»Licht!« Das entschlüpfte Perrin, bevor er es verhindern konnte. Moiraines Blick wanderte zu ihm herüber. »Ihr meint, was Rand passierte, wird... wird irgendwann jedem passieren?«

»Nicht jedem. Jedenfalls noch nicht. Am Anfang, denke ich, wird es nur ein paar Blasen geben, die durch Ritzen entschlüpfen, wo die Macht des Dunklen Königs bereits zugreifen kann. Und wer weiß schon, was später sein wird?

Und weil die Ta'veren ja die anderen Fäden im Muster um sich herum neu knüpfen, so werden gerade sie wohl diese Blasen stärker anziehen als alle anderen.« Ihre Blicke sagten, sie wisse, daß Rand nicht der einzige war, dem ein wahr gewordener Alptraum widerfahren war. Ein kurzes Lächeln, schon wieder verschwunden, bevor er es richtig bemerkt hatte, sagte ihm, daß er das vor den anderen geheimhalten könne, wenn er es wünsche. Aber sie wußte Bescheid. »Doch in den kommenden Monaten – oder Jahren, falls wir das Glück haben, soviel Zeit gewinnen zu können – werden eine Menge Leute Dinge erleben, die ihnen graue Haare verschaffen, falls sie alles überleben sollten.«

»Mat«, sagte Rand. »Wißt Ihr, ob er...? Ist er...?«

»Das werde ich bald genug wissen«, antwortete

Moiraine gelassen. »Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden, aber wir können hoffen.« So ruhig sie auch sprach, roch sie doch für Perrin nach Nervosität, bis Rhuarc sagte: »Es geht ihm gut. Oder es ging ihm gut. Ich habe ihn gesehen, als ich hierher unterwegs war.«

»Wo ging er denn hin?« fragte Moiraine in etwas gereiztem Tonfall. »Es sah so aus, als gehe er zu den Quartieren der Diener hinüber«, berichtete der Aielmann.

Er wußte, daß die drei ta'veren waren, auch wenn er sonst nicht soviel wußte, wie er selbst glaubte. Doch er kannte Mat gut genug, um hinzuzufügen: »Nicht zu den Ställen, Aes Sedai. In die andere Richtung, zum Fluß hin. Und an den Landungsstegen des Steins liegen gerade keine Schiffe.« Er hatte keine Probleme bei den Worten ›Schiffe‹

und ›Landungsstege‹, so wie sonst die meisten Aiel, obwohl in ihrer Wüste solche Dinge nur die Ausgeburten von Märchen zu sein schienen.

Sie nickte, als habe sie nichts anderes erwartet. Perrin schüttelte den Kopf. Sie war so daran gewöhnt, ihre wirklichen Gedanken anderen zu verheimlichen, daß sie das wohl mittlerweile schon aus purer Gewohnheit tat.

Plötzlich öffnete sich ein Türflügel, und Bain und Chiad schlüpften ausnahmsweise einmal ohne ihre Speere herein.

Bain trug eine große weiße Schüssel und einen dicken Krug, aus dem Dampf aufstieg. Chiad hatte sich gefaltete Handtücher unter den Arm geklemmt.

»Warum bringt Ihr diese Sachen?« wollte Moiraine wissen.

Chiad zuckte die Achseln. »Sie wollte nicht

hereinkommen.«

Rand lachte kurz auf. »Selbst die Diener sind schlau genug, sich von mir fernzuhalten. Stellt es irgendwo hin.«

»Eure Zeit hier wird knapp, Rand«, sagte Moiraine. »Die Tairener gewöhnen sich auf gewisse Weise an Euch, und was einem vertraut ist, das fürchtet man nicht mehr so wie das Unbekannte. Wie viele Wochen oder Tage wird es noch dauern, bis jemand Euch einen Pfeil in den Rücken schießt oder Gift in Euer Essen streut? Wie lange noch, bis einer der Verlorenen zuschlägt oder eine weitere Blase aus dem Gefängnis des Dunklen Königs entweicht und in das Muster eindringt?«

»Versucht nicht, mich zu hetzen, Moiraine.« Er war blutverkrustet und schmutzig, halb nackt, stützte sich mehr oder weniger auf Callandor, um überhaupt aufrecht sitzen zu können, aber er brachte es fertig, in ruhigem Befehlston zu sprechen. »Ich werde auch bei Euch nicht springen.«

»Wählt bald Euren weiteren Weg«, sagte sie. »Und informiert mich diesmal darüber, was Ihr vorhabt. Mein Wissen nützt Euch nichts, wenn Ihr euch weigert, meine Hilfe anzunehmen.«

»Eure Hilfe?« fragte Rand müde. »Ich werde Eure Hilfe annehmen. Doch die Entscheidung darüber treffe ich, nicht Ihr.« Er sah Perrin an, als wolle er ihm wortlos etwas mitteilen, etwas, das die anderen nicht hören sollten. Perrin hatte keine Ahnung, was er wollte. Nach einem Augenblick seufzte Rand und ließ den Kopf ein wenig sinken. »Ich will schlafen. Geht nun bitte alle. Bitte. Wir reden morgen weiter.« Wieder traf sein Blick auf Perrin, als richteten seine Worte besonders an ihn.

Moiraine ging durch den Raum hinüber zu Bain und Chiad, und die drei steckten die Köpfe zusammen, um leise miteinander zu sprechen. Perrin hörte nur Gemurmel und fragte sich, ob sie vielleicht die Macht benützte, damit er nicht lauschen konnte. Sie wußte, wie gut er hörte. Dann war er sich dessen sicher, als Bain zurückflüsterte und er immer noch nichts verstand. Aber in bezug auf seinen Geruchssinn hatte die Aes Sedai nichts unternommen. Die Aielfrauen blickten beim Zuhören auf Rand, und sie rochen nach Wachsamkeit. Nicht nach Angst, aber so, als sei Rand ein großes Tier, das bei jedem Fehltritt plötzlich gefährlich werden könnte.

Die Aes Sedai wandte sich wieder Rand zu. »Wir

werden uns morgen unterhalten. Ihr könnt nicht wie eine Wachtel dasitzen und auf das Netz des Jägers warten.« Sie ging zur Tür, bevor er antworten konnte. Lan sah Rand an, als wolle er ihm etwas sagen, aber dann folgte er ihr doch schweigend.

»Rand?« fragte Perrin.

»Wir tun, was wir tun müssen.« Rand blickte nicht von dem durchsichtigen Knauf in seinen Händen auf. »Wir tun alle, was wir müssen.« Er roch nach Angst.

Perrin nickte und folgte Rhuarc aus dem Raum.

Moiraine und Lan waren nirgends mehr zu sehen. Der tairenische Offizier starrte aus zehn Schritt Entfernung die Tür an und versuchte den Eindruck zu erwecken, diese Entfernung entspräche seinem eigenen Wunsch und habe nichts mit der Anwesenheit der vier Aielfrauen zu tun, die ihn beobachteten. Die anderen beiden Töchter des Speers waren immer noch im Schlafzimmer, wie Perrin bemerkte.

Er hörte drinnen Stimmen.

»Geht weg«, sagte Rand müde. »Stellt es einfach hin und geht.«

»Falls Ihr aufstehen könnt«, sagte Chiad fröhlich,

»werden wir gehen. Steht nur auf.«

Man hörte, wie Wasser in eine Schüssel gegossen wurde.

»Wir haben schon öfter Verwundete betreut«, sagte Bain in beruhigendem Ton. »Und ich habe immer meine Brüder gewaschen, als sie noch klein waren.«

Rhuarc schloß die Tür, und der Rest wurde

abgeschnitten. »Ihr behandelt ihn nicht so wie die Tairener«, sagte Perrin ruhig. »Keine Verbeugungen und Kratzfüße. Ich glaube nicht, daß ich bei einem von Euch schon einmal den Ausdruck ›Lord Drache‹ gehört habe.«

»Der Wiedergeborene Drache ist eine Prophezeiung der Feuchtländer«, sagte Rhuarc. »In unserer heißt er ›Der Mit Der Morgendämmerung Kommt‹.«

»Ich dachte, das sei das gleiche. Warum seid Ihr sonst zum Stein gekommen? Seng mich, Rhuarc, Ihr Aiel seid das Volk des Drachen, so, wie es vorhergesagt wurde. Das habt Ihr doch praktisch schon zugegeben, auch wenn Ihr es nicht offen aussprecht.«

Rhuarc überhörte das letztere. »In Euren Prophezeiungen des Drachen wird durch den Fall des Steins und dadurch, daß er Callandor an sich nahm, die Wiedergeburt des Drachen bewiesen. In unserer Weissagung heißt es lediglich, daß der Stein fallen müsse, bevor er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, erscheint und uns wieder zu dem verhilft, was einst unser war. Vielleicht sind beide der gleiche Mann, aber ich bezweifle, daß selbst die Weisen Frauen dies mit Bestimmtheit behaupten können. Falls Rand derjenige ist, muß er noch bestimmte Dinge vollbringen, um es zu beweisen.«

»Was denn?« wollte Perrin wissen.

»Falls er derjenige ist, weiß er es und wird sie vollbringen. Wenn nicht, geht unsere Suche weiter.«

Ein Unterton in der Stimme des Aielmannes störte Perrin. »Und wenn er nicht derjenige ist, nach dem Ihr sucht? Was dann, Rhuarc?«

»Schlaft gut und sicher, Perrin.« Rhuarcs weiche Stiefel verursachten kein Geräusch, als er über den schwarzen Marmorboden davonschritt. Der tairenische Offizier blickte immer noch an den Töchtern des Speers vorbei, roch nach Angst und brachte es nicht fertig, den Zorn und den Haß aus seinem Gesicht zu verbannen. Falls die Aiel zu dem Schluß kamen, daß Rand nicht Der Mit Der

Morgendämmerung Kommt war...

Perrin betrachtete das Gesicht des Offiziers und überlegte, was geschähe, wenn die Töchter des Speers nicht da wären, wenn sich keine Aiel im Stein aufhielten.

Er schauderte. Er mußte sichergehen, daß Faile abreiste. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig. Sie mußte sich entschließen, ohne ihn abzureisen.

KAPITEL 4

Marionetten

Thom Merrilin streute Sand über das Geschriebene, um die Tinte zu löschen, und dann schüttete er sorgfältig den Sand wieder zurück in das Gefäß und schloß den Deckel. Er suchte unter den auf dem Tisch gestapelten Papieren herum und wählte schließlich ein leicht zerknülltes Blatt mit einem Tintenfleck aus. Sechs brennende Talgkerzen auf dem Tisch stellten bei soviel Papier eine echte Gefahr dar, doch er benötigte das Licht. Er verglich das herausgesuchte Blatt ganz genau mit dem Geschriebenen, und dann strich er sich zufrieden mit einem Daumen über den langen, weißen Schnurrbart und gestattete sich ein Lächeln auf seinen ledernen Gesichtszügen. Hochlord Carleon selbst würde glauben, es sei seine eigene Handschrift.

Seid vorsichtig. Euer Mann hat Verdacht geschöpft.

Nur diese Worte und keine Unterschrift. Wenn er jetzt dafür sorgte, daß Hochlord Tedosian diese Nachricht dort fand, wo seine Frau, Lady Alteima, sie unvorsichtigerweise zurückgelassen haben könnte...

Es klopfte an die Tür, und er fuhr zusammen. Um diese Zeit in der Nacht kam doch sonst niemand zu Besuch.

»Einen Moment«, rief er und stopfte hastig Stifte und Tintenfaß und die ausgewählten Blätter in den abgenützten Schreibkasten. »Ein Moment. Ich ziehe mir nur schnell ein Hemd über.«

Er verschloß die Truhe und schob sie unter den Tisch, wo sie einer flüchtigen Musterung vielleicht entging. Dann überblickte er schnell noch sein kleines, fensterloses Zimmer, um zu sehen, ob noch irgend etwas herumlag, was nicht gesehen werden sollte. Reifen und Bälle zum Jonglieren lagen auf seinem engen, ungemachten Bett herum und sogar zwischen seinem Rasierzeug auf dem einzigen Regalbrett. Dort lagen auch Feuerstäbe und kleinere Gegenstände, die er für Zaubertricks benötigte.

Sein Gauklerumhang mit losen, an jeweils nur einer Stelle aufgenähten Flicken in hundert verschiedenen Farben hing zusammen mit seiner übrigen Kleidung und den festen Lederbehältern für Harfe und Flöte an einem Haken. Der durchscheinende rote Seidenschal einer Frau war um den Tragriemen des Harfenbehälters geknüpft.

Er war sich nicht mehr ganz sicher, wer ihn

darangebunden hatte, da er sich bemühte, keiner Frau mehr Aufmerksamkeit zu widmen als jeder anderen. Und er war immer fröhlich bei ihnen und lachte viel. Bring sie zum Lachen und vielleicht auch zum Seufzen, aber vermeide Bindungen, war sein Wahlspruch. Für Bindungen hatte er keine Zeit. Zumindest redete er sich das ein.

»Ich komme schon.« Er humpelte nervös zur Tür. Einst hatte er die Aaaahs und Oooohs von Menschen gehört, die kaum glauben konnten, daß ein knochiger, weißhaariger alter Mann Rückwärtsüberschläge, Handstände und Flickflacks fertigbrachte, so flink und gelenkig wie ein Junge. Das Hinken hatte dem ein Ende bereitet, und er haßte es. Das Bein schmerzte am meisten, wenn er müde war. Er riß die Tür auf und zwinkerte überrascht. »Also, na, dann komm rein, Mat. Ich dachte, du wärst voll bei der Arbeit, den kleinen Lordchen die Börsen zu erleichtern?«

»Sie wollten heute nacht nicht mehr weiterspielen«, sagte Mat mürrisch und ließ sich auf den dreibeinigen Hocker fallen, der neben Thoms Stuhl die einzige Sitzgelegenheit im Zimmer darstellte. Sein Mantel stand offen, und die Haare waren verwirrt. Der Blick aus seinen braunen Augen war unstet und blieb nie länger als ein paar Sekunden an einem Fleck hängen. Das übliche Funkeln seiner Augen, das immer zu zeigen schien, er habe etwas Lustiges entdeckt, das niemand anders bemerkte, fehlte heute nacht.

Thom runzelte bei Mats Anblick nachdenklich die Stirn.

Sonst überschritt Mat niemals diese Schwelle, ohne ihn des ärmlichen und schäbigen Zimmers wegen aufzuziehen. Er akzeptierte Thoms Erklärung, daß ein Quartier neben denen der Diener dazu beitragen werde, die Menschen vergessen zu lassen, daß der Schatten der Aes Sedai auf ihn gefallen war, aber Mat ließ sich nur selten die Möglichkeit entgehen, ihn deswegen aufzuziehen. Natürlich war ihm auch klar, daß dieses Zimmer eine gedankliche Verbindung mit dem Wiedergeborenen Drachen fast unmöglich machte, und da Mat eben Mat war, fand er auch diese Erklärung sehr wohl verständlich. Es hatte Thom allerdings nur zwei hastig hingeworfene Sätze gekostet in einem jener seltenen Momente, wo niemand anders ihnen lauschte, um Rand den wirklichen Grund klarzumachen. Jeder hörte einem Gaukler zu, jeder beobachtete ihn, aber trotzdem sah ihn keiner richtig an oder erinnerte sich später daran, mit welcher Person er gesprochen hatte. Solange er eben nur ein Gaukler war, unterhielt er mit seinen dürftigen Tricks die Leute vom Land und die Dienerschaft und vielleicht auch ein paar Damen der Gesellschaft. Er war ein Gaukler und keine Person. So sahen es die Tairener. Er war ja schließlich kein Hofbarde.

Was brachte den Jungen dazu, um diese Zeit hier herunterzukommen? Vielleicht die eine oder andere junge Frau – und ein paar davon waren alt genug, um es besser wissen zu müssen –, die sich von Mats spitzbübischem Grinsen hatte einfangen lassen? Nun, er würde eben so tun, als sei es einer von Mats gewöhnlichen Besuchen. Es sei denn, der Junge sagte etwas Gegenteiliges.

»Ich hole das Spielbrett. Es ist schon spät, aber für ein Spiel wird es schon noch reichen.« Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und fügte hinzu: »Würdest du gern auf den Spielausgang wetten?« Er hätte niemals mit Mat beim Würfelspiel gewettet, aber bei diesem Spiel war es etwas anderes. Er glaubte, hier sei einfach zuviel Ordnung und Überlegung im Spiel, um Raum für Mats übliches eigenartiges Glück zu lassen.

»Was? O nein. Es ist zu spät zum Spielen. Thom, ist...?

Ist irgend etwas... hier unten passiert?«

Thom lehnte das Spielbrett an ein Tischbein und kramte seinen Tabaksbeutel und die langstielige Pfeife aus dem Durcheinander auf dem Tisch heraus. »Zum Beispiel?«

fragte er und stopfte die Pfeife. Er hatte Zeit, um ein Stück Papier in der Hand zu zwirbeln und es dann in die Flamme einer Kerze zu halten. Dann paffte er, bis die Pfeife richtig brannte, und spuckte Tabaksreste auf den Boden. Erst jetzt antwortete Mat.

»Zum Beispiel, daß Rand jetzt dem Wahnsinn verfällt!

Nein, wenn etwas in der Art passiert wäre, hättest du nicht zu fragen brauchen.«

Thom juckte es zwischen den Schulterblättern, doch er blies so ruhig wie möglich einen blaugrauen Rauchring zur Decke und setzte sich auf seinen Stuhl. Dann streckte er seine knochigen Beine aus. »Was ist geschehen?«

Mat atmete tief ein, und dann brach alles aus ihm heraus:

»Die Spielkarten haben versucht, mich umzubringen. Die Amyrlin und der Hochlord und... Ich habe das nicht geträumt, Thom. Deshalb wollen diese gespreizten Lackaffen nicht mehr weiterspielen. Sie fürchten, daß es wieder passiert. Thom, ich denke daran, aus Tear wegzugehen.«

Das Jucken verstärkte sich. Es war wie ein Wespennest auf Thoms Rücken. Warum war er selbst nicht schon lange aus Tear verschwunden? Das wäre doch das Klügste gewesen. Dort draußen lagen Hunderte von Dörfern und warteten darauf, von einem Gaukler unterhalten und verblüfft zu werden. Und in jedem standen ein oder zwei Schenken voll von Wein, um darin die Erinnerungen zu ertränken. Aber wenn er das tat, hätte Rand außer Moiraine niemanden mehr, der verhindern konnte, daß er von den Hochlords mit ihren Intrigen ausmanövriert wurde.

Vielleicht würden sie ihm auch einfach die Kehle durchschneiden. Natürlich konnte sie ihm helfen, auch wenn sie andere Methoden dazu anwandte als er. Er glaubte schon, daß sie es schaffen konnte, Rand vor den Hochlords und ihren Machenschaften zu schützen. Sie stammte aus Cairhien, und das bedeutete, daß man ihr das Spiel der Häuser wohl schon mit der Muttermilch eingeflößt hatte. Und während sie ihm half, würde sie Rand noch fester an die Weiße Burg binden. Ihn in ein so starkes Aes-Sedai-Netz verstricken, daß er niemals mehr daraus entkommen würde. Doch falls der Junge ohnehin bereits wahnsinnig wurde...

Narr, schalt Thom sich selber. Ein reiner Narr, der sich in so etwas verwickeln ließ, nur wegen einer Sache, die bereits fünfzehn Jahre zurücklag. Sein Bleiben würde nicht viel daran ändern. Was geschehen war, war geschehen. Er mußte Rand persönlich sehen, gleich, was er ihm vorher in bezug auf das Fernhalten gesagt hatte. Vielleicht würde keiner es allzu eigenartig finden, wenn ein Gaukler darum bat, ein Lied vor dem Lord Drachen zum besten geben zu dürfen. Ein Lied, das er für diesen besonderen Anlaß komponiert hatte. Er hatte da eine fast völlig unbekannte Melodie aus Kandor im Sinn, in der irgendein ungenannter Lord für seine Größe und seinen Mut gepriesen wurde, und das wohl in schwülstigen Versen, aber ohne jemals Taten oder Schauplätze direkt zu erwähnen. Möglicherweise hatte irgendein Lord, der keine nennenswerten Taten vollbracht hatte, das im Auftrag für sich schreiben lassen. Nun, das würde ihm nun zugute kommen. Es sei denn, es fiel Moiraine irgendwie auf. Das wäre genauso schlimm wie die Aufmerksamkeit der Hochlords. Ich bin wirklich ein Narr! Ich sollte noch heute nacht hier abhauen!

