6. KAPITEL
Seit dem letzten Besuch des Maskierten hatte die Studentin die SOS-Signale nicht mehr gehört. Die Morsezeichen waren das Einzige gewesen, das sie vor dem Durchdrehen bewahrt hatte, während der Tortur, die sie durch ihren Peiniger erleiden musste. Jetzt aber zweifelte sie an ihrem Verstand und glaubte, sich die Geräusche nur eingebildet zu haben. Auf jeden Fall war diese Vorstellung erträglicher als der Gedanke, dass der Kidnapper die andere Person zum Schweigen gebracht hatte.
Seit jenem Besuch, als sie den Körper des Mannes auf ihrem gefühlt und seinen Körpergeruch eingeatmet hatte, war sie von ihm nicht mehr betäubt worden. Endlich konnte sie ihre Umgebung klar wahrnehmen.
Sie befand sich in einem Gewölbe. Insoweit hatte sie sich trotz ihres zuvor benebelten Kopfes nicht geirrt. Der Raum war aus Rotklinker erbaut, mit einem halbrunden Dach. Die Steine waren unverputzt, bröckelig und alt. Das war auch der Grund, warum Wasser durch die runde, zirka zehn Meter hohe Kuppel gelangen konnte und in gleichbleibender Monotonie auf den Steinboden tropfte.
Ein massives Tor bildete den Eingang. Außer der schimmeligen Matratze war nichts in dem riesigen Gewölbe, dessen Größe und Bauweise sie an Lager- und Markthallen erinnerten.
Sie grübelte, ob es in Savannah und Umgebung solche Bauwerke gab. Zu dumm, dass sie sich nicht für Geschichte interessierte. Sonst hätte sie womöglich gewusst, wohin der Mann sie verschleppt hatte, auch wenn diese Erkenntnis ihr in ihrer Situation nicht wirklich hilfreich gewesen wäre. Denn ihr Kidnapper hatte zwar die Chemiekeule weggelassen, aber sie war nach wie vor gefesselt. Dennoch wäre es eine gewisse Beruhigung für sie gewesen, zumindest eine Ahnung zu haben, wo sie eingekerkert war. Wenn das Gebäude in der Nähe der Stadt läge, dann durfte sie vielleicht hoffen, dass irgendwer irgendwann zu ihrer Rettung erscheinen würde …
Um die Angst und die Verzweiflung zu verdrängen und um das irre machende Tropfen auszublenden, begann sie zu summen. Es war ein Dance Hit, den ihre Freundin, eine DJane, regelmäßig bei den „Happy Monday“-Veranstaltungen spielte und damit den Dancefloor füllte.
„Anne ist heiß! Und ihre Musik noch heißer!“, schwärmte Gordon Daniels. „Seitdem sie auf unserer Veranstaltung auflegt, sind wir jedes Mal ausverkauft. Stimmt’s, oder habe ich recht, Dave?“
Dave pflichtete ihm nickend bei, ließ sich aber nicht von seiner Tätigkeit ablenken. Er dekorierte den Kellerraum seines Studentenwohnheimes im Look der Siebzigerjahre.
„Sorry, dass wir weiterarbeiten, während ihr hier seid“, meinte Gordon zu Sierra und Ryan. „Aber wir sind knapp in der Zeit. Heute Abend geben wir eine Überraschungsparty für einen Freund.“
„Schon gut. Und danke für die Telefonnummern der DJs. Du hilfst uns ein gutes Stück weiter.“ Sierra lächelte ihn an. Sie konnte immer noch nicht fassen, dass Gordon und Dave, die beiden Oberlangweiler aus ihrem Büro, die angesagteste Party der Stadt organisierten.
