgung.“
Thomas kam mit Jörg zurück.
„Tut mir leid“, sagte Simon.
„Schon okay“, erwiderte Jörg tonlos und setzte sich auf dem Gang vor der Tür auf den Boden.
„Hört einmal alle her: Das Wichtigste ist jetzt, dass wir alle zusammenbleiben. Wir dürfen uns nicht verunsichern lassen. Der Typ ist krank, soviel steht fest. Wir dürfen ihm nicht den Gefallen tun, dass wir auf ihn eingehen. Ist das klar? Und vor allem dürfen wir uns nicht gegenseitig fertigmachen. Es tut mir leid, wenn ich mich daneben benommen habe.“
Thomas sah Simon dabei nicht explizit an, doch dieser nickte.
„Jenny?“
„Was schaust du mich an?“
„Wir brauchen auch dich.“
„He, ich bin auf eurer Seite!“
In ihrer Reaktion spiegelten sich gespielte Entrüstung und echte Angst. Sie gehörte doch zu den Vernünftigen – wie konnte jemand daran zweifeln?
Dann begann Thomas leise zu sprechen.
„Eines ist klar: Am Tag können wir es auf keinen Fall riskieren. Es könnte jemand auf uns schießen.“
„Was willst du tun?“, fragte Simon. „Willst du warten, bis es Nacht ist? Es ist noch lange bis zum Abend. Wer weiß, was dem Spinner inzwischen alles einfällt!“
Der Satz stand wie eine Drohung im Raum.
„Er will, dass wir hier bleiben. Das ist das Einzige, worauf ich mich verlassen würde. Wenn wir flüchten wollen, wird er das sicher zu verhindern versuchen. In der Nacht könnten wir es mit dem Auto schaffen.“
Es schien Simon einzuleuchten.
„Was tun wir inzwischen? Wir sollten uns bewaffnen.“
„Also ich sage, wir fahren sofort!“, probierte es Jenny noch einmal und imitierte den ernsten Tonfall von Thomas und Simon.
„Was ist, wenn jemand auf uns schießt? Wir können das nicht riskieren!“, erklärte Thomas geduldig.
„Sag schon, wir sollten uns irgendwie bewaffnen, oder etwa nicht?“, fragte Simon erneut.
„Stimmt, das wäre sinnvoll“, entgegnete Thomas. „Im Haus haben wir auch gegen jemanden mit einer Pistole vielleicht eine Chance. Wir müssen jedenfalls zusammenbleiben. Keiner verlässt das Haus!“
Niemand widersprach.
„Gut, machen wir uns auf die Suche“, sagte Thomas.
„Ich bleib hier bei Albert“, erklärte Simon. Thomas nickte und sie gingen.
Als erstes fiel ihnen die Küche ein. Maria, die sich etwas erfangen hatte, fand in einer Lade ein paar Messer. Thomas war skeptisch.
„Sicher sehr effektiv, aber frag dich einmal selbst, ob du es auch benutzen kannst. Ich glaub, das ist nicht so leicht wie in den Filmen, auf einen Menschen einzustechen.“
Sie ließen die Messer liegen, wenn auch Jenny einen Moment lang zu überlegen schien.
Jörg fand ein Nudelholz und zeigte es Thomas. Der wog es in der Hand.
„Ziemlich schwer, aber nicht schlecht. Nehmen wir es mit.“
Das war es aber vorerst; mehr geeignete Knüppel fanden sie nicht. So klapperten sie die anderen Zimmer ab, immer zusammen bleibend, wie eine Museumsführung. Sie kamen sich ein wenig dumm vor, aber sie nahmen dieses Übel bereitwillig in Kauf. Hinter der Toilettentür fanden sie einen Besenstiel und Thomas überlegte, ob sie ihn vielleicht zersägen konnten, aber all das war nicht sehr zufriedenstellend; das Nudelholz war zu schwer, der Besenstiel zu leicht. Schließlich erreichten sie Simons Zimmer.
„Simon, komm her!“
„Was ist?“, rief er zurück.
„Komm einfach!“
Von unten war Getrampel zu hören, dann auf der Treppe.
„Was ist los?“, fragte er, als er durch die Tür kam. Dann sah er die Pistole.
Alle starrten gebannt auf die Gegenstände, die am Boden lagen. Neben der Pistole waren auch noch eine kleine Axt, ein Baseballschläger, ein großes Fleischermesser und ein Hammer.
„Das hat irgendeinen Haken“, sagte Simon kategorisch. „Das ist eine Falle oder sowas. Schau, dort liegt ein Zettel!“
Thomas sah ihn. Nach kurzem Zögern, nachdem er sich erneut vergewissert hatte, dass sie allein im Raum waren, ging er hin und hob den Zettel auf.
„Warte“, sagte Simon. „Wollen wir uns wirklich auf irgendwelche Spiele einlassen? Wir sollten den Zettel einfach ignorieren.“
Thomas zögerte.
„Der will uns nur fertigmachen, auf die psychologische Tour; am besten gehen wir darauf nicht ein. Schnapp dir die Pistole!“
Er sah den Zettel an, schüttelte dann den Kopf.
„Der glaubt doch nicht, dass wir darauf einsteigen? ‚Keiner von euch wird überleben. Einer von euch wird überleben.‘ Denkt der, wir würden uns gegenseitig umbringen? Das ist primitiv. Du hast recht, Simon. Ich glaube, wir haben doch eine Chance.“
Keiner achtete auf Jenny, dabei hätten sie es längst aus ihrem Gesicht lesen können. Sie war langsam nähergekommen, bis sie sich schließlich nur noch bücken musste. Als Thomas sie bemerkte, war es bereits zu spät. Er versuchte noch, die Pistole ebenfalls in die Finger zu kriegen, aber Jenny entriss sie ihm.
Sie richtete die Waffe auf Thomas. Schwer lag sie in ihren Händen. Ganz sicher schien sie sich ihrer Sache nicht zu sein.
„Jenny, hör zu –“
„Lass mich in Ruhe!“, schrie sie, und Thomas verstummte.
Es herrschte gespenstische Stille. Keiner traute ihr wirklich zu, dass sie abdrückte. Aber konnten sie sicher sein?
„Jenny –“
„Halt’s Maul! Geht da rüber, weg von der Tür!“
Sie zögerten.
„Los!“
Langsam wichen sie zur Seite. Ebenso langsam ging Jenny zur Tür, die Mündung immer auf Thomas gerichtet. Als sie draußen war, drehte sie sich um und rannte los. Im Zimmer hörte man sie die Stiege hinunter poltern.
„Scheiße, Scheiße!“, fluchte Thomas und lief ihr nach.
Gerade hörte man, wie sie unten das Haus durch die Tür verließ.
„Jenny, vergiss es, du hast keinen Schlüssel!“, rief Thomas von der Tür aus, als sie an der Autotür zerrte.
„Bleib wo du bist!“, rief sie.
Sie überlegte kurz.
„Wirf mir die Schlüssel her!“
„Ich denk nicht dran. Die sind außerdem drinnen. Jenny, das hat keinen Sinn!“
Sie hörte nicht zu. Sie sah sich noch einmal um und rannte schließlich die Straße hinauf.
„Das kann nicht sein!“, fluchte Thomas, nicht verzweifelt, sondern voll blanker Wut, als er wieder zu den anderen in den Raum trat.
„Fotze!“
„Was jetzt?“, fragte Simon.
„Sie kann nicht weg, sie hat keine Autoschlüssel. Wir müssen sie suchen; wir brauchen die Pistole.“
„Aber –“, begann Simon.
