Für Hennes: Hörspielfan und Gelegenheitsdetektiv

 

 

Danke an Ursula, Jan, Andreas, Sabine und natürlich Joy. Ihr seid die Besten!

 

 

»Lupus est homo homini.«

Titus Maccius Plautus

 

»Wölfe sind auch nur Menschen.«

     unbekannt

 

 

1

 

Mein Name ist Kai Hellmann, ich bin einunddreißig, Privatschnüffler.

Weihnachten stand kurz bevor. Die Nächte waren schwarz und eisig und die Tage – keine Ahnung; es war lange her, seit ich zum letzten Mal das Tageslicht gesehen hatte. Die Geschäfte liefen seit Wochen mies, während sich die Rechnungen auf meinem Schreibtisch zu magengeschwürerregender Höhe auftürmten.

Ich brauchte einen Klienten – und zwar so bald wie möglich. Vorzugsweise einen normalen Klienten. Mit normalen Problemen.

Nur war weit und breit keiner in Aussicht. Und die roten Zahlen wurden immer roter.

Ich versuchte gerade mich mit einer Ein-Mann-Jam-Session auf dem Saxophon abzulenken. Kaum war ich über die ersten drei Noten von Baker Street hinaus, donnerte es so heftig gegen die Tür, dass die Bilder an den Wänden wackelten.

Seufzend nahm ich das Mundstück von den Lippen, setzte mein bestes Perfekter-Schwiegersohn-Lächeln auf und öffnete.

Da stand sie, in all ihrer ergrauten, dauergewellten Pracht: Die Witwe Prapotnik. Die kratzbürstigste Hexe, die niemals einen Besen geritten hat.

»Herr Hellmann.« Ihre Stimme war so frostig, dass sie Eisblumen an die Fenster zaubern konnte. Sie zog dramatisch lang an ihrer Zigarette und blies den Rauch scheinbar nur unter größter Willensanstrengung nicht in meine Richtung. »Es ist nach einundzwanzig Uhr!«

»Hallo, Frau Prapotnik«, säuselte ich so süß, dass selbst ein Einhorn an Zuckerschock gestorben wäre.

»Junger Mann.« Ihre Augen waren winzig und dunkel wie die eines Maulwurfs. Eines schlecht gelaunten, nikotinabhängigen Maulwurfs. »Was hatten wir über das Trompete-Spielen nach einundzwanzig Uhr vereinbart?«

»Das ist eigentlich mehr ein Saxophon.« Ich bekam langsam Krämpfe vom Gute-Miene-Machen.

»Und wenn’s die Posaunen von Jericho wären«, sie hob den knöcherigen Finger, »nach neun haben Sie dieses Gedudel zu unterlassen!« Ihr Fingernagel – gelb und säbelartig – deutete auf meine Kehle.

Ich ließ mein angestrengtes Grinsen fallen. »Kommt nicht wieder vor, versprochen.« Ich wusste aus gut unterrichteten Quellen, dass es niemand sonst im Haus gab, den meine musikalischen Ergüsse störten. Aber ich hielt den Mund.

Sie leider nicht.

»Und noch etwas. Heute ist Mittwoch. Sie wissen, was das bedeutet?«

»Ja. Das ist der Tag nach Dienstag.« Eine Welle für Kai Hellmann, Privatschnüffler und Komik-Gott!

Die bösen Maulwurfsaugen sprühten Funken. »Nein, das bedeutet, dass Sie mir immer noch die Miete schuldig sind. Sie wollen doch Privatdetektiv sein. Sollten Sie sich dann nicht um Kundschaft kümmern, statt dem ganzen Haus mit Ihrem Blasinstrument auf die Nerven zu gehen? Zum Beispiel könnten Sie zur Abwechslung mal morgens aufstehen und abends zu Bett gehen, wie jeder anständige Bundesbürger!«

Ihr Wort in Gottes Ohr. Leider hatte sich nach meinen letzten nocturnen Jobs mein Schlafrhythmus immer noch nicht normalisiert; ich schlief bis in die Puppen wie eine verdammte Fledermaus. »Ich gelobe Besserung«, sagte ich und formte in Gedanken die folgende Gleichung: Im selben Haus wie Vermieterin wohnen = blöde Idee¹º.

»Ist mir ja auch schnurz.« Die Zigarettenspitze glühte wie ein Drachenauge auf, als sie an dem Glimmstängel saugte. »Bis Samstag ist die Miete auf meinem Konto, ansonsten schmeiß’ ich Sie endgültig raus. Und endgültig heißt endgültig, egal wie viele Blumen Sie mir diesmal schicken.«

Ich schluckte. Wenn es jemand fertig bringt, seinen Mieter kurz vor Heiligabend rauszuschmeißen, dann Frau P. Danke, lieber Gott. Hast du nicht Lust, noch mal ordentlich nachzutreten, wo du schon mal dabei bist?

»Haben Sie mich verstanden, junger Mann?«

»Hab’ verstanden«, murmelte ich. »Keine Blumen.«

»So was.« Sie machte auf dem Absatz kehrt. »Keinen Respekt, die Jugend! Keinen –!«

Ich schloss wohlweislich die Tür, um dem Rest der Tirade zu entgehen.

Kai, alter Junge, dachte ich. Vielleicht ist der Zeitpunkt endgültig gekommen, in die Freuden der Fast-Food-Industrie einzutauchen. Oder deine linke Niere zu verscherbeln.

Wieder ein Klopfen. Ich unterdrückte mit aller Macht ein tonnenschweres Seufzen und rieb mir die sorgenumwölkte Stirn.

»Ist ja gut! Am Samstag ist das Geld auf Ihrem Konto! Wenn Sie wollen, geb’ ich’s Ihnen schriftlich – mit meinem eigenen Blut unterzeichnet!«

»Ein interessantes Angebot«, sagte eine wohlklingende weibliche Stimme.             

Ich riss die Tür auf. »Sorry, ich hab’ Sie verwech ...«

Weiter kam ich nicht. Ich glaube, der Mund stand mir offen.

»Kai Hellmann, nehme ich an?«

Alabasterhaut, Kirschlippen, Augen wie Bergseen und ebenholzschwarzes Haar, das auf ein schwindelerregendes Dekolleté herabfiel – sie erfüllte alle Klischees. Sie hatte Geld, keine Frage: Ihr Pelzmantel und der Designerhut – natürlich beides in schwarz – waren teurer als jeder Malteser Falke.

Allerdings machte ich meinen Job schon zu lange, um mich von irgendeiner dunklen Madonna aufs Glatteis führen zu lassen. Ich gestehe, mir lief ein Schauer über den Rücken. Schon bei meinem allerersten Auftrag hatte ich gelernt, vor ihrer Art auf der Hut zu sein.

Mir war klar, dass sie sich nicht hierher verlaufen hatte. Und noch klarer, dass es wieder einer von diesen ganz besonderen Fällen werden würde.

Die Schöne zeigte ein winziges, wissendes Lächeln. »Wollen Sie mich nicht hereinbitten?«, fragte sie, mit einer Stimme wie Honig und Nacht.

Ich versuchte cool zu bleiben. Betonung auf versuchte. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber nein.«

Ihre blauen Augen blitzten auf. »Sie wissen also, was ich bin?« Ihre Zähne waren der strahlend weiße, feuchte Traum eines Dentisten. Und an einigen Stellen entschieden zu spitz.

Ich gab mich diplomatisch. »Eine Klientin, hoffe ich.«

Sie nickte. »So ist es. Lucretia Elisabetha Herzog.« Sie reichte mir eine vollkommene Hand. Sie war kühl wie Marmor.

»Angenehm«, sagte ich. »Nur aus Neugier: Wie haben Sie mich gefunden?«

»Ein Bekannter hat mich an Sie verwiesen«, sagte sie. »Er gab mir die Adresse Ihres, ah, Büros.«

Büro war der Euphemismus des Jahres, das wussten wir beide nur zu gut: eine Ein-Zimmer-Wohnung mit Kochnische und Schrankbett, daneben ein Schreibtisch aus dem Möbelkontor. Ich blickte kurz zu dem Ankh, den ich von innen an die Fensterscheibe neben meinem Schreibtisch geklebt hatte: Ein Kreuz mit einer Schleife obenauf. Das ägyptische Symbol des ewigen Lebens, der Schlüssel zum Jenseits – und Erkennungszeichen der Nachtvölker. Manchmal war das Ding mehr Fluch als Segen. Ein Leuchtturm, der die falschen Schiffe anlockte. Aber was soll’s, Sie wissen, was der Teufel in der Not frisst.

»Alles klar«, sagte ich und schaffte es, halbwegs abgebrüht zu klingen. »Hören Sie, nehmen Sie’s mir nicht krumm, dass ich Sie nicht reinlasse ...«

Die Kirschlippen formten ein flüchtiges Lächeln. »Oh, ich habe volles Verständnis: Man kann nicht vorsichtig genug sein.«

»Ich sag Ihnen was: Um die Ecke ist eine Kneipe. Soweit ich weiß, kann Ihre Art öffentliche Einrichtungen betreten. Setzen wir uns doch dort zusammen.«

Sie zögerte nur einen Moment. Dann nickte sie. »Einverstanden.«             

Ich ließ die Dame vorausgehen und schnappte mir Mantel und Fedora vom Haken. Während wir auf die winterlich-matschige Straße traten, gingen mir zwei Dinge durch den Kopf:

Warum war es nicht möglich, dass sich auch nur ein einziger normaler Menschen zu mir verirrte – und warum, zum Teufel, mussten die untoten Mädels alle so unverschämt perfekt aussehen?

 

 

2

 

Das Isegrim war ein gemütliches kleines Etablissement, mit Möbeln aus dunklem Holz und Tiffanylampen. Die Champignon-Baguettes waren Weltklasse.

Außer uns war vielleicht eine Handvoll Gäste da. Lucretia Herzog und ich setzten uns in die hinterste Ecke, fernab von jedem Fenster, in dem man ihr fehlendes Spiegelbild hätte bemerken können. Draußen schneite es wieder; Last Christmas spielte im Radio. Ich bestellte eine heiße Schokolade und sie erwartungsgemäß nichts. Statt dessen sah sie mich schweigend an.

»Was ist?«, fragte ich, während sich mir die Nackenhärchen aufstellten.

»Sie sind noch so jung.« Lag da ein Hauch von Enttäuschung in ihrer Stimme? »Ich hatte Sie mir ganz anders vorgestellt.«

»Geht vielen so.« Einschließlich einer Reihe von Exfreundinnen. »Nur aus Neugier: Wer genau ist der Bekannte, der mich Ihnen empfohlen hat?«

»Sein Name ist Ladislaus ...«

Ich nickte. »... Bruschinski, alles klar. Mein allererster Klient.«

Gott, der Name sorgte für ein Flashback nach dem anderen: die ersten Wochen im Job. Ich, kurz davor, das Handtuch zu schmeißen. Dann das vorsichtige Klopfen an der Tür. Der unscheinbare, alte Mann mit dem polnischen Akzent und den ungewöhnlich langen Fingernägeln. Die unglaubliche Geschichte, die er mir auftischte.

Scheinbar hatte er nicht gelogen, als er versprochen hatte, mich seinen Freunden weiterzuempfehlen. Guter alter Ladislaus. Der netteste Dreihundertvierzigjährige, den man sich vorstellen kann.

Lucretia Herzog faltete die perfekt manikürten Hände. Ihre Nägel waren so rot wie ihre Lippen. »Er sagte, Sie wussten damals nicht ...«

Ich lächelte matt. »Was er ist? Was sich wirklich nächtens auf unseren Straßen abspielt? Nein, wusst’ ich nicht. Ehrlich nicht.«

Sie hob eine Augenbraue. »Sie haben doch keine Angst vor uns?«

Ich wollte gerade antworten, als meine Schokolade kam. Ich entpackte den mitgelieferten Mürbekeks und tunkte ihn in das Getränk. »Inzwischen weiß ich, dass die meisten von Ihnen auch nur über die Runden kommen wollen, genau wie unsereiner. Aber ich hab’ anfangs ganz schön dran gekaut, glauben Sie mir.«

Ich sagte ihr nichts von den schlaflosen Nächten und der Paranoia. Dem Weltbild, das in Fetzen zerrissen wurde. Aber sie schien auch so zu verstehen.

»Trotzdem haben Sie vielen aus den Nachtvölkern geholfen. Schnell, zuverlässig und diskret.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Gehört zum Service, für jeden Klienten. Aber kommen wir zum Geschäft. Was kann ich für Sie tun?«

Ihre Miene war kühl, als sie sagte: »Mein Partner wurde ermordet, Herr Hellmann. Und ich will, dass Sie den Mörder finden.«

Keine Ahnung wie, aber irgendwie schaffte ich es, mich nicht an der Schokolade zu verschlucken. Verlorene Verwandte wiederfinden, entwendete Talismane zurückbeschaffen – kein Problem. Aber Mord? Der einzige Mordfall, in dem ich bislang ermittelt hatte, lang Jahrhunderte zurück.

Ich gebe zu, eine Sekunde lang fragte ich mich, ob die Sache nicht eine Nummer zu groß für mich sein könnte, zumal ich vermutete, dass sich meine Ermittlungen nicht auf die örtliche Pfadfindergruppe beschränken würden.

Aber der Gedanke an meinen Kontostand brachte meine Entschlossenheit ganz schnell zurück. Und hey – ich behielt sogar mein Pokerface.

»Verstehe«, sagte ich ernst. »Ihr Partner? Meinen Sie damit ...?«

Ihre Stimme war tonlos, bis in die kleinste Schwingung kontrolliert. »Meinen Gefährten. Meinen Ehemann, wenn Sie so wollen. Seine Name ist ... war ... Vadim Zagan.« Sie blickte zum Fenster auf der anderen Seite der Kneipe, hinter dem Schneeflocken durch die Lichtkegel der Straßenlaternen tanzen. »Können Sie sich vorstellen, wie es ist, mit jemandem dreihundertachtundzwanzig Jahre zu verbringen, Nacht für Nacht – und ihn dann für immer zu verlieren?«

Ich konnte mir nicht mal eine normale Ehe vorstellen. Aber das sagte ich ihr nicht.

»Wir hatten unsere ... Differenzen«, sagte sie und schloss die Augen. »Aber ich habe ihn sehr geliebt.« Auf einmal klang sie sehr menschlich. Ich wusste, wie es war, jemanden zu verlieren und ich glaube, sie sah mein ehrliches Beileid in meinem Blick. Sie atmete tief durch und sammelte sich wieder, wurde wieder zur unnahbaren Schönheit.

Natürlich musste ich in Betracht ziehen, dass sie selbst ihn umgebracht haben könnte. Aber das ergab wenig Sinn: Warum sollte sie dann einen Privatschnüffler beauftragen?

»Woher wissen Sie, dass es Mord war?«, fragte ich.

»Ich fand seine Leiche kurz vor Morgengrauen auf dem Grundstück unserer Villa.«

Ich rieb mir die Unterlippe. »Mit einem Pflock durch’s Herz?«

»Nein«, sagte sie, so bitter wie Asche. »Zerstückelt und in alle Himmelsrichtungen verteilt.«

Mir wurde erst kalt – und dann noch kälter. Lauf, sagte ein Teil von mir, lauf so schnell zu kannst, Hellmann, diese Leute sind gefährlich!

Klappe zu, befahl ich dem betreffenden Teil. »Ich dachte immer, Wunden heilen bei Ihrer Art im Zeitraffer?«             

»Nicht solche Wunden«, sagte Lucretia Herzog. Ich sah ihre Wangenmuskeln arbeiten. 

Ich zog mein Moleskin-Notizbuch und ließ den Kugelschreiber klicken. »Wie lange ist das jetzt her?«

Sie musste nicht überlegen. »Es geschah in der Nacht des zwanzigsten November. Vor genau neunundzwanzig Tagen.«

»Warum haben Sie solange gezögert, bis ...?«

Sie antwortete nicht. Zum allerersten Mal wich sie meinem Blick aus. Ihre Augen glänzten im Licht der Tiffanylampen.

»Frau Herzog?«

Ihre Stimme war nur wenig lauter als ein Flüstern. »Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte. Ich ... ich war vor Schmerz wie gelähmt.« Sie zog ein Spitzentaschentuch aus ihrem Mantel und tupfte sich die Augenwinkel ab.

»Okay«, sagte ich und machte eine Notiz. Die nächste Frage war noch heikler. »Wo waren Sie in der fraglichen Nacht?«

Sie antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken. »Außerhalb. Und allein. Bevor Sie fragen.«

»Um was zu tun? Wenn ich fragen darf.«

»Ich habe getrunken. In der Blutbank.«

Ich nickte, wobei ich gleichzeitig ein Schaudern unterdrückte. Etwa 95 Prozent der urbanen Blutsauger ließen sich unter der Hand mit Blutkonserven versorgen – oder bedienten sich an freiwilligen Spendern. Gegen ein gewisses Entgelt versteht sich. Es erregt weniger Aufsehen. Und ist weniger mühsam als sich Nacht für Nacht neue Opfer zu suchen und anzuzapfen.