In seinem Innern herrschte wilder Aufruhr. Sein Magen brannte, aber er hatte lange Jahre Übung darin, äußerlich keine Gefühlsregungen zu zeigen, und das schon vor der Zeit, als er Gaukler wurde. Er blies drei konzentrische Rauchringe und sagte: »Du hast daran gedacht, Tear zu verlassen, seit du den Stein betreten hast.«

Mat saß auf der Kante des Hockers und warf ihm einen bösen Blick zu. »Und das werde ich auch. Mit Sicherheit.

Warum kommst du nicht mit, Thom? Es gibt Städte, wo die Leute glauben, der Wiedergeborene Drache habe seinen ersten Atemzug noch gar nicht getan, und wo jahrelang oder noch nie einer auch nur einen Gedanken an die verfluchten Prophezeiungen des verdammten Drachen verschwendet hat. Orte, wo sie glauben, der Dunkle König sei ein Märchen und Trollocs eine Art von Seemannsgarn und Myrddraal ritten auf den Schatten, um damit kleine Kinder zu erschrecken. Du könntest Harfe spielen und deine Geschichten erzählen, und ich könnte am Spieltisch hocken. Wir könnten wie die Lords leben, reisen, wohin wir wollen, bleiben, wo wir wollen, und niemand würde versuchen, uns umzubringen.«

Das ging ihm schon ziemlich ans Eingemachte. Na, er war eben ein Narr, und das stand nun im Raum und mußte verarbeitet werden. »Wenn du wirklich wegwillst, warum bist du dann nicht schon längst losgeritten?«

»Moiraine bewacht mich«, sagte Mat mit bitterer Stimme. »Und wenn sie keine Zeit hat, läßt sie mich von jemand anderem überwachen.«

»Ich weiß. Die Aes Sedai wollen keinen wieder

gehenlassen, den sie einmal in ihren Händen haben.« Es war mehr als das, wie er vermutete, mehr als alles, was nach außen hin bekannt war, aber Mat leugnete jede solche Vermutung strikt ab, und kein anderer, der eingeweiht war, redete darüber, falls überhaupt jemand außer Moiraine Bescheid wußte. Es spielte wohl kaum eine Rolle. Er mochte Mat und verdankte ihm auf gewisse Weise auch einiges, aber Mat und seine Probleme waren Kinker-litzchen, verglichen mit denen Rands. »Ich kann nicht glauben, daß sie dich die ganze Zeit über beobachten läßt.«

»Beinahe jedenfalls. Sie fragt ständig die Leute aus, wo ich sei und was ich mache. Ich höre es dann natürlich wieder. Kennst du jemanden, der einer Aes Sedai nicht sagt, was sie wissen will? Ich nicht. Also werde ich praktisch doch überwacht.«

»Du kannst die Beobachter meiden, wenn du dir Mühe gibst. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich so geschickt unsichtbar machen konnte wie du. Und das ist als Kompliment gedacht.«

»Irgend etwas kommt immer dazwischen«, knurrte Mat.

»Hier gibt es soviel Gold zu gewinnen. Und in der Küche gibt es ein Mädchen mit großen Augen, das sich gerne küssen und kitzeln läßt, und eine der Zofen hat Haare wie Seide bis auf die Hüften und die rundesten...« Er ließ seine Worte verklingen, als sei ihm gerade klar geworden, daß sie sich närrisch anhörten.

»Hast du schon daran gedacht, daß es an etwas anderem liegen könnte, nämlich...«

»Wenn du das Wort ta'veren auch nur erwähnst, Thom, dann haue ich ab.«

Thom änderte also schnell, was er eigentlich hatte sagen wollen, und fuhr fort: »... nämlich, daß Rand eben dein Freund ist und du ihn nicht im Stich lassen willst?«

»Ihn im Stich lassen!« Der Junge sprang auf und stieß dabei den Hocker um. »Thom, er ist der verdammte Wiedergeborene Drache! Das behaupten er und Moiraine jedenfalls. Vielleicht ist er es wirklich. Er kann die Macht benützen und er hat dieses blutige Schwert, das wie aus Glas gemacht aussieht. Prophezeiungen! Ich weiß nicht.

Aber ich weiß, daß ich genauso verrückt sein müßte, wie diese Tairener, wenn ich hierbliebe.« Er unterbrach sich.

»Du glaubst doch nicht... Du glaubst doch nicht, daß Moiraine mich auch hier festhält, oder? Mit Hilfe der Macht?«

»Ich glaube nicht, daß sie das kann«, sagte Thom bedächtig. Er wußte eine ganze Menge über die Aes Sedai, genug jedenfalls, um sich darüber klar zu sein, was er alles nicht wußte, doch in diesem Falle glaubte er, recht zu haben.

Mat fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Thom, ich denke die ganze Zeit ans Abreisen, aber... ich habe so eigenartige Gefühle. Beinahe, als ob etwas geschehen wird.

Etwas... ganz Großes. Anders kann ich es nicht ausdrücken.

Es ist, als wisse man, daß am Sonnentag ein Feuerwerk stattfinden wird, nur weiß ich in meinem Fall nicht, was ich eigentlich erwarte. Immer, wenn ich besonders intensiv daran denke, abzureisen, dann passiert es wieder. Und plötzlich finde ich wieder einen Grund, noch einen weiteren Tag zu bleiben. Immer noch einen weiteren verfluchten Tag. Klingt das in deinen Ohren nicht nach Machenschaften der Aes Sedai?«

Thom schluckte das Wort ta'veren herunter und nahm die Pfeife aus dem Mund, um den glimmenden Tabak zu betrachten. Er wußte nicht viel über Ta'veren, aber wer außer den Aes Sedai und vielleicht einigen Ogiern wußte schon etwas über sie. »Ich habe noch nie anderen Leuten besonders gut bei der Bewältigung ihrer Probleme helfen können.« Und noch weniger mir selbst, dachte er. »Wenn eine Aes Sedai in der Nähe ist, rate ich gewöhnlich den Leuten, sich um Hilfe an sie zu wenden.« Den Rat würde ich selbst aber nicht befolgen.

»Moiraine fragen!«

»Ich denke, das geht in diesem Falle wohl kaum. Aber Nynaeve war doch eure Seherin daheim in Emondsfeld.

Dorfseherinnen sind ja daran gewöhnt, daß die Leute mit Fragen zu ihnen kommen und sie ihnen bei ihren

Problemen helfen müssen.«

Mat lachte sarkastisch. »Und dann muß ich mir einen ihrer Vorträge anhören über das Trinken und Spielen und...! Thom, sie benimmt sich, als sei ich zehn Jahre alt.

Manchmal denke ich, sie glaubt tatsächlich, daß ich ein nettes Mädchen heiraten und die Felder auf dem Hof meines Vaters bestellen werde.«

»Einige Männer würden das als durchaus angenehmes Leben empfinden«, sagte Thom ruhig.

»Aber ich nicht. Ich will mehr als Kühe und Schafe und Tabak den Rest meines Lebens über. Ich will...« Mat schüttelte den Kopf. »All diese Gedächtnislücken.

Manchmal glaube ich, wenn ich sie füllen könnte, wüßte ich... Ach, seng mich, ich weiß nicht, was ich dann wüßte, aber ich weiß, daß ich es wissen will. Das ist eine verdrehte Angelegenheit, nicht wahr?«

»Ich bin nicht sicher, ob selbst eine Aes Sedai dir dabei helfen könnte. Ein Gaukler kann es bestimmt nicht.«

»Ich habe gesagt: keine Aes Sedai.«

Thom seufzte. »Beruhige dich, Junge. Ich habe das nicht im Sinn gehabt.«

»Ich werde fortgehen. Sobald ich meine Sachen gepackt und ein Pferd aufgetrieben habe. Keine Minute später.«

»Mitten in der Nacht? Der Morgen kommt bald genug.«

Er vermied es, hinzuzufügen: Falls du wirklich weggehst.

»Setz dich. Entspanne dich. Wir spielen eine Runde, ja?

Ich habe hier irgendwo auch noch einen Krug Wein.«

Mat zögerte und blickte zur Tür. Schließlich zog er seine Jacke zurecht. »Ja, also dann am Morgen.« Es klang unsicher, aber er hob den umgestürzten Hocker auf und stellte ihn an den Tisch. »Aber kein Wein für mich«, fügte er beim Hinsetzen hinzu. »Wenn ich einen klaren Kopf habe, passieren ja schon die eigenartigsten Dinge. Ich möchte den Unterschied genau kennen.«

Thom stellte gedankenverloren die Spielfiguren auf den Tisch. Wie leicht man den Burschen doch von seinem Vorhaben ablenken konnte. Er wurde von einem noch viel stärkeren Ta'veren namens Rand al'Thor mitgezogen, wie Thom die Dinge sah. Ihm kam der Gedanke, daß vielleicht auch er auf die gleiche Art mitgerissen wurde. Als er Rand zum erstenmal traf, war sein Leben bestimmt nicht auf den Stein von Tear und dieses Zimmer hin ausgerichtet gewesen, aber seither war er wie an einer Drachenschnur hin und her getrieben worden. Falls er sich auch zum Gehen entschloß, falls zum Beispiel Rand wirklich verrückt geworden war, würde er dann auch Gründe finden, es immer wieder aufzuschieben?

»Was ist los, Thom?« Mats Stiefel war an die Truhe mit Schreibutensilien unter dem Tisch gestoßen. »Ist es in Ordnung, wenn ich die aus dem Weg schiebe?«

»Natürlich. Mach nur.« Er zuckte innerlich zusammen, als Mat den Kasten grob mit dem Fuß wegstieß. Er hoffte, alle Tintenfäßchen gut verkorkt zu haben. »Wähle«, sagte er und hob Mat die geschlossenen Fäuste hin.

Mat tippte mit dem Finger an die linke, und Thom öffnete sie. Ein glatter, schwarzer Stein, flach und abgerundet, kam zum Vorschein. Der Junge schnaubte vergnügt, weil er nun den ersten Zug hatte, und stellte den Stein auf die Kreuzung einiger Linien des Spielbrettes.

Keiner, der nun den Eifer in seinen Augen sah, würde glauben, daß er noch Augenblicke vorher viel stärker darauf erpicht gewesen war, sofort abzureisen. Eine Größe, die anzuerkennen er sich weigerte, und eine Aes Sedai, die ihn als Schützling bei sich halten wollte. Der Bursche steckte wirklich und wahrhaftig in der Klemme.

Falls auch er im gleichen Netz gefangen war, so entschloß sich Thom, wollte er wenigstens einem Mann dabei helfen, sich den Aes Sedai zu entziehen. Das wäre dann die Bezahlung für eine fünfzehn Jahre alte Schuld.

Plötzlich auf seltsame Art zufriedengestellt, plazierte er einen weißen Stein auf dem Brett. »Habe ich dir jemals erzählt«, fragte er um seinen Pfeifenstiel herum, »wie ich einmal mit einer Domani-Frau gewettet habe? Sie hatte Augen, die einem Mann die Seele stehlen konnten, und einen eigenartigen roten Vogel, den sie von einem Schiff des Meervolks gekauft hatte. Sie behauptete, er könne die Zukunft vorhersagen. Dieser Vogel hatte einen dicken, gelben Schnabel, der beinahe so lang war wie sein ganzer Körper, und er...«

KAPITEL 5

Verhör

»Sie sollten jetzt eigentlich schon zurücksein.« Egwene wedelte lebhaft mit dem bemalten Seidenfächer und war froh, daß wenigstens die Nächte etwas kühler waren als die Tage. Die tairenischen Frauen trugen ihre Fächer die ganze Zeit über bei sich, jedenfalls die adligen und reichen, aber soweit sie das beurteilen konnte, halfen sie auch nicht viel und falls überhaupt, dann höchstens, wenn die Sonne untergegangen war. Selbst die Lampen, große, goldene Dinger mit Spiegeln dahinter, die an silbernen Wandhaltern hingen, schienen zu der Hitze beizutragen. »Was kann sie nur aufgehalten haben?« Moiraine hatte ihnen zum erstenmal nach Tagen eine Stunde ihrer Zeit versprochen, und dann war sie bereits nach fünf Minuten ohne jede Erklärung verschwunden. »Hat sie irgend etwas heraus-gelassen, wozu sie weggeholt wurde, Aviendha? Oder auch, wer sie rufen ließ?«

Die Aielfrau saß im Schneidersitz auf dem Fußboden neben der Tür. Die großen, grünen Augen leuchteten aus ihrem braungebrannten Gesicht heraus. Sie zuckte die Achseln. Mit Mantel und Hose und weichen Stiefeln bekleidet, die Schufa um den Hals gewickelt, schien sie völlig unbewaffnet zu sein. »Careen hat Moiraine Sedai ihre Nachricht zugeflüstert. Es wäre nicht recht gewesen, zu lauschen. Es tut mir leid, Aes Sedai.«

Mit schlechtem Gewissen streichelte Egwene den Ring mit der Großen Schlange, der goldenen Schlange, die den eigenen Schwanz verschlang, an ihrer rechten Hand. Als Aufgenommene sollte sie ihn eigentlich am Ringfinger ihrer linken Hand tragen, aber sie wollten ja die Hochlords in dem Glauben lassen, daß sich vier ausgebildete Aes Sedai im Stein aufhielten, damit sie nichts Dummes anstellten und auf das achteten, was bei den tairenischen Adligen als gute Manieren galt. Moiraine log natürlich nicht. Sie behauptete nie, daß die drei mehr als nur Aufgenommene seien. Aber sie sagte auch nicht, daß sie Aufgenommene seien, und ließ statt dessen jeden glauben, was er oder sie mochte. Und die hielten eben das für wahr, was sie zu sehen glaubten. Moiraine konnte überhaupt nicht lügen, aber sie strapazierte manchmal die Wahrheit bis zum letzten.

Es war nicht das erste Mal, seit sie die Burg verlassen hatten, daß Egwene und die anderen vorgegeben hatten, bereits vollwertige Schwestern zu sein, aber es wurde ihr ständig unangenehmer, Aviendha so zu täuschen. Sie mochte die Aielfrau und glaubte, sie würden bestimmt Freundinnen werden, sobald sie sich einmal besser kannten, doch das war wohl kaum möglich, solange Aviendha Egwene für eine Aes Sedai hielt. Die Aielfrau befand sich im Moment auf Befehl Moiraines bei ihnen.

Erklärt hatte Moiraine nichts. Egwene vermutete, sie wolle ihnen auf diese Art eine Leibwächterin unter den Aiel verschaffen, als hätten sie noch nicht gelernt, sich selbst zu schützen. Trotzdem: Obwohl Aviendha und sie dabei waren, Freundschaft zu schließen, konnte sie ihr nicht die Wahrheit sagen. Man bewahrte ein Geheimnis am besten, wenn man es niemanden wissen ließ, der es nicht unbedingt wissen mußte. Auch etwas, das ihnen Moiraine beigebracht hatte. Manchmal hatte Egwene den Wunsch, die Aes Sedai möge sich einmal vollkommen irren, ganz und gar danebenliegen – nur ein einziges Mal. Natürlich bei keiner lebenswichtigen Sache. Das war Vorbedingung.

»Tanchico«, knurrte Nynaeve. Ihr dunkler, armdicker Zopf hing ihr bis zur Hüfte hinunter. Sie blickte aus einem der engen Fenster, dessen Flügel sie weit geöffnet hatte, in der Hoffnung, ein wenig kühlen Nachtwind einzufangen.

Auf dem breiten Erinin tief unter ihnen hüpften die Laternen einiger Fischerboote auf und ab, die nicht wie die anderen flußabwärts gefahren waren, doch Egwene glaubte, daß Nynaeve sie gar nicht bemerkte. »Es bleibt nichts anderes übrig, als nach Tanchico zu reisen, wie es scheint.« Nynaeve zupfte unbewußt an ihrem grünen Kleid herum. Der weite Ausschnitt ließ ihre Schultern unbedeckt.

Das gefiel ihr. Sie hätte sich geweigert, dieses Kleid speziell für Lan Moiraines Behüter anzuziehen, hätte Egwene ihr das vorgeschlagen, aber Grün, Blau und Weiß schienen Lans Lieblingsfarben in bezug auf Frauenkleider zu sein, und so war plötzlich jedes Kleid, das nicht grün, blau oder weiß gewesen war, auf geheimnisvolle Weise aus Nynaeves Kleiderschrank verschwunden. »Bleibt nichts anderes übrig.« Es klang nicht gerade erfreut.

Egwene ertappte sich dabei, wie auch sie ihr Kleid ein Stück hochzog. Es war ein seltsames Gefühl, diese Kleider zu tragen, die nur an ihren Schultern hingen. Andererseits glaubte sie nicht, es ertragen zu können, sich bei dieser Hitze mehr zu bedecken. So leicht es auch war, fühlte sich dieses hellrote Leinenkleid nun doch wie Wolle an. Sie wünschte, sie könnte es über sich bringen, ein solch leichtes und durchscheinendes Gewand zu tragen wie Berelain. Natürlich war das nicht für die Öffentlichkeit geeignet, aber es schien ziemlich kühl.

Hör auf, immer nur an dein Wohlergehen zu denken, ging sie streng mit sich selbst ins Gericht. Konzentriere dich lieber auf deine Aufgaben. »Vielleicht«, sagte sie laut.

»Ich bin aber noch nicht ganz überzeugt.«

In der Mitte des Zimmers stand ein langer, schmaler Tisch, den man lackiert und auf Hochglanz poliert hatte.

Am Tischende in Egwenes Nähe stand ein großer Stuhl mit hoher Lehne, elegant geschnitzt und an ein paar Ecken vergoldet, aber für die Verhältnisse in Tear war er fast schon einfach zu nennen. Die anderen Stühle hatten viel niedrigere Lehnen, und die am hinteren Ende waren nicht viel mehr als gepolsterte Bänke. Egwene hatte keine Ahnung, wozu dieser Raum bisher gedient hatte. Sie und die anderen benützten ihn, um die beiden Gefangenen zu verhören, die bei der Eroberung des Steins in ihre Hände gefallen waren.

Sie konnte sich nicht dazu überwinden, in den Kerker hinunter zu gehen, obwohl Rand angeordnet hatte, daß man alle Folterwerkzeuge, mit denen die Wände der

Wachräume dekoriert waren, entweder einschmolz oder verbrannte. Weder Nynaeve noch Elayne hatten besondere Lust verspürt, dorthin zurückzukehren. Außerdem bildete dieser hellbeleuchtete Raum mit seinen sauberen, grünen Bodenfliesen und der Wandverkleidung mit den

eingeschnitzten drei Halbmonden Tears einen deutlichen Kontrast zu den düsteren, grauen Steinwänden der Kerkerzellen. Die waren nicht nur düster, sondern auch feucht und schmutzig. Dieser Raum hier sollte ein wenig dazu verhelfen, die beiden Frauen in der groben Wollkleidung von Gefangenen weich zu bekommen.

Nur an diesem fadbraunen Kleid überhaupt hätten die meisten Leute erkannt, daß Joiya Byir, die auf der anderen Seite des Tisches stand und ihnen den Rücken zugewandt hatte, eine Gefangene war. Sie hatte zu den Weißen Ajah gehört und nichts von deren kühlen Arroganz verloren, als sich ihre Sympathien den Schwarzen zuwandten. Ihre gesamte Körperhaltung drückte aus, daß sie ganz bewußt und ohne dazu gezwungen zu werden, die Rückwand des Raumes anstarrte. Nur eine Frau, die selbst die Macht lenken konnte, hätte die daumendicken Stränge verfestigter Luft bemerkt, die ihre Arme und Beine fesselten. Ein ebenfalls aus Luft gewebter Käfig hielt ihren Kopf gerade, so daß sie nur nach vorn blicken konnte. Selbst ihre Ohren waren mit Luft verstopft, damit sie nur das hören konnte, was man zu ihr sagte.