„Sie wird sich beruhigen. Ich glaube nicht, dass sie über die Linie geht, wenn sie dort ist und selbst entscheiden muss. Das war ein Kurzschluss. Ihr kennt sie ja, es wird ihr selbst bald unheimlich werden. Wir müssen sie suchen gehen.“
Er griff nach dem Baseballschläger.
„Jeder sollte eins von den Dingern nehmen.“
Jörg griff sofort nach der Axt, Maria nach dem Messer. Sie wirkte entschlossen. Für Simon, der am langsamsten war, blieb der Hammer. Er hob ihn auf, betrachtete ihn.
„Mein Gott“, sagte er.
Alle sahen ihn an.
„Da ist Blut drauf; damit ist Albert –“
Er sprach es nicht aus. Er ging hinüber zum Nudelholz, hob es ebenfalls auf, wog beide in den Händen. Schließlich blieb er jedoch beim Hammer.
„Denkt dran, ihr müsst zuschlagen, wenn es drauf ankommt. Stellt euch darauf ein.“
„Was ist mit Albert?“, fragte Maria.
„Du kannst bei ihm bleiben, wenn du unbedingt willst, aber ich bezweifle, dass er dann viel sicherer ist. Die Pistole ist wichtiger.“
Und damit gingen sie los.
Maria zitterte. Die Angst machte ihre Schritte schwer und langsam. Sie hielt das Messer abwehrend vor sich. Immer wieder sah sie sich um, hatte ständig das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie hatte den Pfad gewählt, den Simon am Vortag entlanggegangen war. Er hatte sie noch gewarnt, nicht vor dem toten Pferd zu erschrecken, bevor er einen anderen Trampelpfad einschlug.
Sie war nicht zimperlich. Sie hatte keine Angst vor toten Dingen – es waren die lebenden, die gefährlich waren.
Marias Gedanken waren ungewöhnlich klar. Sie wusste, dass es für sie alle nicht gut aussah. Der Kerl konnte sie mit Leichtigkeit einen nach dem anderen ausschalten, wenn er Lust dazu hatte, und was hinderte ihn daran, es hier und jetzt zu tun? Aber Thomas hatte völlig recht: Sich im Haus zu verschanzen war auch keine Alternative. Der Irre schien dort sowieso ein- und auszugehen, wie es ihm gefiel.
Seine Worte kamen ihr wieder in den Sinn. Was hatten die zu bedeuten? Er hatte in Rätseln gesprochen, und doch erschreckend deutlich gemacht, dass er sie umbringen wollte.
Hatte Klaus ihn kennen gelernt? Oder Albert? Vielleicht kannten sie ihn von früher? Aber das war alles so weit hergeholt. Es war zu verwirrend.
Er hatte von Reinigen gesprochen. Das erinnerte sie an Thomas’ Worte vor der ersten Leseprobe. Wie hatte er es genannt? Katharsis? Wenn sie nur besser zugehört hätte! Hatte der Verrückte es etwa auch gehört? Vielleicht hatte er sie die ganze Zeit beobachtet!
Reinigung durch Erzeugung von Gefühlen. Qual. Sie spürte, wie es ihr den Hals zuschnürte. Verdammt, sie hatte solche Angst.
Sie kam zur Lichtung und sah die Grube. Sie hatte nicht vor, hineinzusehen, aber als sie nur ein wenig näherkam, roch sie den Leichengestank. Sie wich in großem Bogen aus.
Was war dahinter? Es sah wie ein weiterer Pfad aus. Sie ging dorthin, und es führte sie wieder ins Gebüsch, doch diesmal kürzer. Schon nach wenigen Metern lichtete sich das Gestrüpp wieder. Dort war etwas.
Eine Hütte. Maria duckte sich. Langsam kroch sie ein wenig zur Seite und versteckte sich. Dort wartete sie erst einmal.
Was hatte das zu bedeuten? Wohnte hier der Verrückte? Oder gab es hier jemanden, der ihnen helfen konnte? Sie musste das auf jeden Fall herausfinden. Sie wollte noch eine Weile warten, aber sie fand, dass sie hier neben dem Weg auch nicht viel sicherer war. Vielleicht war es klüger, das schnell hinter sich zu bringen.
Das Blut pochte rhythmisch in ihrem Kopf, als sie sich der Hütte näherte. Diese Bezeichnung schmeichelte dem Gebäude eigentlich; die Baracke bestand aus Wellblech und groben Brettern und war auch sonst kein architektonisches Meisterwerk. Es schien wie ein Wunder, dass sie nicht auf der Stelle zusammenbrach. Maria bemühte sich, so leise wie möglich zu sein. Was, wenn jemand drinnen war? Wie konnte sie das herausfinden, ohne gesehen zu werden?
Plötzlich hörte sie von drinnen ein Geräusch, und ihr blieb beinahe das Herz stehen. Sie stand gerade auf der Seite neben der Hütte. Dann hörte sie, wie die Tür aufging und wieder geschlossen wurde. Mit einigen zittrigen Schritten schaffte sie es um die Ecke, auf die Hinterseite der Baracke. Sie hörte, wie sich jemand in der anderen Richtung entfernte.
Vorsichtig wagte Maria einen Blick um die Ecke. Niemand war mehr zu sehen. Adrenalin strömte durch ihren Körper. Sie musste herausfinden, wer hier wohnte, jetzt oder nie. Langsam schlich sie um die Hütte herum, hielt dabei immer den Pfad, von dem sie gekommen war, im Auge, und nachdem sie tief Luft geholt hatte, öffnete sie die Tür. Der intensive Geruch von Lösungsmitteln schlug ihr entgegen.
Da war das Auto, und da war Klaus. Irgendwie hatte Thomas bis zum Schluss daran gezweifelt. Er wusste nicht warum. Er nahm den gefalteten Zettel, der bei der Pistole gelegen hatte, aus der Tasche. Wie passte diese krakelige, unsichere Handschrift zur Kälte, von der dieser Mord zeugte? Sie sah ein wenig aus wie die Schrift eines Schülers.
Hatte der Mörder das vorhergesehen? Zuerst hatte Thomas die Inszenierung mit den Waffen für naiv gehalten, doch sie hatte funktioniert, aus Sicht des Unbekannten. Es war wohl ein ziemliches Risiko gewesen, oder etwa nicht? Kannte dieser Mensch ihre Schwächen so gut? Der Gedanke war unheimlich. Vielleicht war es jemand, den sie kannten, doch wer? Hatte es etwas mit dem Kerl zu tun, der ihm das Haus vermittelt hatte, so kurzfristig und so günstig? Mit diesem Künstler, der am Telefon gebrochen Englisch gesprochen hatte?
Der Anblick war befremdend. Es sah aus wie die Bleibe eines Obdachlosen, mit einigen feinen Unterschieden. Der Boden bestand aus festgetretener Erde, mit Farbspritzern übersät, darauf lag eine muffige Matratze. Daneben standen ein Gaskocher und ein Topf, sowie einige offene Dosen mit verschiedenen Lacken und Klebstoffen, eine davon umgekippt, daneben eine eingetrocknete Lache mit Erbrochenem. Auf der anderen Seite lag ein offener Koffer mit Kleidungsstücken.
Das einzige Möbelstück war ein kleines Regal, ebenfalls neben der Matratze, das vor Büchern überquoll. Auch davor standen noch zwei schwankende Stöße. Das Skurrilste war aber ein Stapel Leinwände auf Rahmen, der an der Wand lehnte, teils bemalt, teils noch leer. Eine zusammengeklappte Staffelage lehnte ebenfalls dort.
Der Gestank war fast unerträglich, doch sie ging weiter hinein, um sich die Sachen näher anzusehen. Sie überflog die Buchrücken. Es waren Krimis da, Henning Mankell, Donna Leon, aber auch philosophische Bücher; Nietzsche, Kierkegaard, alles in englischer Sprache.