Die restlichen fünf Prozent hatten etwas weniger jugendfreie Methoden.

»Ich kehrte erst kurz vor Morgengrauen zurück«, fuhr sie fort. »Und dann ...« Sie brach ab, schnappte nach Luft.

»Was geschah mit seiner Leiche?«, fragte ich.

Sie fasste sich wieder. »Kurz nachdem ich Vadim fand, ging die Sonne auf. Sein Körper ... zerfiel, bevor ich ihn in Sicherheit bringen konnte. Das einzige, das übrig blieb, ist das hier.« Sie öffnete die Krokoledertasche, die sie neben sich gebettet hatte, und legte ein kleines Plastiktütchen auf den Tisch. Darin lag ein silbergraues Büschel.

Ich nahm es mit spitzen Fingern. »Sieht aus wie ... Fell.«

»Vadim hatte es in seinen Fingern, als ...« Sie holte tief Luft. »Ich weiß nicht, was es ist, aber ich habe eine Ahnung.«

»Welche?«

»Lycanthropen.« Das Wort kam wie brennende Säure über ihre Kirschlippen; ihr Gesicht war für einen Moment sehr, sehr hässlich.

Ich nickte, wohlwissend, was das bedeutete. Da, wo eben noch mein Magen gewesen war, lag auf einmal ein dicker, fetter Eisklumpen. Lycanthropen. Natürlich – passte zum Rest des Tages. Ich bemühte mich, beim geschäftlichen Teil zu bleiben. »Warum sollte ein Werwolf ihn umbringen? Was hat Ihr Mann getrieben? Hatte er Feinde?«

Wieder griff sie in die Tasche. Diesmal förderte sie einen gefalteten Zettel hervor, der einmal unsanft zerknüllt gewesen sein musste. »Lesen Sie das.«

Das tat ich.

Es war ein Blatt aus einem Collegeblock, mit Buchstaben-Schnipseln aus Zeitungsüberschriften beklebt. Irgendjemand hatte eindeutig zu viel ferngesehen:

DiE nÄchstE ZalUNG ist übErfäLLig, stand dort. DreItausent EUro wI üblICH oder deiN kLeines GehEimnIs isT kEins mehR.

»Lyrisch«, sagte ich. »Woher stammt der Brief?«

»Ich fand ihn im Papierkorb in Vadims Arbeitszimmer«, sagte Lucretia Herzog. Wieder schwang Schmerz im Namen ihres Mannes mit.

Ich stellte mir vor, wie sie das ganze Haus auf den Kopf stellte, auf der verzweifelten Suche nach einem Hinweis, nach Antworten. »Haben Sie eine Ahnung, was mit dem ›kleinen Geheimnis‹ gemeint sein könnte?«

Sie schloss die Augen, schüttelte kaum merklich den Kopf.

Ich sah ihr an, wie sehr es sie verletzte: dass es Heimlichkeiten zwischen ihnen gegeben hatte. Dass sie ihn auch nach dreihundertachtundzwanzig Jahren nicht so gut gekannt hatte, wie bislang geglaubt. Ich konnte das gut verstehen; ich war gegen Ende vieler meiner eigenen Beziehungen mit solchen Heimlichkeiten konfrontiert gewesen. »Wussten Sie, dass er erpresst wurde?« fragte ich.

»Nein«, sagte sie kühl. Dann folgte eine längere Pause. »Sie müssen verstehen: Normalerweise kümmert sich unsere Art um sich selbst. Die Zeiten haben sich geändert, Herr Hellmann: Uns droht mehr Gefahr von den Sterblichen als ihnen von uns. Vadim hat sich dafür eingesetzt, die Nachtvölker zusammenzubringen; die verschiedenen Rassen zu vereinen.«

Ein Blutsauger mit Ambitionen, dachte ich. »Aber er hat sich dabei nicht nur Freunde gemacht.«

Sie schloss die Augen. »Ich sehe ihn jeden Tag, wenn ich schlafe. In meinen Träumen. Ich sehe, wie eine dieser Bestien ihn zerfleischt ...« Sie atmete tief durch.

Ich gab ihr einen Moment, bevor ich die nächste Frage stellte. »Sie sind fest davon überzeugt, dass der Täter Werwolf war?«

Pure, konzentrierte Abscheu lag in ihrer Stimme. Ich erschrak fast vor dem Feuer in ihren Augen. »Es war Vollmond, als Vadim starb. Und wer sonst würde ein anderes Wesen so zurichten, als diese ... diese Tiere

Ich wollte die Antwort lieber nicht wissen, also sagte ich nichts. Stattdessen betrachtete ich ihre Hand, die sie auf den polierten Tisch gelegt hatte. Wie sich ihre Finger zu Krallen krümmten.

»Ich habe auch schon einen Verdacht«, sagte sie.

Ich hielt den Kugelschreiber bereit. »Welchen?«

»Elisa Prätorius.« Jede einzelne Silbe triefte vor Hass.

Ich war ehrlich. »Nie gehört.«

»Eine Wölfin. Sie führt ein Rudel an. Sie und Vadim hatten miteinander zu tun – und ich weiß, dass sie einander hassten. Aber außer ihrem Namen weiß ich nichts von ihr.«

Ich nickte. Tatsächlich war das noch mein geringstes Problem. »Ich hab’ meine Quellen«, sagte ich und nahm einen Schluck meiner nicht mehr ganz so heißen Schokolade. »Sie hatten nicht viel mit Vadims Politik zu tun, oder?«

Sie lächelte. Es sah traurig aus. »Er war ein Idealist, Herr Hellmann. Ein Träumer. Fünfhundertdreiundachtzig Jahre auf dieser Welt haben mich zu einer Realistin gemacht. So wie es niemals Frieden zwischen den Völkern Ihrer Art geben kann, wird es niemals Frieden zwischen den Nachtvölkern geben. Aber Vadim ... er hat fest daran geglaubt, dass wir unsere Unterschiede überwinden könnten. Dass es Hoffnung auf ein gemeinsames Zusammenleben gibt.« Ihr schöner Mund verzog sich, als sie versuchte, gegen ihre Gefühle zu kämpfen. »Und das hat ihn letztlich sein Leben gekostet.«

Eine Träne rann über ihre Alabasterhaut; eine einzelne, blutrote Träne. Sie musste meinen erschrockenen Blick gesehen haben, denn sie erschrak selbst, zog wieder das Taschentuch hervor und wischte sich das rote Rinnsal ab, bevor einer der anderen Gäste es bemerkte. Es schien ihr peinlich zu sein. Ich hätte gern etwas Tröstliches gesagt. Doch ich wusste nicht, was.

Als sie das Taschentuch wieder verschwinden ließ, wirkte sie gefasster. »Nun, Herr Hellmann?«             

»Ich übernehm’ den Fall«, sagte ich. Auch wenn ich schon in dem Moment gewusst hatte, dass ich es bereuen würde.

Sie schien erleichtert.

»Ich kriege dreihundertfünfzig pro Nacht, plus Spesen«, fügte ich hinzu, doch sie verzog trotz der stattlichen Summe keine Miene.

»Geld spielt keine Rolle, Herr Hellmann.«             

Diesmal war ich die Erleichterung ganz auf meiner Seite. »Außerdem brauch ich Ihre Nummer – für weitere Fragen und um Sie auf dem Laufenden zu halten.«

Sie zückte eine Visitenkarte und schob sie über den Tisch. »Hier. Sie erreichen mich nach Sonnenuntergang. Vorher ...«

»... schlafen Sie, ich weiß. Also gut, ich mach’ mich gleich an die Arbeit.« Ich erhob mich und zog den Mantel über, den ich über meinen Stuhl drapiert hatte.

Lucretia Herzog erhob sich ebenfalls. »Wo werden Sie anfangen?«

Ich verstaute Stift und Notizblock in meiner Innentasche. »Ich will noch ein paar Informationen einholen. Wir bleiben in Verbindung. Sie können bald mit Ergebnissen rechnen, das verspreche ich.«

Sie lächelte. »Danke.«

Ich zahlte, steckte Erpresserbrief und Fell ein und verabschiedete mich. Draußen wehte mir kalter Wind entgegen.

Ausgerechnet Lycantrophen. Mit mulmigem Gefühl linste ich zum lichtsmogverseuchten Himmel. Der Mond war noch nicht aufgegangen.

Zugegeben, ich hatte die Klappe ganz schön weit aufgerissen. Bis jetzt hatte ich noch nie mit Werwölfen zu tun gehabt – und nach allem, was ich so über die Brüder gehört hatte, war ich eigentlich auch ganz froh darüber.

Doch zum Glück gab es eine Person, die mir weiterhelfen konnte:

Jenny.

 

 

3

 

Wenn Sie das nächste Mal jemand nach der Definition von Ironie fragt, geben Sie ihm meine Nummer.

In den drei Jahren seit Bestehen der Detektei Hellmann hatte ich (unter anderem) die verlorene Schwester eines unglücklichen alten Vampirs ausfindig gemacht, im Auftrag eines adeligen Geistes aus dem 18. Jahrhundert dessen hundertachtzig Jahre zurückliegenden Mord aufgeklärt und einem Dschinn fern der Heimat seine abhanden gekommene Lampe wiederbeschafft.

Aber nicht einmal, nicht ein einziges Mal, hatte sich ein stinknormaler Sterblicher an meine Tür verirrt. Es war, als lastete seit der Bruschinski-Sache ein Fluch auf mir. Als hätte ich in dem Moment, in dem ich die Welt der Nachtvölker berührt hatte, meine eigene Welt zum Teil hinter mir gelassen.

(Wie gesagt: blanke Ironie. An manchen Tagen konnte ich sogar drüber lachen.)

Dabei wollte ich eigentlich mit dem ganzen übernatürlichen Krempel so wenig wie möglich zu tun haben. Ich hatte viele seiner Regeln noch lange nicht durchschaut und oft genug jagte er mir eine Heidenangst ein und sorgte für schlechte Träume.

Zum Glück für meine geistige Gesundheit hatte ich jemanden, mit dem ich über all das reden konnte. Jemanden, der auch einmal zwischen den Welten gestanden hatte.

Natürlich war ihr Laden zu dieser Uhrzeit längst dicht, aber hinter dem Schaufenster brannte noch Licht: Umgeben von Kristallen in allen Regenbogenfarben, Tees für jede Gelegenheit, Traumfängern und Büchern für die moderne Hexe saß Jenny hinter der Kasse und führte einen Papier-Weltkrieg.

Die Ladenglocke klingelte, als ich eintrat.

»Können Sie nicht lesen?«, murmelte sie genervt, ohne den Kopf zu heben. »Wir haben zu seit ...«

»Scheiße, ist das kalt draußen!« Die Hände unter die Achseln geklemmt, trat ich zu ihr.

»Auch dir einen wunderschönen guten Abend.« Jenny sah auf. Sie lächelte schief. »Mann, wann hörst du endlich auf mich und lässt diesen dämlichen Hut in der Schachtel? Du hast einfach keinen Hutkopf.«

Ich berührte meinen Fedora und verbiss mir einen Kommentar.

Jenny und ich kannten uns seit der Schule, also verdammt lang. Wir hatten mal was miteinander gehabt – doch dann hatte sie angefangen, sich ein bisschen zu sehr mit schwarzer Magie zu beschäftigen, lange bevor ich wusste, wie real dieser ganze Plunder wirklich war.

Zwar hatte sie diese Phase mittlerweile überwunden, aber einen hohen Preis dafür gezahlt: Ihre Augen leuchteten etwas weniger grün und ihr Lächeln wirkte nicht mehr so strahlend wie zuvor. Trotzdem war sie immer noch meine Jenny – Jenny, mit den ewig langen, braunen Dreadlocks, der tollsten Nase der Welt (am rechten Nasenflügel gepierct) und ihrem ansteckenden Lächeln. Wie üblich trug sie ein dunkles Kleid mit weiten Ärmeln. Silberreifen blitzten an ihren schmalen Handgelenken.

Ich gesellte mich zu ihr an den Tresen. »Stör’ ich?«

»Nee, bin fast fertig. Scheiße, dieser Abrechnungskram macht mich noch irre!« Sie pfefferte den Kugelschreiber auf einen Haufen Quittungen und schnaubte frustriert.

»Hm«, sagte ich. »Es gibt da diese neumodischen Wunderdinger: Computer. Du hast vielleicht mal davon gehört.«

»Jedenfalls nichts Gutes. Wie geht’s dir?«

»Kann nicht besser klagen.« Der Duft ihres Parfums (Rosenöl mit einem Hauch von Lavendel) stieg mir in die Nase. Alte Erinnerungen ... »Hör mal, Jenny, ich hab’ nicht viel Zeit. Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um mir ein paar Infos zu holen.«

Ein wissendes Funkeln trat in ihre Augen. Sie hob eine dampfende Tasse Tee. »Neuer Job?«

»Volltreffer.«

Sie nahm einen Schluck. »Lass mich raten: Die Kobold-Mafia hat Rumpelstilzchen entführt.«

Ich grinste säuerlich. »Knapp daneben: Mord an ’nem Blutsauger.«

»Oh.«

Ich rieb mir die müden Augenlider. »Mann, warum nicht mal ’ne einfache Observierung? ’Ne untreue Ehefrau oder Versicherungsbetrug – mehr verlang’ ich doch gar nicht. Warum müssen’s immer die Geschöpfe der Nacht sein, die an meiner Tür klingeln?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Na ja, du kennst ihr Zeichen. Sie wissen, dass Sie dir vertrauen können. Und als Sterblicher bist du nicht an die gleichen Gesetze gebunden wie sie.«

Ich konnte meine Begeisterung gerade so zügeln. »Tja, und wenn’s mich bei der Ausübung meiner Pflicht erwischt, ist es eben nur ein Sterblicher gewesen.«

Jenny – praktisch wie immer – zuckte mit den Achseln. »Geld von Untoten ist besser als gar kein Geld.«

Ich seufzte. Oh, wie ich seufzte. »Ich weiß. Das ist ja das Problem. Und wo wir gerade dabei sind.« Ich zog das Plastiktütchen mit der grauen Fellprobe. »Kannst du hiermit was anfangen?«

Sie drehte es hin und her. »Sieht aus wie ...«

»Fell. Wahrscheinlich von ’nem Werwolf.«

»Upps«, sagte sie.

Mit wurde flau um den Äquator. Ein Upps von Jenny ist niemals gut. »Soll heißen?«

»Soll heißen ›heikle Sache, in die Sie da geraten sind, Herr Hellmann‹.«

»Hätt’ ich mal lieber nicht gefragt.«

»Warte mal«, sagte sie und beugte sich hinter die Theke. Ich hörte sie eine halbe Minute lang kramen. »Wo ist er denn?«, murmelte sie. »Ah! Hier!«

Sie tauchte wieder auf, schob sich die Dreadlocks zurück und präsentierte mir ein verteufelt spitzes Messer, so glatt poliert, dass ich mein Spiegelbild darin sah. (Gott, ich musste mich dringend rasieren.) »Geiler Brieföffner«, sagte ich trocken.

Sie legte den Kopf schräg. »Ein geweihter Dolch, Blödmann. Aus Silber.« Sie öffnete das Plastiktütchen und ließ das Fell auf die Theke rieseln. Dann fuhr sie einmal mit der Klinge darüber. Die grauen Büschel kräuselten sich wie in einem unspürbarem Feuer. Stinkender Dampf stieg auf. Nur Asche blieb übrig.

Jenny sah mich ernst an. »Wie ich sagte: upps.«

»Das war ...?

»’ne positive Reaktion auf Silber. Definitiv Werwolf. Sorry. Hätt’ dir gern was anderes gesagt.«

Scheiße, dachte ich und sagte es laut. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, meine Klientin ernsthaft zu enttäuschen. Aber nur für einen Moment.

»Okay«, ich atmete tief durch, »was weißt du über die Viecher?«

»Ich hab’ dir doch mal ein Buch gegeben: De Lykanthropis. Hast du’s etwa nicht gelesen?«

»Na ja, ich musste erst den neuen James Ellroy beenden und ...«

Sie rieb sich die Stirn. »Oh Mann, Kai. Wann machst du endlich mal deine Hausaufgaben?«

»Ich kann mir das übernatürliche Zeug eben besser merken, wenn ich’s von dir höre.« Ich fasste nach ihrer Hand. Sie verschränkte die Arme. Seufzte.