Noch einmal überprüfte Egwene die Abschirmung, die sie aus dem Element Geist gewoben hatten, um Joiya von der Wahren Quelle abzublocken. Sie hielt, wie sie fest angenommen hatte. Sie selbst hatte all die Stränge um Joiya gewoben und verknotet, damit sie sich von allein aufrechterhielten, aber sie fühlte sich doch nicht wohl in einem Raum mit einer Hörigen des Dunklen Königs, die ebenfalls die Macht benützen konnte. Trotz der

Abschirmung war es ihr unangenehm. Und Joiya war ja nicht nur eine Schattenfreundin, sondern auch noch eine Schwarze Ajah. Mord war noch das geringste ihrer Verbrechen. Sie hätte unter dem Gewicht ihrer

gebrochenen Eide, der durch sie verdammten Seelen und zerstörten Leben eigentlich zusammenbrechen müssen.

Joiyas Mitgefangene, ihre Schwarze Schwester, besaß nicht die Kraft der anderen. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf stand Amico Nagoyin am hinteren Ende des Tisches und schien unter Egwenes Blick noch kleiner zu werden. Es war nicht notwendig, sie abzuschirmen.

Amico war während ihrer Gefangennahme einer Dämpfung unterzogen worden. Sie war immer noch in der Lage, die Wahre Quelle wahrzunehmen, doch sie würde sie nie wieder berühren, nie wieder lenken. Der Wunsch, die Sehnsucht danach würden bleiben, so unausweichlich wie die Notwendigkeit zu atmen, und sie würde den Verlust fühlen, solange sie lebte, doch Saidar war ihrem Zugriff auf ewig entzogen. Egwene hätte gern so etwas wie Mitleid mit ihr empfunden, konnte sich aber nicht dazu

überwinden.

Amico murmelte etwas in Richtung Tischfläche.

»Was?« wollte Nynaeve wissen. »Sprecht gefälligst deutlich!«

Amico hob demütig den Kopf auf dem eleganten

Schwanenhals. Sie war immer noch eine schöne Frau mit großen, dunklen Augen, aber an ihr war etwas, was Egwene nicht ganz genau definieren konnte. Es war nicht die Angst, die sie ihre Hände in den groben Stoff ihres Gefängniskleides verkrampfen ließ. Irgend etwas anderes.

Amico schluckte schwer und sagte: »Ihr solltet nach Tanchico gehen.«

»Das habt Ihr uns schon zwanzigmal erzählt«, sagte Nynaeve grob. »Fünfzigmal. Sagt uns lieber etwas Neues.

Namen, die wir noch nicht kennen. Welche von denen, die sich noch in der Weißen Burg befinden, gehört zu den Schwarzen Ajah?«

»Ich weiß es nicht. Das müßt Ihr mir glauben.« Amicos Stimme klang müde und resigniert. Gar nicht so, wie sie geklungen hatte, als die Rollen umgekehrt verteilt gewesen waren – sie die Wächterin und die drei jungen Frauen ihre Gefangenen. »Bevor wir die Burg verließen, kannte ich nur Liandrin, Chesmal und Rianna. Keine kannte mehr als höchstens zwei oder drei andere, glaube ich. Außer Liandrin. Ich habe Euch wirklich alles gesagt, was ich weiß.«

»Dann wißt Ihr verdammt wenig für eine Frau, die damit rechnete, nach der Befreiung des Dunklen Königs einen Teil der Welt zu regieren«, sagte Egwene trocken. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, wedelte sie heftig mit ihrem Fächer. Es verblüffte sie selbst, wie leicht ihr solche Worte mittlerweile über die Lippen kamen. Ihr Magen verkrampfte sich bei diesem Gedanken immer noch, und eisige Finger glitten ihr Rückgrat hinunter, doch sie verspürte nicht mehr den Wunsch, zu schreien oder weinend hinauszurennen. Man konnte sich wohl an nahezu alles gewöhnen.

»Ich habe einmal Liandrin belauscht, als sie mit Temaile sprach«, sagte Amico müde. So begann sie erneut, die Geschichte zu erzählen, die sie schon viele Male zum besten gegeben hatte. In den ersten Tagen ihrer Gefangenschaft hatte sie versucht, ihre Geschichte auszuschmücken, aber je mehr sie hinzugefügt hatte, desto stärker hatte sie sich in Lügen verstrickt. Nun erzählte sie jedesmal fast genau das gleiche, Wort für Wort. »Wenn Ihr Liandrins Gesicht gesehen hättet, als sie mich erblickte...

Sie hätte mich auf der Stelle umgebracht, wenn sie geahnt hätte, daß ich etwas gehört hatte. Und Temaile fügt anderen gern Schmerzen zu. Es macht ihr Spaß. Ich hatte auch nur wenig gehört, bevor sie mich sahen. Liandrin meinte, da gebe es etwas in Tanchico, was gefährlich sei für... für ihn.« Sie meinte Rand damit. Seinen Namen konnte sie nicht über die Lippen bringen und jede Erwähnung des

›Wiedergeborenen Drachen‹ ließ sie in Tränen ausbrechen.

»Liandrin sagte auch, es sei genauso gefährlich für jeden, der es benützen wollte. Beinahe so gefährlich jedenfalls wie für... ihn. Deshalb war sie noch nicht selbst hingereist.

Und sie sagte, seine Fähigkeit, die Macht zu gebrauchen, würde ihn nicht schützen. Sie sagte: ›Wenn wir es finden, wird ihn seine schmutzige Fähigkeit selbst fesseln und uns die Arbeit abnehmen.‹« Schweiß rann ihr über das Gesicht, doch sie zitterte fast unkontrolliert dabei.

Kein Wort hatte sich geändert.

Egwene öffnete den Mund, doch Nynaeve kam ihr

zuvor: »Ich habe genug davon. Wir sollten hören, ob uns die andere etwas Neues zu sagen hat.«

Egwene sah sie böse an, und Nynaeve erwiderte den Blick. Keine von beiden gab nach. Manchmal hält sie sich immer noch für unsere Seherin, dachte Egwene grimmig, und ich bin immer noch das Dorfmädchen, dem sie etwas über Kräuter beibringen will. Sie sollte langsam merken, daß sich die Lage geändert hat. Nynaeve war stark, wenn es um die Verwendung der Macht ging, stärker als Egwene, doch nur dann, wenn sie es tatsächlich fertigbrachte, mit der Macht zu arbeiten. Doch wenn sie nicht gerade wütend war, ging bei Nynaeve gar nichts.

Elayne wirkte meistens als das ausgleichende Element, wenn es zu Auseinandersetzungen kam, was sowieso viel zu häufig der Fall war. Bis Egwene gewöhnlich auf den Gedanken kam, Kompromisse einzugehen und die Lage zu entspannen, war ihr Temperament meist schon mit ihr durchgegangen, und dann wollte sie nicht mehr nachgeben.

So mußte es Nynaeve auch empfinden, soviel war ihr klar.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, daß Nynaeve einmal auch nur den Ansatz eines Nachgebens gezeigt hatte.

Warum also sollte sie nachgeben? Diesmal war Elayne nicht dabei, denn Moiraine hatte die Tochter-Erbin mit einer kurzen Geste und einem leisen Wort gebeten, der Tochter des Speers zu folgen, die die Aes Sedai abholen wollte. Ohne ihre Anwesenheit stieg die Anspannung deutlich und jede der beiden Aufgenommenen wartete nur darauf, daß die andere ein Zeichen der Schwäche zeigte.

Aviendha wagte kaum zu atmen. Sie hielt sich strikt aus den Auseinandersetzungen heraus; zweifellos schien ihr das schlicht das Klügste.

Seltsamerweise war es Amico, die diesmal die

Auseinandersetzung beendete, obwohl sie sicher damit offensichtlich nur ihre Bereitschaft zur Mitarbeit demonstrieren wollte. Sie wandte sich zur Wand um und wartete geduldig darauf, wieder gebunden zu werden.

Egwene kam die Widersinnigkeit der Situation

urplötzlich zu Bewußtsein. Sie war die einzige Frau im Raum, die im Moment die Macht gebrauchen konnte – es sei denn, Nynaeve wurde wütend oder Joiyas Abschirmung versagte, weshalb sie das Gewebe aus Geist noch einmal ganz unbewußt überprüfte – und da ließ sie sich auf ein stummes Kräftemessen ein, während Amico darauf

wartete, daß man sie fesselte. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie schallend gelacht, doch nun öffnete sie sich Saidar, der unsichtbaren Macht, der immer spürbaren Wärme, die sich gerade außerhalb ihrer bewußten Wahrnehmung breit machte. Die Eine Macht erfüllte sie, ihre Lebenskraft verdoppelte sich in einem warmen Glücksgefühl, und sie webte die Stränge um Amico.

Nynaeve knurrte lediglich. Sie war wohl kaum wütend genug, um zu spüren, was Egwene tat, aber sie sah, wie sich Amico versteifte, als sie von den Strängen aus Luft berührt wurde, wie sie in sich zusammensackte, halb durch die Stränge aufrecht gehalten, als wolle sie zeigen, daß sie keinen Widerstand leistete.

Aviendha schauderte. Das passierte ihr immer, wenn sie wußte, daß in ihrer Umgebung die Macht benützt wurde.

Egwene webte Abschirmungen für Amicos Ohren, damit die beiden beim Verhör nicht hören konnten, was die jeweils andere sagte, und wandte sich Joiya zu. Sie wechselte den Fächer von einer Hand in die andere, um sie sich am Kleid trockenwischen zu können, und verzog dabei angewidert das Gesicht. Daß ihre Handflächen schweißnaß waren, lag nicht an den Temperaturen.

»Ihr Gesicht«, sagte Aviendha plötzlich. Das kam überraschend, denn sie sagte sonst nichts, außer sie wurde von Moiraine oder einer der anderen dazu aufgefordert.

»Amicos Gesicht. Sie sieht nicht so aus wie vorher, als wäre sie vom Alter unberührt. Jedenfalls nicht in dem gleichen Maße wie vorher. Hat das damit zu tun, daß sie...

einer Dämpfung unterzogen wurde?« endete sie atemlos.

Sie hatte ihnen in dieser gemeinsamen Zeit einige Angewohnheiten abgeschaut. Keine Frau aus der Weißen Burg konnte ohne Schaudern von einer Dämpfung

sprechen.

Egwene ging ein Stück am Tisch entlang, so daß sie Amicos Gesicht sehen konnte, ohne von Joiya beobachtet zu werden. Joiyas Blicke verwandelten ihren Magen immer wieder aufs neue in einen Eisklumpen.

Aviendha hatte recht: Genau das war der Unterschied, den sie selbst bemerkt hatte, ohne ihn freilich erklären zu können. Amico sah jung aus, vielleicht jünger, als sie tatsächlich war, aber es war nicht mehr ganz die glatte Alterslosigkeit der Aes Sedai, die schon jahrelang mit der Einen Macht gearbeitet hatte. »Du hast scharfe Augen, Aviendha, aber ich weiß nicht, ob es etwas mit der Dämpfung zu tun hat. Obgleich – es muß eigentlich schon daran liegen. Ich wüßte nicht, was das sonst ausgelöst haben könnte.«

Ihr war klar, daß sich ihre Worte nicht nach denen einer Aes Sedai anhörten, die normalerweise sprach, als wüßte sie alles. Wenn eine Aes Sedai einmal zugab, daß sie etwas nicht wußte, dann verlieh sie ihren Worten ein Gewicht, als stecke ein enormes Wissen dahinter. Während sie sich das Gehirn zermarterte, weil ihr nichts einfiel, das beeindruk-kend genug geklungen hätte, kam ihr Nynaeve zur Hilfe:

»Nur wenige Aes Sedai sind jemals ausgebrannt, und noch viel weniger hat man einer Dämpfung unterzogen.«

›Ausgebrannt‹ nannte man es, wenn es durch einen Unfall passiert war, eine ›Dämpfung‹, wenn es nach ordentlicher Gerichtsverhandlung als Strafe durchgeführt wurde. Egwene sah eigentlich keinen Sinn in dieser Unterscheidung. Es war für sie, als gebe es zwei verschiedene Ausdrücke für das Treppe-Herunterfallen, je nachdem, ob man stolperte oder gestoßen wurde. Die meisten Aes Sedai waren wohl der gleichen Meinung, außer wenn sie Novizinnen oder Aufgenommene

unterrichteten. Nun, sie dachte sowieso nicht gern daran, besonders jetzt, wo es Rand gab und die Burg – hoffentlich

– nicht wagte, ihn einer Dämpfung zu unterziehen.

Nynaeve hatte wieder in ihrem belehrenden Tonfall gesprochen, zweifellos, damit sie sich wie eine ausgebildete Aes Sedai anhörte. Sie ahmte Sheriam nach, ging es Egwene plötzlich durch den Sinn. Sheriam, wie sie vor der Klasse stand, die Hände in Hüfthöhe gefaltet, und leicht lächelte, als sei alles so schrecklich einfach, wenn man sich nur Mühe gab.

»Die Dämpfung ist kein Thema, dem sich irgend jemand gerne widmen würde, mußt du wissen«, fuhr Nynaeve fort.

»Man hält sie im allgemeinen für endgültig. Was einer Frau die Fähigkeit verleiht, die Macht zu benützen, kann nicht ersetzt werden, sobald es einmal entfernt wurde, genausowenig wie man eine abgeschlagene Hand wieder ersetzen kann.« Zumindest war bisher niemand in der Lage gewesen, eine Dämpfung wieder rückgängig zu machen. Es hatte schon Versuche gegeben. Was Nynaeve sagte, entsprach also im allgemeinen der Wahrheit, doch einige der Braunen Schwestern würden alles studieren, wenn man ihnen die Möglichkeit gab, und einige Gelbe Schwestern, die besten Heilerinnen, würden nur zu gern alles heilen können. Aber es gab bisher eben noch nicht den geringsten Hinweis darauf, daß man eine Frau heilen konnte, die einer Dämpfung unterzogen worden war. »Abgesehen von dieser Tatsache weiß man noch sehr wenig. Frauen, die man einer Dämpfung unterzogen hat, leben selten länger als noch ein paar Jahre. Sie scheinen allen Lebensmut zu verlieren und geben auf. Wie ich sagte: Es ist ein unangenehmes Thema.«

Aviendha rutschte unruhig hin und her. »Ich dachte eben nur, es könne daher rühren«, sagte sie mit leiser Stimme.

Egwene hielt das für sehr wohl möglich. Sie beschloß, Moiraine danach zu fragen – falls sie die Aes Sedai jemals antraf, wenn Aviendha nicht zugegen war. Ihr schien, daß ihr Täuschungsmanöver langsam ebenso hinderlich wurde, wie nützlich.

»Sehen wir zu, ob Joiya noch immer die gleiche

Geschichte erzählt wie vorher.« Allerdings mußte sie sich selbst erst wieder unter Kontrolle bringen, bevor sie daran gehen konnte, die Stränge von Luft um die Schwarze Schwester herum zu lockern.

Joiya hätte eigentlich ganz steif sein müssen von dem langen Stillstehen, aber sie drehte sich ungerührt zu ihnen um. Der Schweiß auf ihrer Stirn tat ihrer Würde und Ausstrahlung keinen Abbruch, und nicht einmal das fade, grobe Kleid hätte den Eindruck geschmälert, daß diese Frau sich aus freiem Willen und nicht als Gefangene hier befand. Sie war eine recht gut aussehende Frau, die trotz der Alterslosigkeit ihres glatten Gesichts etwas Mütterliches an sich hatte, etwas Beruhigendes. Doch die dunklen Augen ließen die eines Habichts noch freundlich erscheinen. Sie lächelte sie an, aber das Lächeln erreichte die Augen nicht. »Das Licht leuchte Euch. Möge Euch die Hand des Schöpfers beschützen.«

»Das will ich nicht noch mal von Euch hören!«

Nynaeves Stimme klang ruhig und leise, doch sie warf mit einem Kopfrucken ihren Zopf nach vorn und packte das Ende mit der Faust. Das tat sie nur, wenn sie entweder unsicher oder zornig war, und Egwene glaubte nicht an Unsicherheit in diesem Fall. Joiya schien auf Nynaeve nicht so beängstigend zu wirken wie auf Egwene.

»Ich habe meine Sünden bereut«, sagte Joiya

verbindlich. »Der Drache wurde wiedergeboren und hält Callandor in Händen. Die Prophezeiung wurde erfüllt. Der Dunkle König muß untergehen. Das sehe ich jetzt ein.

Meine Reue ist echt. Niemand kann so lange im Schatten wandeln, daß er nicht wieder zum Licht zurückkehren könnte.«

Nynaeves Gesicht war bei jedem Wort dunkler

angelaufen. Egwene war sicher, daß sie nun wütend genug war, um die Macht benützen zu können, aber falls sie das tat, würde sie möglicherweise lediglich Joiya erwürgen.

Egwene glaubte natürlich genausowenig wie Nynaeve an Joiyas Reue. Aber die Worte von dieser Frau konnten durchaus auch der Wahrheit entsprechen. Man konnte ihr durchaus zutrauen, daß sie kaltblütig umschwenkte auf die Seite, von der sie glaubte, sie werde am Ende gewinnen.

Oder sie wollte sich Zeit erkaufen und lügen in der Hoffnung, doch noch gerettet zu werden.

Lügen sollten einer Aes Sedai eigentlich nicht möglich sein, selbst einer, die alles Anrecht auf diesen Titel verwirkt hatte. Jedenfalls offene Lügen. Dafür hätte der erste der Drei Eide sorgen sollen, den man mit der Eidesrute in der Hand schwören mußte. Aber welche Eide man auch als Schwarze Ajah auf den Dunklen König leisten mußte, sie schienen jedenfalls alle Bindungen an die Drei zertrennt zu haben.

Nun gut. Die Amyrlin hatte sie ausgesandt, um die Schwarzen Ajah zu jagen, Liandrin und die zwölf anderen, die gemordet hatten und dann aus der Burg geflohen waren. Und alles, woran sie sich nun halten konnten, waren die Aussagen dieser beiden Gefangenen.

»Erzählt uns noch mal Eure Geschichte«, befahl

Egwene. »Benützt diesmal aber andere Worte. Ich habe es satt, auswendig gelernte Geschichten anzuhören.« Falls sie gelogen hatte, war es möglich, daß sie ins Stolpern kam, wenn sie die Geschichte anders erzählen mußte. »Wir werden Euch genau zuhören.« Das letzte galt Nynaeve, die daraufhin vernehmlich schniefte, aber schließlich kurz nickte.

Joiya zuckte die Achseln. »Wie Ihr wünscht. Laßt mich sehen. Andere Worte. Der falsche Drache, Mazrim Taim, der in Saldaea gefangengenommen wurde, kann die Macht mit unglaublicher Stärke gebrauchen. Vielleicht ist er sogar genauso stark wie Rand al'Thor, oder jedenfalls nicht viel weniger, wenn man den Berichten Glauben schenken kann.

Liandrin will ihn befreien, bevor man ihn nach Tar Valon bringen und einer Dämpfung unterziehen kann. Dann wird er zum Wiedergeborenen Drachen ausgerufen – unter dem Namen Rand al'Thor. Er wird eine Welle der Zerstörung einleiten, wie sie die Welt seit dem Hundertjährigen Krieg nicht mehr erlebt hat.«

»Das ist unmöglich«, fiel ihr Nynaeve ins Wort. »Das Muster nimmt keinen falschen Drachen an, schon gar nicht jetzt, wo Rand sich erklärt hat.«

Egwene seufzte. Sie hatte das nun schon einige Male erlebt, und jedesmal stritt Nynaeve deswegen herum. Dabei war sie nicht sicher, ob Nynaeve wirklich daran glaube, daß Rand der Wiedergeborene Drache sei, gleich, was sie sagte, gleich, was die Prophezeiung in bezug auf Callandor und den Fall des Steins vorhergesagt hatte. Nynaeve war gerade alt genug, um auf Rand aufgepaßt zu haben, als er noch ein Kind war, genauso wie bei Egwene. Er war ein Emondsfelder, und immer noch sah Nynaeve es als ihre oberste Pflicht an, die Menschen von Emondsfeld zu schützen.