Sie hustete. Ihre Nase begann zu brennen. Lange durfte sie nicht mehr hier bleiben. Sie ging noch hinüber zu den Leinwänden. Einige waren bemalt, aber in einer Weise, wie sie es noch nie gesehen hatte. Er verwendete den Lack zum Malen, hatte ihn teilweise mit dem Pinsel, teilweise aber offenbar mit Spachtel oder bloßen Händen aufgetragen. Dann entdeckte sie braune Farbe, und bald wurde ihr klar, dass es trockenes Blut war. Sie erkannte erst keine besondere Struktur in den Gemälden, aber sie schienen ihr doch alles andere als zielloses Gekleckse zu sein. Es war eine Idee darin.
Sie ließ den Blick noch einmal durch den Raum schweifen, sah ein Stück Papier aus einem der Bücher hervorragen. Sie nahm das Buch in die Hand und schlug es auf.
Maria hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Das Buch war ebenfalls in englischer Sprache geschrieben und schien von griechischer Mythologie zu handeln. Immer wieder stachen Wörter in griechischen Schriftzeichen aus dem Text hervor: Aτρ oπ oς, Kλωθώ .
Es schien um das Schicksal zu gehen, um die Kinder irgendwelcher antiker Gottheiten.
Sonderbar, doch je länger sie hier war, desto besser begann sie zu verstehen. Er war ganz und gar nicht verrückt!
Deshalb konnten sie also nichts gegen ihn ausrichten.
Sie musste plötzlich kichern und erschrak im nächsten Moment furchtbar darüber. Die Dämpfe, der Sauerstoffmangel. Sie musste hier raus, bevor sie den Verstand verlor.
Jenny saß unter einem Strauch und schluchzte. Wie hatte das passieren können? Warum waren alle gegen sie? Sie umklammerte die Pistole mit beiden Händen. Es war immer schon so gewesen, niemand nahm ihre Vorstellungen und Gefühle ernst, keiner hörte ihr zu.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Die Pistole zurückgeben? Nein, sie würden sie in eines der Zimmer sperren, nach dem, was sie getan hatte. Sie erinnerte sich an das, was Thomas von dem Zettel vorgelesen hatte. „Einer von euch wird überleben.“ Sie ahnte, was das bedeutete, aber sie wollte es nicht tun. Warum wurden von ihr immer Dinge verlangt, die sie nicht wollte? Niemand nahm auf ihre Gefühle Rücksicht.
Jenny hatte immer gut nach Vorgaben arbeiten können, und sie hatte eine Vorgabe. Sie musste sich auf ihre Stärken besinnen, wenn sie überleben wollte. Wenn da nicht dieses unangenehme Gefühl im Bauch gewesen wäre.
Dann hatte sie eine Idee. Es war vielleicht nicht nötig, so weit zu gehen. Die Pistole war ein wichtiger Machtfaktor, und wenn sie die anderen nur überzeugen konnte, dass es ihr ernst war, dann konnte sie vielleicht alle hier rausbringen. Dann würden sie sehen, dass sie Recht hatte, und ihr sogar dankbar sein.
Jenny hörte auf zu schluchzen, der Gedanke gab ihr Mut.
Jörg stand in einer Sackgasse. Er war von der Straße abgezweigt in einen halb zugewachsenen Weg, während Thomas alleine weitergegangen war zum Auto von Klaus. Hier ging es jedenfalls nicht weiter; er musste wieder zurück.
„Hallo“, sprach ihn jemand von hinten an. Jörg drehte sich um.
„Hallo“, erwiderte er ruhig.
„Du willst doch die Blonde haben, nicht wahr?“
Jörg überlegte kurz.
„Ja“, sagte er dann.
Maria rannte die Straße hinab. Noch immer brannten ihre Atemwege, aber es war bereits ein wenig besser. Die Betäubung von den Lösungsmitteln verschwand langsam, doch nicht der Eindruck der Bilder. Es wollte nicht in ihren Kopf, dass sie von derselben Person stammen sollten, die Albert das angetan hatte. Sollte ihr Peiniger ein fühlendes Wesen sein? Mit der Stelle aus dem Buch, die ihr gerade noch so bedeutungsvoll vorgekommen war, konnte sie plötzlich nichts mehr anfangen.
Jedenfalls mussten die anderen davon erfahren. Sie wusste nicht, ob ihre Informationen von Nutzen sein konnten, aber das mussten Thomas und Simon sagen, die schienen in diesem Alptraum weit besser den Überblick zu bewahren als sie.
Sie war froh, bald wieder ins Haus zu kommen, wo sie sich sicherer fühlte als im Freien. Zu hoffen war, dass die anderen schon wieder zurück waren. Plötzlich erschrak sie und blieb stehen.
„Jenny?“
Sie starrte in die Mündung einer Pistole, etwa zehn Meter vor ihr.
„Jenny, bitte richte das Ding nicht auf mich, das ist gefährlich!“
Jenny antwortete nicht.
„Ich will dir ja nichts tun. Können wir nicht einfach miteinander reden?“
„Es gibt nichts zu reden“, sagte Jenny, die nicht daran dachte, die Pistole runterzunehmen. „Ich weiß, was zu tun ist. Du kommst mit mir mit.“
„Das hat keinen Sinn, Jenny, verstehst du das nicht? Hast du vorhin nicht zugehört?“
Sie bemerkte, dass sie laut wurde und senkte die Stimme.
„Wir können es tagsüber nicht riskieren –“
„Blödsinn! Ich hör mir das nicht länger an. Halt die Klappe und komm mit!“
Jenny kümmerte sich nicht um den Lärm, den sie machte. Es machte Maria wütend. Tränen waren in ihren Augen.
„Das ist völlig irrsinnig, Jenny! Siehst du das nicht? Jemand will uns umbringen, und wir haben nichts Besseres zu tun, als uns gegenseitig zu bedrohen!“
„Du kommst mit. Ich erschieß dich, wenn du nicht mitkommst.“
„Ich komme auf keinen Fall mit“, beendete sie die Unterhaltung und ging in einigem Abstand an Jenny vorbei, doch ohne sie noch eines Blickes zu würdigen. Jenny folgte ihrem Weg mit dem Pistolenlauf, doch sie wusste nicht, was sie tun sollte. Maria entfernte sich.
„Bleib da, verdammt nochmal!“
Die taube Ruhe in den Ohren verlockte sie, sich zu fragen, ob der Schuss nicht nur Einbildung gewesen war. Doch Maria wusste, dass etwas anders war. Es war ein Ruck durch sie gegangen. Ihre Beine wurden plötzlich schwer. Etwas war mit ihrem Bauch nicht in Ordnung, und die Tatsache, wie seltsam es sich anfühlte, bestärkte sie einen Moment lang in der Hoffnung, dass der Schuss sie gar nicht getroffen hatte. Es tat schließlich nicht weh. Doch warum war ihr dann so schwindlig? Sie taumelte, wollte sich abstützen und stürzte dabei ins Gebüsch. Langsam wurde ihr klar, dass sie doch getroffen worden war, und sie registrierte es weniger mit Verzweiflung, sondern eher mit Unwillen. Sie wollte nicht getroffen worden sein! Jemand musste das rückgängig machen!
Jenny war es, die verzweifelt war. Das kam davon, dass sie niemand ernstnahm. Sie hatten es sich selbst zuzuschreiben.