„Kein Problem.“ Gordon lächelte zurück. „Ehrlich gesagt, sind die DJs aus dem Dunstkreis um Dylan Smith allesamt totale Angeber. Ich kann die Kerle nicht wirklich ausstehen. Es ist gut, dass ein Mädchen ihnen zeigt, wo es langgeht. Und Anne legt zehn Mal besser auf als diese Dummschwätzer.“ Er reichte Sierra vier Eintrittskarten. „Hier ein paar Tickets für unsere nächste Clubnacht. Ihr könnt Freunde mitbringen. Und seht zu, dass ihr Anne bis dahin findet. Ohne sie läuft keine Party. Sie ist unser Superstar.“
„Wir geben unser Bestes“, versprach Sierra und nahm die Tickets an sich. Sie schämte sich, Gordon und Dave für blöde Spießer gehalten und nie zuvor länger mit ihnen gesprochen zu haben. Sie verabschiedete sich besonders freundlich von den beiden und meinte vor der Tür zu Ryan: „Nichts ist, wie es scheint. Ich komme mir wie eine totale Idiotin vor. Ich habe Dave und Gordon wegen ihrer öden Klamotten und Frisuren vorverurteilt. Dabei sind sie richtig gut drauf.“
„Attraktiver werden sie dadurch aber auch nicht“, meinte Ryan. „War nur ein Scherz“, fügte er schnell hinzu, als er Sierras vorwurfsvollen Blick auffing. „Jedenfalls ist dieser Gordon ein netter Kerl. Er ist der Erste, der positiv über eins der Mädchen geredet hat.“
„Das ist mir auch aufgefallen“, stimmte Sierra zu. „Ansonsten sind unsere Mädels nicht sonderlich beliebt. Obwohl: Du hast auch nett von Chiara gesprochen. Oder war das eine Lüge?“
„Nein. Ich schätze sie sehr … Aber weißt du, was ich gerade überlege?“, lenkte er vom Thema ab. „Die Sache mit dem falschen Schein … Ich habe das Gefühl, dass wir uns bei unseren Nachforschungen das Naheliegendste übersehen.“ Er seufzte und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. „Ich bin fertig. Ich muss eine Nacht über unsere Ermittlungen schlafen. Vielleicht erkenne ich im Traum, welche Richtung wir einschlagen müssen. Wollen wir hoffen, dass es für die Mädchen noch nicht zu spät ist.“ Er schaute Sierra lange nachdenklich an, beugte sich dann unerwartet vor und küsste sie zum Abschied zärtlich auf die Wange. „Bis morgen“, sagte er und blickte ihr tief in die Augen. Dann wandte er sich abrupt ab und ließ eine völlig verwirrte Sierra zurück.
Entgeistert blickte sie ihm hinterher. Was war plötzlich in ihn gefahren? Wieso küsste er sie? Wollte er sie anmachen? Oder handelte es sich um einen reinen Freundschaftskuss? Einerseits widerstrebte es ihr, dass er mit diesem körperlichen Kontakt ihre Zusammenarbeit auf eine viel persönlichere Ebene hob. Andererseits hatte ihr der Kuss gefallen. Denn so gerne sie es leugnen wollte, es war zwecklos. Sie mochte Ryan sehr, und zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie sich womöglich in den smarten Studenten verknallt hatte. Sie legte die Finger auf ihre Wange, dorthin, wo er sie geküsst hatte, seufzte und machte sich dann auf den Weg nach Hause.
Am Abend, allein auf ihrem Sofa, rief Sierra nach und nach alle DJs an. Die Musiker zeigten sich kooperativ und waren extrem freundlich. Vermutlich hatte DJ D sie bereits informiert, dass Sierra und Ryan sich nach Anne erkundigten.
Nach den Telefonaten konnte sie Hellboy, Rust und Criss Cross als Verdächtige ausschließen. Hellboy hatte einen Monat lang im weit entfernten New Orleans aufgelegt. Rust war in der fraglichen Zeit auf einer DJ Convention in New York gewesen. Und Criss Cross bereitete seit Wochen ihre Auftritte während des Spring Breaks in Florida vor.
Die DJs mailten ihr zum Beweis Fotos und Videos, die sie auf den jeweiligen Veranstaltungen – beziehungsweise, im Fall von Criss Cross, beim Aufbau ihrer Anlage in einem Club in Miami – zeigten. Sämtliche Bildverweise waren mit Datum versehen und überschnitten sich mit den Tagen, an denen die drei Mädchen verschwunden waren.