»Hat Euch Moiraine das weisgemacht?« fragte Joiya mit einem Unterton der Verachtung. »Moiraine hat seit ihrer Erhebung zur Aes Sedai nur wenig Zeit in der Burg oder überhaupt mit ihren Schwestern verbracht. Ich schätze, sie weiß einiges über das Dorfleben, und vielleicht versteht sie sogar etwas von Politik, aber sie behauptet, Dinge ganz sicher zu wissen, die man nur durch ständiges Studium und durch Diskussionen mit anderen lernen kann. Trotzdem hat sie vielleicht recht. Es kann schon sein, daß Mazrim Taim nicht dazu kommen wird, sich zu erklären. Aber wenn andere das für ihn tun, wo liegt dann der Unterschied?«

Egwene wünschte, Moiraine käme endlich zurück. Die Frau würde nicht so selbstbewußt sprechen, wäre Moiraine zugegen. Joiya wußte sehr gut, daß sie und Nynaeve nur Aufgenommene waren. Da lag ein gewaltiger Unterschied.

»Macht weiter«, sagte Egwene beinahe im gleichen groben Tonfall wie Nynaeve. »Und denkt daran: Drückt Euch anders aus.«

»Selbstverständlich«, antwortete Joiya, als nehme sie eine großzügige Einladung an, doch ihre Augen glitzerten wie Scherben schwarzen Glases. »Ihr könnt das Ergebnis selbst vorhersagen. Rand al'Thor wird man für die Untaten von... Rand al'Thor verantwortlich machen. Selbst der Beweis, daß es sich nicht um denselben Mann handelt, wird dabei untergehen. Wer weiß denn schließlich, welche Intrigen ein Wiedergeborener Drache spinnen kann?

Vielleicht kann er gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten erscheinen? Selbst diejenigen, die sonst bedenkenlos jedem falschen Drachen folgen, würden zögern, wenn sie von den Untaten erfahren, die in seinem Namen und von ihm vollbracht werden. Und diejenigen, die vor so etwas nicht zurückschrecken, denen Blutvergießen Spaß macht, werden sich um diesen Rand al'Thor scharen, der anscheinend von ihrer Art ist. Die Länder werden sich vereinigen wie im Aielkrieg...« Sie lächelte Aviendha entschuldigend an, doch ihre Augen straften das Lächeln Lügen. »... und zweifellos diesmal noch um einiges schneller. Selbst der Wiedergeborene Drache kann dem nicht auf Dauer

widerstehen. Er wird vernichtet, noch bevor die Letzte Schlacht überhaupt beginnt, und zwar von denen, die er eigentlich retten sollte. Der Dunkle König wird aus seinem Gefängnis entkommen. Der Tag von Tarmon Gai'don wird herannahen und der Schatten die Erde bedecken und das Muster für alle kommenden Zeiten umgestalten. Das ist Liandrins Plan.« In ihrem Tonfall lag keine Befriedigung, aber auch keine Furcht.

Es war eine plausible Geschichte, glaubwürdiger als Amicos Erzählung von ein paar zufällig aufgeschnappten Sätzen, aber Egwene glaubte Amico und nicht Joiya.

Vielleicht, weil sie ihr mehr glauben wollte. Eine ungewisse Bedrohung in Tanchico war leichter

hinzunehmen als ein solch ausgereifter Plan, die ganze Welt gegen Rand zu mobilisieren. Nein, dachte sie. Joiya lügt. Da bin ich sicher. Aber sie konnten es sich nicht leisten, eine der beiden Geschichten einfach zu ignorieren.

Und doch konnten sie nicht beides gleichzeitig zu verhindern versuchen und dabei noch auf Erfolg hoffen.

Die Tür schlug auf, und Moiraine stürmte herein mit Elayne im Kielwasser. Die Tochter-Erbin blickte finster zu Boden, in düstere Gedankengänge versunken, während Moiraine... Ausnahmsweise einmal war alle Würde aus dem Gesicht der Aes Sedai gewichen und hatte blanker Wut Platz gemacht.

KAPITEL 6

Tore

»Rand al'Thor«, sagte Moiraine mit leiser, angespannter Stimme zu niemandem direkt, »ist ein wollköpfiger Maulesel, ein sturer Bock, ein Narr von einem... einem Mann!«

Elayne hob zornig den Kopf. Ihr Kindermädchen Lini hatte immer gesagt, man könne eher Seide aus

Schweineborsten weben, als aus einem Mann etwas anderes machen als eben einen Mann. Aber das war natürlich keine Entschuldigung für Rand.

»An den Zwei Flüssen züchtet man sie so.« Nynaeve machte plötzlich einen zufriedenen Eindruck und unterdrückte sichtlich ein Lächeln. Sie verbarg ihre Abneigung gegen die Aes Sedai nur selten so gut, wie sie selbst glaubte. »Die Frauen der Zwei Flüsse haben keine Probleme mit ihnen.« Dem überraschten Blick Egwenes nach zu schließen, war das eine so gewaltige Lüge, daß man ihr eigentlich hätte den Mund auswaschen müssen.

Moiraines Augenbrauen zogen sich zusammen, als wolle sie Nynaeve noch um einiges härter antworten. Elayne machte eine abwehrende Bewegung, doch ihr fiel nichts ein, was sie zur Beruhigung der Lage sagen konnte. Ihr ging immer nur Rand durch den Kopf. Er hatte kein Recht dazu! Aber mit welchem Recht beurteilte sie das?

Statt dessen sagte Egwene: »Was hat er getan,

Moiraine?«

Der Blick der Aes Sedai wandte sich Egwene zu, und er war so scharf, daß die junge Frau einen Schritt zurücktrat und ihren Fächer wieder aufklappte, um sich nervös Luft zuzufächeln. Dann traf Moiraines Blick auf Joiya und Amico. Die erstere beobachtete sie mißtrauisch, während die andere gebunden war und nichts sah als die hintere Wand des Raumes.

Elayne fuhr ein wenig zusammen, als ihr klar wurde, daß Joiya nicht gebunden war. Hastig überprüfte sie die Abschirmung, die die Frau von der Wahren Quelle abschneiden sollte. Sie hoffte, daß keine der anderen ihr Erschrecken bemerkt hatte. Sie selbst hatte Todesangst vor Joiya, aber weder Egwene und Nynaeve noch Moiraine schienen sie zu fürchten. Manchmal war es schon schwer, so tapfer zu sein, wie sie es als Tochter-Erbin von Andor sein sollte. Sie wünschte sich oft, damit ebenso gut fertigwerden zu können wie die beiden.

»Die Wachen«, knurrte Moiraine in sich hinein. »Ich habe sie immer im Korridor gesehen und mir daher nichts weiter dabei gedacht.« Sie strich ihr Kleid glatt und gab sich die größte Mühe, ihre Beherrschung wiederzufinden.

Elayne konnte sich nicht erinnern, Moiraine jemals so erregt gesehen zu haben wie an diesem Abend. Aber natürlich hatte die Aes Sedai auch einen guten Grund dafür. Nicht mehr als ich. Oder? Sie ertappte sich dabei, daß sie Egwenes Blick zu meiden versuchte.

Wären es Egwene, Nynaeve oder Elayne gewesen, die ihre Beherrschung verloren, hätte Joiya ganz sicher etwas von sich gegeben, irgend etwas Subtiles, Doppelzüngiges, dazu geeignet, sie noch ein bißchen mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen. Zumindest, wenn sie allein gewesen wären. Aber in Moiraines Fall blickte sie nur verstört drein und schwieg.

Moiraine ging mit beinahe wiederhergestellter

äußerlicher Ruhe am Tisch entlang. Joiya war wohl fast einen Kopf größer, aber selbst wenn sie ebenfalls in Seide gekleidet gewesen wäre, so hätte es doch keinen Zweifel daran gegeben, wer hier die Lage beherrschte. Joiya wich zwar nicht zurück, aber ihre Hände verkrampften sich einen Moment lang in ihren Rock, bevor sie sich wieder im Griff hatte.

»Ich habe Vorkehrungen getroffen«, sagte Moiraine leise. »In vier Tagen bringt man Euch mit dem Schiff flußaufwärts nach Tar Valon zur Burg. Dort wird man nicht so sanft mit Euch verfahren wie wir. Wenn Ihr bisher noch nicht zur Wahrheit gefunden habt, dann findet dazu, bevor Ihr den Südhafen erreicht habt, oder Ihr werdet todsicher den Weg zum Galgen im Hof Der Verräter antreten. Ich werde nicht mehr mit Euch sprechen, bis Ihr mir eine Nachricht senden laßt, daß Ihr mir etwas Neues zu sagen habt. Und ich will kein Wort von Euch hören – kein einziges Wort – das nicht neu ist. Glaubt mir, das wird Euch in Tar Valon Schmerzen ersparen. Aviendha, sagt Ihr bitte dem Hauptmann, daß er zwei seiner Männer herein-schicken soll?« Elayne blinzelte, als sich die Aielfrau auf-richtete und durch die Tür verschwand. Manchmal verhielt sich Aviendha so still, daß man sie gar nicht bemerkte.

Joiya verzog das Gesicht, als wolle sie etwas sagen, doch Moiraine starrte sie schweigend an, bis die Hörige des Schattens ihren Blick abwandte. Ihre Augen glitzerten wie die eines Raben. Ihr Blick sprach von Mord, doch sie blieb stumm.

In Elaynes Augen umgab plötzlich ein goldenweißes Glühen Moiraine, das Glühen einer Frau, die Saidar berührte. Nur eine Frau, die selbst im Gebrauch der Macht ausgebildet war, konnte das wahrnehmen. Die Stränge, die Amico banden, wickelten sich schneller auf, als Elayne das geschafft hätte. Dabei war sie von den Anlagen her stärker als Moiraine. In der Burg hatten die Frauen, die sie unterwiesen, kaum glauben können, welches Potential in ihr steckte und genauso in Egwene und Nynaeve. Nynaeve war die stärkste von allen, wenn sie es einmal fertigbrachte, die Macht zu lenken. Aber Moiraine hatte eben sehr viel Erfahrung. Was sie erst noch lernen mußten, konnte Moiraine fast im Schlaf bewältigen. Und doch gab es bereits einige Dinge, die Elayne und die anderen beiden beherrschten, die aber Moiraine nicht gelangen. Das verschaffte ihr ein klein wenig Befriedigung, obwohl Moiraine Joiya so schnell zum Nachgeben gezwungen hatte.

Befreit und wieder in der Lage, zu hören, drehte sich Amico um und wurde zum erstenmal Moiraines gewahr.

Mit einem Quieken knickste sie so schnell und tief wie eine gerade aufgenommene Novizin. Joiya blickte zornig zur Tür hinüber und mied die Blicke der anderen. Nynaeve, die ihre Arme vor der Brust verschränkt hatte und deren Knöchel weiß waren vor Anstrengung, so fest umklammerte sie ihren Zopf, warf Moiraine einen beinahe genauso mörderischen Blick zu wie Joiya zuvor. Egwene strich über ihr Kleid und funkelte Joiya an. Elayne runzelte die Stirn und wünschte sich, genauso tapfer wie Egwene zu sein. Sie hatte das Gefühl, ihre Freundinnen mit ihrer Feigheit zu verraten. Und in diese Situation hinein schritten der Hauptmann und zwei Verteidiger in Schwarz und Gold.

Aviendha war nicht mit ihnen gekommen; es schien, sie habe die Gelegenheit benützt, um der Aes Sedai zu entfliehen.

Der ergraute Offizier mit den beiden kurzen weißen Federn auf dem Helm scheute zurück, als sein Blick sich mit dem Joiyas kreuzte, obwohl sie ihn gar nicht bewußt wahrzunehmen schien. Dann glitt sein Blick unsicher von einer Frau zur anderen. Die Stimmung im Raum war geladen, und ein kluger Mann mied diese Art von Streitigkeiten zwischen Frauen. Die beiden Soldaten umklammerten ihre Hellebarden so fest, als rechneten sie damit, sie gebrauchen zu müssen. Vielleicht fürchteten sie das tatsächlich.

»Ihr bringt diese beiden in ihre Zellen zurück«, sagte Moiraine kurz angebunden zu dem Offizier. »Wiederholt Euren Befehl. Es darf keine Fehler geben.«

»Ja, Ae...« Der Hauptmann schien plötzlich einen Kloß im Hals zu haben. Er atmete hastig durch. »Ja, Lady«, sagte er und beobachtete sie ängstlich, um zu sehen, ob er vielleicht einen Fehler gemacht habe. Als sie ihn lediglich wartend anblickte, seufzte er hörbar erleichtert auf. »Die Gefangenen dürfen mit niemandem außer mir sprechen, auch nicht miteinander. Zwanzig Mann im Wachraum und zwei grundsätzlich immer vor jeder Zelle, und falls aus irgendeinem Grund die Tür geöffnet werden muß, vier Mann davor. Ich bin persönlich dabei, wenn ihr Essen zubereitet wird und bringe es ihnen selbst. Wie Ihr befohlen habt, Lady.« Die Andeutung einer Frage schwang in seinem Tonfall mit. Hundert Gerüchte in bezug auf die Gefangenen gingen im Stein um. Vor allem fragte man sich, wieso zwei Frauen so streng bewacht werden mußten.

Und man flüsterte sich düstere Geschichten über die Aes Sedai zu, eine schlimmer als die andere.

»Sehr gut«, sagte Moiraine. »Bringt sie weg.«

Es wurde nicht klar, wer den Raum lieber verließ – die Gefangenen oder die Wächter. Selbst Joiya schritt schnell hinaus, als könne sie es keinen Augenblick länger ertragen, schweigend vor Moiraine stehen zu müssen.

Elayne war im festen Glauben, keine Miene verzogen zu haben, seit sie den Raum betreten hatte, aber nun kam Egwene zu ihr herüber und legte den Arm um sie. »Was ist los, Elayne? Du siehst aus, als wolltest du weinen.«

Die Sorge in ihrer Stimme allein schon reichte fast, um Elayne in Tränen ausbrechen zu lassen. Licht, dachte sie.

Ich werde mich nicht so töricht benehmen! Niemals! »Eine weinende Frau ist wie ein Eimer ohne Boden.« Lini war vollgewesen von Redensarten wie dieser.

»Dreimal...«, brach es aus Nynaeve heraus, und dann fuhr sie Moiraine an: »Nur dreimal habt Ihr euch dazu herabgelassen, uns beim Verhör zu helfen. Diesmal verschwindet Ihr sogar, bevor wir überhaupt anfangen, und nun verkündet Ihr so einfach und gelassen, daß Ihr sie nach Tar Valon schickt! Wenn Ihr schon nicht helft, dann mischt Euch wenigstens nicht ein!«

»Strapaziert die Autorität der Amyrlin nicht zu sehr«, sagte Moiraine kühl. »Sie hat Euch wohl ausgesandt, um Liandrin zu jagen, aber Ihr seid trotzdem nur

Aufgenommene und ziemlich unwissende dazu, welche Briefe Ihr auch mitführen mögt. Oder wolltet Ihr sie ewig weiter verhören, bevor Ihr euch zu einer Entscheidung durchringt? Ihr Leute von den Zwei Flüssen scheint groß darin zu sein, Euch vor notwendigen Entscheidungen zu drücken.« Nynaeve öffnete mit herausquellenden Augen den Mund und schloß ihn dann wieder, als könne sie sich nicht entscheiden, auf welche dieser Anschuldigungen sie zuerst eingehen solle, doch Moiraine wandte sich bereits Egwene und Elayne zu. »Reißt Euch zusammen, Elayne.

Wie könnt Ihr den Auftrag der Amyrlin ausführen, wenn Ihr glaubt, jedes Land müsse sich nach Euren Sitten richten? Und ich weiß auch nicht, warum Ihr euch so aufregt. Laßt andere nicht so unter Euren Gefühlen leiden.«

»Was meint Ihr damit?« fragte Egwene. »Welche Sitten?

Wovon sprecht Ihr?«

»Berelain hielt sich in Rands Gemächern auf«, platzte Elayne in anklagendem Ton heraus, bevor sie es verhindern konnte. Ihr schuldbewußter Blick traf Egwene. Sie hatte doch wohl hoffentlich ihre eigenen Gefühle verborgen?

Moiraine sah sie mißbilligend an und seufzte: »Ich hätte Euch das gern erspart, Egwene. Wenn Elayne nicht ihre Vernunft an den Nagel gehängt hätte, weil sie Berelain so verachtet. Die Sitten in Mayene entsprechen nunmal überhaupt nicht denen, in die Ihr beide hineingeboren wurdet. Egwene, ich weiß, was Ihr für Rand empfindet, aber mittlerweile sollte Euch ja auch klar sein, daß das zu nichts führen wird. Er gehört dem Muster und der Geschichte.«

Egwene schien die Aes Sedai zu ignorieren und sah statt dessen Elayne in die Augen. Elayne wollte wegschauen, konnte aber nicht. Plötzlich beugte sich Egwene näher zu ihr herüber und flüsterte ihr hinter vorgehaltener Hand zu:

»Ich liebe ihn. Wie einen Bruder. Und dich wie eine Schwester. Ich wünsche dir Glück mit ihm.«

Elayne riß die Augen auf und langsam breitete sich ein Lächeln über ihr Gesicht aus. Sie antwortete Egwene mit einer wilden Umarmung. Dann flüsterte sie leise: »Danke dir. Ich liebe dich auch, Schwester. Oh, danke.«

»Sie hat sich tatsächlich geirrt«, sagte Egwene ins Leere hinein, und dabei grinste sie in höchstem Maße erfreut.

»Seid Ihr jemals verliebt gewesen, Moiraine?«

Was für eine überraschende Frage! Elayne konnte sich keine verliebte Aes Sedai vorstellen. Moiraine gehörte zu den Blauen Ajah, und man sagte den Blauen Schwestern nach, daß all ihre Liebe ihren Aufgaben gelte.

Die schlanke Frau war aber keineswegs erschüttert.

Einen langen Augenblick über sah sie die beiden ruhig an, wie sie Arm in Arm dastanden. Schließlich sagte sie: »Ich könnte wetten, daß ich das Gesicht des Mannes besser kenne, den ich einmal heiraten werde, als Ihr zwei das Eures zukünftigen Ehemannes kennt.«

Egwene schnappte überrascht nach Luft.

»Wer?« schluckte Elayne.

Die Aes Sedai schien bereits zu bereuen, daß sie soviel gesagt hatte. »Vielleicht wollte ich damit nur sagen, daß wir in dieser Hinsicht gleich unwissend sind. Lest nicht zuviel aus ein paar Worten heraus.« Nachdenklich blickte sie Nynaeve an. »Sollte ich aber jemals einen Mann erwählen – sollte, habe ich gesagt –, dann wird es nicht Lan sein. Soviel steht fest.«

Das war an sich Seelenbalsam für Nynaeve, doch die schien es nicht gern zu hören. Nynaeve hatte noch ein hartes Stück Arbeit vor sich, weil sie nicht nur einen Behüter liebte, sondern mit ihm eben einen Mann, der sich bemühte, zu verbergen, daß er ihre Liebe erwiderte. Narr, der er war, sprach er doch von dem Krieg gegen den Schatten, in den er verwickelt sei und den er nicht gewinnen könne, und daß er sich weigere, Nynaeve schon zu ihrer Hochzeit das Witwenkleid überstreifen zu lassen.

Dummes Zeug dieser Art hatte er auf Lager. Elayne wußte nicht, wie Nynaeve damit fertigwerden konnte. Sie war keine sehr geduldige Frau.

»Wenn Ihr mit dem Thema Männer fertig seid«, sagte Nynaeve ätzend, als wolle sie gleich den Beweis antreten,

»können wir uns vielleicht wieder Wichtigem zuwenden?«

Sie hatte ihren Zopf wieder fest in der Faust, und nun kam immer mehr Schwung in sie, wie bei einem Mühlrad, das man von der Mühle abgekoppelt hatte. »Wie können wir entscheiden, ob Joiya lügt oder Amico, wenn Ihr sie wegschickt? Oder ob beide lügen? Es paßt mir nicht, hier müßig herumzuhocken, Moiraine, gleich, was Ihr jetzt glaubt, aber ich bin schon in so viele Fallen getappt, daß ich nicht wieder hereinfallen möchte. Und ich will auch keine Irrlichter jagen. Ich... wir... sind diejenigen, die von der Amyrlin hinter Liandrin und ihren Hexen hergejagt wurden. Da Ihr zu denken scheint, sie seien nicht wichtig genug, um uns zu helfen und wenigstens ein paar Augenblicke dafür zu erübrigen, könntet Ihr euch wenigstens bemühen, uns keinen Knüppel zwischen die Beine zu werfen!«

Sie schien bereit, ihren Zopf auszureißen und die Aes Sedai damit zu erwürgen. Moiraine ihrerseits befleißigte sich einer gefährlich kalten Ruhe, die andeutete, daß sie drauf und dran war, auch Nynaeve dieselbe Lektion über das Schweigen zu erteilen wie vorher Joiya. Elayne entschied, es sei höchste Zeit für sie, mit Schmollen aufzuhören und etwas zu unternehmen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie eigentlich in diese Rolle der Vermittlerin zwischen drei Frauen hineingetrieben worden war, und gelegentlich hätte sie ja gern alle drei am Kragen gepackt und geschüttelt, aber ihre Mutter hatte immer gesagt, im Zorn könne niemand eine gute Entscheidung fällen. »Fügt Eurer Liste dessen, was wir wissen möchten, noch etwas hinzu: Warum wurden wir zu Rand gerufen? Denn dorthin hat uns Careen gebracht. Jetzt geht es ihm natürlich wieder gut. Moiraine hat ihn geheilt.« Sie konnte ein Schaudern nicht unterdrücken, wenn sie sich an den kurzen Blick erinnerte, den sie in Rands Zimmer geworfen hatte, aber das Ablenkungsmanöver schlug derweil voll ein.