»Na gut, dieses letzte Mal.« Sie tat ein paar knarrende Schritte zu einem Bücherregal und zog eine fette Schwarte daraus hervor. Während sie das Teil durchblätterte, sah ich Illustrationen von allerlei jenseitigem Getier. Jenny stoppte auf einer Seite mit der Darstellung eines großen, bösen Wolfs, die mein Herz flattern ließ, allerdings nicht auf die gute Art.

»Also pass auf«, sagte sie. »Zum Lycanthropen oder Werwolf wird man durch den Biss eines solchen. Vorausgesetzt, man überlebt. Was die wenigsten tun.«

Ich nickte und machte mir Notizen. »So weit hat Hollywood also recht.«

Jenny blätterte weiter. »Sie sind nachtaktiv und Fleischfresser, ausnahmslos. Nach ihrer Infizierung verwandeln sie sich erst in den Nächten um Vollmond, aber nur am Anfang. Einige Monate später können sie nach Belieben die Gestalt wechseln. Sie sind Rudeltiere und ordnen sich völlig ihrem Alphamännchen oder -weibchen unter, was entweder der stärkste oder älteste Wolf des Rudels ist.«

Ich rieb mir das stachelige Kinn. »Hmm. ›Die Nächte um Vollmond‹. Das ist heute. Und morgen ist Vollmond, wenn ich mich nicht irre. Gutes Timing.« Unruhig ließ ich den Kugelschreiber zweimal klicken. »Sonst noch was, das ich über die Viecher wissen muss?«

»Ja«, sagte Jenny, den Finger konzentriert auf einer Zeile. »Anscheinend reden sie mit der Stimme von Mickey Maus.«

Meine untertassengroßen Augen brachten sie zum Lachen. »Ha, erwischt!«, sagte sie und drückte meine Nase mit dem Finger. Ich hasste es, wenn sie das machte. (Nein, nicht wirklich.)

»War’s das?«, fragte ich.

Jenny wurde ernster. »Nicht ganz. Auf Silber reagieren sie allergisch, kein Schwein weiß warum, und sie sind verdammt schnell und verdammt stark.«

Ich hob die Hand, bevor es graphischer wurde. »Okay«, sagte ich entgeistert. »Ich denke, das reicht.«

Sie sah mich an. Anscheinend konnte sie mich sehr gut verstehen. »Wirst du jetzt kneifen?

»Ist leider keine Option. Nicht bei meinem Kontostand.« 

»Sei auf alle Fälle vorsichtig. Hier.« Mit ernster Miene reichte sie mir den Dolch mit dem Griff voran.

Ich betrachtete das Ding zögerlich.

»Behalt ihn«, sagte sie.

»Du kennst meine Einstellung zu Waffen ...«

»Und du kennst meine Einstellung zu der Vorstellung von deinem Namen in der Zeitung, mit ’nem dicken, schwarzen Rahmen darum. Behalt ihn«, beharrte sie. »Dann fühl ich mich wohler. Okay?«

»Okay.« Als ich den Dolch nahm, berührten sich unsere Hände kurz. Unsere Blicke trafen sich. Da war etwas, ein kleiner, elektrischer Funke. Doch dann war er schon wieder verflogen. Ich steckte das Stichwerkzeug in die Manteltasche und wünschte mir, ich hätte mich dabei ebenfalls wohler gefühlt. »Danke«, sagte ich.

»Gern geschehen. Wo gehst du jetzt hin?«

»Elisa Prätorius aufsuchen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nie gehört. Wer soll das sein?«

»Jemand mit ’nem Motiv, wie’s aussieht. Nur leider pocht die gute Frau auf ihre Privatsphäre. Sie steht weder im Telefonbuch, noch lässt sie sich googeln. Aber ich kenn’ da wen, der mir weiterhelfen kann.«

»Okay.« Jenny nickte. »Ich werd’ noch ein bisschen recherchieren. Wenn ich was habe, ruf’ ich dich an.«

»Du bist die Beste.« Ich beugte mich über die Kasse und küsste sie auf die Wange.

»Aufhören«, sagte sie, aber sie sagte es lachend.

»Und wünsch mir Glück«, sagte ich, als ich den Laden verließ.

»Tue ich«, sagte sie. »Immer.«

Ich wünschte, sie hätte es etwas weniger sorgenvoll gesagt.              

 

 

4

 

Die Kneipe hieß Azraels. Nur ein auserwählter Kreis von Leuten wusste, dass sie überhaupt existierte, und man musste ein Labyrinth von Hinterhöfen durchqueren, um sie finden. Und selbst, wenn das geschehen war, fand man sich in einer Sackgasse wieder: ringsum nichts als kahle Mauern und mit Schneematsch bedecktes Pflaster. Aber wer genau die Ohren spitzte und die ferne Kakophonie des abendlichen Straßenverkehrs ausblendete, der konnte sie hören: leise Musik, wie leieriger, alter Jazz, von einem kratzigen Grammophon gespielt, gepaart mit Backgroundvocals von einem Gespensterchor.

»Parole?«, forderte eine körperlose Stimme aus dem Nirgendwo. Wie immer lief mir eine Gänsehaut das Rückgrat hinab. Aber ob zum Guten oder zum Schlechten, ich war vorbereitet – immerhin schien mich jeder meiner Jobs früher oder später hierher zu führen.

»Aleister Crowley lutscht Schwänze in der Hölle«, zitierte ich.

»Okay«, sagte die körperlose Stimme mit einem hörbaren Achselzucken. »Viel Spaß da drinnen.«

Wo vorher kahle Wand gewesen war, gab es jetzt eine Holztür mit Eisenbeschlägen, als wäre sie schon immer da gewesen, irgendwo im toten Winkel meines Blickfelds. Der Gespensterjazz kam von dahinter.

Ich ignorierte das Kitzeln in meinem Magen, legte die Hand auf den rostigen Türknauf und trat ein.

Das Azraels war ein zwielichtiger Laden für zwielichtige Gestalten: Neonreklame und kantige Runen glühten durch einen Nebel aus Zigarrenqualm und Schwefelrauch. An den dicken Eichenholztischen hockte ein Dutzend Gäste. Nicht alle davon waren Menschen; ich fühlte es eher, als dass ich es sah. Hier hockte ein zotteliger Biker mit thebanischen Schriftzeichen auf der Lederkluft, dort eine viel zu schöne Frau in Weiß mit silbernen Augen.

Mein Informant saß in einer kaum beleuchteten Ecke. Unmöglich, sein Gesicht zu beschreiben: Sobald man ihm den Rücken zudrehte, hatte man es vergessen. Aber ich erinnerte mich gut an den Aktenkoffer, den er vor sich liegen hatte und den maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug. Niemand wusste, wer er war oder wo er herkam. Er dagegen wusste eine ganze Menge, wie er mir bei unserem ersten und bislang einzigen Zusammentreffen versichert hatte. »Sollten Sie je meine Dienste benötigen«, hatte er gesagt und mir seine Karte in die Hand gelegt.

Wie es aussah, hatte er bereits Kundschaft. Eine niedliche Gothic mit blauschwarz gefärbten Haaren saß vor ihm und nestelte am Saum ihres nachtfarbenem Samtkleids. Sie sah nicht glücklich aus.

»... nicht diese eine!«, hörte ich sie über den Kneipenlärm klagen. Ich spitzte die Lauscher. »Sie ist zu wertvoll für mich, verstehen Sie das nicht?«

»Bedaure«, antwortete der Informant. »Dann gibt es auch keine Antwort auf Ihre Frage.«

»Ich geb’ Ihnen eine andere! Bitte! Es ... es ist mir verdammt wichtig!«

»Dessen bin ich mir wohl bewusst. Aber Geschäft ist Geschäft. Eine gute Nacht wünsche ich noch.«

»Leck mich!« Sie zeigte ihm den Stinkefinger und fuhr auf. Als sie mir entgegenstapfte wie eine dunkle Furie, sah ich, dass ihr Mascara verlaufen war. Ihre Augen waren veilchenblau, voll hilfloser Wut und Tränen.

»Geh mir aus dem Weg!«, blaffte sie.

»Aber nur, weil du so nett drum bittest, Schwester«, sagte ich und trat zur Seite. Wie ich hatte läuten hören, konnten Streitereien im Azraels schon mal damit enden, dass eine der Parteien sich als Kröte oder Schleimigeres auf den wurmstichigen Dielen wiederfand. Besser, kein Risiko einzugehen. Meine Versicherung kam leider nicht für widerrechtliche Verwandlungen in Kriechtiere auf.

Ich nahm den Stuhl, auf dem bis eben noch das Mädel in schwarz gesessen hatte, und setzte mich dem Informanten gegenüber. »Hi«, sagte ich mit guter Laune, die ich nicht empfand.

»Ah«, sagte er, anscheinend hocherfreut. »Herr Hellmann, so sieht man sich wieder. Haben Sie sich doch entschieden, meine Dienste in Anspruch zu nehmen?«

»Wenn Sie liefern können, was Sie versprechen«, sagte ich.

»Seien Sie sich dessen gewiss.« Er lächelte mit unmenschlich perfekten Zähnen. »Und womit kann ich dienen? Möchten Sie das eine Zauberwort wissen, das jeden Menschen zu Ihrem Sklaven macht? Oder soll ich Ihnen sagen, wer das Universum wirklich erschaffen hat? Oder geht es um das genaue Datum Ihres Todes?«

Ich grinste müde. »Verlockend, aber nein. Ich brauche die Adresse einer Person, die anscheinend nicht gefunden werden will. Elisa Prätorius.«

»Ah«, sagte er.

»Sie kennen die Frau?«

»Natürlich. Ich weiß ...«

»Alles – ja, so steht es auf Ihrer Karte. Dann können Sie mir garantiert weiterhelfen.«

»Hmmm«, machte er wichtig. »Mal sehen.« Die Schlösser seines Aktenkoffers sprangen klackend auf. Er zog raschelnd einen Zettel hervor. »Oh«, sagte er. »Wie es der Zufall will, habe ich ihre derzeitige Anschrift hier.«

»Na, so ein Zufall aber auch«, sagte ich und versuchte, einen genaueren Blick auf das Papier zu erhaschen. Leider stellte ich mich dabei nicht allzu subtil an.

»Ah-ah-ah!« Mein Informant legte das Papier zurück in den Koffer, scheinbar gekränkt. »Diese Information ist nicht umsonst, mein junger Freund.«

War einen Versuch wert. »Wie viel?«, fragte ich und wappnete mich gegen die Antwort.

»Nun«, sagte er. »Information ist ein gefragtes Gut heutzutage. Trotzdem mache ich Ihnen einen Freundschaftspreis: sechzigtausend Euro. In bar.«

»Klar«, sagte ich. »Ich hol’ sie gleich aus meinem unsichtbaren Safe.«

Er lächelte sogar darüber: ein charmantes, kleines Lächeln, so echt wie natürliche Farbstoffe in Fruchtjoghurt. »Nun«, sagte er, »es gäbe noch eine andere Art der Bezahlung.«

Lass mich raten: Ein Pfund von meinem Fleisch oder meine werte Seele? »Welche?«, fragte ich.

»Oh«, sagte er beiläufig. »Nur eine Erinnerung.«

»Eine Erinnerung?« Ein entschieden ungutes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit.

»Nur eine kleine Erinnerung«, sagte er und machte eine wegwerfende Geste. »Das ist alles. Die Erinnerung an Ihren ersten Kuss

Ich starrte ihn an: Seine Augen hatten keine Farbe – jedenfalls keine, die ich beschreiben könnte – aber sie waren alt, uralt. Und er schien keine Witze zu machen.

»Wozu?«, fragte ich.

»Nennen Sie es ein Hobby. Ich bin Sammler von Erfahrungen, die mir selbst verschlossen bleiben.«

»Und Sie kopieren die Erinnerung und ...?«

»Oh nein«, sagte er amüsiert. »Nein, nein. Ich nehme sie mir und sie ist für immer mein. Unwiederbringlich.«

Ich dachte darüber nach. »Gibt es nicht eine andere ...?«

»Bedaure«, sagte er und machte Anstalten, seinen Koffer schließen. »Weiterhin viel Erfolg bei Ihrem Unterfangen, Herr Hellmann.«

Scheiße. Die Adresse der Prätorius rauszukriegen konnte Tage dauern. Und Samstag, mein Stichtag, rückte mit großen Schritten näher und näher. Meine Gedanken rasten.

»Warten Sie«, sagte ich.

Er hielt inne.

Unter dem Tisch ballten sich meine Hände zu Fäusten. »Also gut«, sagte ich. »Was muss ich tun?«

Sein Lächeln erinnerte mich an einen Hai, dem die Sardinen direkt ins Maul schwammen. »Geben Sie mir Ihre Hand.« Ich gab ihm meine Hand. Ich weiß noch, seine Finger fühlten sich an wie Plastik. So unecht wie alles andere an dem Kerl. »Nun öffnen Sie Ihren Geist«, sagte er.

Ich schloss die Augen, stellte das Radio in meinem Kopf auf Zen. Ich dachte, ich würde die Berührung fremder Finger in meinem Hirn spüren. Einen kalten Luftzug, der durch mein Oberstübchen wehte.

Doch ich fühlte nichts.

Ich schlug die Augen auf.

»Das war es schon«, sagte er und nahm die Hand zurück. »Vielen Dank, Herr Hellmann.«

Mein Lachen klang sogar in meinen eigenen Ohren unecht. »Wie – das war alles? Sind Sie sicher, dass es geklappt hat, Kumpel?«

»Nun«, sagte er. »Erinnern Sie sich den noch an das fragliche Ereignis?«

Natürlich erinnerte ich mich: Wir waren elf Jahre alt, Sina Hartwig und ich, und wir saßen auf der Schaukel auf dem Spielplatz und plötzlich beugte sie sich zu mir und ...

Nein, Halt. Das war mein zweiter Kuss gewesen. Mein erster Kuss war ... das Mädchen hieß ...

Ich wusste es nicht mehr. Dort, wo die Erinnerung sein sollte, wallte schwarzer Nebel. Undurchdringlich und kalt.

Ich versuchte zu schlucken – mit staubtrockener Kehle keine leichte Übung. Ein Schauer überkam mich wie eine Eimerladung Eiswasser: Ich hatte einen Teil von mir verkauft und ich würde ihn niemals wiederkriegen.

»Scheiße«, flüsterte ich. Hellmann, was hast du getan?

»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf?« Mein Informant stand auf und richtete seine Krawatte. »Leben Sie in der Gegenwart, Herr Hellmann. Das macht die Dinge leichter.« Aber er zog das Papier aus seinem Koffer und reichte es mir.

Ich starrte auf den Zettel, ohne ihn wirklich zu sehen.

»Gegen eine weitere, kleine Gegenleistung, kann ich Ihnen sogar verraten, wer Vadim Zagan umgebracht hat. Ich verlange nur die Erinnerung an ...«

»Nein danke«, sagte ich. »Sie haben schon genug von mir.«

»Geschäft ist Geschäft«, sagte er selbstzufrieden. »Sollten Sie meine Dienste je wieder benötigen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden können. Ich wünsche einen erfolgreichen Abend.« Er schloss seinen Koffer, setzte einen Hut auf, der vorher nicht da gewesen war, und lächelte mir ein letztes Mal zu. Dann war er verschwunden, zwischen zwei Lidschlägen ausgelöscht, als wäre er nie da gewesen.

Auf weichen Knien suchte ich den Weg nach draußen, wobei ich in meiner Erinnerung bohrte, wie die Zungenspitze in einem hohlen Zahn. Aber es war weg; es war alles weg und ich fühlte mich betrogen, beraubt –ärmer, als ich je zuvor gewesen war.

Ich ließ das Azraels weit hinter mir. Die Stadt schien kälter geworden zu sein. 

Aber zumindest hatte ich die Adresse der Oberwölfin.

 

 

5

 

Eine Minute vor Mitternacht erreichte ich die protzige Gründerzeitvilla abseits der City. Eine noble Gegend, voller nobler Paranoiker: Eine Mauer mit dezentem Stacheldraht umzäunte einen Garten von den Ausmaßen einer kleinen Südseeinsel, so dicht bewaldet, dass mich auch eine Wagenladung Brotkrumen nicht weitergebracht hätte.

Hinter keinem der geschätzten einhundert Fenster der Villa brannte Licht, aber das musste nichts heißen. Wenn Vampire im Dunkeln sehen konnten, warum dann nicht auch Werwölfe?

Ich versuchte, den Knoten in meinem Eingeweiden zu ignorieren und drückte den Klingelknopf neben der gusseisernen Eingangspforte. Es gab kein Namensschild.

Und auch keine Antwort.

Ich zog den Mantelkragen höher, während der Winterwind heulte. Klingelte ein zweites, dann ein drittes Mal.

Nicht der Hauch einer Reaktion. Entweder war niemand zu Hause oder man wollte nicht mit mir reden.