Sie wollte das gerne glauben, aber es funktionierte nicht so richtig. Verdammt, sie war doch im Recht, oder nicht? Warum sollte sie dann Gewissensbisse haben? Tränen liefen ihre Wangen hinunter. Warum hatte sie in eine so furchtbare Lage geraten müssen?
Thomas kam gerade beim Haus an, als er den Schuss hörte. Was auch immer das bedeutete, es war auf jeden Fall nichts Gutes. Es sei denn, Jenny hatte den Verrückten erschossen, doch das bezweifelte er. Es wäre zu schön gewesen. Er hatte die schreckliche Befürchtung, dass Jenny eher einen von ihnen erschoss.
Vorsichtig ging er bis zur Treppe zur Haustür und blieb stehen. Er horchte, und er nahm sich Zeit. Nachdem er etwa drei Minuten nicht den kleinsten Laut von drinnen gehört hatte, ging er die knarrenden Stufen hinauf und betrat das Haus, den Baseballschläger erhoben und bereit.
Auch Simon hörte den Schuss. Es war etwas passiert, und er zwang sich, nicht nachzudenken, was es sein könnte. Es überzeugte ihn jedenfalls, dass er nun endgültig zum Haus zurückkehren sollte; er hatte gerade den Beweis gehört, dass er die Pistole hier nicht finden würde.
Die ganze Zeit über war er über kleine Pfade durchs Gestrüpp gestreift, die viel weiter verzweigt waren, als er geahnt hatte, und hatte sich mit Mühe den Weg eingeprägt, doch das Netz an Pfaden bildete ein regelrechtes Labyrinth. Er hatte nichts gefunden außer einer weiteren Lichtung, die jedoch leer gewesen war. Seine Suche war umsonst gewesen. Nun musste er sehen, dass er wieder zurückfand, so lang er den Weg noch im Kopf hatte. Außerdem musste er herausfinden, was geschehen war.
Jenny lief weg. Sie achtete nicht darauf, wo sie hinrannte, sondern rannte einfach nur. Wut trieb ihr immer neue Tränen in die Augen. Nein, sie war nicht schuld! Man musste jemanden ernstnehmen, der eine Pistole auf einen richtete. Es war wirklich nicht ihre Schuld.
Sie kam auf eine Lichtung und sah dort eine Baracke. Sie blieb stehen und zögerte. Dann lief sie darauf zu, auf die Rückseite, und kauerte sich dort hin. Sie legte die Pistole neben sich auf den Boden. Da lag das Ding, unschuldig, nur ein Klumpen Metall. Man sah ihr nichts an, sie wirkte sauber, steril, über jeden Verdacht erhaben. Nur wenn man die Trommel ausklappte und nachsah, dann würde man erkennen, dass eine Patrone fehlte, deren Projektil nun in Marias Bauch steckte, am Ende eines aufgerissenen Schusskanals, der sie langsam aber sicher töten würde.
Leise heulte Jenny vor sich hin.
„Hallo, kann ich dir helfen?“, hörte sie plötzlich eine Stimme von der Seite.
Maria lag im Gebüsch und wurde sich langsam ihrer Situation bewusst. Sie wollte es zuerst einfach nicht glauben. Es war keine Angst mehr da, aber ihr wurde mit der Zeit mehr und mehr klar, wie unglücklich sie gefallen war und dass man sie womöglich nicht finden würde. Sie versuchte zu rufen, doch sie hatte keine Kraft, und auf einmal war da auch ein stechender Schmerz. Sie krümmte sich, doch der Schmerz verschwand nicht ganz. Da wurde ihr schließlich klar, dass sie kaum eine Überlebenschance hatte, wenn man sie nicht bald fand und in ein Krankenhaus brachte. Beides war gleichermaßen unwahrscheinlich.
Sie hörte Schritte, die sich näherten. Jemand lief auf sie zu. Noch konnte sie nicht sehen, wer es war, aber sie entschied, dass sie nichts zu verlieren hatte und es einfach riskieren musste. Als ihr die Schritte nahe genug schienen, versuchte sie erneut, zu schreien. Ein Krächzen drang aus ihrem Mund, doch der Schmerz im Bauch war unerträglich. Sie sah Simon, wie er an ihr vorbeilief. Sie konnte nichts tun.
Wenn sie wenigstens nicht allein hätte sterben müssen, hier, neben der Straße, wo man wahrscheinlich nicht einmal ihre Leiche so schnell finden würde.
Als schließlich langsam das Blut aus ihrem Kopf sank, wurden ihre Gedanken wieder wunderbar klar, und sie verstand, einer Vision gleich, die Worte des Mörders. Von allem, was er gesagt hatte, hatte er auch das Gegenteil behauptet. Er hatte im Grunde gar nichts gesagt, sie selbst hatte etwas hineininterpretiert.
Er war nichts weiter als ein Spiegel, wollte ihnen zeigen, wer sie waren.
Nun hatten sie es gesehen.
„Wer sind Sie?“, fragte Jenny scharf und versteckte die Pistole hinter ihrem Rücken.
„Ich wohne hier. Du siehst aus, als ob du Hilfe brauchst. Ich habe ein Telefon.“
Wer war das? Konnte es ihr Peiniger sein? Sie konnte nicht genau erkennen, ob er nach Lack stank, weil ihre Nase vom Weinen verstopft war. Er hatte seltsame Narben am Körper, aber sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Auch wenn er es war, sie hatte immer noch die Pistole; er hatte sie noch nicht gesehen.
„Brauchst du ein Taschentuch? Komm mit, ich hab drinnen eines.“
Sie stand langsam auf, steckte sich dabei so unauffällig wie sie konnte, die Pistole hinten in die Hose und folgte ihm. Sie gingen um die Baracke herum. Er war gerade bei der Tür, als ihr etwas komisch vorkam. Sie waren doch in Griechenland – warum redete er deutsch mit ihr? Er sah ihre Verwunderung und mit einem Satz war er bei ihr. Sie hatte die Pistole bereits gezogen, doch er hielt ihre Hände fest. Nun, da er so nahe war, roch sie es.
Lösungsmittel.
Verzweifelt versuchte sie, ihre Hand zu befreien, doch es gelang ihr nicht.
„Lass sie fallen“, sagte er im gleichen ruhigen Ton wie vorhin.
Er drückte ihr Handgelenk zusammen. Sie versuchte, nach ihm zu treten, doch er fing ihren Tritt mit dem Knie ab.
„Lass sie fallen“, wiederholte er, und dann tat sie es.
Blitzschnell hatte er die Waffe aufgehoben, packte sie am Oberarm und zerrte sie in die Baracke. Er stieß sie nach vorn, sodass sie auf den Boden fiel.
„Komm her“, rief er plötzlich nach draußen. Jörg kam herein.
„Da, das Klebeband.“
Jörg verzog das Gesicht angesichts des Gestanks, doch er ging hinein, um das Klebeband aufzuheben. Jenny war gleichermaßen verwirrt wie entsetzt. Als Jörg mit dem Klebeband näherkam, und sie erkannte, dass man sie fesseln wollte, versuchte sie aufzustehen. Ein Schuss fiel, Jenny erstarrte.
„Lass das, das tut weh“, sah Jörg den Schützen entgeistert an, und hielt sich die Ohren.
Jenny war starr vor Angst – er hatte in den Boden geschossen, ganz knapp vor ihren Füßen. Jörg kam ein zweites Mal auf sie zu. Er fesselte ihre Hände auf den Rücken. Die Mündung der Pistole sank nach unten.
„Ich bin draußen. Da drüben liegt ein Pflock. Zieh ihr damit eins über, wenn sie nicht ruhig hält.“
Damit ließ er Jörg allein und schloss die Tür.