»Geheilt?« Nynaeve schnappte nach Luft. »Was ist mit ihm geschehen?«

»Er wäre beinahe umgekommen«, sagte die Aes Sedai so gelassen, als erzähle sie, daß sie eine Tasse Tee getrunken habe.

Elayne spürte, wie Egwene zitterte, als sie sich Moiraines leidenschaftslosen Bericht anhörten, aber vielleicht war es zum Teil auch ihr eigenes Zittern, das sie spürte. Blasen des Bösen, die durch das Muster trieben.

Doppelgänger, die aus Spiegeln stiegen. Rand über und über von Blut und Wunden bedeckt. Fast nebensächlich erwähnte Moiraine noch, sie sei sicher, daß Perrin und Mat etwas Ähnliches durchgemacht haben mußten, doch unbeschadet davongekommen seien. Die Frau mußte Eis in den Adern haben statt Blut. Nein, sie war wütend genug über Rands Sturheit. Und sie klang nicht kalt, als sie vom Heiraten sprach, auch wenn sie sich Mühe gab, ihre innere Beteiligung zu verbergen. Aber nun klang es, als spreche sie darüber, ob ein Ballen Seide die richtige Farbe für ein bestimmtes Kleid habe.

»Und diese... diese Dinge werden so weitergehen?«

fragte Egwene, als Moiraine geendet hatte. »Könnt Ihr nichts tun, damit das aufhört? Oder kann Rand nichts tun?«

Der kleine blaue Edelstein, der auf Moiraines Stirn hing, schaukelte wild, als sie den Kopf schüttelte. »Nicht, bis er gelernt hat, seine Fähigkeiten unter Kontrolle zu halten.

Vielleicht auch dann noch nicht. Ich weiß nicht, ob er selbst stark genug ist, um diese – Ausdünstungen des Bösen – von sich fernzuhalten. Zumindest aber wird er besser in der Lage sein, sich dagegen zu verteidigen.«

»Könnt Ihr ihm nicht irgendwie zur Hilfe kommen?«

wollte Nynaeve wissen. »Ihr seid diejenige unter uns, die angeblich alles weiß oder zumindest so tut. Könnt Ihr ihm nichts beibringen? Wenigstens einen Teil dessen, was er wissen muß? Und zitiert nicht wieder Sprichwörter über Vögel, die Fischen das Fliegen beibringen wollen.«

»Ihr würdet es besser wissen«, antwortete Moiraine,

»wenn Ihr mehr Zeit mit Euren Studien verbracht hättet.

Ihr solltet es wirklich besser wissen. Ihr wollt wissen, wie man die Macht anwendet, Nynaeve, aber Ihr wollt nichts über die Macht selbst erfahren. Saidin ist nicht Saidar. Die Ströme fließen anders, die Art zu weben ist eine andere.

Der Vogel hat eine größere Chance.«

Diesmal übernahm es Egwene, die Lage zu entspannen.

»Inwiefern ist Rand denn wieder stur?« Nynaeve öffnete den Mund und so fügte sie schnell hinzu: »Manchmal ist er so stur wie ein Felsblock.« Nynaeve klappte den Mund wieder zu, denn sie alle wußten, wie sehr dies der Wahrheit entsprach.

Moiraine betrachtete sie nachdenklich. Gelegentlich war sich Elayne nicht sicher, ob ihnen die Aes Sedai ganz und gar traute. Ob sie überhaupt jemandem vertraute. »Er muß sich bewegen«, sagte die Aes Sedai schließlich. »Statt dessen sitzt er hier herum, und die Tairener beginnen bereits, ihre Angst vor ihm abzubauen. Er sitzt hier, und je länger das so weitergeht, desto eher werden die Verlorenen das als Zeichen der Schwäche werten. Das Muster bewegt sich und fließt; nur die Toten liegen still. Er muß handeln oder sterben. Durch einen Armbrustbolzen im Rücken oder Gift im Essen, oder die Verlorenen schließen sich zusammen, um ihm die Seele aus dem Körper zu reißen. Er muß handeln oder sterben.« Elayne zuckte bei jeder der aufgezählten Gefahren zusammen. Daß sie durchaus wirklich waren, machte alles nur noch schlimmer.

»Und Ihr wißt, was er zu tun hat, nicht wahr?« sagte Nynaeve nervös. »Ihr habt bereits alles für ihn geplant.«

Moiraine nickte. »Wäre es Euch lieber, wenn er wieder ins Blaue hinein und allein loszöge? Das wage ich nicht zu riskieren. Diesmal stirbt er vielleicht dabei, oder es geschieht ihm noch schlimmeres, bevor ich ihn finde.«

Das stimmte natürlich. Rand wußte kaum, was er da eigentlich tat. Und Elayne war sicher, daß Moiraine das bißchen Einfluß nicht aufgeben wollte, das sie noch auf Rand hatte. Das Wenige, was er ihr noch gestattete.

»Werdet Ihr eure Pläne im Hinblick auf ihn mit uns teilen?« wollte Egwene wissen. Jetzt trug sie nichts mehr zur Beruhigung bei.

»Ja, tut das«, sagte Elayne, wobei sie selbst über das kühle Echo von Egwenes Tonfall in ihrer eigenen Stimme erstaunt war. Sie liebte normalerweise die Auseinandersetzung nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, es sei besser, die Menschen anzuleiten, als sie mit dem Holzhammer zur Folgsamkeit zu erziehen.

Falls Moiraine ihretwegen irritiert war, ließ sie es sich nicht anmerken. »Solange Ihr versteht, daß Ihr es für Euch behalten müßt. Ein verratener Plan ist zum Scheitern verurteilt. Ja, ich sehe schon, daß Euch dies klar ist.«

Elayne verstand sie jedenfalls sehr gut: Der Plan war gefährlich und Moiraine wußte nicht, ob er funktionieren würde.

»Sammael befindet sich in Illian«, fuhr die Aes Sedai fort. »Die Tairener sind immer zum Krieg mit Illian bereit, ebenso umgekehrt. Sie haben sich tausend Jahre lang immer wieder gegenseitig die Köpfe eingeschlagen, und sie sprechen von der Möglichkeit eines neuen Krieges wie andere vom nächsten Feiertag. Ich bezweifle, daß dies anders wäre, wenn sie von Sammaels Anwesenheit wüßten; jedenfalls nicht, solange der Wiedergeborene Drache sie anführt. Bei dieser Unternehmung wird Tear hinter Rand stehen, und wenn er Sammael stürzt, dann...«

»Licht!« rief Nynaeve. »Ihr wollt nicht nur, daß er einen Krieg beginnt, sondern auch noch, daß er sich mit einem der Verlorenen anlegt! Kein Wunder, wenn er stur ist. Für einen Mann ist er wirklich nicht dumm.«

»Er muß am Ende dem Dunklen König selbst

gegenübertreten«, sagte Moiraine ruhig. »Glaubt Ihr wirklich, daß er jetzt die Verlorenen noch meiden könnte?

Und was Kriege betrifft, gibt es auch ohne ihn schon genug, und jeder davon nutzloser als der andere.«

»Jeder Krieg ist nutzlos«, begann Elayne, aber dann versagte ihre Stimme, als sie die Vernunft hinter Moiraines Plan einsah. Auf ihrem Gesicht standen Trauer und Bedauern, aber eben auch Verständnis. Ihre Mutter hatte ihr viele Vorträge darüber gehalten, wie man eine Nation führte und wie man sie regierte – zwei ganz verschiedene Dinge und beide notwendig. Und manchmal mußte man in beiden Fällen Dinge tun, die mehr als nur unangenehm waren. Doch der Preis dafür, sie nicht zu unternehmen, war manchmal noch viel höher.

Moiraine warf ihr einen verständnisvollen Blick zu. »Es ist nicht immer angenehm, ja? Eure Mutter hat wohl damit begonnen, Euch beizubringen, was Ihr später als Herrscherin einmal wissen müßt, sobald Ihr auch nur alt genug wart, um zu verstehen, was sie sagte.« Moiraine war im Königspalast von Cairhien aufgewachsen, nicht dazu bestimmt, einmal zu regieren, doch mit der

Herrscherfamilie verwandt, und zweifellos hatte sie einiges mitbekommen. »Manchmal scheint es einem besser, nichts zu wissen, vielleicht lieber ein Bauernmädchen zu sein, das nicht über die Grenzen ihrer Felder hinwegblicken kann.«

»Noch mehr Rätsel?« fragte Nynaeve verächtlich.

»Krieg war sonst etwas für mich, von dem die fahrenden Händler berichteten, das fern von uns stattfand und das ich eigentlich gar nicht verstand. Jetzt weiß ich, was er bedeutet. Männer töten andere Männer. Männer benehmen sich wie die Tiere, werden selbst zu Tieren. Dörfer werden verbrannt, Bauernhöfe und Felder verwüstet. Hunger, Krankheiten und Tod für die Unschuldigen genau wie für die Schuldigen. Was macht diesen Euren Krieg zu etwas Besserem, Moiraine? Wodurch wird er sauberer?«

»Elayne?« forderte Moiraine sie ruhig auf.

Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht diejenige sein, die ihr das erklären mußte. Aber sie war nicht sicher, ob selbst ihre Mutter auf dem Löwenthron ruhig geblieben wäre, wenn Moiraine sie mit ihren großen, dunklen Augen so auffordernd angeblickt hätte. »Der Kriegt kommt, ob Rand ihn nun beginnt oder nicht«, sagte sie zögernd.

Egwene trat einen Schritt zurück und sah sie genauso ungläubig an wie Nynaeve. Doch als sie weitersprach, verschwand das Unverständnis aus den Gesichtern der beiden. »Die Verlorenen werden nicht ruhig bleiben und zuschauen. Sammael kann nicht der einzige von ihnen sein, der die Führung eines Staates an sich gerissen hat. Er ist eben nur der einzige, von dem wir es wissen. Sie werden schließlich alle hinter Rand her sein, vielleicht persönlich, aber auf jeden Fall mit Hilfe der Heere, die sie anführen.

Und die Länder, die frei sind von den Verlorenen? Wie viele davon werden Loblieder auf den Wiedergeborenen Drachen singen und seiner Flagge bis Tarmon Gai'don folgen, und wie viele werden sich täuschen, glauben, der Fall des Steins sei eine Lüge und Rand nur ein neuer falscher Drache, den man besiegen müsse, vielleicht ein so starker, daß man gegen ihn sofort losschlagen muß, bevor er zu einer Bedrohung werden kann? So oder so wird dieser Krieg kommen.« Sie brach abrupt ab. Es war noch mehr dazu zu sagen, doch sie konnte und wollte ihnen den Rest nicht erzählen.

Moiraine hatte da keine Hemmungen. »Sehr gut«, sagte sie und nickte, »aber unvollständig.« Der Blick, den sie Elayne zuwarf, sagte, sie habe bemerkt, daß sie diesen Teil absichtlich weggelassen hatte. Mit vor ihrem Mieder gefalteten Händen wandte sie sich ruhig an Nynaeve und Egwene. »Es gibt nichts, was diesen Krieg sauberer und besser werden ließe. Außer, daß er die Tairener an ihn binden wird, und am Ende werden ihm die Illianer genauso folgen, wie jetzt Tear. Wie könnten sie es auch verweigern, wenn die Drachenflagge über Illian flattert? Allein die Nachricht von seinem Sieg könnte die Kriege in Tarabon und Arad Doman zu seinen Gunsten entscheiden. Und damit würden diese Kriege beendet!

Mit einem Schlag kann er dadurch, soweit es Männer und Schwerter betrifft, so stark werden, daß nur noch eine Koalition aller übriggebliebenen Nationen von hier bis zur Fäule ihn besiegen könnte, und mit dem gleichen Schlag würde er den Verlorenen beweisen, daß er keine fette Wachtel ist, die auf dem Ast sitzt und auf das Netz des Jägers wartet. Das wird sie vorsichtig machen und ihm Zeit verschaffen, in der er lernen kann, seine Stärke richtig einzusetzen. Er muß zuerst losschlagen, der Hammer sein und nicht der Nagel.« Die Aes Sedai verzog leicht das Gesicht, und eine Andeutung des vorherigen Zorns schlich sich in die Gelassenheit ihrer Miene. »Er muß einfach zuerst handeln. Und was macht er? Er liest. Liest und bringt sich damit immer mehr in Schwierigkeiten.«

Nynaeve wirkte erschüttert, als sehe sie all diese Schlachten und Tode vor sich. Egwenes dunkle Augen waren in erschrecktem Verstehen weit aufgerissen. Elayne schauderte beim Anblick ihrer Mienen. Die eine hatte Rand aufwachsen sehen, die andere war mit ihm zusammen aufgewachsen. Und nun sahen sie zu, wie er Kriege in Gang brachte. Nicht einfach der Wiedergeborene Drache, sondern Rand al'Thor.

Egwene kämpfte sichtlich mit sich und verlegte sich schließlich darauf, den kleinsten Teil, das Unwichtigste von dem aufzugreifen, was Moiraine gesagt hatte. »Wie kann Lesen ihn in noch größere Schwierigkeiten bringen?«

»Er hat sich entschlossen, selbst herauszufinden, was die Prophezeiungen des Drachen vorhersagen.« Moiraines Gesichtsausdruck blieb kühl und unberührt, doch mit einemmal hörte sie sich so müde an, wie Elayne sich fühlte. »Sie waren in Tear vielleicht verboten, aber der Vorsteher der Bibliothek hatte neun verschiedene Übersetzungen in einer verschlossenen Truhe. Rand hat sie jetzt alle bei sich. Ich habe ihm den Teil gezeigt, der uns hier angeht, und er hat ihn mir auswendig hergesagt, wie er früher einmal in Kandor übersetzt wurde:

Die Macht des Schattens erweckte das menschliche Fleisch

zu Aufruhr, Rivalität und Ruin.

Der Wiedergeborene, gezeichnet und blutend, tanzt in Träumen und Nebel den Tanz des Schwerts, bindet die dem Schatten Zugeschworenen an seinen Willen,

die aus der Stadt, der verirrten und verlorenen, führt wieder die Speere in den Krieg,

zerbricht die Speere und zeigt ihnen die Wahrheit, die lange schon in uralten Träumen verborgen lag.«

Sie verzog das Gesicht. »Man kann das auf diese Situation genauso beziehen wie auf jede andere. Illian unter Sammael ist bestimmt eine verlorene Stadt. Führe die Speere Tears in den Krieg, leg Sammael in Ketten, und er hat die Weissagung erfüllt. Der uralte Traum vom Wiedergeborenen Drachen. Aber er will das nicht sehen. Er hat sogar ein Exemplar in der Alten Sprache, als verstünde er die. Er verfolgt Schatten, und Sammael oder Rahvin oder Lanfear haben ihn vielleicht schon an der Kehle gepackt, bevor ich ihn davon überzeugen kann, daß er einen Fehler gemacht hat.«

»Er ist verzweifelt.« Nynaeves sanfter Tonfall galt nicht Moiraine, da war Elayne sicher, sondern Rand.

»Verzweifelt sucht er nach seiner Bestimmung.«

»Ich bin auch verzweifelt«, sagte Moiraine mit fester Stimme. »Ich habe mein Leben der Aufgabe gewidmet, ihn zu finden, und ich werde nicht zulassen, daß er versagt, wenn ich es verhindern kann. Ich bin fast schon verzweifelt genug, um...« Sie brach ab und schürzte die Lippen.

»Belassen wir es dabei, daß ich tun werde, was ich tun muß.«

»Aber das reicht nicht«, sagte Egwene in scharfem Ton.

»Und was werdet Ihr tun?«

»Ihr habt andere Dinge, um die Ihr euch kümmern müßt«, sagte die Aes Sedai. »Die Schwarzen Ajah...«

»Nein!« Elaynes Stimme klang eisenhart und ließ keinen Widerspruch zu. Wo ihre Hand sich in den hellblauen Rock verkrampfte, war ihr Knöchel vor Anstrengung weiß. »Ihr haltet vieles geheim, Moiraine, aber sagt uns dies: Was wollt Ihr ihm antun?« Ein Bild ging ihr durch den Kopf, wie sie Moiraine packte und die Wahrheit aus ihr herausschüttelte, falls das notwendig war.

»Ihm antun? Nichts. Ach, nun denn. Es gibt keinen Grund, warum Ihr das nicht wissen könnt. Ihr habt gesehen, was von den Tairenern als die Große Sammlung bezeichnet wird?«

Es war eigenartig bei einem Volk, das die Macht derart fürchtete, aber im Stein befand sich eine Sammlung von Objekten, die alle mit der Macht zu tun hatten. Nur in der Weißen Burg fand man eine noch größere Ansammlung solcher Dinge. Elayne glaubte, es liege daran, daß sie so lange Zeit über gezwungen gewesen waren, Callandor aufzubewahren, ob sie nun wollten oder nicht. Sogar das Schwert, Das Kein Schwert Ist sah nach weniger aus, wenn es sich unter vielen anderen ähnlichen Dingen befand. Aber die Tairener hatten es niemals übers Herz gebracht, ihre Schätze herzuzeigen. Die Große Sammlung wurde in schmutzigen und vollgestopften Räumen noch unterhalb der Kerker aufbewahrt. Als Elayne sie zum erstenmal gesehen hatte, waren alle Türschlösser längst zugerostet, soweit die Türen nicht sowieso schon vermodert waren.

»Wir haben einen ganzen Tag dort unten verbracht«, sagte Nynaeve. »Um herauszufinden, ob Liandrin und ihre Freundinnen etwas gestohlen haben. Ich glaube aber nicht.

Alles war unter Schichten von Staub und Moder begraben.

Man wird drei Schiffe brauchen, um alles zur Burg zu transportieren. Vielleicht können sie dort mehr herausfinden; ich war nicht dazu in der Lage.« Die Versuchung, zu sticheln, war offensichtlich so stark, daß sie nicht vermeiden konnte, hinzuzufügen: »Aber das wüßtet Ihr alles längst, wenn Ihr uns ein wenig mehr von Eurer Zeit gewidmet hättet.«

Moiraine nahm keine Notiz davon. Sie schien in sich hineinzublicken, ihre eigenen Gedanken zu überprüfen, und sie führte beinahe ein Selbstgespräch. »Es gibt einen besonderen Ter'Angreal in der Sammlung, der aussieht, wie ein aus Sandstein gefertigter Türrahmen, der dem Auge jedoch seltsam verdreht erscheint. Wenn ich ihn nicht zu einem Entschluß treiben kann, muß ich vielleicht hindurchgehen.« Der kleine blaue Edelstein auf ihrer Stirn bebte und funkelte. Offensichtlich war sie nicht erpicht darauf, diesen Schritt zu unternehmen.

Bei der Erwähnung des Ter'Angreal hatte Egwene instinktiv das Oberteil ihres Kleids berührt. Sie hatte eine kleine Tasche dort eingenäht, um den Steinring darin aufzubewahren. Der Ring war ein Ter'Angreal, wohl klein, aber trotzdem sehr stark, und Elayne war eine von nur drei Frauen, die wußten, daß sie ihn in Besitz hatte. Moiraine gehörte nicht zu den dreien.

Es waren schon eigenartige Dinge, diese Ter'Angreal, Bruchstücke aus dem Zeitalter der Legenden, so wie ein Angreal und ein Sa'Angreal, wenn auch häufiger.