Nachdem sich diese Spur endgültig im Sande verlaufen hatte, ließ Sierra sich müde in die Sofakissen sinken. Langsam aber sicher kamen ihr ihre Bemühungen um Lena, Anne und Chiara sinnlos vor. Es war die berühmte Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Es gab jede Menge Gründe für die potenziellen Verdächtigen, sich der Mädchen entledigen zu wollen, aber einen konkreten Hinweis hatten Sierra und Ryan bislang nicht finden können.
Vielleicht hatte Ryan recht und sie übersahen das Naheliegendste. Nämlich, dass die Mädels irgendwo mit irgendwem ihre Zeit genossen, während Sierra und Ryan ihre verschwendeten. Obwohl … verschwendet waren die Tage nicht. Sie hatte Ryan kennengelernt.
Gedankenverloren strich sich Sierra über die Wange, wo er sie geküsst hatte. Sie hatte sich in ihm geirrt. Er war kein arroganter Schnösel, sondern sah einfach gut aus und war noch nicht einmal stolz darauf. Er hatte bezaubernde Grübchen, die ihm, wenn er lachte, jungenhafte Züge verliehen. Er war intelligent, nett, aufmerksam, charmant und witzig. Und anscheinend mochte er sie. Warum sonst hatte er sie geküsst?
Immer wieder fragte sie sich, weshalb er sie wohl geküsst haben mochte. Sie malte sich verschiedene Szenarien aus: Der Kuss war ein Zufallsprodukt, aus einer Laune heraus gegeben worden und somit bedeutungslos. Sie sollte ihn schnellstens vergessen und keinen Wirbel darum machen. Oder … der Kuss war wohlüberlegt gewesen. Warum sonst hatte Ryan sie im Vorfeld so lange angesehen? Dann wiederum hätte der Kuss sehr wohl eine Bedeutung und möglicherweise hieß dies, dass Ryan sie nicht nur als Kumpel betrachtete. Bei der Vorstellung wurde sie rot, und sie verspürte auf einmal eine Sehnsucht, die sie ganz durcheinanderbrachte.
Gut, dass ihre Mitbewohnerinnen auf Piste waren und es keine Zeugen gab! Die Mädels hätten sie sofort als „bis über beide Ohren verliebt“ enttarnt. Dennoch schaute sie sich wie ein Dieb um, der befürchtete, auf frischer Tat ertappt zu werden. Sie musste über sich selbst lachen und dachte an Ryans verschmitztes Lächeln und seine frech funkelnden Augen. Und ihr Herz raste.
Im gleichen Moment wurde ihr elend. Was bildete sie sich eigentlich ein?! Sie machte sich etwas vor! Chiara tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Sierra kam sich wie das blasse Abziehbild der rassigen Italienerin vor.
Sie rutschte unmutig auf dem Sofa hin und her und boxte in die Kissen, die plötzlich unangenehm in ihrem Rücken drückten.
Chiara war schön. Außer Frage. Aber Ryan hatte gesagt, dass ihr Temperament ihn überforderte … Das mochte stimmen. Aber immerhin fühlte er sich ihr noch sehr verbunden.
Sierra hatte ihm bereits am Abend in dem irischen Pub nicht abgenommen, dass er nichts mehr für Chiara empfand. In dieser Nacht hatte Sierra schon gewusst, dass es keine gute Idee war, sich in einen Mann zu verlieben, der gerade erst eine Beziehung hinter sich hatte. Und jetzt war sie im Begriff, ihre eigenen Warnsignale zu ignorieren.
Das durfte nicht passieren! Hastig stand sie vom Sofa auf. Ausnahmsweise würde sie mal eine Nacht in ihrem Bett schlafen und nicht so lange vor dem Fernseher abhängen, bis sie auf der Couch einnickte. Ihre „Schwestern“ aus der Studentinnenverbindung machten sich schon lustig über sie. Sie behaupteten, dass das Schlafen auf dem Sofa ein typisches Merkmal einsamer Frauen sei, die nur ihren Fernseher hätten.