Großartig. Ich blickte zur stacheligen Gartenmauer. Befand sich die Hausherrin vielleicht dort hinter, auf der Jagd in ihrem eigenen Privatwald? Versuch macht kluch, dachte ich mir, versuchte angestrengt, nicht daran zu denken, welche Strafe die Oberwölfin gegen Hausfriedensbruch verhängte, nahm ein, zwei Schritte Anlauf – und sprang an der Mauer hoch. Ächzend und keuchend zog ich mich nach oben, meine Finger nur Millimeter vom Stacheldraht entfernt.

Meine Kletterübung riss mir fast die Hose und edlere Teile auf, aber ich schaffte es in einem Stück auf die andere Seite, wo meine Schuhe in einem Schneehaufen versanken. Der Fast-Vollmond war gerade erst aufgegangen und beleuchtete eine Legion knorriger Baumskelette. Lustige Häschen hoppelten umher, aber kein Wolf weit und breit. Also marschierte ich tiefer und tiefer in den Privatwald hinein. 

»Hallo?«, rief ich. »Mein Name ist Kai Hellmann! Tut mir leid, dass ich hier einfach so eindringe, aber ich suche eine gewisse Elisa Prätorius!« Ich nehme an, meiner Stimme war mein Herzflattern allzu deutlich anzuhören. Im Gedanken summte ich Beethovens Siebte vor mich hin, wie immer, wenn mir vor Nervosität schlecht wurde. Der Effekt war gleich Null. 

Ich glaube, es ist an der Zeit, Ihnen ein kleines Geheimnis zu verraten. Auch auf die Gefahr hin, unpopulär zu werden – aber ich hasse Hunde. Hasse, hasse, hasse die Biester. Was übrigens auf Gegenseitigkeit beruht.

Scheinbar kann ich an keinem Köter vorbeigehen, ohne dass er die Zähne fletscht und den Sabber fliegen lässt. »Er merkt, dass Sie Angst haben«, hatte mir das Frauchen eines halb tollwütigen Dobermanns mal erklärt.

Wie hätte ich bei dem Biest keine Angst haben können? Erzählen Sie mir nichts von Domestizierung und Männchen machen: Raubtier bleibt Raubtier.

Natürlich ist ein Kindheitstrauma schuld: Mit zarten sechs Jahren von einem pechschwarzen Hovawart attackiert zu werden, während man hilflos im elterlichen Auto festsitzt, kann so seine Spuren hinterlassen. Die Erinnerung ist noch kristallklar: Die Scheibe von seinem heißen Atem vernebelt, weißer Schaum, der gegen das Glas spritzt, Gebell, das wie Messer in meine Trommelfelle sticht ...

Wenn ich heute etwas kläffen höre, das größer ist als ein Chihuahua, tritt mir sofort der Schweiß auf die Stirn und meine Herzfrequenz macht Überstunden.             

Sie können sich also vorstellen, welcher Körperteil mir auf Grundeis ging, als ich nach hundert rechtswidrigen Schritten durch Elisa Prätorius’ Grundstück keine fünf Meter hinter mir ein animalisches Knurren vernahm, so tief, dass ich es bis durch die Schuhsohlen spürte.

Der Drang zu rennen, war übermächtig – gleichzeitig waren meine Füße wie festgefroren. Der ganze Kai ein menschlicher Eiszapfen. 

Dann: Schritte im Schnee. Knirsch, knirsch, knirsch. Immer näher und näher. Und plötzlich war die Starre aufgehoben, ich riss den Blick über die Schulter.

Er stand direkt hinter mir, ein Berg aus Fell, Muskeln und Zähnen. Mit frisch geschärften Krallen stapfte er auf mich zu, den Atem in einer heißen Wolke vor der Schnauze, die Lefzen hochgezogenen. Und plötzlich bin ich wieder sechs Jahre und möchte mich so klein wie möglich machen.

»W-Warte!«, brachte ich hervor, keine Ahnung, wie.

Noch ein Schritt. Seine Augen leuchteten düster-rot wie Zigarettenglut. Er knurrte, Geifer lief ihm aus dem Maul. Ich konnte seinen Hunger wie ein Ofenfeuer spüren, seine Wut: Hier stand ein mächtig angepisster Wolf, und die schwarzen Nägel an seinen haarigen Pranken würden mich wie Styropor zerreißen, wenn mir nicht schnell was einfiel.

»I-I-Ich kann das erklären!«

Noch ein Schritt. Lauf, du Idiot, dachte ich. Lauf, was du kannst! Nur würde ich keine drei Meter geschafft haben, bis er mich eingeholt hatte. Selbst durch meine Panik war dieser Fakt sonnenklar.

Noch ein Schritt. Der letzte. Sein Schatten fiel auf mich. Er roch nach Aas, ich sah frisches Blut auf seinen schwarzen Lippen, rote Sprenkel auf der pelzigen Brust.

Mach’s gut, Welt. War nett, dich gekannt zu haben.

»Du hast hier nix verloren!«

Ich war fast schockiert, das Ungetüm sprechen zu hören. Seine Stimme war so tief, dass Jabba the Hut dagegen echte Chancen hatte, bei den Kastelruther Spatzen mitzumischen.

»Ich weiß!«, sagte ich oder besser: stotterte ich. »Aber ich ermittle in einem Mordfall und ...!«

Seine ledrigen Nase kräuselte sich. »Alter, du stinkst!«, brüllte er.

»T-Tut mir leid! Mein Deo versagt manchmal, wenn mein Leben bedroht wird!«

»Du stinkst nach Blutegeln!« Er krümmte die Krallen. Ich kannte Skalpelle, die weniger scharf aussahen.

Ich wich langsam zurück. Und er stapfte langsam näher. »Ich bin kein Vampir! Ich arbeite nur für einen!«

Das alles schien seinen Hass nur weiter anzufachen. »Scheißblutegel! Diese miesen, arroganten ...!«

Erst als er mich mit dem Rücken gegen eine kahle Eiche getrieben hatte, fiel es mir siedend heiß ein: Jennys Silberdolch! »Platz!«, rief ich, als ich das Ding aus der Manteltasche riss und damit herumfuchtelte. Die Klinge reflektierte mein ängstliches Gesicht.              

Der Wolf wich zurück, doch sein Knurren klang nur noch angepisster, was ich bislang nicht für möglich gehalten hatte.

Ich japste nach Luft. »Jetzt lass mich endlich ausreden! Ich suche Elisa Prätorius! Es gibt einige Fragen, die ich ihr stellen muss!«

»Dürfte ich dann meinerseits erfahren, mit wem wir das Vergnügen haben?«, fragte eine weiteren Monsterstimme zu meiner Linken.

Ich glaube, ich habe kurz gewimmert.

Plötzlich stand neben mir ein zweiter Wolf: Stahlgraues Fell glänzte im Mondlicht und seine Augen blitzten in giftigem Grün. Seine Stimme klang so feminin wie ein abgrundtiefes Grollen nur klingen konnte.

»Elisa Prätorius ...« krächzte ich.

Die alte Wölfin entblößte die gelblichen Zähne zu etwas, dass Ähnlichkeit mit einem Lächeln hatte. »Nein, ich glaube, das ist mein Name.«

»Angenehm«, hauchte ich, den Rücken immer noch gegen die Eiche gedrückt. »Kai Hellmann.«

Die Wölfin wandte sich an ihren Artgenossen. Wo ihre Schnauze hellgrau war, fast weiß, und ihr Fell matt und struppig, wirkte der Lycanthrop neben ihr blutjung mit seinem glänzendem Pelz. »Jonas«, sagte das Monstrum namens Elisa Prätorius. »Wo sind deine Manieren? Entschuldige dich bei unserem Gast.«

Verwirrt verengte der andere Wolf die Augen zu roten Schlitzen. »Was ...? Aber – der Kerl is’ hier einfach so ...!«

»Ich sagte: entschuldige dich!«, wiederholte die Wölfin und verlieh ihren Worten knurrend Nachdruck.

Der jüngere Wolf namens Jonas legte die Ohren an. »’tschuldigung«, knurrte er ohne große Reue.

Ich erlaubte mir, aufzuatmen – und zuckte innerlich und äußerlich zusammen, als die Prätorius mir wieder ihr monströses Haupt zuwandte. 

»Vergeben Sie ihm«, sagte sie. »Er ist das jüngste Mitglied meines Rudels und noch nicht lange ein Geschöpf der Nacht.«

»Ist schon okay«, versicherte ich ihr hastig. Den Dolch behielt ich jedoch in der Hand, auch wenn er ihr wesentlich weniger Respekt einzuflößen schien als dem Jungwolf. »Vielleicht sollte ich noch mal von vorne anfangen: Mein Name ist Kai Hellmann. Ich bin Privatdetektiv.«

Die Wölfin nickte. »Ja. Man hört viel von Ihnen auf den nächtlichen Straßen, Herr Hellmann. Wahrscheinlich mehr, als Ihnen lieb sein dürfte.« Der wissende Unterton in ihrer Stimme gefiel mir gar nicht.

Ich täuschte Lockerheit vor. »Wie heißt es doch so schön? Es gibt keine schlechte Publicity.«

»Und womit können wir Ihnen helfen?«, fragte sie, den pelzigen Kopf schräg gelegt.

Ich hielt es für das Beste, keine weiteren Umschweife zu machen. »Wo waren Sie in der Nacht des zwanzigsten November?«

Sie zeigte abermals ein vermeintliches Lächeln voller gelber Fangzähne. »Das kann ich Ihnen sagen: Ich war hier im Garten, auf der Jagd. Zusammen mit dem Rest meines Rudels. Warum fragen Sie?«

»Weil in dieser Nacht Vadim Zagan ermordet wurde.« Ich fand den Mut, ihrem Blick stand zu halten.

»Ich verstehe«, sagte Elisa Prätorius ungerührt. Der Jungwolf dagegen bleckte grinsend sein Mördergebiss.

»Sie sind nicht überrascht«, erkannte ich.

»Sollte ich das?«, fragte die Prätorius. »Zagan hat alles getan, um sich bei unseresgleichen verhasst zu machen.«

Jonas der Wolf spuckte aus. »Der Arsch war ’n verfluchter Scheißnazi!«

»Jonas«, mahnte die alte Wölfin. »Mäßige dich!«

Er zuckte zusammen und blickte betreten drein. »Sorry ...«

Ich sah die Prätorius an. »Man sagte mir, Sie wären beide politisch engagiert. Und Konkurrenten. Ich meine ... gewesen.«

Elisa Prätorius nickte langsam. »Allerdings.« Ihre Pranke deutete zur Villa. »Aber lassen Sie uns doch ins Haus gehen. Ich bin sicher, dass Sie es dort viel gemütlicher finden werden.«

 

 

6

 

Sie bat mich, in einem beheizten Wintergarten zu warten, also wartete ich. Ich setzte mich in einen von vier Korbsesseln, den Fedora im Schoß. Langsam tauten meine Füße wieder auf, und der Rest meiner Panik verflüchtigte sich. Doch trotz des beruhigenden Grüns um mich herum wich meine Anspannung nicht völlig. Den Dolch hatte ich wieder in die Tasche gesteckt, jedoch so, dass der Griff einsatzbereit herauslugte.

Ist doch ganz gut gelaufen, dachte ich. Immerhin lebst du noch.

Das Licht im Wintergarten war gedämpft, sodass ich durch das Fensterglas große Schatten zwischen den kahlen Bäumen umherhuschen sah. Der Rest des Rudels? Wie viele mochten es sein – zehn, zwanzig? Ich bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper, als einer von ihnen ein langgezogenes Heulen Richtung Mond ausstieß.

»Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten.«

Eine alte Dame trat zu mir. Sie trug ein braunes Baumwollkleid und Pantoffeln an den nackten Füßen. Der Wolf hatte wieder den Schafspelz angelegt und setzte sich mir gegenüber. Elisa Prätorius war eine würdevolle Frau, mit der Aura der geborenen Matriarchin. Ein lebendiges, weises Funkeln lag in ihren grünen Augen. »Kann ich Ihnen einen Tee anbieten, Herr Hellmann?«

»Nein, danke.« Tatsächlich hätte ich alles für etwas Flüssiges gegeben, staubtrocken wie meine Kehle war. Aber ich wollte die Gastfreundschaft dieser Leute nicht allzu weit ausreizen. »Beeindruckendes Anwesen haben Sie hier«, sagte ich, in der Konversationskunst mit Ungeheuern noch immer nicht ganz firm.

»Vielen Dank«, sagte Elisa Prätorius. Sie hatte die Hände auf die Armlehnen des Korbsessels gelegt. Ich sah knotige Adern und Sprenkel von Leberflecken. Ihre Fingernägel waren kurz und gepflegt. Keine Spur von den Klauen, vor denen ich eben noch gezittert hatte. »Das Erbe meiner Familie ermöglicht es mir, hier in aller Ruhe und unter falschem Namen zu leben. Dieses Haus ist eine Zuflucht für mein gesamtes Rudel. Darf ich fragen, wie Sie hierher gefunden haben? Wir legen viel Wert auf Privatsphäre.«

Ich witterte eine Fangfrage. »Ich hab’ meine Quellen«, sagte ich.

Die alte Dame lächelte sanft. »Natürlich.«

Als ich mich vorbeugte, knarrte der Sessel unter mir. »Wie gut kannten Sie Vadim Zagan?«, fragte ich und zog Kugelschreiber und Notizblock hervor.

»So gut, wie man seinen Feind kennen sollte«, sagte sie. Ihre Stimme erinnerte mich an alten Samt und alten Wein. »Übrigens bin ich damit nicht allein: Die Zahl der Leute, die ihm an den Kragen wollten, ist Legion.«

Ich nickte. »Ja, er scheint nicht gerade jedermanns Liebling gewesen zu sein.«

»Sagen Sie, Herr Hellmann, wie ist er gestorben?«, Sie fragte es fast beiläufig.

Interessant, dass sie dies nicht wusste. Oder es zumindest vorgab. »Er wurde zerfleischt«, sagte ich. »Bei der Leiche fand sich Werwolfsfell.«

»Ich verstehe. Nun, ich kann Ihnen versichern, dass weder ich, noch ein Mitglied meines Rudels ihn umgebracht haben.«

Ich rieb mir das Kinn. »Darüber würde ich gern meine eigenen Schlüsse ziehen.«

Wieder das sanfte Lächeln. »Natürlich.«

»Sie sagten, Sie waren Konkurrenten«, sagte ich, die Kugelschreiberspitze über dem Papier. »Inwiefern?«

»In jedem Sinn des Wortes. Sie müssen verstehen, die Nachtvölker sind eine Minderheit, gespalten in weitere Minderheiten: Werwölfe, Vampire, Kobolde, Dämonen, Drachen, Geister, Feen.«

Ich nickte.

»Doch trotz aller Unterschiede haben wir einen gemeinsamen Feind.«

»Uns«, sagte ich. »Menschen.«

»So ist es. Sollte die Welt jemals erfahren, dass wir Fleisch und Blut sind, statt die Mythen, zu denen man uns gemacht hat – man braucht nicht viel Fantasie um sich vorzustellen, was dann passiert.«

Ich schwieg, wartete auf weitere Fakten.

»Es gab immer wieder Bemühungen einzelner Wesen, alle Nachtvölker zu vereinen«, fuhr Elisa Prätorius fort. Ihr grüner Blick verlor sich im Garten jenseits der Scheibe. »Versuche, sie zu organisieren, zu einer Nation zu machen, ungeachtet aller Unterschiede. Nur die Einheit kann uns den Schutz geben, den wir brauchen. Es gab Pläne, ein weltweites Netzwerk aufzubauen, Land zu pachten, und eine menschensichere Gemeinde zu errichten. Unser eigenes nächtliches Utopia.«

»Ich nehme an, genau das hatte Vadim Zagan vor?«, fragte ich.

»Es war sein Traum«, sagte sie.

»Und offensichtlich auch Ihrer.« Es war nicht schwer zu erraten. »Warum haben Sie sich also nicht zusammengetan?«

Diesmal war ihr Lächeln hässlich und ohne Humor. »Weil Vadim Zagans schöne neue Welt allen Nachtvölkern offenstand ... nur leider nicht uns Wölfen. Oh, er war ein brillanter Kopf, kein Zweifel – jemand, der wirklich eine Veränderung hätte herbeiführen können. Nur leider ist Rassismus keine exklusiv menschliche Eigenschaft, Herr Hellmann.« Ihre Stimme und ihr Blick wurden bitter. »Wie viele Blutsauger hielt Zagan uns für Tiere – unkontrollierbare Bestien. In seiner Zukunftsvision trugen wir entweder Maulkörbe oder wurden eingeschläfert.«

»Keine rosigen Aussichten«, stimmte ich zu. Hatte Lucretia dies mit Absicht verschwiegen – oder war sie nicht in alle Pläne ihres Mannes eingeweiht gewesen?