Ter'Angreal gebrauchten die Eine Macht, anstatt sie zu verstärken. Jeder war offensichtlich angefertigt worden, um eine Aufgabe, und wirklich nur eine einzige zu erfüllen, aber obwohl man einige davon jetzt benützte, war niemand sicher, ob man nun das gleiche mit ihnen unternahm wie damals, als man sie hergestellt hatte. Die Eidesrute zum Beispiel, die eine Frau beim Schwören der Drei Eide halten mußte, wenn sie zur Aes Sedai erhoben wurde, war ein Ter'Angreal, der diese Eide den Frauen in Fleisch und Blut übergehen ließ. Die letzte Prüfung, die eine Novizin hinter sich bringen mußte, um zur Aufgenommenen erhoben zu werden, fand innerhalb eines Ter'Angreal statt, der ihre innersten Ängste herauskehrte und wirklich werden ließ –

oder sie vielleicht auch auf eine Welt transportierte, in der sie Wirklichkeit waren. Seltsame Dinge konnten einem mit einem Ter'Angreal passieren. Aes Sedai waren schon ausgebrannt oder gestorben oder einfach verschwunden, als sie Ter'Angreal untersuchten und benützten.

»Dieses Tor habe ich auch gesehen«, sagte Elayne. »Im letzten Raum am Ende des Flurs. Meine Lampe ist ausgegangen, und ich bin dreimal hingefallen, bevor ich wieder an der Tür war.« Eine leichte Schamröte überzog ihre Wangen. »Ich habe mich davor gefürchtet, dort die Macht zu benützen, und sogar davor, die Lampe wieder anzuzünden. Vieles, was dort liegt, sieht mir nach Schrott aus. Ich glaube, die Tairener haben sich einfach alles geschnappt, was aussah, als habe es mit der Macht zu tun.

Doch dort drinnen fürchtete ich, wenn ich die Macht benützte, etwas auszulösen, etwas noch Funktionierendes in Gang zu setzen, und wer weiß, was dann geschehen wäre.«

»Und wenn Ihr im Dunklen gestolpert und durch dieses verdrehte Tor gefallen wärt?« fragte Moiraine trocken.

»Dazu muß man die Macht nicht gebrauchen; es genügt, wenn man hindurchgeht.«

»Zu welchem Zweck?« fragte Nynaeve.

»Um Antworten zu erhalten. Drei Antworten, jede davon wahr, über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.«

Elayne dachte unwillkürlich an die Kindergeschichte Bili unter dem Hügel, aber nur der drei Antworten wegen. Ein zweiter Gedanke folgte dem jedoch, und das offensichtlich nicht nur bei ihr. Sie sprach ihn bereits aus, während Nynaeve und Egwene den Mund noch nicht ganz

aufbekamen: »Moiraine, das löst unser Problem. Wir können fragen, ob Joiya oder Amico die Wahrheit gesagt haben. Wir können fragen, wo sich Liandrin und die anderen aufhalten. Die Namen der Schwarzen Ajah, die sich noch in der Burg befinden...«

»Wir können fragen, was das ist, das für Rand so gefährlich sein soll«, warf Egwene ein, und Nynaeve setzte die Liste fort: »Warum habt Ihr uns davon nicht früher berichtet? Warum mußten wir uns Tag für Tag die gleichen Geschichten anhören, wenn wir alles längst hätten entscheiden können?«

Die Aes Sedai verzog das Gesicht und hob abwehrend die Hände. »Ihr drei wollt blind in etwas hineinrennen, wo Lan mit hundert Behütern noch größte Vorsicht walten lassen würde. Warum, glaubt Ihr, bin ich selbst noch nicht hindurchgeschritten? Schon vor Tagen hätte ich fragen können, was Rand tun muß, um zu überleben und zu siegen, wie er die Verlorenen und den Dunklen König schlagen kann, wie er lernen kann, die Macht zu beherrschen und den Wahnsinn lange genug von sich fernzuhalten, bis er vollbracht hat, was sein muß.« Sie wartete, die Hände in die Hüften gestützt, während ihre Worte wirkten. Keine sagte ein Wort. »Es gibt Regeln«, fuhr sie fort, »und Gefahren. Niemand darf mehr als einmal hindurchtreten. Nur ein einziges Mal. Ihr dürft drei Fragen stellen, aber Ihr müßt alle drei gestellt und die Antworten vernommen haben, bevor ihr wieder hinausgehen dürft.

Fragen, die Ihr nicht ernst gemeint habt, werden anscheinend bestraft, aber es scheint auch, daß, was dem einem ernst ist, bei einem anderen wieder als Anmaßung betrachtet wird. Und was am wichtigsten ist: Fragen, die den Schatten betreffen, ziehen ernste Konsequenzen nach sich.

Wenn Ihr eine Frage in bezug auf die Schwarzen Ajah stellt, könnte es sein, daß Ihr tot herausfallt oder als geifernde Irre, falls Ihr überhaupt noch einmal heraus-kommt. Was Rand betrifft... Ich glaube nicht, daß es möglich ist, eine Frage über den Wiedergeborenen Drachen zu stellen, die nicht in irgendeiner Form auch den Schatten berührt. Merkt Ihr etwas? Es gibt manchmal gute Gründe für Vorsicht.«

»Woher wißt Ihr das alles?« verlangte Nynaeve zu wissen. Sie stützte die Hände in die Hüften und baute sich vor der Aes Sedai auf. »Die Hochlords haben garantiert keine Aes Sedai an die Große Sammlung herangelassen, um die Gegenstände zu untersuchen. Dem Schmutz dort unten nach zu urteilen, hat nichts davon seit hundert Jahren oder länger das Licht der Sonne erblickt.«

»Länger, denke ich«, antwortete Moiraine gelassen. »Sie haben mit Sammeln vor beinahe dreihundert Jahren aufgehört. Und gerade kurz davor haben sie diesen besonderen Ter'Angreal in die Hände bekommen. Bis dahin war er im Besitz der Ersten von Mayene, die seine Antworten dazu benutzten, um Mayene vor der Herrschaft Tears zu bewahren. Und sie hatten den Aes Sedai gestattet, ihn zu untersuchen. Geheim natürlich. Mayene hat nie gewagt, Tear offen zu verärgern.«

»Wenn er für Mayene so wichtig war«, sagte Nynaeve mißtrauisch, »warum befindet er sich dann hier im Stein?«

»Weil die Ersten sowohl richtige wie auch falsche Entscheidungen getroffen haben, wenn es um die

Abhängigkeit von Tear ging. Vor dreihundert Jahren planten die Hochlords den Bau einer Flotte, die den Schiffen Mayenes folgen sollte, um die Ölfisch-Schwärme aufzuspüren. Halvar, der zu dieser Zeit der Erste war, hob den Preis für Lampenöl aus Mayene stark an, so daß es teurer war als das Olivenöl Tears, und um die Hochlords des weiteren davon zu überzeugen, daß Mayene die Interessen Tears über die eigenen stellt, schenkte er ihnen diesen Ter'Angreal. Er hatte ihn bereits benützt, und so konnte er ihn nicht mehr gebrauchen. Außerdem war er fast genauso jung wie Berelain jetzt, hatte offensichtlich eine lange Herrschaftsperiode vor sich, und würde den guten Willen Tears viele Jahre lang benötigen.«

»Er war ein Narr«, murmelte Elayne. »Meine Mutter hätte einen solchen Fehler niemals begangen.«

»Vielleicht nicht«, sagte Moiraine. »Aber Andor ist eben auch kein kleines Land, das von einem viel größeren und mächtigeren an die Wand gedrückt wird. Halvar war tatsächlich ein Narr, wie sich herausstellte, denn die Hochlords ließen ihn nur ein Jahr später ermorden, aber sein Fehler verschafft mir eine Möglichkeit, die ich ausnützen werde, wenn es sich als notwendig erweist. Eine gefährliche Chance vielleicht, aber besser als nichts.«

Nynaeve knurrte etwas in sich hinein. Möglicherweise war sie enttäuscht darüber, daß die Aes Sedai nicht ins Stolpern geraten war.

»Das bringt uns auf den gleichen Stand von vorher zurück«, seufzte Egwene. »Nicht zu wissen, welche von beiden lügt, oder ob sie vielleicht sogar beide lügen.«

»Verhört sie noch einmal, wenn Ihr wünscht«, sagte Moiraine. »Ihr habt Zeit, bis sie sich auf dem Schiff befinden, aber ich bezweifle, daß eine von ihnen ihre Geschichte noch einmal revidieren wird. Mein Rat wäre, Euch auf Tanchico zu konzentrieren. Wenn Joiya die Wahrheit sagt, brauchen wir Aes Sedai und Behüter, um Mazrim Taim zu bewachen, und nicht nur Euch drei. Ich habe der Amyrlin eine Warnung per Brieftaube zukommen lassen, als ich Joiyas Geschichte das erste Mal hörte. Ich habe sogar drei Brieftauben abgeschickt, um sicher zu gehen, daß eine davon die Burg erreicht.«

»Sehr nett von Euch, daß Ihr uns immer so gut

informiert«, knurrte Elayne. Diese Frau ging wohl immer ihren eigenen Weg. Nur, weil sie lediglich vorgaben, bereits Aes Sedai zu sein, mußte sie sie ja nicht derart im Dunkeln lassen. Schließlich waren sie von der Amyrlin geschickt worden, um die Schwarzen Ajah aufzuspüren.

Moiraine neigte kurz den Kopf, als akzeptiere sie den Dank ernsthaft. »Ist schon in Ordnung. Denkt aber daran, daß Ihr die Jagdhunde seid, die von der Amyrlin auf die Spur der Schwarzen Ajah angesetzt wurden.« Ihr leichtes Lächeln sagte Elayne, daß Moiraine genau wußte, was sie gedacht hatte. »Die Entscheidung, wohin Euch diese Jagd führen soll, ist allein Eure. Das habt Ihr mir ja bereits klargemacht«, fügte sie trocken hinzu. »Ich denke, diese Entscheidung wird leichter als die, vor der ich stehe. Und ich hoffe, Ihr werdet gut schlafen, obwohl bis

Tagesanbruch nicht mehr viel Zeit ist. Gute Nacht!«

»Diese Frau...«, fauchte Elayne, als sich die Tür hinter der Aes Sedai geschlossen hatte. »Manchmal könnte ich sie fast erwürgen.« Sie ließ sich auf einen der Stühle am Tisch fallen, legte die Hände in den Schoß und saß mit nachdenklich gerunzelter Stirn da.

Nynaeve knurrte etwas, das wohl Zustimmung bedeuten sollte, und ging zu einem kleinen Tischchen an der Wand hinüber, auf dem einige Silberpokale neben Gewürzbe-hältern standen. Auch zwei Krüge standen dort. Der eine war mit Wein gefüllt und ruhte in einer Schüssel mit mittlerweile fast geschmolzenem Eis, wie es vom Rückgrat der Welt aus in Sägemehl eingepackt hertransportiert wurde. Eis für die Getränke der Hochlords, und das bei den Temperaturen in Tear. Elayne hatte sich das vorher kaum vorstellen können.

»Ein kühles Getränk vor dem Einschlafen wird uns gut tun«, sagte Nynaeve. Sie füllte drei Pokale mit Wein und fügte Wasser und Gewürze hinzu.

Elayne hob den Kopf, als Egwene sich neben sie setzte.

»War das ernst, was du vorhin gesagt hast, Egwene? Mit Rand?« Egwene nickte, und Elayne seufzte auf. »Erinnerst du dich daran, was Min immer gesagt hat? All ihre Scherze darüber, ihn miteinander zu teilen? Ich habe mich schon gefragt, ob sie etwas gesehen hat, wovon sie uns nichts erzählte. Ich glaubte, sie meinte damit, daß wir beide ihn lieben und sie davon wisse. Aber du hattest ein Recht auf ihn, und ich wußte nicht, was tun. Ich weiß es immer noch nicht. Egwene, er liebt dich.«

»Man muß ihm den Kopf zurechtrücken«, sagte Egwene mit fester Stimme. »Wenn ich heirate, wird es geschehen, weil ich es will und nicht bloß, weil ein Mann vor mir erwartet, daß ich ihn liebe. Ich werde es ihm sanft beibringen, Elayne, aber noch bevor ich mit ihm fertig bin, wird er wissen, daß er frei ist. Ob er will oder nicht. Meine Mutter sagt, daß sich Männer von uns unterscheiden. Sie sagt, wir wollen lieben, aber nur den, den wir uns in den Kopf gesetzt haben. Ein Mann muß sich zuerst verlieben, aber das wird bereits bei der ersten Frau geschehen, die sein Herz an die Kette legt.«

»Das ist alles schön und gut«, sagte Elayne nervös,

»aber Berelain befand sich in seinen Gemächern.«

Egwene schniefte. »Was sie auch vorhat – Berelain kann sich nicht lange genug mit einem Mann aufhalten, daß er sich auch wirklich in sie verliebt. Vor zwei Tagen hat sie noch Rhuarc schöne Augen gemacht. In zwei Tagen wird sie ihr Auge auf jemand anderen werfen. Sie ist wie Else Grinwell. Erinnerst du dich noch an sie? Die Novizin, die ständig draußen auf dem Übungsgelände war und den Behütern schöne Augen machte?«

»Sie hat ihm aber nicht bloß schöne Augen gemacht in seinem Schlafzimmer und um diese Zeit! Sie hat sogar noch weniger Kleidung als sonst getragen, falls das überhaupt möglich ist.«

»Willst du ihn denn ihr überlassen?«

»Nein!« Elayne sagte das wild entschlossen, aber schon im nächsten Moment versank sie wieder in tiefste Verzweiflung. »Ach, Egwene, ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich liebe ihn. Ich möchte ihn heiraten. Licht!

Was wird Mutter dazu sagen? Ich würde lieber eine Nacht in Joiyas Zelle verbringen, als mir anhören, was Mutter mir zu sagen haben wird.« Adlige in Andor, selbst Mitglieder der königlichen Familie, heirateten öfter Gemeine und das erregte kaum viel Aufsehen. Aber Rand war nicht gerade von der üblichen Sorte. Ihre Mutter war durchaus im Stande, Lini zu ihr zu schicken, daß sie sie am Ohr packte und nach Hause schleifte.

»Morgase darf gar nicht viel sagen, wenn man Mat glauben kann«, sagte Egwene beruhigend. »Oder wenn man ihm auch nur die Hälfte glauben kann. Dieser Lord Gaebril, mit dem deine Mutter herummacht, klingt auch nicht unbedingt nach der Sorte von Mann, die eine Frau bei klarem Verstand erwählt.«

»Ich bin sicher, daß Mat übertrieben hat«, erwiderte Elayne pikiert. Ihre Mutter war doch wohl zu clever, um sich eines Mannes wegen zum Narren zu machen. Sie hatte noch nie von dem Burschen gehört, bevor Mat davon erzählte. Falls dieser Lord Gaebril davon träumte, durch Morgase an Macht zu gewinnen, dann würde er eines Tages ziemlich unsanft geweckt werden.

Nynaeve brachte die drei Pokale mit Gewürzwein zu ihrem Tisch herüber. An den glänzenden Bechern lief das Kondenswasser herunter. Sie legte kleine grüngoldene Strohuntersetzer unter die Pokale, damit keine Feuchtigkeit auf die hochglänzende Tischfläche kam. »Also«, sagte sie, während sie sich hinsetzte, »du hast herausgefunden, daß du in Rand verliebt bist, Elayne, und du, Egwene, hast herausgefunden, daß du ihn nicht liebst.«

Die beiden jüngeren Frauen, die eine dunkel, die andere blond, starrten sie mit offenem Mund an – jede ein Spiegelbild der Überraschung der anderen.

»Ich habe Augen im Kopf«, sagte Nynaeve friedlich.

»Und Ohren, wenn ihr euch schon nicht die Mühe macht, zu flüstern.« Sie schlürfte ein wenig Wein und ihr Tonfall wurde kälter, als sie fortfuhr: »Was wollt ihr nun in bezug auf ihn unternehmen? Falls diese Schlampe Berelain ihre Klauen in ihn geschlagen hat, wird es nicht einfach werden, sie wieder wegzureißen. Seid ihr sicher, daß es die Mühe wert ist? Ihr wißt, was er ist. Ihr wißt, was ihm bevorsteht, die Prophezeiungen einmal ganz beiseite gelassen.

Wahnsinn. Tod. Wie lange hat er noch? Ein Jahr? Zwei?

Oder wird es anfangen, bevor noch der Sommer endet? Er ist ein Mann, der die Macht gebrauchen kann.« Jedes Wort klang wie ein Schlag mit dem Hammer auf den Amboß.

»Denkt daran, was man euch beigebracht hat. Denkt daran, was er ist.«

Elayne hatte den Kopf hoch erhoben und sah Nynaeve in die Augen. »Es spielt keine Rolle. Vielleicht sollte es, aber

– nein. Vielleicht bin ich eine Närrin. Es ist mir gleich. Ich kann mein Herz nicht zwingen, wie mein Verstand zu urteilen, Nynaeve.«

Plötzlich lächelte Nynaeve. »Ich mußte sichergehen«, sagte sie mit warmer Stimme. »Du mußt dir sicher sein. Es ist wahrhaftig nicht leicht, einen Mann zu lieben, aber diesen einen Mann zu lieben wird noch viel schwerer.« Ihr Lächeln verflog beim Weitersprechen. »Meine erste Frage ist aber noch unbeantwortet. Was wollt ihr seinetwegen unternehmen? Berelain wirkt wohl sehr sanft, und sie will ja, daß die Männer sie so sehen, doch ich glaube nicht daran. Sie wird um das kämpfen, was sie haben will. Und sie ist die Art von Frau, die um etwas mit letztem Einsatz kämpfen wird – selbst wenn sie gar nicht so sehr daran interessiert ist – nur damit eine andere es nicht bekommt!«

»Ich würde sie gern in ein Faß stecken«, sagte Egwene.

Sie packte ihren Pokal, als sei es der Hals der Ersten von Mayene. »Und dann schicke ich es nach Mayene zurück.

Ganz unten im Laderaum.«

Nynaeves Zopf schwenkte herum, als sie den Kopf schüttelte. »Alles schön und gut, aber bemühe dich lieber, einen Rat zu erteilen, der tatsächlich hilft. Wenn du das nicht kannst, halte lieber den Mund und laß sie selbst entscheiden, was zu tun ist.« Egwene sah sie mit großen Augen an, und so fügte sie hinzu: »Jetzt ist Rand Elaynes Angelegenheit und nicht mehr deine. Du bist

zurückgetreten, falls du dich noch daran erinnerst.«

Die Bemerkung hätte eigentlich Elayne zum Lächeln bringen sollen, tat es aber nicht. »Das hätte alles anders ablaufen sollen.« Sie seufzte. »Ich glaubte, ich würde einen Mann kennenlernen, über Monate oder Jahre hinweg kennenlernen, wohlgemerkt, und schließlich erkennen, daß ich ihn liebe. So hatte ich mir das immer vorgestellt. Ich kenne Rand ja kaum. Ich habe mich innerhalb eines Jahres vielleicht gerade ein halbes Dutzend Male mit ihm unterhalten. Aber ich wußte, daß ich ihn liebe, fünf Minuten, nachdem ich ihn das erste Mal erblickt hatte.«

Das war nun wirklich närrisch. Nur war ihr das gleich, denn es entsprach nun mal der Wahrheit. Das würde sie auch ihrer Mutter ins Gesicht sagen und Lini ebenso. Nun, Lini vielleicht nicht. Die hatte ihre eigene Art, mit dem fertigzuwerden, was sie als Idiotie betrachtete, und sie schien zu glauben, Elayne sei immer noch nicht älter als zehn. »Wie die Dinge liegen, habe ich aber noch nicht einmal das Recht, auf ihn wütend zu sein. Oder auf Berelain.« Trotzdem war sie es. Ich würde ihm gern eine verpassen, daß ihm die Ohren ein Jahr lang klingeln! Sie würde ich gern mit der Rute zu dem Schiff treiben, das sie nach Mayene zurückbringt! Nur hatte sie kein Recht dazu, und das machte alles viel schlimmer. Sie war wütend auf sich selbst, und ihre Stimme klang ziemlich kläglich: »Was kann ich denn machen? Er hat mich nie wirklich beachtet.«

»An den zwei Flüssen«, sagte Egwene bedächtig, »ist es so: Wenn eine Frau einem Mann zeigen will, daß sie sich für ihn interessiert, steckt sie ihm an Bel Tein oder am Sonnentag Blumen ins Haar. Oder sie stickt ein schönes Festtagshemd für ihn. Oder sie bittet gerade ihn zum Tanz und niemand anderen.« Elayne sah sie fast mitleidig an und so fügte sie schnell hinzu: »Ich will damit ja nicht vorschlagen, daß du ihm ein Hemd bestickst, aber es gibt Methoden, ihm zu zeigen, was du fühlst.«

»Die Leute in Mayene sprechen alles offen aus.«

Elaynes Stimme klang scharf. »Vielleicht ist das das Beste.