Simon sah sich vorsichtig um, bevor er auf den Gang trat. Er hielt seinen Hammer fest in der Hand und kam sich ziemlich lächerlich vor. Dieses Getue half ihnen vielleicht gegen das Gefühl der Hilflosigkeit, aber ansonsten war es wahrscheinlich nutzlos. Wenn er es nicht geradezu herausforderte, dann würden sie den Irren so nicht ausschalten können. Mit der Pistole wäre alles natürlich ganz anders gewesen.
Langsam ging Simon zur Küche. Er wollte noch etwas essen, bevor er sich wieder Alberts Hand ansah. Lieber hätte er gar nicht hingesehen, doch Thomas fühlte sich nicht zuständig, und was konnte Albert dafür? Ja, es war ekelhaft. Aber jemand musste ihn versorgen! Wie Blei lastete das Wissen um ihre Lage auf seinen Schultern und ermüdete ihn, gerade nun, da es so ruhig war. Es war doch alles nur eine Einbildung, ein böser Tagtraum, richtig? Sie hatten sich ein wenig zerstritten, aber es war nichts passiert, das sich nicht mit ein paar klärenden Worten wieder bereinigen ließ. Dann sah er wieder Alberts Hand vor seinem geistigen Auge, aufgedunsen wie ein mit Blut gefüllter Gummihandschuh.
Dennoch, so richtig hatte er noch nicht kapiert, was eigentlich geschah, und er zögerte das hinaus, indem er tat, was zu tun war. Jetzt musste er aber erst einmal etwas zu sich nehmen, musste seinen Magen dazu zwingen.
Er betrat die Küche, öffnete die Verpackung, in der das Brot war, doch angeekelt wandte er sich ab. Das Brot war über Nacht komplett verschimmelt. Er ging weiter zu den Dosen. Da waren Gulaschsuppe, Chili, Ravioli; das Übliche. Er schnappte sich eine Dose Chili und öffnete sie gleich an Ort und Stelle, obwohl sie eigentlich zusammenbleiben wollten und er bei den anderen hätte essen können. Doch in Alberts Anwesenheit würde er erst recht nichts essen können. Er kramte aus der Lade einen Löffel hervor und begann, das kalte Chili aus der Dose zu essen. Mechanisch schlang er einige Bissen in sich hinein und wartete. Sein Magen fühlte sich nicht gut an, doch er löffelte weiter. Bei der Hälfte der Dose gab er es auf, legte alles beiseite. Er hob seinen Hammer wieder auf, wollte gehen, doch zögerte dann. Er rülpste, stürzte zum Waschbecken und erbrach.
Simon kam zurück, setzte sich hin, stützte den Kopf mit den Händen. Thomas saß auf dem zweiten Sessel in Alberts Zimmer und starrte in die Luft. Albert schien zu dösen. Er hatte die Augen geschlossen, was wohl ein gutes Zeichen war. Seine Hand lag neben ihm, auf ein feuchtes Tuch gebettet.
„Maria und Jörg kommen nicht“, stellte Simon fest. Thomas reagierte nicht.
Sie hatten zwei Schüsse gehört.
Hatte Jenny geschossen? Wenn nicht sie, wer dann? Wie man es auch drehte und wendete, keine Variante war beruhigend. Es war wieder etwas passiert, und er wollte sich nicht ausmalen, was es diesmal war.
„Sie haben bis zum Abend Zeit. Wenn sie bis dahin nicht gekommen sind, fahren wir alleine.“
Natürlich hatte Thomas recht. Sie hatten keinen Einfluss darauf, was dort draußen vor sich ging. Sie waren nicht in der Lage, es zu ändern.
Simon stand wieder auf. Er hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund. Er ignorierte den Vorsatz, zusammenzubleiben, und ließ die beiden abermals im Zimmer zurück.
„Sag, was ist eigentlich passiert?“
Thomas erschrak. Albert hatte sich ein wenig aufgesetzt, sah ihn an, und die Frage wirkte völlig ernst. Thomas wusste nicht, was er erwidern sollte.
„Wo soll ich anfangen?“
„Seit wann sind wir denn hier? Wir waren doch woanders.“
Simon hatte Albert sprechen gehört und kam herbeigestürmt.
„Was meinst du?“, fragte Thomas nach.
„Er sagt, es tut gar nicht weh, wenn man nicht hinsieht, weil es gar nicht echt ist. Weil, der Schmerz ist eigentlich Freude und die Freude ist eigentlich Schmerz.“
Thomas und Simon sahen ihn entgeistert an.
„Bitte, ihr dürft mir nicht noch einmal auf die Hand schlagen!“
„Wer hat dir auf die Hand geschlagen?“, fragte Thomas.
Albert sah seine Hand an, als würde er etwas nicht verstehen.
„Wer hat dir auf die Hand geschlagen?“, wiederholte Thomas.
Albert zuckte zusammen.
„Lass ihn“, sagte Simon mit zitternder Stimme. „Er weiß sowieso nicht, was er sagt.“
„Vielleicht kann er uns helfen“, erwiderte Thomas.
„Er war eigentlich ganz freundlich, wisst ihr?“, begann Albert nach einer Weile wieder.
„Was ist passiert?“
„Zuerst hab ich ihn nicht sehen können unter der Kapuze. Die Kapuze war ganz schwarz. Ganz schwarz. Dann hat er den Hammer geholt.“
Wieder sah es aus als versuchte er zu verstehen.
„Lass ihn, das ist ja grauenhaft!“, fuhr Simon dazwischen.
Thomas schien verärgert, doch er hörte auf.
„Wir müssen mit der Hand was unternehmen. Auf jeden Fall sollten wir sie wieder kühlen.“
Simon kam mit einem Kübel voll kaltem Wasser aus der Küche. Er hockte sich an Alberts Bett, tauchte das Tuch ein und legte es vorsichtig auf dessen Hand.
„Nein!“, schrie Albert scharf und zog die Hand weg. Gerade die schnelle Bewegung musste sehr weh getan haben.
„Lass mich doch“, versuchte Simon ihn zu beruhigen wie ein Kind, „es ist gut für dich.“ Thomas sah die beiden nicht einmal an.
Noch einmal versuchte es Simon, doch wieder zog Albert nervös die Hand weg. Es schmerzte offensichtlich sehr, aber Albert schien nicht eingrenzen zu können, woher der Schmerz kam.
„Vergiss es.“
Simon stand auf und warf den Lappen klatschend ins Wasser. Er hob den Kübel auf und trug ihn zurück in die Küche, nur um aus dem Zimmer hinauszukommen. Er fühlte sich alleingelassen. Nach einer Weile kam zurück und setzte sich wieder auf den Sessel. Eine weitere Stunde verbrachten sie schweigend.
„Seine Hand wird absterben, ist dir das klar?“, fragte Simon. Thomas ignorierte ihn.
„Glaub ich zumindest. Und ich glaube, das ist alles andere als gut. Ich hab gehört, das vergiftet dann den Körper oder so. Weißt du, wie das ist?“
„Nein.“
„Der stirbt uns weg, verstehst du?“
Thomas wirkte gleichgültig, aber auch trotzig.
„Was denkst du, was wir tun können?“
Simon zögerte, es auszusprechen.
„Die Hand muss amputiert werden.“
Es war ihm sichtlich nicht angenehm.
„Man kann sowas auch mit unseren Mitteln machen. Ich hab da einmal was gelesen; wenn man länger als zwanzig Minuten abbindet –“
Thomas sah ihn stirnrunzelnd an, lachte dann kurz auf.
„Sag was, verdammt! Ich kann immer alles alleine machen, du kümmerst dich einen Scheißdreck um ihn!“
Thomas ließ es nicht an sich heran, auch wenn manche von Simons Argumenten stimmen mochten. Er wusste genau, was er tat, und warum. Er musste sich von niemandem erklären lassen, was er zu tun hatte.