Die Wolfsmatriarchin legte die Hände in den Schoß. »Sie merken, der Kreis der Verdächtigen weitet sich auf so ziemlich jeden Wolf in dieser Stadt aus. Oder«, sie zögerte, »vielleicht auch nicht.«

Ihr bedeutungsschwangerer Unterton ließ mich aufhorchen. »Was meinen Sie?«

»Sie sagen, er wurde zerfleischt.«

»Laut seiner ... Witwe blieb auf alle Fälle nicht viel von ihm übrig.«

Sie nickte. »Die Tat einer blutrünstigen Bestie, nicht wahr? Aber das ist nicht unsere Art zu töten.«

»Wie töten Sie dann?«, fragte ich, unsicher, ob ich es wirklich wissen wollte.

»Schnell«, sagte sie. »Schnell und sauber, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen. Wir sind eben keine hirnlosen Mordmaschinen.« Sie machte eine Pause, wieder im neunten Monat bedeutungsschwanger. »Haben Sie schon in Betracht gezogen, dass dieser Mord inszeniert worden sein könnte, Herr Hellmann? Die Zerstückelung, das Fell. Möglicherweise wollte jemand den Verdacht in eine bestimmte Richtung lenken.« Ihr Blick ruhte auf mir.

»Ja.« Natürlich hatte ich schon daran gedacht. »Trotzdem würden die Wölfe von Zagans Tod profitieren.«

»Solange, bis irgendein anderer Rassist seinen Platz einnimmt.«

Ich ließ das im Raum stehen und wagte einen Schuss ins Blaue. »Sie wissen nicht zufällig von pikanten Geheimnissen, die Zagan der Welt verheimlicht haben könnte?«

»Nein«, sagte sie. »Denn wenn ich es täte, wären es keine Geheimnisse mehr, nicht wahr?«

Punkt für sie. »Sie sagten, Sie und Ihre Leute wären in der Mordnacht hier gewesen. Gibt es dafür Zeugen?«

»Nein«, sagte sie und breitete die Hände aus, als wollte sie demonstrieren, dass es nichts zu verbergen gab. »Sie werden mir schon glauben müssen. Aber vielleicht sollten Sie sich bei einem anderen Rudel umhören?«

»Wie viele gibt es denn?«

»Nun, abgesehen von ein paar flüchtigen Zweckgemeinschaften von Streunern, nur zwei. Meines, hier im Westen der Stadt, und eines im Osten. Sein Anführer kannte Zagan ebenfalls, so weit wir wissen. Sein Name ist Isenhart.«

Ich stenografierte die Info. »Wo kann ich den Mann ... Wolf ... finden? Sie haben nicht zufällig eine Adresse, Telefonnummer?«

»Nein«, sagte sie, mit einem Unterton, der mir verriet, dass dieser Gedanke für sie so absurd war wie ein Vadim-Zagan-Poster über dem Bett. »Aber sein Jagdrevier befindet sich im Waldgebiet auf der anderen Seite der Stadt – das ist allgemein bekannt, zumindest in unseren Kreisen.«

»Verstehe«, sagte ich.

Ihr Blick wurde warnend. »Aber sehen Sie sich vor. Nicht alle Wölfe haben so gute Manieren wie wir, Herr Hellmann.«

»Ich werde dran denken«, versprach ich und stand auf. »Und ich werde sehr wahrscheinlich wiederkommen. Mit weiteren Fragen.«

»Natürlich.« Sie erhob sich ebenfalls. Ihre Pantoffeln berührten wieder den Boden. »Ich habe keine Einwände. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennen gelernt zu haben, Herr Hellmann.«

»Ebenso«, sagte ich und setzte den Hut auf.

Sie machte Anstalten, mich aus dem Wintergarten zu geleiten, als mir noch etwas einfiel. Etwas, das mich schon seit Jahren beschäftigte. »Eine Frage noch. Das Gesetz zur Erhaltung der Masse.«

Sie hob irritiert eine Braue. »Was ist damit?«

»Das frage ich Sie. Ich meine, wie umgehen Sie es? Eine Dame von Ihrer Statur ... und dann ein doppelt so großer Wolf, mit Muskeln wie ein Kugelstoßer.«

»Magie«, sagte sie und lächelte geheimnisvoll. »Wie sonst?«

»Ah«, sagte ich.

Wir wollten gerade gehen, als mir bewusst wurde, dass wir beobachtet wurden, vielleicht schon eine sehr lange Zeit:

Im Schatten eines Baumes lauerte der Werwolf namens Jonas mit glühenden Augen. Als er meinen Blick sah, verschwand er spurlos in der Nacht.

Die Prätorius hatte bemerkt, dass ich es bemerkt hatte. Ihre Samt-und-Wein-Stimme klang traurig. »Es ist eine harte Welt dort draußen, Herr Hellmann. Wir alten Wölfe versuchen, den Jungen Sicherheit zu geben, aber Sicherheit ist etwas, das es für uns nicht gibt.«

»Tja ... zumindest das haben Sie mit uns Menschen gemeinsam.«

»Jonas ist keine siebzehn Jahre alt.« Sie blickte gedankenverloren zu dem Schnee und den Baumskeletten draußen. »Für Jungtiere wie ihn ist es besonders schwer. Er hat kaum die Chance, die eigene Verwandlung zu begreifen, und schon wird Jagd auf ihn gemacht. Hätte ich ihn nicht aufgenommen, wahrscheinlich wäre er auf den Straßen umgekommen, wie viele, viele andere vor ihm.«

Ich sah sie an. »Sie waren früher auch ein Mensch, oder? Wie ist es, zum Wolf zu werden?«

Ihre Augen leuchteten. »Als würde man einen Steinpanzer abstreifen, den man sein Leben lang getragen hat. Als würde man zum ersten Mal sehen, riechen und schmecken.« Sie lächelte raffiniert. »Aber warum fragen Sie? Möchten Sie es ausprobieren?«

»Nein, nein«, sagte ich schnell. »Das war nur professionelle Neugier.« Ich zuckte mit den Achseln. »Auch wenn’s politisch unkorrekt sein mag, aber ich bin gern ein Mensch.«

»Natürlich«, sagte sie. Und lächelte immer noch. »Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Herr Hellmann.«

»Ebenso«, sagte ich.

»Und seien Sie vorsichtig«, fügte sie hinzu. Ob es ein gut gemeinter Rat war oder eine Warnung, konnte ich nicht sagen.

Als ich zurück in die Kälte trat, war der Mond fast untergegangen. Ich beschloss, für diese Nacht Schluss zu machen und fuhr mit der letzten Straßenbahn zurück, das Innere meines Schädels ein Durcheinander aus Namen, Motiven, Fragen und Fakten.

Zuhause angekommen, wählte ich Lucretia Herzogs Nummer. Als niemand dran ging, hinterließ ich ihr eine kurze Zusammenfassung meiner bisherigen Ermittlungen auf der Mailbox, klappte mein Bett aus, ließ mich auf die Matratze fallen – und träumte von Monstern mit grauem Fell und großen Zähnen.

 

 

7

 

Ich schätze, mein Vater war an allem schuld. Ich war acht oder neun: Meine Mutter war wie jeden zweiten Samstagabend mit ihren Freundinnen beim Skat und der männliche Teil der Hellmann-Familie hatte sturmfrei. Wir hatten gerade das Brathähnchen verputzt, das mein Vater vom Grill besorgt hatte, und wussten nichts mit unserer neugewonnenen Freiheit anzufangen. Irgendwann sah mich mein Vater an. »Lust auf ’nen Film?«

Als ob er fragen müsste. Meine Mutter ließ mich so gut wie nie fernsehen, fest überzeugt, dass dies meiner Fantasie und Konzentration nur schaden könnte. Wenn ich mich mal vor die Flimmerkiste setzen durfte – nur einmal die Woche und nie länger als eine halbe Stunde – stand nichts Härteres auf dem Programm als Löwenzahn.

Aber an diesem Abend öffnete mein Vater seinen Videoschrank wie eine geheime Schatzkammer und ich bekam leuchtende Augen. Wo andere Väter ihre Söhne mit ihren ersten Schwedenwestern zum Mann machen, stand bei meinem Vater nur ein einziges Genre auf dem Programm:

Film Noir. Die Klassiker.

»Ich denke, du bist alt genug«, hatte er gesagt, und meine Brust war vor Stolz auf schwarzenegger-mäßige Proportionen geschwellt.

Er begann mit Die Spur des Falken und erhöhte danach um den nächsten Bogey-Streifen: Tote schlafen fest. Die Hälfte der Handlung ging komplett über meinen kindlichen Horizont, trotzdem war’s um mich geschehen.

Ich war angefixt.

Meine Mutter kehrte viel zu schnell zurück; sie hatte keine Ahnung, was mit ihrem Sohn an diesem Abend geschehen war. Fortan wurde es zu einem Ritual: Jeden zweiten Samstag im Monat folgte ein neuer Vertreter der Schwarzen Serie. Bald kannte ich sie alle besser als meine weitere Verwandtschaft: Marlowe, Spade und Hammer – einsame Wölfe, die auf den Straßen für Gerechtigkeit sorgten. Unbesungene Helden in einer Welt des Verbrechens. Der junge Kai Hellmann hatte seinen Traumberuf gefunden.

Ich vermisse diese Zeit. Aber am meisten vermisse ich ihn.

»Was immer du mit deinem Leben anstellst, egal wie hart es wird, egal wie steinig«, hatte er zu mir gesagt, am Tag vor der Herz-OP, aus der er nicht mehr erwachen sollte, »mach etwas, das du liebst

Er selbst war Pharmavertreter im Außendienst gewesen. Jeden Tag in einer anderen Stadt, ständig auf Achse. Er hatte es gehasst, das wusste ich. Musiker zu werden war sein großer Traum gewesen, als er in meinem Alter gewesen war, aber die Welt hatte es geschafft, ihm das auszureden. Er hatte es immer bereut.

»... mach etwas, das du liebst.«

An diesem Abend, auf dem Weg zu Jennys Laden, gingen mir seine Worte unablässig durch den Kopf. Mein Vater hatte nie an Magie geglaubt, an Gespenster, Hexen, Monster – ich weiß nicht einmal, ob er an Gott geglaubt hatte

Was er wohl dazu gesagt hätte, dass sein Sohn in dem Mord an einem Vampir ermittelte – und sich nun darauf vorbereitete, das Revier eines ganzen Rudels schlecht erzogener Werwölfe zu betreten? Vielleicht war es besser, das nicht zu wissen.

Der Vollmond stand dick und rund über der Stadt: Ein silbernes Auge, das jeden meiner Schritte genau beobachtete. Als ich Jennys Laden betrat, war sie gerade im Gespräch mit einem kahlköpfigen Kunden, der ungläubig ein Fläschchen in seiner Hand betrachtete.

»Ganz sicher?«, fragte er.

Jenny legte die Hand aufs Herz. »Wenn ich’s Ihnen doch sage – das einzige, wirksame Haarwuchsmittel auf diesem Planeten! Mich soll der Blitz treffen, wenn ich lüge!«

Das schien ihn zu  überzeugen und er verabschiedete sich mit einem hoffnungsvollen Lächeln.

»Für einen Moment dachte ich echt, der Zorn Gottes trifft dich«, sagte ich, als die Ladentür klingelnd hinter ihm zufiel. 

Sie zuckte die Achseln. »Hey, ein bisschen schlechtes Karma macht das Leben interessanter – dieses oder das nächste. Außerdem: Unterschätze nie den Placebo-Effekt.«

»Du hast nicht zufällig auch ’ne Tinktur gegen garstige Vermieterinnen?«

»Dagegen ist leider kein Kraut gewachsen. Wie gehen die Ermittlungen voran?«

Ich erzählte es ihr.

»Ooookay«, sagte sie, während sie die Schaufensterbeleuchtung ausmachte. »Du hast also einen toten Blutsauger, der politisch aktiv und darüber hinaus ein übler Rassist war, und ein ganzes Rudel an Hauptverdächtigen – nein warte, zwei Rudel! Hab’ ich was vergessen?«

»Hast du. Das ›kleine Geheimnis‹, mit dem er erpresst wurde.«

Sie schob sich eine Dreadlock aus der Stirn. »Vom Mörder?«

»Unwahrscheinlich«, sagte ich. »Ein Erpresser will Geld. So viel und so lange wie möglich.«

»Es sei denn, er hat spitz gekriegt, dass der Erpresste ihn aus dem Weg schaffen wollte, und ist ihm zuvor gekommen«, konterte sie.

Ich nickte beeindruckt. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. »He, vielleicht solltest du die Branche wechseln.«

Sie grinste. »Nimm’ mir das nicht krumm, aber: Göttin, nein! Nicht um’s Verrecken.« Inzwischen war der Laden dunkel bis auf das Licht über der Kasse. Jenny wurde ernster. »Und jetzt begibst du dich in die Höhle des Löwen?«

»Des Wolfes.«

»Ha ha«, machte sie lahm.

»Ich hab’ leider keine große Wahl, Jenny.«

»Hast du wenigstens den Dolch noch?«

Ich klopfte auf die Innentasche meines Mantels. »Genau hier.«

»Pass gut drauf auf«, sagte sie. »Und auf deine Haut.«

»Keine Sorge, dafür häng ich zu sehr dran«, sagte ich. »Hör mal, was ich fragen wollte: kannst du mir deinen Wagen leihen? Es fährt leider kein Bus bis zum Wald rauf.«

»Ehrlich, du solltest dir endlich mal ’n Fahrrad zulegen.«

»Danke, aber ich würde gern noch was von meiner Privatschnüffler-Würde behalten.«

Sie wollte etwas Gegenteiliges entgegnen, seufzte dann aber schwer. »Ist ja schon gut. Hier.« Sie kramte die Schlüssel unter der Kasse hervor und warf sie mir zu. »Aber verstell’ nicht wieder den Rückspiegel, klar? Ach ja, und wenn ich Müll im Wagen finde, der nicht mein eigener ist ...!«

»Kein Müll, versprochen«, sagte ich und meinte es so. »Ach, bevor ich’s vergesse: Was weißt du über die Tötungsgewohnheiten von Werwölfen?«

Sie stemmte die Hände in die Hüften. »So viel wie über das Liebesleben meiner Eltern. Aber ich kann was nachschlagen.«

»Tust du mir den Gefallen?«

»Aber nur, weil du’s bist.«

»Danke. Ohne dich wär’ ich echt aufgeschmissen.« Auch das meinte ich so.

Sie lächelte frech. »Ich weiß – und ich werd’ alles tun, dass du’s nicht vergisst.« (Ich bin todsicher, dass sie das ebenfalls so meinte.)

Ich befreite Jennys taubengrauen Polo II aus der Garage und fuhr los. Während sich meine Innereien zu einem stahlharten Knoten schlangen, ließ ich die City hinter mir. 

Der Vollmond stand über schneebedeckten Tannenwipfeln, als ich den Wald am östlichen Stadtrand erreichte. Beim Aussteigen knirschte Kies unter meinen Schuhen. Ich blickte in das Wirrwarr aus Bäumen und Schatten und versuchte, mein hyperaktives Herz zu beruhigen. Eine Taschenlampe in der linken Hand und den Silberdolch fest umklammert in der Rechten, wagte ich den ersten Schritt in die kalte Dunkelheit.

Der Scheck, beschwor ich mich. Denk an den Scheck!

Vor mir glitt der Lampenstrahl von links nach rechts wie ein Messer aus Licht. Bald ließ ich die zugeschneiten Wanderwege hinter mir. Schnee und Zweige knirschten und knackten bei jedem Schritt. Mein Atem hing als blasse Wolke vor dem Mund. Ich versuchte es wieder mit Beethoven, aber alles, was kam, war das Thema von Der Weiße Hai.

Vielleicht hätte ich doch in meinem alten Job bleiben sollen. Musikalienhändler zu sein barg vielleicht keinen Ausbund an Spannung und intellektuellem Stimulus – aber die Gefahr, von Wolfsklauen in Streifen gerissen zu werden, war dafür erheblich geringer.

Mit angehaltenem Atem lauschte ich in den Wald. Überall schien es zu knacken und zu rascheln, aber es war nichts zu sehen. Nur Tiere, sagte ich mir. Hasen oder Füchse oder was weiß ich. Die haben wahrscheinlich mehr Angst vor dir als du vor –

Ich schrie, als direkt vor meinen Augen ein Schemen zwischen den Bäumen hindurch raste. Ich sah tiefschwarze Augen, gekrümmte Krallen und riss die Arme vor’s Gesicht. Dann hörte ich das Schlagen großer Flügel, den Ruf einer Eule.