Es ihm einfach geradeheraus zu sagen. Dann weiß er wenigstens, was ich für ihn empfinde. Dann habe ich wenigstens ein Recht darauf...«

Sie schnappte sich ihren Pokal, legte den Kopf zurück und trank mit langen Zügen. So etwas einfach

aussprechen? Wie so eine Mayene-Hure? Als sie den leeren Pokal auf den Untersetzer zurückstellte, atmete sie tief ein und murmelte: »Was wird nur Mutter dazu sagen?«

»Was wichtiger wäre«, stellte Nynaeve sanft fest, »ist, was du tun wirst, wenn wir von hier fortmüssen. Ob nun nach Tanchico oder zur Burg oder sonstwohin, gehen müssen wir auf jeden Fall. Was machst du, wenn du fortmußt, kaum daß du ihm beigebracht hast, wie sehr du ihn liebst? Wenn er dich bittet zu bleiben? Wenn du das möchtest?«

»Ich werde mitkommen.« Elaynes Antwort kam ohne Zögern, beinahe sogar ein wenig gekränkt. Die andere hätte wirklich nicht fragen brauchen. »Wenn ich schon akzeptieren muß, daß er der Wiedergeborene Drache ist, muß er mich auch als das akzeptieren, was ich bin, und daß ich Aufgaben zu erfüllen habe. Ich will Aes Sedai werden, Nynaeve. Das sage ich nicht nur so leichthin. Und wir drei haben eine wichtige Arbeit zu erledigen. Hast du im Ernst geglaubt, ich würde dich und Egwene im Stich lassen?«

Egwene beeilte sich, ihr zu versichern, der Gedanke sei ihr niemals gekommen, und Nynaeve schloß sich dem an, doch langsam genug, um selbst ihre eigene Lüge besser schlucken zu können.

Elayne blickte von der einen zur anderen. »In

Wirklichkeit habe ich gefürchtet, ihr würdet mir Vorwürfe machen, weil ich mich mit so etwas beschäftige, obwohl wir doch wahrhaftig genug mit den Schwarzen Ajah am Hals haben.«

Egwenes unsteter Blick verriet, daß sie daran tatsächlich gedacht hatte, aber Nynaeve sagte: »Rand ist nicht der einzige, der nächstes Jahr oder auch nächsten Monat sterben könnte. Das kann auch uns widerfahren. Die Zeiten sind nicht so wie früher, und auch wir müssen dem Rechnung tragen und uns ändern. Wenn du nur dasitzt und von dem träumst, was du gern haben möchtest, kann es geschehen, daß du es auf dieser Seite des Todes nicht mehr findest.«

Das war schon eine erschreckende Art von Bestätigung, aber Elayne nickte. Sie würde sich nicht wie eine dumme Gans anstellen. Wenn sie die Sache mit den Schwarzen Ajah nur schnell hinter sich bringen könnten. Sie drückte den leeren Silberpokal gegen ihre Stirn und genoß die Kühle. Was sollten sie nur tun?

KAPITEL 7

Spiel mit dem Feuer

Die Sonne hatte sich am nächsten Morgen kaum über den Horizont erhoben, da erschien Egwene am Eingang zu Rands Gemächern. Elayne folgte ihr schlurfend. Die Tochter-Erbin trug ein blaßblaues Seidenkleid mit langen Ärmeln. Es war der tairenischen Mode entsprechend schulterfrei, und nach langer Diskussion hatte sie es noch ein wenig heruntergezogen. Das Blau ihrer Augen wurde noch unterstrichen von einer Halskette aus Saphiren von der Farbe des Morgenhimmels und einer weiteren solchen Kette, die sie durch ihre rotgoldenen Locken gezogen hatte.

Trotz der Wärme trug Egwene einen einfachen,

dunkelroten Schal, beinahe so breit wie eine Stola, um die Schultern. Aviendha hatte ihr den gegeben, genauso wie die Saphire. Überraschenderweise besaß die Aielfrau einen ganzen Vorrat an Schmuck.

Obwohl sie ja um ihre Anwesenheit gewußt hatte, erschrak Egwene doch, als die Aiel-Wachen plötzlich geschmeidig aufsprangen. Elayne gab ein kurzes Keuchen von sich, aber dann musterte sie die Wachen würdevoll, wie sie das so gut beherrschte. Es schien aber auf diese sonnenverbrannten Männer keine Wirkung zu haben. Die sechs waren Shae'en M'taal, Steinhunde, und erschienen für Aiel geradezu entspannt. Das hieß, sie schienen gleichzeitig alles wahrzunehmen und bereit zu sein, in jeder Richtung losschlagen.

Egwene machte es Elayne nach und richtete sich gerade auf. Sie wünschte, sie könne das so gut wie die Tochter-Erbin. Dann verkündete sie: »Ich... wir wollen nach den Wunden des Lord Drachen sehen.«

Ihre Bemerkung war an sich dumm, falls sie etwas über die Heilkräfte der Aes Sedai wußten, aber das war eher unwahrscheinlich. Nur wenige Menschen wußten darüber Bescheid und die Aiel möglicherweise noch weniger als andere. Sie hatte gar nicht geplant, einen Grund für ihre Anwesenheit zu nennen. Es genügte schon, daß sie sie für Aes Sedai hielten. Aber als sich die Aiel mit einemmal beinahe aus dem schwarzen Marmorboden zu erheben schienen, hielt sie es doch für besser. Nicht, daß sie irgendwelche Anstalten machten, Elayne und sie

aufzuhalten. Doch diese Männer waren alle so groß, hatten solch steinharte Gesichter und trugen diese Kurzspeere und Hornbögen, als wäre deren Gebrauch ihre zweite Natur...

Wenn man von diesen grauen Augen so eindringlich gemustert wurde, erinnerte man sich nur zu schnell an die Geschichten über schwarzverschleierte, gnaden- und mitleidslose Aiel, an den Aielkrieg und Männer wie diese, die jedes gegen sie ausgesandte Heer bis hin zum letzten vernichteten und erst in ihre Wüste zurückgekehrt waren, nachdem sie das Heer der vereinigten Nationen während dreier blutgetränkter Tage und Nächte vor den Mauern Tar Valons zurückgeschlagen hatten. Beinahe hätte sie Saidar gesucht.

Gaul, der Anführer der Steinhunde, nickte. Er blickte voller Respekt auf Elayne und sie herab. Er war ein gutaussehender Mann, wenn er auch etwas rauh in der Schale wirkte, ein wenig älter als Nynaeve, mit Augen, so grün wie geschliffene Gemmen, und langen Wimpern, die so dunkel waren, daß sie wie ein schwarzer Kontrapunkt die Farbe seiner Augen zur Geltung brachten. »Sie schmerzen ihn möglicherweise noch. Er hat heute morgen ganz schlechte Laune.« Gaul grinste. Es war nur ein kurzes Aufblitzen weißer Zähne. Aber er hatte Verständnis für schlechte Launen, wenn man verwundet war und

Schmerzen ausstehen mußte. »Er hat bereits eine Gruppe dieser Hochlords verjagt und einen davon sogar persönlich hinausgeworfen. Wie hieß er gleich wieder?«

»Torean«, antwortete ein anderer, noch größerer Mann.

Er hielt lässig seinen kurzen Bogen mit aufgelegtem Pfeil in der Hand. Der Blick aus seinen grauen Augen ruhte einen Moment lang auf den beiden Frauen und huschte dann zurück zu den Säulen des Vorraums und den dunklen Zwischenräumen, die er unter Beobachtung halten mußte.

»Torean«, bestätigte Gaul. »Ich glaubte schon, er werde bis zu diesen hübschen Schnitzereien hinüberrutschen...«

Er deutete mit dem Speer auf die Gruppe strammstehender Verteidiger, die sich nicht vom Fleck rührte. »... aber drei Schritt davor war die Rutschpartie zu Ende. Ich habe einen schönen tairenischen Wandbehang mit Habichten aus Goldfäden an Mangin verloren.« Der größere Mann lächelte kurz und zufrieden.

Egwene riß die Augen auf, als sie sich vorstellte, wie Rand persönlich einen Hochlord auf den Flur beförderte. Er hatte nie zu Gewalt geneigt – ganz im Gegenteil! Inwieweit hatte er sich verändert? Sie war zu sehr mit Joiya und Amico beschäftigt gewesen und er zu sehr mit Moiraine oder Lan oder den Hochlords, als daß sie mehr als ein paar Worte im Vorübergehen gewechselt hätten. Und in diesen kurzen Gesprächen war es um die Heimat gegangen, wie wohl das Bel-Tein-Fest dieses Jahr ausgefallen sein mochte und wie es am Sonnentag würde. Alles nur hastig und nebenher. Inwieweit hatte er sich wohl verändert?

»Wir müssen zu ihm«, sagte Elayne mit leicht zitternder Stimme.

Gaul verbeugte sich und stellte einen Speer mit der Spitze nach unten auf den schwarzen Marmorboden.

»Selbstverständlich, Aes Sedai.«

So betrat Egwene Rands Gemächer mit einem unangenehmen Gefühl im Magen und Elaynes Gesicht sprach Bände, welche Überwindung sie diese wenigen Schritte kostete.

Vom Schrecken der vergangenen Nacht war nichts mehr zu entdecken, außer vielleicht der Abwesenheit von Spiegeln. Helle Flecken an der Wand zeigten, wo welche abgenommen worden waren. Der Raum wirkte trotzdem keineswegs ordentlich; überall lagen Bücher, auf jeder möglichen Fläche, manche davon geöffnet, als habe er sie beim Nachlesen einfach liegen lassen. Das Bett war auch noch nicht gemacht. An allen Fenstern hatte er die tiefroten Vorhänge weggezogen. Sie zeigten nach Westen und erlaubten den Blick auf die Schlagader Tears: den Fluß.

Callandor glitzerte wie ein geschliffener Kristall von einem hohen, vergoldeten und überreich verzierten Ständer herunter. Egwene hielt ihn für das kitschigste und häßlichste Objekt, das je einen Raum hatte schmücken sollen, bis sie auf dem Kaminsims die silbernen Wölfe erblickte, die einen goldenen Hirsch rissen. Das war denn doch noch schlimmer. Eine leichte Brise vom Fluß her kühlte den Raum überraschend stark ab, wenn man es mit dem übrigen Stein verglich.

Rand lag in Hemdsärmeln auf einem Stuhl, hatte ein Bein über die Lehne gehängt und ein ledergebundenes Buch an sein Knie gestützt. Beim Geräusch ihrer Schritte klappte er das Buch zu und ließ es zu den anderen auf den mit Runen verzierten Teppich fallen. Er sprang

kampfbereit auf. Doch der düstere Gesichtsausdruck hellte sich auf, sobald er sah, wer ihn besuchte.

Zum erstenmal, seit sie sich im Stein aufhielten, suchte Egwene in seinem Gesicht nach Veränderungen und fand sie auch.

Wie viele Monate war es her, seit sie ihn zum letztenmal vor den Erlebnissen im Stein gesehen hatte? Lange genug jedenfalls, um sein Gesicht härter erscheinen zu lassen. Die Offenheit, die einst in seinen Zügen gelegen hatte, war verblaßt. Er bewegte sich auch anders – ein bißchen wie Lan, ein bißchen wie die Aiel. Bei seiner Größe, dem rötlichen Haar und den je nach Beleuchtung einmal blau und dann wieder grau erscheinenden Augen wirkte er nur zu sehr wie ein Aielmann. Die Ähnlichkeit war

beunruhigend. Doch hatte er sich auch innerlich verändert?

»Ich glaubte, jemand... anders käme«, murmelte er in die allgemeine Verlegenheit hinein. Das war wieder der Rand, wie sie ihn kannte, bis hin zu den geröteten Wangen, jedesmal, wenn er Elayne oder sie direkt anblickte.

»Manche... manche Leute wollen Dinge, die ich ihnen nicht geben kann. Nicht geben werde.« Mit erschreckender Plötzlichkeit wandelte sich sein Gesichtsausdruck zu einer Maske des Mißtrauens und sein Tonfall verschärfte sich:

»Was wollt ihr denn nun? Hat Moiraine euch geschickt?

Sollt ihr mich dazu bringen, daß ich tue, was sie will?«

»Sei kein Idiot«, entschlüpfte es Egwene, bevor sie sich unter Kontrolle hatte. »Ich will auf keinen Fall, daß du einen Krieg anfängst.«

Elayne fügte bittend hinzu: »Wir sind gekommen, um...

um dir zu helfen, wenn wir können.« Das war auch einer ihrer Gründe und der am leichtesten einsehbare. Dazu hatten sich beim Frühstück entschieden.

»Ihr kennt ihre Pläne bezüglich...«, fing er grob an, doch dann wechselte er mit einem Mal das Thema. »Mir helfen?

Wie? Das sagt Moiraine auch immer.«

Egwene faltete mit strengem Blick die Arme unter der Brust und packte fest ihren Schal, so wie Nynaeve das immer getan hatte, wenn sie vor der Ratsversammlung des Dorfes gesprochen hatte und sich unbedingt durchsetzen wollte, gleich, wie stur sie auch sein mochten. Jetzt war es zu spät, noch einmal von vorn zu beginnen. Es blieb ihr nur übrig, auf dem einmal eingeschlagenen Weg fortzufahren.

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich nicht wie ein Narr benehmen, Rand al'Thor! Die Leute aus Tear küssen dir ja vielleicht die Stiefel, aber ich erinnere mich nur zu gut daran, wie dir Nynaeve einmal das Hinterteil versohlt hast, als du dich von Mat hattest überreden lassen, einen Krug Apfelschnaps zu stehlen.« Elayne bemühte sich, ihr Gesicht nicht zu verziehen. Zuviel der Mühe. Egwene konnte deutlich sehen, wie sie sich das Lachen verbiß.

Rand bemerkte das natürlich nicht. Männern entging so etwas gewöhnlich. Er grinste Egwene an und hätte selbst beinahe laut losgelacht. »Da waren wir gerade dreizehn geworden. Sie hat uns hinter dem Stall deines Vaters schlafend gefunden, und uns taten die Köpfe so weh, daß wir ihre Rute kaum gespürt haben.« So war das aber Egwenes Erinnerungen nach nicht gewesen. »Im Gegensatz zu dem Tag, als du ihr diese Schüssel an den Kopf geworfen hast. Denkst du noch daran? Sie hatte dich mit Hundskrauttee beruhigt, nachdem du die ganze Woche liebeskrank herumgehangen hattest, und mit dem

Geschmack auf der Zunge hast du ihre beste Schüssel genommen und nach ihr geworfen. Licht, hast du vielleicht gekreischt! Wann war das? Muß fast zwei Jahre her sein...«

»Wir sind nicht hier, um über alte Zeiten zu klatschen«, sagte Egwene und rückte unangenehm berührt ihren Schal zurecht. Die Wolle war zwar nur dünn, aber dennoch zu heiß. Er erinnerte sich tatsächlich an die unmöglichsten Sachen.

Er grinste, als habe er ihre Gedanken erraten, und fuhr erheblich besser gelaunt fort: »Ihr seid hier, um mir zu helfen, sagt ihr? Womit? Ich nehme nicht an, daß ihr wißt, wie man einen Hochlord dazu bringt, sein Wort zu halten, sobald man ihm nicht mehr über die Schulter schaut. Oder wie man unerwünschte Träume abbricht. Ich könnte nun wirklich Hilfe gebrauchen bei...« Sein Blick wanderte zu Elayne und dann zurück zu ihr. Er wechselte abrupt wieder das Thema. »Wie ist das mit der Alten Sprache? Habt ihr die in der Weißen Burg gelernt?« Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern kramte statt dessen zwischen den auf dem Teppich verstreuten Büchern herum. Auf den Stühlen und den zerknüllten Bettüchern lagen noch mehr. »Ich habe hier ein Exemplar... irgendwo... von...«

»Rand.« Egwene wiederholte es noch einmal lauter:

»Rand, ich kann die Alte Sprache nicht lesen.« Sie warf Elayne einen Blick zu, der sie warnen sollte, ihre Kenntnisse nicht preiszugeben. Sie waren nicht gekommen, um für ihn die Prophezeiungen des Drachen zu übersetzen.

Die Saphire im Haar der Tochter-Erbin schwangen hin und her, als sie zustimmend nickte. »Wir mußten andere Sachen lernen.«

Er richtete sich seufzend auf. »Es wäre auch zuviel des Guten gewesen.« Einen Moment lang schien er noch etwas sagen zu wollen, doch dann blickte er nur auf seine Stiefel herunter. Egwene fragte sich, wie er es fertiggebracht hatte, diese arroganten Hochlords hinauszuwerfen, wenn Elayne und sie ihn bereits aus dem Gleichgewicht brachten.

»Wir sind gekommen, um dir bei der Beherrschung der Macht zu helfen«, sagte sie zu ihm. Man hielt wohl allgemein Moiraines Behauptung für wahr, daß eine Frau einem Mann das Lenken der Macht genausowenig

beibringen konnte wie das Kinderkriegen, doch Egwene war sich da nicht so sicher. Sie hatte einmal etwas gespürt, was aus Saidin gewoben war. Oder richtiger, sie hatte nichts gefühlt, wo etwas hätte sein sollen. Ihre eigenen Machtströme waren abgeblockt gewesen wie von einem Damm, der das Wasser zurückhält. Aber sie hatte sowohl in der Burg wie auch außerhalb vieles gelernt, und sicher war irgend etwas dabei, was sie ihm vermitteln konnte, eine Anleitung, die sie ihm geben konnte.

»Falls uns das möglich ist«, fügte Elayne hinzu.

Mißtrauen flackerte wieder über sein Gesicht. Es war nervtötend, wie schnell seine Launen wechselten. »Da sind meine Chancen ja noch besser, ein Buch in der Alten Sprache zu lesen, als... Seid ihr sicher, nicht in Moiraines Auftrag zu handeln? Hat sie euch hergeschickt? Glaubt, sie kann mich auf einem Umweg herumkriegen, ja? Eine so geschickt gesponnene Intrige der Aes Sedai, daß ich nichts merke, bis ich schon mittendrin stecke?« Er knurrte empört und hob eine dunkelgrüne Jacke vom Boden hinter einem der Stühle auf. Hastig zog er ihn an. »Ich habe zugestimmt, heute morgen noch ein paar weitere Hochlords zu empfangen. Wenn ich sie nicht ständig im Auge behalte, finden sie irgendeinen Weg, sich um meine Anordnungen herumzudrücken. Sie werden noch einiges zu lernen haben.

Ich herrsche jetzt in Tear. Der Wiedergeborene Drache.

Das muß ich ihnen noch beibringen. Jetzt müßt ihr mich entschuldigen.«

Egwene hätte ihn am liebsten geschüttelt. Er herrschte in Tear? Nun ja, vielleicht war dem so, aber sie erinnerte sich noch an den Jungen mit einem Lamm, das er unter den Mantel gesteckt hatte, und wie stolz er darauf gewesen war, daß er den Wolf vertrieben hatte, der es reißen wollte. Er war Schafhirte und kein König, und selbst wenn er ein Recht auf ein gewisses Auftreten hatte, stand ihm das ganz und gar nicht zu Gesicht.

Sie war drauf und dran, ihm das zu sagen, als Elayne zornig herausplatzte: »Niemand hat uns geschickt.

Niemand! Wir sind gekommen, weil... weil uns etwas an dir liegt. Vielleicht klappt es nicht, aber du kannst es wenigstens versuchen. Wenn uns... soviel daran liegt, es zu probieren, dann kannst du dir wenigstens Mühe geben. Ist dir das so unwichtig, daß du keine Stunde dafür erübrigen kannst? Für dein eigenes Leben?«

Er hörte damit auf, seine Jacke zuzuknöpfen, und blickte die Tochter-Erbin einen Augenblick lang so intensiv an, daß Egwene sich schon vergessen wähnte. Dann riß er sich unter leichtem Zittern von Elayne los. Er sah Egwene an, trat von einem Fuß auf den anderen und senkte die Augen.