„Wenn du wirklich glaubst, dass du seine Hand amputieren willst, dann mach ruhig. Ich hab nicht vor, dich daran zu hindern.“
„Was sollen wir sonst tun?“, fragte Simon ganz langsam und voller Wut.
„Wir warten bis es dunkel wird und dann versuchen wir, mit dem Auto zu fliehen. Zumindest habe ich in Erinnerung, dass es so abgemacht war.“
„Aber Albert –“
„Albert werden wir mitnehmen. Er braucht ein Krankenhaus und keinen Hobby-Chirurgen!“
„Es wird bis zum Abend vielleicht keinen Albert mehr geben!“
Thomas’ Gesicht war eine Maske.
Wütend stand Simon auf, schnappte seinen Sessel und ging hinaus, wobei die Sesselbeine polternd gegen den Türrahmen stießen. Albert nahm alles mit dem Staunen eines Kindes zur Kenntnis.
Warum erwischte es nicht ihn?
Simon wunderte sich über seine Gedanken, aber er wehrte sich nicht.
Die blöde Jenny sollte ihn erschießen. Die blöde Jenny sollte sowieso alle über den Haufen schießen, damit keiner mehr da war, den der Irre foltern konnte. Das war wohl die einzige Möglichkeit, seinen Plan zu durchkreuzen.
Sein Lachen war zur Hälfte ein Schluchzen.
Tränen liefen über Simons Wangen. Verdammt, sie verwandelten sich nach und nach in Tiere. Warum war er nur mitgefahren? Es war eine so leichte Entscheidung gewesen. Warum hatte ihn niemand gewarnt, welche Folgen sie haben würde?
Die Stunden zogen sich hin. Simons Hass verwandelte sich in Verzweiflung. Weder Maria, noch Jörg, noch Jenny kam. Albert starb im Nebenraum einen langsamen Tod, während Thomas selbstzufrieden neben ihm saß. Ganz langsam wurde es dunkler. Simon ging nicht hinüber. Thomas würde sich rühren, wenn er befand, dass es dunkel genug war. Er musste ihre Kontakte auf ein Minimum reduzieren, wenn er nicht riskieren wollte, dass sie sich gegenseitig an die Gurgel gingen. Dieses Szenario war gefährlich realistisch.
Dann bewegte sich Thomas im Nebenzimmer. Es war inzwischen stockfinster. Auch Simon stand auf. Es ging los.
„Leise!“, zischte Thomas, viel zu laut. Simon wollte etwas entgegnen, doch er schluckte es hinunter.
Er ging zu Albert, der schlief, und weckte ihn. Noch schien es ihm einigermaßen gut zu gehen. Simon zwang sich, die Hand nicht anzusehen.
„Komm, steh auf, wir machen uns auf den Weg!“, flüsterte er. Es gab ihm Mut, das endlich sagen zu können. Er fühlte, wie eine seltsame Euphorie neue Kräfte in ihm weckte.
Albert reagierte schleppend, doch er versuchte tatsächlich aufzustehen. Nach einigem Taumeln stand er. Knarrend begaben sie sich auf den Gang, knarrend gingen sie diesen entlang. Dann rochen sie es.
Lösungsmittel.
Alle waren wie gelähmt.
„Los!“, zischte Thomas, und Simon wäre leicht zu überzeugen gewesen. Alberts Gesicht jedoch war zur Fratze verzerrt. Dann schrie er, ohrenbetäubend, mit all dem Schrecken, den er die ganze Zeit nicht hatte mitteilen können.
Thomas war an der Tür, bereit, sie zu öffnen, hatte seinen Baseballschläger erhoben. Ungeduldig sah er zurück zu den beiden. Simon versuchte, Albert nach vor zu stoßen, worauf dieser verstummte und in die Knie sank. Simon versuchte verzweifelt, ihn wieder aufzurichten, während Thomas die Tür öffnete und hinaus ins Dunkle trat.
„Komm, verdammt, komm endlich!“, jammerte Simon, doch Albert hatte endlich wieder die Besinnung verloren. Da erst bemerkte Simon, dass Thomas schon draußen war. Er rannte ebenfalls zur Tür hinaus. Gerade ging ein Motor an, zwei Scheinwerfer flammten auf. Schottersteine stoben in die Höhe, als das Auto losfuhr.
Simon wollte etwas nachrufen, doch es blieb ihm im Hals stecken. Der Lackgeruch war so intensiv, dass ihm schlecht wurde. Er sah sich um, und da stand jemand an der Ecke des Hauses im Halbdunkel. Ohne einen weiteren Augenblick des Zögerns rannte Simon los.
Thomas stieg aufs Gas. Nur weg. Alles war egal, alles würde sich lösen, wenn er nur endlich von hier wegkam. Die Polizei würde alles beenden. Das Danach war irrelevant. Man konnte ihn vor Gericht stellen, ihm war das gleich. Wenn nur die Polizei einmal dem Irrsinn ein Ende setzte.
Er hatte das Licht noch eingeschaltet. Kurz hatte er versucht, es auszumachen, doch so konnte man nicht autofahren. Ohne Licht sah er buchstäblich gar nichts. Er versuchte, diesen Nachteil durch Geschwindigkeit wettzumachen und fuhr so schnell, wie es auf dem Schotter irgend möglich war.
Er rechnete nun bald damit, zur Linie zu kommen. Das war wahrscheinlich der entscheidende Moment. Noch einmal trat er das Gaspedal durch und schaltete einen Gang höher. Die letzte Kurve kam, langgezogen. Als das Auto von Klaus schließlich auftauchte, war es zum Bremsen bereits zu spät. Das Fahrzeug stand quer über die Straße. Thomas trat zwar noch auf die Bremse, doch er musste hilflos zusehen, wie sein Auto weiterschlitterte. Einen kurzen Moment lang sah er, wie ihn Klaus’ Leiche mit offenem Mund im Scheinwerferlicht anstarrte, dann krachte es.
Alles war gedämpft, Töne, Farben. Thomas hatte ein Summen den Ohren, leise hörte er die Zikaden singen. Er öffnete die Autotür und den Gurt und stieg aus. Er musste sich beim Wagen abstützen, so schwindlig war ihm. Dann erst warf er im schwachen Licht der Innenbeleuchtung einen Blick auf sein Auto.
Viel konnte er nicht erkennen, aber zumindest eines war sofort klar: Beide Scheinwerfer waren draufgegangen – ohne Licht konnte er nicht weiterfahren, so oder so.
Jemand schien die Zeit langsamer gedreht zu haben, er war vom Unfall immer noch völlig betäubt. Der Schock machte ihn träge. Dann kam ihm in den Sinn – sollte er zu Fuß weiterlaufen? Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass der Irre dort unten wartete? Noch war nicht alles verloren. Die Dunkelheit konnte ein Vorteil sein.
Er stieg wieder ins Auto und öffnete das Handschuhfach – war da nicht einmal eine Taschenlampe gewesen? Er fand sie tatsächlich, aber die Batterien waren alt und sehr schwach. Er schaltete sie wieder aus, steckte sie ein, nahm seinen Baseballschläger und schloss die Autotür, woraufhin die Innenbeleuchtung ausging und völlige Dunkelheit ihn umgab.
Wie ging es jetzt weiter? Es war mit Sicherheit viel riskanter, über die Straße weiterzulaufen, als in eine andere Richtung. Auch wenn der Kerl noch so clever war, alles konnte er nicht abriegeln. In dem Moment hörte er eine Stimme aus dem Dunklen.