Nervös über mich selbst lächelnd, sah ich dem flüchtigen Flattermann hinterher. »Verdammter Drecksvogel«, murmelte ich. »Mach das nicht noch –!«

Als das Knurren erklang, spannte sich mein ganzer Körper wie ein Draht zwischen zwei Schraubzwingen.

Ich hörte den Wolf hinter mir. Spürte ihn. Riesig und voller Wut.

Und er hatte Gesellschaft: Ihr Grollen und Knurren drang von allen Seiten an meine Ohren. Es waren mindestens fünf, im Halbkreis um mich verteilt, ihre Silhouetten fast mit den allgegenwärtigen Schatten verschmolzen. Zornige Augen funkelten wie grüne, blaue und rote Edelsteine. Sie kamen näher. Langsam. Überlegen.

Au scheiße, dachte ich. Auscheißescheißescheiße.

»Hört mal, Jungs, ganz ruhig!«, rief ich, wobei meine Stimme bebte wie Mutters bester Wackelpudding. »Ich will gar nichts von euch – obwohl, eigentlich doch ... ich ...!«

Der Wolf hinter mir bellte auf – und seine Kumpane hetzten los.

Okay. Wenn ein halbes Rudel Werwölfe auf einen zu jagt, bleibt man nicht stehen und stellt Fragen, sondern man rennt – man rennt so schnell, dass die Seitenstiche wie weißglühende Messer in den Hüften brennen und die Spucke nach Blut schmeckt. Ich jagte los, wie von der Tarantel gestochen. Den Fedora an den Kopf gedrückt, schlug ich wie Haken zwischen den Tannen, sprang über Wurzeln und Baumstümpfe, während der Lampenstrahl vor mir her tanzte. Zwecklos: Meine Verfolger ließen nicht locker – stattdessen trieben sie mich tiefer in das Labyrinth des Waldes. Immer mehr von ihnen schossen aus dem Dunkel, und schlossen sich den anderen an: zehn, fünfzehn, zwanzig Werwölfe mit stinkendem Atem, Rasiermesserzähnen und Muskeln, die für drei Kai Hellmanns gereicht hätten.

Ich hörte sie hinter mir heulen; Frost überzog meine Knochen. Du bist tot, dachte ich.

Trotzdem rannte ich weiter. Und sie setzten mir nach. Sie hatten Blut geleckt.

Weitere Wölfe tauchten vor mir auf. Ich bremste ab, machte mich fast lang und schlug abermals einen Haken, während hinter mir beide Meuten zu einer großen Meute verschmolzen.

Mit brennenden Lungen lief ich weiter, kaum fähig zu denken.

Immer mehr Wölfe folgten dem heulenden Ruf ihrer Artgenossen. Gott, wie viele von den Viechern lauerten hier noch?

»Leute!«, krächzte ich atemlos. »Ich will ... euch nichts tun! Ich ... will nur mit einem ... Typen namens Isenhart ... sprechen! Ich –!« Ein Schrei aus meiner eigenen Kehle schnitt mir das Wort ab, als eine Wurzel unter dem Schnee mir ein Beinchen stellte. Dolch und Taschenlampe landeten – irgendwo. Noch bevor ich mich mit zitternden Beinen aufrichten konnte, war ich umzingelt von einer Horde großer böser Wölfe.

Ich hätte mich eingenässt, wäre nicht mein ganzer Körper zu Eis erstarrt gewesen.

Das war wieder einer dieser Momente, in denen ich meinen Job leidenschaftlich hasste.

»H-Hört zu!«, keuchte ich. »Ich bin sicher, wir können das auch gewaltfrei lösen!«

»Ich nicht«, grollte eine abgrundtiefe Stimme, voll von bösem Humor.

 

 

8

 

Ich schluckte. Das Monster leuchtete gespensterweiß im Licht des Vollmonds, seine Augen dagegen glühten tiefrot wie Rubine. Oder wie frisches Blut. Es war der einzige Albino im Rudel und überragte seine grauen Kumpane um einen Kopf. Auch ohne Brehms Tierleben war mir klar, dass ich das Alpha-Männchen vor mir hatte, und ich begriff: Die Jungs hatten mich ihrem Boss direkt in die Klauen gespielt.

Ich hörte die ganze Bande grollend lachen. Keinen so sehr wie das weiße Scheusal vor mir.

»Sie – Sie sind Isenhart, nicht wahr?«, fragte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend.

»Und du«, sagte der Albinowolf, »bist ein zitterndes Stück Fleisch.«

Wo er Recht hatte, hatte er Recht. Es folgte noch mehr Gelächter seiner Artgenossen. Schön, dass sie ihren Spaß hatten.

Ich rang nach Atem. »Mein Name ist Kai Hellmann. Ich muss mit Ihnen sprechen.«

Bevor ich mich versah, schoss Isenharts bepelzter Arm vor und packte meine Kehle. Nadelspitze Krallen stachen mir in den Hals. »Aghlrg«, krächzte ich. Oder etwas in der Art.

»Du kommst ganz allein her, in unser Revier«, knurrte er, seine Augen fiese, rote Schlitze. »Du hast entweder Mumm oder ’nen gewaltigen Hirntumor!«

»So gesehen«, röchelte ich, »hört sich das wirklich nach ’ner ziemlich blöden Idee an ...«

Sein Aasgeruch schlug mir entgegen. Irgendwo in meinem Kopf dröhnte ein ständiger Hammerschlag. »Irgendwelche letzten Worte, kleiner Mann?«

»Ja«, würgte ich hervor. »Wo waren Sie in der Nacht des zwanzigsten November?«

Isenhart legte den Kopf schräg. »Was?«

Er ließ mich los. Eine Weile war ich nur damit beschäftigt, Luft zu holen. Ich betastete meinen Hals. Sah die roten Flecken auf meinen Fingern.

»Die Frage«, röchelte ich, »war doch ziemlich ... eindeutig, oder? Wo waren Sie in der Nacht des zwanzigsten November? Sie – und Ihr Rudel.«

Die Wölfe knurrten.

Isenharts Augen blitzten. »Es geht dich einen Scheißdreck an, was ich oder mein Rudel getrieben haben, egal in welcher Nacht!«

»Irrtum«, sagte ich. Meine Kehle brannte immer noch wie Feuer, aber zumindest einen Teil meines Selbstbewusstseins hatte ich wieder. »Ich ermittle in einem Mordfall.«

Die Wölfe lachten.

»Ach ja?« Isenhart bleckte die Zähne. »Mord an wem?«

»Vadim Zagan, dem Vampir.«

Isenharts pelzige Ohren zuckten verwirrt. »Was?«

»Überrascht Sie das?«, fragte ich und machte eine geistige Notiz.

»Natürlich nicht!«, bellte Isenhart. »Zagan, wie? Ha, das wurde auch Zeit, dass einer von uns den alten Nazi aufschlitzt!«

Das gesamte Rudel stimmte ihm heulend zu.

»Ich habe nicht gesagt, dass ein Werwolf ihn getötet hat.«

»Und wenn doch?«, fragte Isenhart mit bösem Grinsen. »Wenn ich dir sage, das ich’s gewesen bin? Oder einer von meinen Leuten? Was würdest du dann tun, Affengesicht – die Bullen rufen? Die Nachtvölker würden dir als Dankeschön den Arsch aufreißen!« Er lachte.

»Ich bin nicht dafür verantwortlich, was mit dem Mörder geschieht«, sagte ich ernst. »Ich bin nur hier, um ihn zu finden.«

»Wo wir gerade beim Thema sind.« Isenhart sah mich finster an. »Wie hast du uns gefunden?«

Die Wölfe machten einen kollektiven Schritt auf mich zu. Ich war zu allen Seiten umringt von haarigen Leibern und Mörderklauen.

Mein Herz wanderte wieder südwärts. »Ist das nicht ziemlich egal?«, fragte ich.

Plötzlich war Isenharts Wolfshaupt ganz nahe bei mir, beschnupperte mich. »Ich kann es riechen – du warst bei ihr!« Und er brüllte: »Die alte Vettel Prätorius! Sie hat unser Revier verraten!«

Das Knurren des gesamten Rudels ließ den Boden wackeln. Ich sah Geifer über gefletschte Zähne laufen. Juwelenaugen funkelten vor Zorn und Hass.

»Hey, ganz ruhig!«, sagte ich. »Ich hab’ ihr nur ein paar Fragen gestellt, genau wie euch!«

Isenharts Krallen zerfetzten zischend die Luft. »Du hast drei Sekunden, dich zu verpissen! Eins!«

Das ganze Rudel spannte die Muskeln an. Machte sich bereit zum Schlachtfest.

»H-Halt! Wartet!«, rief ich aus.

»Zwei!«

Ich sah den Hunger in ihren Augen lodern. »Bevor ihr Chappi aus mir macht, denkt nach

»Worüber? Ob wir dich roh fressen oder lieber gebraten?« Isenhart lachte. Ich sah mich bereits selbst durch den Wolf gedreht, im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich war nie der Kämpfertyp gewesen. Aber eines konnte ich schon immer gut: reden.

Und jetzt redete ich mich um Kopf und Kragen, wobei mir das Herz bis zum Hals schlug und die Zunge fast über die Worte stolperte.

»Wie es aussieht, wurde ein prominenter Vampir von einem Werwolf getötet. Seine Leute werden nach Vergeltung schreien, und Ihr Rudel und das von Elisa Prätorius – und jeder Wolf in der Stadt! – steckt dann in gewaltigen Schwierigkeiten!« Ich holte tief Luft. Mein Puls feierte seine eigene, kleine Raveparty. »Also wär’s vielleicht klüger, zu helfen, den wahren Mörder ausfindig zu machen, anstatt große Machoreden zu schwingen! Wenn Sie und die Prätorius sich zusammentäten ...!«

Isenharts Sabber sprenkelte mein Gesicht. »Vergiss es!«, brüllte er. »Diese verfluchte Heuchlerin! Labert von Einheit der Nachtvölker und mokiert sich über Rassistenschweine wie Zagan – aber sie ist selbst nicht besser! Sieht auf uns herab, als wären wir verlauste Straßenköter! Wenn’s nach ihr ginge, würden ich und meine Brüdern und Schwestern hier allesamt verrecken, damit wir nicht sie und ihre ach so feine Sippschaft in Verruf bringen! Aber wir sind die Wölfe der Straße: wild, frei, stark! Wir tun, was wir wollen, gehen, wohin wir wollen, egal, wem wir dabei an’s Bein pissen!«

Das gesamte Rudel stimmte heulend zu.

Isenharts Blick glühte wie zwei Laserpointer. »Wenn Zagan endlich den Löffel abgegeben hat, kann ich nur sagen: gut so!«

Ich wischte mir die Wolfsspucke von der Wange. »Das streicht Sie nicht gerade von der Liste der Hauptverdächtigen«, sagte ich.

Sein zähnestarrenden Grinsen jagte mir diverse Schauer über den Rücken. »Hast du schon mal dran gedacht, Superschnüffler, dass die Prätorius uns den Mord in die Schuhe schieben will?«

Natürlich hatte ich das. Nur ... »Warum sollte sie das tun?«

»Damit die Scheiß-Blutsauger wieder Jagd auf uns machen!«

»Das ergibt keinen Sinn. Warum sollte sie die Stimmung gegen alle Wölfe aufheizen?«

»Wenn einem von uns die Sache angehängt wird, ist Prätorius doch die erste, die uns an die Blutsauger verrät – wahrscheinlich helfen sie und ihre Musterknaben sogar noch dabei, uns auszurotten, damit sie ihnen zeigen kann, was für liebe Schoßhündchen sie sind!«

»Hmmm«, machte ich nachdenklich. »Was machen Sie beruflich?«

Der Themenwechsel traf ihn völlig unvorbereitet; für einen Wolf machte er ein ziemlich dummes Gesicht.

»Was tun Sie, wenn Sie nicht gerade auf Biwak im Wald herumlungern?«, führte ich aus. »Selbst Werwölfe brauchen einen sicheren Unterschlupf – Fleisch, wenn bei der Jagd nichts rauskommt – Klamotten, um in menschlicher Gestalt nicht aufzufallen – und so weiter.«

Er spreizte die Klauen. »Das geht dich einen Scheißdreck an!«

Hatte ich etwa einen wunden Punkt getroffen? »Ich krieg’ es so oder so raus – also?«

Er zögerte, wich meinem Blick aus. »Nachtwächter. Bin gefeuert worden.«

»Guter Job?«, fragte ich.

»Beschissene Bezahlung. Aber man hat kaum Menschen um sich.«

»Und der Rest von euch?« Mein Blick wanderte von Wolf zu Wolf.

»Lagerarbeiter«, knurrte einer.

»Kauffrau im Einzelhandel«, ein anderer.

»Hartz IV«, der nächste.

»Wir sind alle kleine Fische«, grollte Isenhart.

Ich lächelte trocken. Das Gefühl kam mir sehr bekannt vor. »Also gut«, sagte ich. »Ich bin fürs Erste hier fertig. Aber richtet euch drauf ein, dass ich wiederkomme. Und weitere Fragen stelle.«

Isenhart funkelte mich an. »Richte du dich lieber drauf ein, das wir beim nächsten Mal nicht so viel Lust zum Plaudern haben. Und jetzt verzieh dich – dein Geruch macht mich noch wahnsinnig!«

»He!«, sagte ich. »Ich rieche nicht!«

Er lächelte mit viel zu vielen Zähnen. »Und ob.« Er wandte sich an sein Rudel. »Kommt. Lassen wir den Schnüffler ziehen. Hoffen wir, dass ihn seine Spürnase nicht in Schwierigkeiten bringt!«

Die Wölfe verschwanden so schnell in der Nacht, wie sie gekommen waren. Ich suchte nach Taschenlampe und Dolch und folgte den Spuren, die sie bei ihrer Hetzjagd auf mich im Schnee hinterlassen hatten. Zwanzig Minuten später erreichte ich mit eiskalten Füßen den zugeschneiten Grillplatz am Waldrand, wo ich geparkt hatte.

Ich hatte Gesellschaft.

 

 

9

 

Ein altersschwacher Golf stand neben Jennys Wagen. Die Fahrerin stieg gerade aus und stapfte mit wehendem, schwarzen Rock und zugeknöpfter Lederjacke auf mich zu. Diese schwarzblauen Haare und wütenden Veilchenaugen hatte ich doch schon mal gesehen ...

»He, du bist doch die Gothic aus dem Azraels! Was machst du hier ...?«

Ihr Schlag traf mich in die Magengrube; ich klappte zusammen, rang nach Luft. Der Dolch landete klirrend auf dem Boden. 

»Das gleiche frag’ ich dich!«, fauchte sie mich an, ernstlich angepisst.

Sie holte mit dem Fuß aus, aber ich trat zur Seite, bevor ihre Stiefelspitze meine Familienplanung zunichte machte.

»He!«, sagte ich. »Jetzt warte mal ’ne Sekunde!«

Das Mädchen in schwarz griff in seine Jackentasche. Eine Klinge aus Silber funkelte in ihrer Hand. Ihre Stimme loderte vor Hass. »Du steckst mit diesen Mistviechern unter einer Decke, oder? Du bist einer von diesen beschissenen Wölfen! Los, rede!« Sie drohte mit dem Messer.

»Ich bin keiner von denen«, sagte ich ruhig.

»Ja, klar!« Ihr Ton war ätzend wie Säure. »Du bist nur hier draußen, um Pilze zu sammeln! Erzähl mir nix! Das hier ist Wolfsgebiet!« Sie schwang das Messer – es hätte mir den rechten Arm aufgeschlitzt, wäre ich nicht in letzter Sekunde zur Seite getreten. Ich packte ihr Handgelenk und drehte es ihr auf den Rücken, während ich gleichzeitig ihre linke Hand festhielt.

»Arrhh!« Sie brüllte wie eine gefangene Raubkatze, wehrte sich erbittert. »Lass mich los, du Wichser!«

Ich hatte alle Mühe, sie festzuhalten. »Langsam, okay, Schwester? Ich bin Privatdetektiv. Ein Typ namens Zagan wurde ermordet und ...!«

»Die waren es!«, schrie sie. »Die haben Vadim umgebracht!« Leise Schluchzer schüttelten sie.

Ich muss ziemlich dämlich aus der Wäsche geguckt haben. »Du kanntest ihn?«

Sie zog die laufende Nase hoch. »Ich hab’ ihn geliebt.« Plötzlich bäumte sie sich wieder mit aller Macht auf. »Und ich werd’ diese Scheißviecher dafür aufschlitzen!«, tourettete sie. »Lass mich endlich los, du Arschloch

Ich kam mir vor, als würde ich ein durchgedrehtes Fohlen festhalten. »Hast du sie noch alle? Die fressen dich mit Haut und Haaren, schneller als du ›Rotkäppchen‹ sagen kannst!«

»Das ist mir scheißegal!«, fauchte sie, gleichzeitig weinend und vor Wut zitternd. »Die haben Vadim auf dem Gewissen! Ich kann ohne ihn nicht leben! Ich ...!« Dicke Tränen gemischt mit Wimperntusche liefen ihr über die marmorbleiche Haut. Ich ließ ihre Hände los, dann hielt ich sie im Arm, während sie weinte.