»Ich werde es versuchen«, sagte er kleinlaut. »Es wird nicht helfen, aber trotzdem... Was soll ich tun?«

Egwene atmete tief durch. Sie hatte nicht geglaubt, daß es so leicht würde, ihn zu überreden. Wenn er nicht wollte, war er immer wie ein Felsblock gewesen, der halb im Schlamm versunken war. Und das war viel zu oft der Fall gewesen.

»Sieh mich an«, sagte sie, wobei sie Saidar anzapfte. Sie ließ sich so vollständig von der Macht erfüllen, wie noch nie zuvor, sog jeden Tropfen des Stroms in sich auf, den sie überhaupt halten konnte. Es war, als durchdringe das Licht jedes Teilchen ihres Ichs, als fülle es jede Ritze in ihrem Inneren. Das Leben sprühte in ihr wie ein Feuerwerk. Noch nie zuvor hatte sie sich so der Macht hingegeben. Sie erschrak, als ihr klar wurde, daß sie nicht einmal bebte; wie sollte sie soviel zärtliche Süße auf einmal ertragen. Sie wollte sich dem ganz hingeben, tanzen und singen, sich niederlegen und die Macht einfach durch sich

hindurchbranden lassen. Sie zwang sich zum Sprechen:

»Was siehst du? Was fühlst du? Sieh mich an, Rand!«

Er hob langsam den Kopf. Die Stirn hatte er gerunzelt.

»Ich sehe dich. Was erwartest du, das ich sehen soll?

Berührst du die Wahre Quelle? Egwene, Moiraine hat hundertmal in meiner Gegenwart die Macht benützt, und ich habe niemals etwas gesehen außer der Wirkungen ihrer Tätigkeit. Das geht so nicht. Selbst ich weiß wenigstens soviel.«

»Ich bin stärker als Moiraine«, erklärte sie ihm selbstbewußt. »Sie läge wimmernd auf dem Boden oder wäre bereits bewußtlos, wenn sie soviel Macht in sich hielte wie ich jetzt.« Das stimmte, auch wenn sie noch nie zuvor die Fähigkeiten der Aes Sedai so eindeutig einzuschätzen versucht hatte.

Diese Macht durchpulste sie stärker als das Herzblut und verlangte danach, benutzt zu werden. Mit soviel Macht konnte sie Dinge tun, von denen Moiraine noch nicht einmal zu träumen in der Lage war. Die Wunde an Rands Seite, die Moiraine nie ganz heilen konnte. Sie wußte noch nicht, wie man Wunden heilte. Es war um vieles

komplizierter als alles, was sie bisher unternommen hatte.

Doch sie hatte Nynaeve beim Heilen zugesehen, und bei einem solchen Machtstrom in ihrem Innern konnte sie doch vielleicht herausfinden, wie man das anstellte. Nicht gleich selbst tun natürlich – nur herausfinden...

Vorsichtig sandte sie haarfeine Rinnsale der Elemente Luft, Wasser und Geist aus, die man zum Heilen benötigte, und fühlte damit nach seiner Wunde. Eine Berührung, und sie fuhr zurück, schauderte, riß ihr Machtgewebe fort, und ihr Magen revoltierte, als wolle sie sich endlos übergeben.

Es schien, als ob alle Dunkelheit der Welt dort in Rands Körper ruhe, als lauere alles Böse der Welt in dieser nur mit einer dünnen Hautschicht bedeckten Wunde. Etwas wie das hier würde die heilenden Rinnsale der Macht in sich aufsaugen wie trockener Sand den Wassertropfen. Wie konnte er diesen Schmerz ertragen? Wieso weinte er nicht ständig?

Vom ersten Gedanken daran bis jetzt war kaum ein Augenblick vergangen. Erschüttert und in dem

verzweifelten Versuch, ihre Gefühle zu verbergen, fuhr sie ohne Unterbrechung fort: »Du bist genauso stark wie ich.

Das weiß ich – es muß so sein. Fühle, Rand! Was fühlst du?« Licht, was könnte diese Wunde heilen? Kann sie überhaupt geheilt werden?

»Ich fühle überhaupt nichts«, sagte er und trat von einem Fuß auf den anderen. »Gänsehaut. Und das ist kein Wunder. Es ist ja nicht so, daß ich dir nicht trauen würde, Egwene. Aber ich kann mir nicht helfen: Ich bin immer kribbelig, wenn eine Frau in meiner Umgebung die Macht benützt. Tut mir leid.«

Sie machte sich nicht die Mühe, ihm den Unterschied zwischen dem Gebrauch der Macht und ihrer bloßen Berührung klarzumachen. Er wußte so vieles nicht, selbst wenn man es mit ihren eigenen mageren Kenntnissen verglich. Er war wie ein blinder Mann, der einen Webstuhl nach dem Gefühl allein bedienen wollte, ohne zu wissen, welche Farbe die Fäden hatten oder wie Fäden und Webstuhl überhaupt aussahen.

Mit Mühe ließ sie Saidar wieder fahren. Es kostete sie wirklich Mühe. Ein Teil von ihr wollte des Verlustes wegen weinen. »Jetzt berühre ich die Quelle nicht mehr, Rand.« Sie trat näher an ihn heran und blickte zu ihm auf.

»Hast du immer noch eine Gänsehaut?«

»Nein. Aber das ist nur, weil du es mir gesagt hast.« Er zuckte plötzlich die Achseln. »Siehst du? Ich habe daran denken müssen, und schon ist sie wieder da.«

Egwene lächelte triumphierend. Sie mußte sich gar nicht erst zu Elayne umdrehen, um zu bestätigen, was sie bereits gespürt hatte, worauf sie sich vorher schon für diesen Fall geeinigt hatten. »Du kannst es fühlen, wenn eine Frau die Quelle berührt, Rand. Elayne tut das nämlich gerade.« Er schielte die Tochter-Erbin an. »Es spielt keine Rolle, was du siehst oder nicht siehst. Du hast es gespürt. Soviel wissen wir jetzt. Sehen wir weiter, was wir sonst noch herausfinden. Rand, berühre die Quelle. Berühre Saidin

Die Worte klangen heiser aus ihrem Mund. Auch darauf hatten sie und Elayne sich vorher geeinigt. Er war Rand und kein Ungeheuer aus irgendeiner Sage, und sie waren sich einig gewesen. Trotzdem, einen Mann darum zu bitten... Es war ein Wunder, daß sie diese Worte überhaupt herausgebracht hatte. »Siehst du irgend etwas?« fragte sie Elayne. »Oder spürst du etwas?«

Rand blickte immer noch von einer zur anderen, und dazwischen wurde er rot und blickte zu Boden. Warum war er derart aus dem Gleichgewicht? Die Tochter-Erbin musterte ihn eindringlich und schüttelte den Kopf. »Nein.

Er steht einfach nur so da, soweit ich das beurteilen kann.

Bist du sicher, daß er überhaupt etwas tut?«

»Er ist vielleicht stur, aber nicht blöd. Jedenfalls stellt er sich die meiste Zeit über nicht unbedingt dumm an.«

»Na ja, stur oder dumm oder sonst was, jedenfalls spüre ich absolut nichts.«

Egwene runzelte die Stirn. »Du sagtest doch, du würdest tun, was wir verlangen, Rand. Wie ist das jetzt? Wenn du etwas gespürt hast, sollten wir das eigentlich auch, und ich...« Sie brach mit einem kaum unterdrückten

Schmerzensschrei ab. Irgend etwas hatte sie gewaltig in ihr Hinterteil gezwickt. Rands Lippen zuckten. Er kämpfte gegen ein breites Grinsen an. »Das«, sagte sie ihm kurz angebunden, »war nicht sehr nett von dir.«

Er bemühte sich, eine Unschuldsmiene aufzusetzen, aber das Grinsen ließ sich nicht ganz unterdrücken. »Du sagtest, du wolltest etwas spüren, und ich dachte doch nur...« Sein plötzliches Aufbrüllen ließ Egwene zusammenfahren. Er hielt sich mit der Hand die linke Hinterbacke und hüpfte auf einem Bein vor Schmerz im Kreis herum. »Blut und Asche, Egwene! Das war nicht notwendig...« Er knurrte Unverständliches in sich hinein. Egwene war ganz froh, daß sie seine Flüche nicht verstehen konnte.

Sie nahm die Gelegenheit wahr und fächelte sich mit dem Ende ihres Schals ein wenig Luft zu und lächelte Elayne leicht an, worauf diese das Lächeln erwiderte. Das Glühen um die Tochter-Erbin herum verblaßte. Beide hätten fast losgekichert, als sie sich verstohlen die Hände rieben. Das sollte wohl reichen. Hundert zu eins für sie, schätzte Egwene.

Sie wandte sich Rand zu und machte ein strenges Gesicht. »So etwas hätte ich vielleicht von Mat erwartet.

Ich dachte, wenigstens du wärst inzwischen erwachsen geworden. Wir sind gekommen, um dir zu helfen, wenn es möglich ist. Versuche bitte, mit uns zusammenzuarbeiten.

Mache irgend etwas mit Hilfe der Macht, aber nicht wieder etwas Kindisches wie vorhin. Vielleicht sind wir in der Lage, dann etwas zu spüren.«

Zusammengekrümmt funkelte er sie an. »Tu was«,

knurrte er. »Ihr hattet kein Recht... ich werde tagelang hinken... Ihr wollt, daß ich etwas mit der Macht anfange?«

Plötzlich schwebte sie nach oben und Elayne mit ihr. Sie starrten sich mit weit aufgerissenen Augen an, als sie einen Schritt über dem Teppich schwebten. Nichts hielt sie dort, jedenfalls kein Strom, den Egwene fühlen oder sehen konnte. Nichts. Ihr Mund verzog sich ärgerlich. Er hatte kein Recht, so etwas zu tun. Nicht das geringste Recht, und es war Zeit, ihm das klarzumachen. Die gleiche Art von Abschirmung des Elements Geist wie bei Joiya sollte auch bei ihm wirken, ihn von der Quelle abschneiden. Die Aes Sedai benützten das bei den wenigen Männern, die sie aufgespürt hatten, weil sie mit der Einen Macht arbeiten konnten.

Sie öffnete sich Saidar, und ihre Stimmung sank auf den Nullpunkt. Saidar war schon da und seine Wärme und das Licht spürbar, doch zwischen ihr und der Wahren Quelle stand irgend etwas, ein Nichts, wie die Abwesenheit eines Trägerelements, das sie wie eine Steinmauer von der Quelle abschnitt. Es war ein hohles Gefühl in ihrem Innern, und schnell stieg Panik in ihr auf. Ein Mann gebrauchte die Macht, und sie war in seinem Strom gefangen. Natürlich war es Rand, aber so hilflos hier zu hängen und nur daran denken zu können, daß ein Mann die Macht benützte, und an das befleckte Saidin... Sie wollte ihn anschreien und brachte doch nur ein Krächzen zustande.

»Du willst, daß ich etwas mit Hilfe der Macht tue?«

grollte Rand. Zwei kleine Tischchen streckten mühevoll und unter lautem Knarren die Beine und dann begannen sie, mit steifen Bewegungen einen Tanz aufzuführen, die Parodie eines Tanzes. Blattgold blätterte dabei von ihnen ab. »Gefällt euch das?« Feuer flammte im Kamin auf. Die Flammen erfüllten den Innenraum ganz und gar und brannten auf kahlem Stein ohne Holz und ohne Asche.

»Oder das?« Der goldene Hirsch und die Wölfe auf dem Kaminsims wurden weich und fielen in sich zusammen.

Dünne Rinnsale aus Gold und Silber flossen aus der zusammenfallenden Masse, in feinen, sich schlängelnden Linien, verwebten sich zu einem schmalen Streifen metallischen Stoffs. Das glitzernde Gewebe schwebte in der Luft und wuchs. Nur das hintere Ende hing noch an der schmelzenden Statue auf dem Kaminsims, wie der Faden an einem Wollknäuel, aus dem ein Kleidungsstück gestrickt wurde. »Tu etwas, Rand«, sagte Rand ironisch.

»Tu etwas! Hast du eine Ahnung, wie das ist, Saidin zu berühren, zu halten? Ja? Ich kann spüren, wie dahinter der Wahnsinn auf mich wartet. In mich einsickert!«

Mit einem Schlag brannten die tanzenden Tischchen wie Fackeln, tanzten aber weiter. Bücher wirbelten durch die Luft; ihre Seiten wurden von unsichtbarer Hand

durchgeblättert. Das Oberbett explodierte, und es schneite Federn im ganzen Raum. Als Federn auf die brennenden Tische fielen, füllte sich die Luft mit beißendem, rußigem Gestank.

Einen Augenblick lang sah Rand mit wilden Blicken die brennenden Tische an. Dann verschwand das, was Egwene und Elayne festgehalten hatte, und auch die Abschirmung war weg. Ihre Füße schlugen im gleichen Moment auf dem Boden auf, in dem die Flammen erstarben, als würden sie in das Holz zurückgesaugt, das sie genährt hatte. Auch die Flammen im Kamin verschwanden, und die Bücher fielen zu einem noch schlimmeren Durcheinander als zuvor auf den Boden zurück. Und auch das aus Gold und Silber gewebte Tuch fiel herab. Es hingen noch lose Fäden aus halbgeschmolzenem Metall daran, die nun aber fest und kalt waren. Nur drei größere Klumpen, zwei aus Gold und einer aus Silber, waren kalt und völlig verformt auf dem Sims zurückgeblieben.

Egwene war bei der unsanften Landung taumelnd mit Elayne zusammengeprallt. Sie hielten sich aneinander fest, damit sie nicht umfielen, aber Egwene spürte, wie die andere blitzschnell das gleiche tat wie sie selbst, nämlich nach Saidar greifen. Augenblicke später stand ihre Abschirmung um Rand herum für den Fall, daß er noch einmal die Macht benützte, doch er stand nur wie betäubt da und starrte die verkohlten Tischchen und die herumfliegenden Federn an, die wie Schneeflocken auf seine Jacke landeten.

Er schien jetzt keine Gefahr mehr darzustellen, aber der Raum war ein einziges Durcheinander. Sie verwebte winzige Rinnsale des Elements Luft, um alle Federn zusammenzuholen, auch die auf dem Teppich liegenden.

Dann dachte sie an die auf seinem Mantel und holte auch sie herbei. Den Rest mußte die Majhere herrichten lassen, oder er mußte eben selbst zupacken.

Rand zuckte zusammen, als die Federn an ihm

vorbeischwebten und auf den Fetzen des Oberbettes landeten. Der Gestank wurde davon allerdings auch nicht besser. Verbrannte Federn und verbranntes Holz... Aber wenigstens machte der Raum nun einen etwas

ordentlicheren Eindruck, und die schwache Brise, die durch die geöffneten Fenster drang, würde auch den Gestank schnell verfliegen lassen.

»Die Majhere wird mir nun wohl kein neues Oberbett mehr bringen«, meinte er unter gezwungenem Lachen.

»Jeden Tag ein neues dürfte über dem liegen, was sie genehmigt...« Er vermied es, sie oder Elayne direkt anzuschauen. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht... Manchmal geht es mit mir durch. Manchmal ist nichts da, wenn ich danach greife, und dann wieder geschehen Dinge, die ich...

Tut mir leid. Vielleicht solltet ihr besser gehen. Das scheine ich auch recht oft zu sagen, nicht wahr?« Er erröte-te wieder und räusperte sich. »Ich berühre die Quelle jetzt nicht, aber trotzdem ist es wohl besser, wenn ihr geht.«

»Wir sind hier noch nicht fertig«, sagte Egwene sanft.

Sanfter, als es ihren Gefühlen entsprach. Am liebsten hätte sie ihm rechts und links eine heruntergehauen. Was für eine Idee, sie und Elayne einfach schweben zu lassen und noch dazu abzuschirmen! Aber er war mit den Nerven völlig am Ende. Woher das rührte, wußte sie nicht, und sie wollte es jetzt und hier auch gar nicht wissen. So viele hatten über ihre Stärke gestaunt. Jede hatte behauptet, sie und Elayne gehörten zu den stärksten Aes Sedai seit über tausend Jahren, seien vielleicht sogar die stärksten! Sie hatte angenommen, daß sie genauso stark seien wie er.

Oder wenigstens nahezu genauso stark. Und doch war sie gerade auf unsanfte Weise eines Besseren belehrt worden.

Vielleicht konnte Nynaeve dem nahekommen, wenn sie wütend genug war, aber Egwene war klar, daß sie selbst, was er gerade geschafft hatte, niemals fertigbringen würde, nämlich ihre Ströme in viele kleine aufzuspalten und eine Unmenge verschiedener Dinge auf einmal zu tun. Schon allein zwei Ströme auf einmal zu jonglieren war mehr als doppelt so schwer wie bei einem der gleichen Stärke, und bei drei Strömen gleichzeitig potenzierte sich der notwendige Aufwand. Er mußte mindestens ein Dutzend verwoben haben. Und dabei wirkte er nicht einmal müde, obwohl dieser Aufwand an Macht ungeheure Kraft kostete.

Sie fürchtete, er könne sowohl sie wie auch Elayne wie die kleinen Kätzchen herumreichen. Hoffentlich nicht wie Kätzchen, die er ertränken wollte, falls er dem Wahnsinn verfiel.

Aber sie wollte und konnte jetzt nicht einfach so gehen.

Das würde ein Aufgeben bedeuten, und so etwas lag ihr fern. Sie wollte tun, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte

– alles –, und er würde sie nicht kurz vor dem Ziel davonjagen. Weder er noch irgend etwas anderes.

Elaynes blaue Augen blickten ebenso entschlossen drein, und in dem Augenblick, als Egwene mit Sprechen aufhörte, fuhr sie an ihrer Stelle mit noch festerer Stimme fort: »Und wir werden nicht eher gehen, bis wir fertig sind. Du hast gesagt, du wolltest es versuchen. Also mußt du dein Bestes geben, klar?«

»Habe ich das wirklich versprochen?« murmelte er nach einer Weile. »Nun, wenigstens könnten wir uns dabei hinsetzen.«

Er sah die verkohlten Tischchen oder das auf dem Boden liegende metallische Tuch nicht an, und führte sie statt dessen leicht hinkend zu hochlehnigen Stühlen an den Fenstern hinüber. Sie mußten erst Bücher von den rotseidenen Kissen nehmen, bevor sie sich setzen konnten.

Auf Egwenes Stuhl hatte Band zwölf der Schätze des Steins von Tear gelegen, ein staubiges, in Holz gebundenes Buch mit dem Titel Reisen in der Aiel-Wüste, mit verschiedenen Studien der wilden Einwohner dieses Gebiets, und ein dicker, abgegriffener Lederband: Die Politik Tears bezüglich des Territoriums von Mayene, 500 bis 750 NÄ.

Elayne mußte einen noch größeren Stapel wegräumen, aber Rand beeilte sich, ihr alles abzunehmen und zusammen mit denen, die auf seinem Stuhl gelegen hatten, auf den Boden zu legen, wo der ganze Stapel prompt umfiel. Egwene legte ihre ordentlich daneben.

»Was wollt ihr mich jetzt machen lassen?« Er saß auf der Stuhlkante und hatte die Hände auf die Knie gelegt.

»Ich verspreche euch, daß ich diesmal nur das tue, was ihr wollt.«

Egwene biß sich auf die Zunge, um nicht

herauszuplatzen, daß es für dieses Versprechen ein bißchen zu spät sei. Vielleicht hatte sie sich zuvor nicht klar genug ausgedrückt, aber das war keine Entschuldigung. Nun, darauf konnte sie ja ein andermal zurückkommen. Ihr wurde bewußt, daß sie in ihm wieder nur Rand sah. Er saß schuldbewußt da, als habe er gerade Schlamm auf ihr bestes Kleid gespritzt und fürchte, sie würde ihm nicht glauben, daß es aus Zufall geschehen war. Aber sie hatte Saidar inzwischen nicht losgelassen, genau wie Elayne.

Besser war besser. »Diesmal«, sagte sie, »wollen wir lediglich, daß du erzählst. Wie berührst du die Quelle?