„Thomas? Was ist passiert?“
Es war Jörg. Thomas war zu überrascht um zu antworten.
„Was tust du hier? Wolltet ihr ohne uns fahren? Wo sind die anderen?“
Jörgs fragender Ton wirkte seltsam aufgesetzt.
„Ich seh zu, dass ich hier wegkomme. Wenn du mitkommen willst, musst du dich sofort entscheiden.“
„Thomas, wir können nicht weg! Ich hab Jenny gefunden, sie ist verletzt. Wir müssen sie mitnehmen.“
Thomas’ Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Einige Meter entfernt stand Jörg; seine Silhouette hob sich schwach vom Hintergrund ab.
„Was hast du denn die ganze Zeit gemacht? Wir haben auf euch gewartet!“, antwortete Thomas.
„Ich hab Jenny gesucht – was habt ihr gemacht? Was war los, warum bist du alleine?“
„Hast du die Pistole?“, erinnerte sich Thomas plötzlich.
„Ja, hab ich. Komm mit, wir müssen zu Jenny.“
Etwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung.
„Gib mir die Pistole.“
Schweigen von der anderen Seite.
„Nein. Ich hab sie gefunden.“
„Wir müssen Jenny holen, bevor wir fliehen, komm mit“, fügte er hinzu, und dann hörte man seine Schritte auf dem Schotter.
Thomas überlegte kurz und folgte ihm.
„Wohin gehst du?“, fragte Thomas.
„Psst!“, erwiderte Jörg nur.
Jörg war im Begriff, von der Straße abzubiegen. Sie waren noch nicht beim Haus vorbeigekommen. Widerwillig folgte Thomas.
Nach einiger Zeit bemerkte er etwas Seltsames. Bildete er sich das nur ein? Es war so schwach, dass er sich nicht sicher war, aber er hatte das Gefühl, es roch nach Lack, schon die ganze Zeit. Noch eine ganze Weile überlegte er, bis er schließlich seinen Schläger fest umfasste und ausholte. Mit einem unangenehm lauten Klang traf das Holz sein Ziel. Man hörte, wie Jörg ins Gebüsch stürzte.
Thomas untersuchte den Bewusstlosen, der nur noch sehr langsam und flach atmete. Es bestand kein Zweifel; es waren seine Kleider, die den Gestank verströmten. Und er hatte gelogen. Da war keine Pistole.
Thomas fluchte, lauter als er eigentlich gewollt hatte. Wie weit hätte er inzwischen schon sein können? Egal, dann eben jetzt. Doch in welche Richtung? Zurück zur Straße? Nein; viel sicherer war es wohl, sich ins Gebüsch zu schlagen. Er suchte sich eine Richtung aus, die ihm nicht ganz verkehrt vorkam, und ging los.
Nur eine Weile noch durchhalten. Alles würde gut werden. Extreme Situationen erzeugten extreme Reaktionen; man müsste die extremen Situationen entfernen.
Es war nicht seine Schuld.
Der Hang stieg wieder an. War er im Kreis gelaufen? Nein, sein Weg war einigermaßen gerade gewesen. Er war dem ersten Pfad gefolgt, auf den er gestoßen war, gefolgt, weil Hände und Gesicht schon völlig zerkratzt waren. Er durfte sich jetzt nicht aus der Ruhe bringen lassen. Wenn er gerade weiterging, dann würde ihn sein Weg über kurz oder lang hinausbringen.
Plötzlich kam er auf eine Lichtung. Vor ihm war etwas, ein Gebäude. Da war ein schwacher Lichtschein. Er blieb stehen, horchte. Nichts war zu hören. Es gab zwei Möglichkeiten: Das konnte der erste Vorposten der ersehnten Rettung sein oder die Bleibe des Peinigers. Er überlegte noch einen Moment, dann näherte er sich der Hütte.
Albert war so gut wie tot. Wahrscheinlich verreckte er in diesem Moment auf dem Gang. Sie starben wie die Fliegen, es war unglaublich. Er machte sich keine Illusionen mehr, was die anderen beiden Schüsse anging. Es war unheimlich, wie gut sie dieser Wahnsinnige in der Hand hatte. Auf den ersten Blick wirkte alles chaotisch, aber war es genau so geplant gewesen? Oder improvisierte er?
Simon rannte kleine Pfade entlang.
Jedenfalls gehörte er hier nicht hin, seine Anwesenheit war ein Fehler. Das war irgendeine Art Strafe, aber was hatte er getan? Was hatte Klaus getan? Gerade er hatte als erster büßen müssen. Es war so willkürlich. Wie immer man es auch fassen wollte, entzog es sich.
Thomas näherte sich der Hütte, darauf bedacht, den Gesang der Zikaden nicht zu übertönen. Er erreichte die Wand, die keine Tür enthielt, nur ein Fenster, aus dem das schwache Licht drang. Langsam ging er weiter, bückte sich, als er das Fenster passierte. Dann erreichte er die Tür.
Noch zögerte er. Was war das Beste? Anklopfen und warten? Nein. Er atmete ein paarmal tief durch, dann stellte er sich neben dem Eingang mit dem Rücken zur Wand, umfasste seinen Schläger noch fester, um dann die Tür zu öffnen.
Der Lackgeruch durchdringend. Er hatte es geahnt. Drinnen rührte sich nichts, auch nach einer Minute. Er musste nachsehen.
Niemand war da, wie er es vermutet hatte. Er sah eine Matratze, Bücher, weiße Rahmen, die er nicht identifizieren konnte. Am Boden lag ein Haufen Kleidung, neben der Matratze stand eine brennende, altmodische Petroleumlampe. In diesem Moment bewegte sich etwas.
Der Kleiderhaufen war ein Mensch. Thomas erkannte eine schwarze Kapuze. Er holte aus und schlug zu, noch einmal, noch einmal. Es war einfacher als zuvor bei Jörg; man gewöhnte sich daran. Scheußliche plastische Geräusche durchdrangen die Nacht, als der Schläger immer wieder traf.
„Verrecke, Arschloch!“, schrie Thomas und trat auf ihn ein.
Schnaufend hielt er inne. Es war genug; die Gestalt rührte sich nicht mehr. War es das gewesen? Er bemerkte den nackten Fuß, der unter den Kleidern hervorragte. Nein.
Thomas ließ sich auf die Matratze fallen. Er zitterte. Sein Hals war wie zugeschnürt, doch es wollten keine Tränen kommen. Er konnte die Erinnerung nicht vertreiben, hatte eine Erektion. Es tat so weh.
Der Dampf machte ihn nach einiger Zeit träge, veränderte den Schmerz. Die Mauer aus Stolz und Überheblichkeit bekam Risse. Es war seine Schuld, dieses ganze Chaos. Er sah das ganz klar. Allein seine Schuld.
In dem Moment ging ganz leise die Tür auf und im Raum stand eine kleine Gestalt mit Lockenkopf. Es trug nur eine Hose, der schlanke Oberkörper war frei. Das Feuer der Lampe gab der glatten Haut einen goldenen Glanz und der Schönheit des jugendlichen Gesichts etwas Überirdisches. Das Wesen mit seiner aufrechten, stolzen Körperhaltung, war wunderschön, trotz der furchtbaren Narben, die sich über alle sichtbaren Teile des Körpers zogen. Die Pistole steckte vorn im Hosenbund.
Thomas musste lachen und schüttelte den Kopf. Für ihn war diese Gestalt der Gipfel der Ironie. Auch sein Gegenüber lächelte. Schließlich erstarb Thomas’ Lachen in Lauten, die sich wie Schluchzer anhörten. Er sah die Gestalt eindringlich an.
„Was bist du?“, fragte er.