Sierra ging missmutig in ihr Zimmer. So unrecht hatten ihre Mitbewohnerinnen gar nicht. Sie dachte daran, wie lange sie keinen Freund gehabt hatte, und ärgerte sich darüber, dass Ryan in ihrem Kopf und in ihrem Herzen bereits sehr viel Platz beanspruchte. Sie musste ihn von dort verbannen und begann ihn schlechtzumachen.
Vermutlich war er doch ein Idiot! Schließlich hatte ihre Menschenkenntnis sie in letzter Zeit ziemlich im Stich gelassen. Sie hatte Gordon und Dave für Dumpfbacken gehalten und Lena für ein nettes Mädchen und keine Herzensbrecherin. Sie hatte geglaubt, Benjamin Boone wäre der „All American Boy“. Stattdessen war er ein jähzorniger Psycho. Vermutlich lag sie mit ihrer Lieblings-Hass-Person Ted Hanson ebenso falsch, und er entpuppte sich bei näherem Kennenlernen als netter Kerl.
Niemals! Der Typ war und blieb widerlich. Genauso wie DJ D. In den anderen mochte sie sich getäuscht haben. Aber nicht in diesen Ekelpaketen!
Am Morgen wachte Sierra mit einem steifen Nacken und verquollenen Augen auf. Albträume von Ryan hatten sie in der Nacht heimgesucht. In den Horrorvisionen hatte er mit dem Verschwinden der Mädchen zu tun. Sie konnte sich nicht an Details erinnern. Nur an eine grässliche Variante seines sonst so bezaubernden Lachens.
Übermüdet und gerädert stand sie mit halb geschlossenen Augen auf. Das helle Licht, das durch das Fenster in ihrem Zimmer fiel, verursachte ihr Kopfschmerzen. Sie ging ins Wohnzimmer und stellte den Fernseher an. Ihre Mitbewohnerinnen schliefen nach einer langen Nacht in den Clubs und Bars der Stadt noch. Dann machte sich Sierra auf den Weg in die Küche und kochte Kaffee.
Während sie schlaftrunken am Tresen lehnte und darauf wartete, dass der Kaffee durchlief, drangen aus dem Wohnzimmer Wortfetzen eines TV-Sprechers an ihr Ohr. Sie hatte den Universitätssender eingeschaltet, der morgens neben den nationalen und internationalen Schlagzeilen Uni-interne Nachrichten ausstrahlte.
„Miss Nieves … Austauschstudentin … Spanien“, vernahm Sierra. Das Brodeln und Glucksen der Kaffeemaschine übertönte den Fernseher. Sie goss sich einen Becher des extrastarken schwarzen Gebräus ein und schaute im Kühlschrank nach, ob es etwas einigermaßen Genießbares darin gab.
„… verwüstetes Zimmer … eindeutige Kampfspuren“, sagte der Nachrichtensprecher. „Wie nun bekannt wurde … Miss Nieves, das vierte Mädchen … innerhalb weniger Tage vom Campus verschwunden ist.“
Sierra verbrannte sich den Mund an ihrem heißen Kaffee. Hatte sie richtig gehört? Miss Nieves?
Felicidad, Benjamin Boones neue Flamme, hieß mit Nachnamen Nieves. Sie war verschwunden?!
Sierra rannte ins Wohnzimmer und starrte auf den Bildschirm. Der junge Nachrichtensprecher, ein Journalistik-Student, befragte Kimberly Banes, Sierras Chefin.
Kim schauspielerte Betroffenheit, als sie mit leidgeprüfter Stimme in das Mikrofon hauchte: „Seit Tagen weise ich darauf hin, dass drei unserer Austauschstudentinnen nicht mehr auffindbar sind. Chiara Manzetti, Anne Klein und Lena Olsen. Aber niemand schenkt meinen Ängsten Gehör. Sogar die Polizei wurde informiert, aber nichts ist geschehen. Und nun das! Ein viertes Mädchen ist spurlos verschwunden. Hoffentlich wird nun endlich etwas unternommen.“
Fassungslos blickte Sierra Kimberlys Konterfei an, das nun in Großaufnahme ein Bild des Elends wiedergab. Das verlogene Weib presste ein paar Krokodilstränen hervor und freute sich insgeheim, auf Kosten der vermissten Mädchen fünfzehn Minuten Ruhm zu ergattern.