»He, ist ja schon gut«, sagte ich leise. »Ganz ruhig. Wie wär’s, wenn du mir die Geschichte von Anfang an erzählst?«

 

Sie hieß Desideria. Natürlich war das nicht ihr richtiger Name, aber der einzige, den sie mir nennen wollte. Wir setzten uns in Jennys Wagen zusammen. Ich ließ den Motor laufen und drehte die Heizung auf, dann gab ich ihr ein Taschentuch aus dem Handschuhfach, mit dem sie sich die dunklen Rinnsale von den Wangen wischte. Nach ein paar tiefen Atemzügen begann sie zu erzählen.

»Wir lernten uns vor drei Monaten im Theater kennen.« Wenn sie nicht von Hass und Verzweiflung entstellt wurde, klang ihre Stimme weich und melodisch. Sie lächelte bei der Erinnerung. »Faust. Unser Lieblingsstück. Wir lernten uns kennen und ... ich hab’ mich sofort in ihn verknallt. Er war klug, sanft und er sah so verdammt gut aus! Ich dachte, ich träume und muss jede Sekunde aufwachen.« Einen Moment lang schienen die Gefühle sie wieder zu überkommen, aber sie kämpfte sie tapfer zurück. Es schien ihr unangenehm zu sein, vor einem Fremden zu weinen.

»Du wusstest, was er war?«, fragte ich.

Sie nickte. »Natürlich. Lange, bevor er es mir sagte. Wir trafen uns mehrmals in der Woche, irgendwo im Park, in der Stadt. Natürlich immer nach Sonnenuntergang ...«

Mir ging ein Licht auf. »... aber nie bei ihm zu Hause.«

Das Mädchen namens Desideria sah mich an. Ihre Augen waren sehr hübsch, vielleicht wären sie ohne Schminke noch hübscher gewesen. »Warst du schon mal verliebt – ich meine, richtig verliebt? So, dass du vor nichts auf der Welt Angst hast –  außer davor, den anderen niemals wieder zu sehen?«

»Ja«, sagte ich.

Ihre Lippen bebten, als schmerzhafte Erinnerungen hochkamen. »Ich wollte, dass er mich von sich trinken lässt. Mich verwandelt. Ich weiß nicht wieso, aber er wollte nicht. ›Lass uns warten‹, hat er immer gesagt. Und ich dachte: ›Vielleicht hat er ’ne andere.‹ Ich bin fast durchgedreht. Dann, vor fast anderthalb Monaten, trafen wir uns auf dem Ost-Friedhof, ganz in der Nähe vom Wald. Da haben wir’s getrieben, zwischen Granitengeln und Efeu. Erst mittendrin haben wir mitgekriegt, dass uns wer beobachtet hat.« Sie wischte sich die Nase ab.

Ich glaubte zu wissen, was als nächstes kam. Langsam nahm das Puzzle Form an.

»Es war einer von diesen Scheiß-Wölfen.« Ihr Puppengesicht wurde zu einer bitteren Grimasse. »Keine Ahnung, wie er heißt, aber er und Vadim kannten sich. Ich wusste, dass Vadim ein hohes Tier war – aber ich wusste nicht ... dass er eine Frau hatte, ich ...« Ein stiller Heulkrampf schnitt ihr das Wort ab.

Ich legte meine Hand auf ihre Schulter, roch ihren Patchouly-Duft. »Schon gut«, sagte ich. »Ist schon gut.«

»Nein, es ist nicht gut!«, fauchte sie durch ihre Tränen. »Der Wolf fing an, Vadim zu erpressen. Dann hat er ... ich meine, Vadim ... den Kontakt abgebrochen. Er sagte, es wäre besser, wenn wir uns nicht mehr sehen. Er hat mich einfach fallen gelassen und vergessen!« Sie weinte, das Taschentuch auf ihren Mund gepresst. Dunkle Tränen landeten auf dem Polster des Beifahrersitzes.

»Wie hast du von seinem Tod erfahren?«, fragte ich, als das Schlimmste vorbei zu sein schien.

Desideria zog die Nase hoch. »Durch Vadim kenn’ ich die Orte, wo seine sich Leute treffen. Ich hab’ gehört, dass er seit fast einem Monat verschwunden ist. Ich wusste sofort, was los war: Einer hat ihn umgebracht. Der Scheißwolf, der uns beobachtet hat. Ich hab’ ’ne Menge gegeben, rauszufinden, wo sich diese Drecksviecher treffen und ... und ich wollte ...«

»Ja, ich weiß«, sagte ich. »Aber wie kommst du darauf, dass der Wolf ihn ermordet hat? Wenn er Geld von ihm erpressen konnte, warum sollte er ihn dann umlegen und sich selbst den Geldhahn abdrehen?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Was weiß ich! Vielleicht wurde ihm die Sache zu heiß. Vadim hatte Einfluss und keiner kann die Wölfe ab. Vielleicht hat er gedacht, Vadim wollte sich rächen, und hat ihn vorher umgebracht!«

Ich nickte: Das war auch meine und Jennys Theorie gewesen. Okay – Jennys Theorie. Trotzdem – nennen Sie’s Instinkt – konnte ich nicht so recht dran glauben. »Hmm«, machte ich. »Woher wusstest du überhaupt, dass der Wolf zum Ost-Rudel gehört? Ich kann keine zwei von denen auseinanderhalten. Wie ...?« Ich unterbrach mich selbst. »Warte, sag nichts. Er ist ein Albino, richtig?«

Sie machte große Augen. »Woher ...?«

Ich dachte an Isenharts Sabber in meinem Gesicht, seine zähnestarrende, gespensterweiße Fratze. »Ich hatte heute Abend selbst das Vergnügen.«

Natürlich, es passte alles zusammen: Isenhart war arbeitslos – er konnte das Geld gut brauchen. Deswegen hatte ihn die Nachricht von Zagans Tod auch für eine Sekunde aus dem Konzept gebracht. Im Gegensatz zu allen anderen Wölfen – Elisa Prätorius eingeschlossen – brachte ihm ein toter Zagan keine Befriedigung, gleichgültig was er behauptete.

Mein Herz beschleunigte seinen Schlag, als sich das nächste Puzzlestück einfügte. Das Fell!

»Hör zu«, sagte ich. »Der Albino ist der Erpresser, aber er hat Zagan nicht umgebracht.«

Sie verzog die verweinten Augen zu Schlitzen. »Woher willst du das wissen?«

»Man hat Fell bei ihm gefunden: graues Fell. Stinknormales Straßenköter-Werwolfs-Grau.«

Sie schüttelte verständnislos den Kopf. »Na und? Dann war er’s eben nicht persönlich, sondern einer seiner Handlanger.«

Nein, dachte ich. Das passte nicht. Trotzdem hatte ich das Gefühl, das Puzzle fast in seiner Gänze sehen zu können. Ich war nahe dran, verdammt nahe dran, das fühlte ich. 

»Pass auf, ich muss los«, sagte ich; meine Finger kribbelten wie jedes Mal, wenn ich kurz davor stand, einen Fall zu lösen. »Ich muss noch mal mit jemandem reden. Gib mir deine Nummer – ich melde mich, sobald ich den Mörder gefunden habe. Aber versprich mir, bis dahin keine Dummheiten zu machen, okay?«

Sie zögerte, spürbar misstrauisch. »Aber ...!«

»Glaubst du, Vadim hätte gewollt, dass du ins offene Messer läufst?«

Ihre Schultern sanken herab. »Nein.«

»Ich finde seinen Mörder«, sagte ich. »Versprochen.«

Sie schien mir zu glauben. »Okay«, sagte sie.

Als ich losfuhr, beobachtete ich das Mädchen in schwarz durch den Rückspiegel: Sie schien noch immer fix und fertig, aber zumindest gefasst genug, den Wald für heute Nacht zu meiden.

Nur ein Stück; nur ein einziges, winziges Stück, und das Puzzle war komplett! In meiner Aufregung ließ ich fast mein Handy fallen, als ich Jennys Nummer wählte.

»Komm schon, na los«, murmelte ich, während es einmal tutete. Zweimal. Dreimal.

»Göttin sei dank, du lebst noch«, hörte ich Jennys Stimme. Sie atmete tief durch.

»Unkraut vergeht nicht«, sagte ich, gerührt wegen der Sorgen, die sie sich gemacht hatte – und gleichzeitig beschämt deswegen. »Jenny, hör zu, ich bin kurz davor, den Fall abzuschließen. Ich brauche nur noch eine wichtige Info, bevor ich mir ganz sicher sein kann. Die Sache mit der Tötungstechnik von Werwölfen – hast du schon was für mich?«

»A-ha«, machte sie. »Deswegen wollte ich dich auch gerade anrufen. Pass auf, Folgendes hab’ ich gefunden: Normalerweise töten sie in Sekunden. Schnell und sauber, ohne großes Blutvergießen.«

»Aber ...?«

»Aber es gibt eine gewaltige Ausnahme von der Regel ...«

Sie erzählte mir davon und ich wusste es – ich wusste, wer Vadim Zagan getötet hatte.

Aber um den Mörder zu stellen, musste ich noch eine letzte Konfrontation wagen, auch wenn mir jetzt schon die Knie schlotterten.

Trotzdem fuhr ich zurück zur Villa von Elisa Prätorius.

 

 

10

 

Déjà vu ohne Ende: Der Kasten war dunkel, niemand ließ mich rein, wie oft ich auch klingelte und mich ankündigte. Nach einer erneuten Kletterpartie über die Mauer landete ich wieder in Garten, wo ich gestern zum ersten Mal in meinem Leben einem leibhaftigen Werwolf gegenüber gestanden hatte.

Mein Herz flatterte genauso wie letzte Nacht; vielleicht sogar mehr. Ich holte tief Luft und rief: »Entschuldigen Sie, wenn ich hier wieder so eindringe, aber ich hätte noch ein paar Fragen!«

Ich musste mich nicht lange bemühen. Etwas knirschte im Schnee. Ich drehte mich zur Seite und da stand sie. Großmutter, dachte ich, was hast du für große Zähne.

»Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so bald wiedersehen, Herr Hellmann«, sagte die Wolfsmutter. Ein, zwei weitere Schritte von ihr, und wir standen uns direkt gegenüber. Ihre grünen Augen funkelten.

»Ich hoffe, ich störe Sie nicht in einer lauschigen Vollmondnacht wie dieser.« Sie musste gehört haben, wie zugeschnürt meine Kehle war. Wahrscheinlich konnte sie es riechen.

»Keineswegs«, sagte sie, ohne sonderlich herzlich zu klingen. »Was haben Ihre Ermittlungen ergeben?«

»Nun, zuerst einmal habe ich herausgefunden, wer Vadim Zagan erpresst hatte.« Ich spähte kurz in den Privatwald. Keine Spur von anderen Wölfen. Aber das beruhigte mich kein Stück.

»Erpresst?«, fragte Elisa Prätorius. Dampf drang aus ihrer Schnauze, bei jedem Atemzug.

»Jemand hat gedroht, seine schmutzige Wäsche ans Licht zu bringen, wenn er nicht zahlt. Zagan hatte nämlich das Hobby, mit Sterblichen ins Bett zu hüpfen – schlecht für jemanden, der eine Einigung der Nachtvölker propagiert und die Entdeckung seiner Leute durch die Menschheit verhindern will.«

Die Wölfin zuckte mit keiner Wimper.

»Zuerst dachte ich, einer seiner politischen Gegner steckt dahinter. Aber wie es sich zeigte, ging es dabei nur um Geld – Geld, dass Sie offensichtlich nicht brauchen, wenn ich mir Ihre Lebensumstände so ansehe.«

»In der Tat«, sagte sie. Abwartend. Lauernd?

»Der Erpresser dagegen hatte es sehr nötig. Und jetzt wo Zagan tot ist, verliert er eine wichtige Einkommensquelle.«

»Ich verstehe.« Sie bewegte sich keinen Zentimeter, aber ich bildete mir ein zu sehen, wie sie die Muskelberge unter dem Fellkleid anspannte.

Die Härchen in meinem Nacken standen alle aufrecht. Meine rechte Hand blieb ständig in der Nähe meiner Manteltasche und dem Dolch darin. »Sie wiederum profitieren eindeutig von seinem Tod: Ihr ärgster, politischer Konkurrent ist aus dem Weg geräumt, und Sie können sein Machtvakuum füllen. Oder es zumindest versuchen.«

Sie bleckte die Zähne; es kam mir vor wie ein herablassendes Lächeln. »Ich fürchte, Sie stellen sich das alles zu einfach vor, Herr Hellmann. Wir Wölfe sind Bürger dritter Klasse. Man macht es uns niemals leicht.«

»Ja, richtig, aber ...« Ich hielt inne, als sich etwas zwischen den Bäumen bewegte. Aber was immer es war, nun war es außer Sicht. Ich versuchte, mich wieder zu sammeln. »Aber vergessen wir nicht: Es gibt immerhin zwei Rudel in dieser Stadt. Ihres ist so eine Art Wolfsinternat mit tadellosem Ruf. Und Sie hätten es viel leichter, allen zu zeigen, wie zivilisiert Ihre Schützlinge sind, wären da nicht Isenhart und seine Proll-Wölfe, die in freier Wildbahn jagen und auf die Etikette scheißen. Die geborenen Rebellen eben.«

Ihre Augen verengten sich zu grünen Schlitzen. »Ich bin sicher, dass Sie auf etwas Bestimmtes hinaus wollen, Herr Hellmann«, knurrte sie. »Mir ist nur vollkommen schleierhaft, was das sein könnte.«

Mein Herz schlug im schnellen Vorlauf. Schweiß durchnässte meine Hemdsachseln. Irgendetwas lauerte zwischen den Bäumen. Ich konnte es nicht sehen, aber es war da; ich fühlte seine Blicke als Prickeln auf meiner Haut.

»Ganz einfach.« Ich schluckte mit staubtrockenem Hals. »Nehmen wir einmal an, ein Mitglied aus Isenharts Rudel hätte Zagan gekillt, ohne jede Raffinesse, dafür aber mit jeder Menge sinnloser Gewalt. Isenhart und seine Leute würden gejagt werden, immerhin haben sie einen bedeutenden Mann umgebracht. Dieses Klima könnten andere, intelligentere Wölfe ausnutzen, indem sie sich auf die Seite von Zagans Anhängern stellen und ihnen helfen, das verhasste Rudel dingfest zu machen. Möglicherweise würden sie damit nicht gleich zu Busenfreunden der Vampire werden, aber zumindest stünden sie in etwas besserem Licht da.«

Sie sagte nichts. Nicht ein Wort. Ich war nahe dran; bewegte mich auf dünnem Eis.

»Sie sagten gestern zu mir, kein Werwolf würde sein Mordopfer brutal zerfleischen, wie in Zagans Fall. Dennoch entsprechen die Spuren, die man bei seiner Leiche fand, genau dem Bild des blutgeilen, gemeingefährlichen Klischee-Werwolfs.«

Noch immer kein Laut von ihr, nur der Blick aus giftgrünen Augen.

»Also – alles roch nach einem Mord aus politischen Motiven. Aber dann habe ich eine Aussage von Ihnen überprüft.«

»Welche Aussage?« Ich sah, wie ihre Krallen zuckten.

»›Kein Werwolf zerstückelt seine Opfer‹. Aber Sie haben mir nicht alles gesagt. Das tun die Leute übrigens nie.«

»So?« Dampf stob aus ihrer Nase. Sie hob die Lefzen. »Und was habe ich Ihnen verschwiegen, Herr Hellmann?«

Ich erinnerte mich an Jennys Worte. »Ein Werwolf, der frisch gebissen wurde, ist von den Mondphasen abhängig: Er verwandelt sich anfangs nur um die Vollmond-Zeit, bis er später willentlich die Gestalt wechseln kann. Die Nächte um den Vollmond herum können frisch gebissene Werwölfe rasend machen – sie werden blind vor Zorn, sie verlieren vollkommen die Kontrolle. Es kann sogar zu Gedächtnislücken kommen. « Ich blickte zu dem silbernen Auge am schwarzen Firmament. »In der Mordnacht stand der Vollmond am Himmel, genau wie jetzt. Und ›Ein Werwolf, der frisch gebissen wurde‹ kann ein Mensch jeden Alters sein. Zum Beispiel ein sehr junger Mensch. Einer, auf dem die Welt herumtrampelt, und der es der Welt gerne heimzahlen möchte. Einer, der durch seine Adoptivmutter die Adresse seines ärgsten Feindes kennt.«

Bevor ich begriff, was geschah, packte mich eine eisenharte Klaue von hinten. Er kam so schnell über mich wie ein Peitschenschlag: Ein muskelbepackter Arm umklammerte meinen Hals, drahtiges Fell kitzelte mein Gesicht, sein Knurren dröhnte in meinem Ohr.