Das Wesen lächelte immer noch.
„Komm mit“, sagte es.
Es hob die Petroleumlampe auf und ging hinaus. Nach einer Weile stand Thomas tatsächlich auf, stieg über den reglosen Körper, und folgte ihm.
Den Schläger nahm er mit.
9
Ein Gebäude, in der Dunkelheit. Viel größer als die Hütte. Das Licht der Lampe fiel auf Säulen und eine Mauer aus großen Blöcken dahinter. Ein griechischer Tempel, erstaunlich gut erhalten. Das Geschöpf stellte die Lampe ab und setzte sich auf die Stufen des Aufgangs. Es begann zu flüstern.
„Tut mir leid, Mutter, dass ich mit dir gestritten habe. Versteh doch, ich wollte glücklich sein! Ich wollte die Aufgabe vergessen, die du mir zugedacht hast. Du hast mich so gemacht, wie ich bin. Es ist nicht meine Bestimmung, glücklich zu sein, das weiß ich jetzt. Ich habe meine wahre Bestimmung erkannt. Ich bin dein Werkzeug. Ich tue deinen Willen. Von nun an werde mich nie mehr widersetzen, das verspreche ich.“
Thomas wurde ungeduldig.
„Du hast mich hergeführt. Jetzt sprich mit mir.“
„Sie verstehen es nicht, das ist klar. Sie wollen die Welt nicht, wie sie ist. Sie träumen von einer Welt, in der es kein Leid gibt. Eine Traumwelt wäre ihnen lieber als die Wirklichkeit. Sie wollen nicht verstehen, dass nicht alles nur zu ihrer Freude und Belustigung da ist, dass es Schreckliches, Unergründliches und Widersprüchliches gibt, das sie nicht kontrollieren können. Dass der Schicksalsfaden gesponnen werden muss, ohne Rücksicht. Dass sogar der Göttervater daran gebunden ist, dass du und deine Schwestern sogar über ihm steht. Sophokles, der hat es verstanden, und dieser Shakespeare.“
„Aber wozu das alles? Zu welchem Zweck?“
Das Wesen unterbrach sein Gebet und sah Thomas an.
„Es gibt keinen Zweck, außer in den Werken der Menschen. Es gab nie einen. Die Welt ist nur die Bühne.“
„Das verstehe ich nicht. Der ganze Wahnsinn, der Tod und das Elend, für nichts?“
„Es gibt immer ein Risiko. Einer wie ich ist immer unter euch. Du kannst nur entscheiden, ob es das wert ist, ob du es probieren willst.“
Das Geschöpf schenkte ihm ein Lächeln voller Wärme und Mitgefühl.
Da hatte Thomas das Gefühl, als ob etwas in ihm explodierte. Ein Schrei entfuhr ihm, ein Kreischen wie eine Sirene, als er mit dem Baseballschläger ausholte. Viel zu langsam, wie in Zeitlupe. Das Geschöpf hatte genug Zeit, musste nur die Pistole ziehen.
Doch der Schläger traf, einmal, dann noch einmal, traf das lächelnde, vernarbte, nicht menschliche Wesen. Kurz scheint es, als wäre das Geschöpf unverwundbar und Thomas’ Wut vergeblich, doch dann hört man den ersten Knochen brechen und die kleine Gestalt bricht zusammen. Thomas hört nicht auf zu schreien, drischt auf den Körper ein, der vor ihm liegt, dumpfes Klopfen, Schmatzen tönt durch das Gestrüpp. Er lässt erst nach, als seine Kraft erschöpft ist. Dann ist alles ruhig, der Körper liegt leblos vor ihm, die Augen sind geschlossen. Auf den Lippen ist noch ein Rest des Lächelns.
Thomas röchelt, als er die Pistole aufhebt. Er geht einige Schritte zur Seite, dort sinkt er zu Boden, lässt die Pistole auf seinen Schoß fallen und beginnt hemmungslos zu schluchzen.
Simon hastete durchs Gebüsch. Er musste doch irgendwann an eine Straße kommen, oder wenigstens von diesem Hügel herunter. Er hatte keine Ahnung, wohin er lief. Er hoffte nur, dass ihn die Trampelpfade irgendwann in Sicherheit führen würden. Das war eine schlechte Strategie, aber er war zum Handeln gezwungen, und es war besser zu laufen, als sich seinem Schicksal zu ergeben.
Hin und wieder passierte er Lichtungen. Oder war es immer die gleiche? Rannte er vielleicht nur im Kreis? Er hielt nicht an, klammerte sich an die Hoffnung, dass er irgendwo ankommen würde. Was blieb ihm sonst übrig? Er überquerte eine weitere Lichtung, um auf der anderen Seite einen Ausgang zu suchen, doch auf halbem Weg verlor er plötzlich den Boden unter den Füßen.
Er wusste, was passiert war, noch bevor er unten aufkam. Der Kadaver fing ihn elastisch auf, doch der Aufprall schien aus allen Körperöffnungen des Pferdes den Leichengeruch herauszupressen. Simon verlor beinahe die Besinnung, als er das Fell auf seiner Haut spürte und atmen wollte. Er würgte, versuchte aufzustehen. Irgendwie konnte er sich an der Grubenwand hochziehen und der Magensaft tröpfelte aus seinem Mund. Mit ungeahnten Kräften hievte er sich hoch, immer noch würgend. Scharfe Tränen waren in seinen Augen, doch er schaffte es hinaus. Er rannte. Nun wusste er auch, wo er war und in welche Richtung er laufen musste.
Er blieb auf der Straße. Es war ihm völlig gleich, ob das ein Risiko war oder nicht. Er war zu müde, um sich darüber noch Gedanken zu machen. Nach einiger Zeit war er so außer Atem, dass er seinen Schritt verlangsamen musste. Er dachte nicht mehr nach, nur noch der blanke Wille trieb ihn.
Irgendwann passierte er die Linie. Die beiden zerbeulten Fahrzeuge waren undeutlich im Sternenlicht auszumachen. Simon nahm sie nur am Rand zur Kenntnis. Es überraschte ihn nicht, dass Thomas es nicht geschafft hatte. Er begann wieder zu laufen, und als er vor sich die Lichter einer Ortschaft sah, brach er in Tränen aus. Er sah sich um. Durfte er es glauben? Ein letztes Mal rannte er, drehte sich immer wieder um, doch als er die ersten Häuser erreichte, wurde ihm klar, dass er es überstanden hatte.
Den Schlag von hinten sah Simon nicht kommen. Er wurde mit spielerischer Leichtigkeit und schier übermenschlicher Kraft ausgeführt. Simon fiel zu Boden, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Schnell bildete sich eine Lache aus Blut um seinen zuckenden Körper, ein dunkler Teppich im Staub, der im Licht der nahen Straßenlaterne glänzte.
Nach einiger Zeit trat ein alter Mann auf die Straße, weil er ein seltsames Geräusch gehört hatte. Er fand die auf dem Bauch liegende Gestalt, sah das Blut und blieb in einigen Metern Entfernung stehen.
„Ti ginetai edo?“, fragte er, doch bekam keine Antwort.
Er rief nach seiner Frau, weil er nicht wusste, was er tun sollte. Weil er nicht wagte, diesen blutenden Menschen anzufassen. Als die Frau aus dem Haus kam und den Liegenden sah, schrie sie auf und lief zurück ins Haus. Kurz darauf hörte er sie telefonieren. Der Mann blieb ratlos stehen, bis er in der Ferne Polizeisirenen hörte, die langsam lauter wurden.
Weit und breit war niemand zu sehen.
Nur ein schwacher Geruch nach Lösungsmitteln lag in der Luft.