»Jonas!«, brüllte die Wolfsmutter. »Lass ihn los!«

»Gut kombiniert, Schnüffler.« Die monströse Stimme des Jungwolfs war schneidend und kalt. »Hätt’ ich dir gar nicht zugetraut.«

Ich hätte gern etwas Geistreiches erwidert; schwierig mit zugedrücktem Hals.

»Jonas!«, grollte die Prätorius. Doch sie rührte sich nicht.

»Aber ich hab’ mein Gedächtnis damals nich’ verloren«, raunte mir der Jungwolf ins Ohr. »Ich hab’ genau gewusst, was ich tu’!«

Seine Adoptivmutter richtete ihre Kralle auf ihn. »Du wirst ihn auf der Stelle loslassen! Oder ich verstoße dich aus meinem Haus!«

Andere Wölfe eilten aus der Tiefe des Privatwalds herbei: ein ganzes Dutzend von ihnen. Elisa Prätorius hielt sie mit erhobener Pranke zurück, bevor die Situation eskalierte.

»Zagan hat es verdient!«, brüllte Jonas, dass mir die Ohren klingelten. Ich versuchte daran zu denken, dass in der bestialischen Hülle ein Teenager steckte, keine siebzehn Jahre alt. Es war schwer. »Dieser Wichser – jetzt hat er geseh’n, wohin ihn seine Scheiß-Parolen bringen!«

Die Prätorius knurrte ihn an. Er knurrte zurück: furchtlos.

Mir lief der Schweiß in Niagarafällen. Jeder Muskel war zum Zerreißen gespannt, während die Wölfe sich gegenseitig ankläfften.

Meine Hand glitt in die Tasche, ich umklammerte den Griff von Jennys Dolch, schickte ein Stoßgebet himmelwärts. Dann riss ich die Klinge aus dem Mantel.

Ich hörte ein Zischen, als sich das Metall in Jonas’ pelzigen Unterarm bohrte. Der Gestank von verbranntem Haar und Fleisch stieg auf.

Er ließ mich brüllend los; ich ging zu Boden, holte japsend Luft, meine Sicht schwummerig, als würde ich durch den Boden einer Colaflasche blicken. Ich rollte mich auf den Rücken, sah den Wolf über mir aufragen.

»Ich mach dich kalt!«, grollte er, während er seine Wunde hielt: Sie schlug rote Blasen.

Er winkelte die Beine an, die Klauen wie Sicheln gekrümmt, bereit, sich auf mich zu stürzen.

Ich kniff die Augen zusammen, hörte schnelle Schritte im Schnee. Dann zwei massige Körper, die aufeinander prallten. Ein markerschütterndes Jaulen.

Ich riss die Augen auf:

Die beiden Wölfen rangen miteinander, waren zu einem einzigen Knäuel aus Krallen, Fell und Zähnen verschmolzen. Jonas trat seine Ziehmutter heulend von sich; sie krachte winselnd gegen einen Baum, versuchte, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Zu spät: Jonas sprang sie an, seine Nägel rissen Fetzen von Fell und Haut aus ihr.

Ich sah, wie es die anderen Wölfe danach drängte, einzugreifen und der Prätorius zur Hilfe zu eilen. Doch sie griffen nicht ein, während das älteste und das jüngste Mitglied des Rudels miteinander kämpften. Blut spritzte in den Schnee; das Jaulen der Wolfsmutter ging mir durch Mark und Bein. Ihr Schützling würde sie zerfleischen.

Da bäumte sie sich auf und mit einem Heulen, das Tote aufgeweckt hätte, ging sie auf ihn los. Riss ihn von den Beinen und krallte nach seinem Gesicht. Er hob schützend die Arme, gab seine Brust frei – und die Wolfsmutter rammte ihm die Krallen neben das Herz. Jonas stieß ein markerschüttendes Fiepen aus, dann wehrte er sich nicht länger, denn alles andere hätte seinen Tod bedeutet. 

Ich machte, dass ich auf die Beine kam, und stolperte zwei Schritte zurück. Für gut eine Minute waren wir drei nur damit beschäftigt, zu Atem zu kommen, bis Elisa Prätorius’ Grollen die Stille zerriss.

»Du wirst dafür bestraft werden, Kind!« In dem Moment hatte ich vor der Wölfin mehr Angst als vor ihrem Schützling. »Was du getan hast, war ein schwerer Schlag gegen unsere Art! So werden sie niemals aufhören, uns zu verachten!«

Jonas rührte sich nicht, während ihre skalpellartigen Nägel in seinem Fleisch steckten. »Ich hab’ nur getan, wofür ihr alle zu feige seid!«, sagte er in die Runde, seine Stimme von Schmerz verzerrt. »Er wollte uns an die Leine legen, aber ich hab’ diesem Rassistenschwein ’ne Lektion erteilt! Ich hab’ sie ihm weggenommen!« Er begann gequält zu lachen.

Die Prätorius zog die Krallen zurück, immer noch auf ihm liegend. Ihre Ohren zuckten. »Wovon redest du?«

Doch Jonas lachte und ächzte nur.

Aber ich kannte die Antwort auch so. In einer fiebrigen Sekunde fügte sich alles zusammen.

»Oh Shit«, sagte ich.

Die Wölfin sah sich nicht nach mir um. »Herr Hellmann?«

»Ich weiß, was er meint«, sagte ich und schlug mir gegen die Stirn. »Verdammt, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin!« Ich fischte nach meinem Handy.

»Was haben Sie vor?«

Ich antwortete nicht, stattdessen eilte ich durch den Garten, zum Tor und zurück zum Wagen. Das Freizeichen dröhnte in meinen gepeinigten Ohren.  

Stunden vergingen. Wie ein Panther trabte ich in meinem Büro auf und ab. Rastlos, ruhelos, bis zum Umfallen erschöpft, aber unfähig, ein Auge zuzukriegen, versuchte ich es alle fünf Minuten wieder.

Erst kurz vor Morgengrauen konnte ich Lucretia Herzog erreichen.

»Wer – wer ist da?« Sie klang desorientiert, als sei sie eben erst aufgestanden.

»Kai Hellmann«, sagte ich tonlos. »Der Fall ist gelöst.«

Ihre Stimme gewann ein wenig an Kraft. »Wer war es? Wer hat Vadim getötet?«

»Ich schlage vor, dass wir uns treffen. Morgen Abend. Im Park, gleich in der Nähe von meinem Büro. Kommen Sie vor Mondaufgang.«

Sie zögerte. »Ich verstehe nicht.«

»Keine Sorge«, sagte ich. »Das werden Sie.«

 

 

11

 

Sie wartete auf einer Bank im Schatten einer Trauerweide und nahm gelegentlich einen Schluck aus einem gläsernen Flachmann, der mit dicker, roter Flüssigkeit gefüllt war. Sonnenuntergang lag eine Stunde zurück; es schneite wieder. Bis auf uns beide war der Park menschenleer.

Lucretia war so schön wie zuvor, aber ihre Verwirrung hatte sich immer noch nicht gelegt. Als ich mich zu ihr setzte, sah sie mich mit perfekten, aber verzweifelten Augen an. Der Anblick stach mir wie ein Pflock ins Herz.

»Also ...« begann sie, um Fassung bemüht, aber die Art, wie sie die unruhigen Hände übereinander legte, verriet sie.

Wo sollte ich anfangen? »Sie hatten recht: Es war tatsächlich ein Werwolf, der Ihren Mann ermordet hat.«

Hass sprühte aus ihren Augen. Ihre Stimme war ein Zischen. »Ich wusste es. Diese schmutzigen Tiere. Man sollte sie alle ausrotten.« Ihre Lippen bebten. Sie weinte leise.

Ich sah sie an, wollte ihr mein Mitgefühl zeigen. »Ich habe noch ein paar Nachrichten für Sie, die nicht so leicht zu verkraften sind. Aber ich bin sicher, dass Sie die Wahrheit hören möchten.«

Sie nickte wortlos.

»Wussten Sie, dass Vadim Sex mit Sterblichen hatte? Dass er eine Geliebte hatte – ein Mädchen namens Desideria?«

Sie wich meinem Blick aus. Wischte sich die Augen. »Ja«, flüsterte sie. »Ich wusste es.«

Also hatte sie mich bei unserem ersten Treffen belogen. Sie hatte sehr wohl gewusst, was Vadims Geheimnis war. Oder es zumindest geahnt. »Und wann haben Sie es erfahren?«, fragte ich.

»Ich ...« Sie hielt inne.

»Kurz vor der Nacht, als er ermordet wurde, nehme ich an?«

Sie gab einen bejahenden Laut vor sich und schloss die Augen. Rote Tränen liefen über ihre Wangen.

»Ob Sie’s mir glauben oder nicht, ich weiß, wie Sie sich gefühlt haben müssen«, sagte ich. »Aber der Fall ist damit klar.«

Nein, nicht für sie. »Was meinen Sie? Sie sagten, ein Werwolf ist Vadims Mörder! Welcher, Herr Hellmann? Welcher war es?«

Ich sah sie an. »Sie, Lucretia.«

Sie starrte mich an.

»Sie wurden gebissen«, sagte ich mit dem gleichen schonenden Tonfall, mit dem der Chirurg meine Mutter und mich damals darüber aufgeklärt hatte, dass mein Vater aus der Narkose nicht wieder erwachen würde. Dass sich von nun an alles ändern würde. »Ein junger Wolf namens Jonas hat Sie infiziert, um sich an Ihrem Mann zu rächen. Er wusste, Vadim hatte oft mit Wölfen zu tun und wäre auf einen Angriff vielleicht vorbereitet. Sie hingegen ...

Es war seine Rache an ihm, dem Werwolf-Hasser Nummer eins: seine Frau in ein Objekt seines Hasses zu verwandeln.«

»Nein«, hauchte sie. »Das ist Unsinn! Ich wurde nie gebissen, ich ...! «

»Ich fürchte doch.« Mir war selbst hundeelend. Aber sie verdiente die Wahrheit. »Sie haben nur die Wunde nie gefunden. Schließlich heilt so was bei Ihren Leuten fast sofort.«

Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: Nein, vergiss es, das ist Bullshit!

»Ich weiß«, sagte ich sanft. »Sie erinnern sich nicht. Das ist ein Zustand, der mit der Verwandlung einhergehen kann. Es war eine Nacht wie diese: Sie und Vadim hatten Streit wegen seines Seitensprungs. Der Mond ging auf – und Sie haben Ihren Mann in einem Anfall von Raserei getötet.«

»Nein«, krächzte sie. Mehr Rot floss aus ihren Augen.

Es lief vor meinen Augen ab, wie einer der Filme aus dem Videoschatz meines Vaters:

Sie war in der Mordnacht allein unterwegs gewesen. (Sie hatte es mir gesagt und ich hatte es ihr geglaubt; nun vermutete ich, dass es der Streit gewesen war, der sie von ihm fort getrieben hatte.) Sie war wütend, verletzt. Dann wurde sie angegriffen. Infiziert. Sie floh zurück nach Hause – und der Mond ging auf, ließ all ihren Zorn wieder hochkochen, ihre animalische Seite. Sie sah den Mann, der sie verletzt hatte.

Dann: ein blutroter Rausch – und als sie wieder zu sich kam, als sie begriff, was sie getan hatte, lief sie abermals fort. Dann setzten die Blackouts ein; plötzlich wusste sie nicht mehr, wo sie war, wie sie dorthin gekommen war. Sie kehrte nach Hause zurück, kurz bevor die Sonne aufging – wieder in ihrer alten Gestalt, verwirrt und verunsichert. Und sie fand seinen Leichnam, mit Fell zwischen seinen Fingern. Ihrem Fell. Aber das wusste sie nicht mehr. Die nächsten Tage wurden die Gedächtnislücken größer, alles begann, zu verschwimmen. Sie schob es auf den Schmerz, die Verzweiflung. Vielleicht hatte sie es auch einfach nicht glauben wollen.

»Sie haben es ganz einfach verdrängt«, sagte ich. »Zumindest ein Teil von Ihnen. Aber Sie hatten Alpträume: Sie sahen, wie ein Werwolf Vadim zerfleischte. Nur waren Sie dieser Wolf.«

Sie rang nach Luft. »Aber vorgestern Nacht – der Mond ...!«

»Ja, wir saßen zusammen und alles war okay mit Ihnen. Aber da war der Mond noch nicht aufgegangen, erinnern Sie sich? Sehen Sie, ich habe gestern und vorgestern Nacht immer wieder versucht, Sie zu erreichen ... aber Sie gingen nicht dran. Ich nehme an, Sie waren draußen ... im Mondlicht.«

Ich versuchte die Vorstellung zu verdrängen: Wie ihr perfektes Gesicht sich verwandelte, wie ihr Fleisch riss und Fell daraus hervorspross. Wie eine neugeborene Wölfin heulend den Mond begrüßte.

»Nein«, sagte sie, immer wieder, als könne das etwas ändern, und jedes neue Nein verlor an Kraft.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Aber ich fürchte, Sie werden Ihre Meinung über Werwölfe noch mal überdenken müssen.«

Sie weinte unverhohlen, das Gesicht in den Händen. Rote Tropfen fielen zwischen ihren Fingern hindurch und sprenkelten den Schnee zu unseren Füßen.

Einen Moment lang zögerte ich. Dann legte ich ihr den Arm um die Schulter.

Untot oder nicht: Am Ende sind wir alle nur Menschen.

 

 

12

 

Jenny machte gerade den Laden dicht, als ich eintrat.

»Und?«, fragte sie. »Wie hat sie’s verkraftet?«

»Ich hab’ sie zur Prätorius gefahren«, sagte ich. Ich wusste, es würde einige Zeit gehen, bis ich Lucretias von roten Tränen bemaltes Gesicht wieder vergessen konnte. Wenn überhaupt. »Sie wird ihr helfen. Mittlerweile ist auch der Mond wieder aufgegangen. Es wird das erste Mal sein, dass sie ihre Verwandlung bewusst wahrnimmt. Aber wenigstens ist sie diesmal nicht allein.«

Jenny nickte. Die Geschichte ließ auch sie nicht kalt. »Hat sie dich wenigstens bezahlt?«, fragte sie und schob mir eine Tasse Holunderblütentee hin.

Ich nickte abwesend. »Sie hat sogar ’ne Prämie draufgelegt. Weihnachten ist gerettet, hurra.« Ich starrte in die Tasse. »Sie tut mir leid, Jenny.«

»Sieh’s mal so«, sagte sie und versuchte ein tröstendes Lächeln, »dafür hat sie jetzt die Chance, einen Dialog mit den Wölfen zu beginnen. Und wer weiß – vielleicht ist dies der erste Schritt zu ’ner Versöhnung.«

Ja, vielleicht. Vielleicht war das der einzige Hoffnungsschimmer in dieser ganzen verdammten Geschichte. Ich unterdrückte ein Gähnen und rieb mir den Nacken. Zwei Pflaster klebten über den Stichen, die Isenharts Krallen hinterlassen hatten. »Ich bin fix und foxi. Was machst du noch mit der angebrochenen Nacht?«

»Nix Bestimmtes.« Sie zuckte mit den Achseln. »Wie wär’s, machen wir’s wie in der guten, alten Zeit und holen wir uns ’nen schlechten Film aus der Videothek?«

Das war genau das, was ich jetzt brauchte. Trotzdem: »Aber nur unter einer Bedingung.«

Sie hob gespannt die Augenbrauen. »Welcher?«

»Nur irgendwas mit rosa Hoppelhäschen und Sonnenblumen«, sagte ich. »Keine Wölfe. Keine Hunde. Nicht mal Dackel.«

Jenny zwinkerte mir zu. »Ich denke, das kriegen wir hin.«

 

 

Der Autor

 

1980 in Salzgitter geboren und in ländlicher Beschaulichkeit aufgewachsen, lebt Dane Rahlmeyer heute mit seiner Freundin und zwei Hunden in Bilderlahe, direkt hinter dem Mond. Er schreibt seit seinem vierzehnten Lebensjahr. 2001 erhielt er von seiner Heimatstadt Salzgitter ein Stipendium für junge Künstler, was ihn ermutigte seinen Traum wahr zu machen und freier Schriftsteller zu werden. Als solcher schreibt er Romane, Drehbücher, Hörspiele und dreht gelegentlich den einen oder anderen Kurzfilm. Mehr über seine Arbeiten gibt es auf www.dane-rahlmeyer.de