Sierras Handy klingelte. Es war Ryan.
„Bist du wach? Guckst du Fernsehen?“, fragte er.
„Ich habe es gerade gesehen. Träum ich? Hab ich Visionen? Oder ist Felicidad wirklich verschwunden?“
„Sie ist fort. Und nicht nur das. Benjamin Boone ist verhaftet worden. Er hat Felicidad gestern Nacht eine Mordsszene gemacht und war ziemlich alkoholisiert. Sie hatten Beziehungsstress. Offenbar war ihr der Quarterback zu besitzergreifend. Sie bat um etwas Distanz. Er verstand das als komplette Abfuhr und hat kurzerhand ihr Zimmer – sagen wir mal: umdekoriert. Die Bude ist schrottreif. Felicidad ist schreiend vor Boone weggerannt. Er ist ihr gefolgt. Hat sie angeblich aber aus den Augen verloren, als sie in der Dunkelheit über den Campus gesprintet ist.“
„Woher weißt du das? War das in den Nachrichten?“ Sierra fühlte, wie ihr Herz raste.
„Nein. Das TV-Team der Uni hinkt hinterher. Die haben noch keine Ahnung, dass Boone auf dem Polizeirevier ist und die Cops ihn vernehmen. Aber ich war heute Morgen schon joggen. Und bei meinem Rundlauf um den See habe ich einen Kumpel getroffen. Dessen Freundin wohnt direkt neben Felicidad im Wohnheim. Sie wurde von dem Streit geweckt und hat alles live mitbekommen. Natürlich hat sie ihrem Freund davon erzählt.“
„Und der hatte nichts Besseres zu tun, als die Neuigkeiten weiterzutratschen?“
„Na klar! Glaubt du, nur Mädchen stehen auf Klatsch?“ Ryan lachte.
„Ehrlich gesagt: Ja! Ich dachte, ihr Jungs wärt anders.“ Sierra seufzte. „Nun gut. Egal. Das ist jetzt unwichtig. Dann ist Boone unser Bösewicht? Hast du letzte Nacht von ihm geträumt?“
„Wie geträumt?“, entgegnete Ryan irritiert. Dann lachte er wieder. „Ach, du meinst, weil ich auf neue Erkenntnisse im Schlaf gehofft hatte? Nee, leider nicht. Ich habe geratzt wie ein Stein. Nun, es spricht vieles dafür, dass Boone der „bad boy“ ist. Er hat sein Temperament nicht unter Kontrolle und neigt zum Jähzorn. Beste Voraussetzungen, ein Frauenschläger und möglicherweise sogar ein Mörder zu sein.“
„Ganz überzeugt klingst du nicht“, wandte Sierra ein.
Ryan räusperte sich. „Na ja, Boone ist aus meiner Sicht immer noch nur einer von mehreren Verdächtigen. Rate mal, mit wem Felicidad essen war?“
„Hanson!“, antwortete Sierra wie aus der Pistole geschossen.
„Korrekt“, bestätigte Ryan.
„Wann war das?“
„Schon eine Weile her. Ungefähr vor zwei Wochen. Also bevor sich die anderen Mädchen in Luft aufgelöst haben. Ich hab es zufällig beobachtet. Und rate mal was noch?“
„Sie hatte ein Verhältnis mit dem Prof?“
„Nein. Andere Richtung. Sie war Stammgast im ‚Sugar Cube‘ und bei den ‚Happy Monday‘-Veranstaltungen.“
„Fehlt nur noch, dass sie mit Anne, Lena und Chiara befreundet ist.“
„Ist sie nicht“, sagte Ryan entschieden. „Chiara hätte sie mir gegenüber erwähnt. Und außerdem hat mein Kumpel, du weißt schon, der tratschende Jogger, mir verraten, dass seine Freundin …“
„Oh, bitte! Verschon mich!“ Sierra konnte es nicht fassen. „Das darf ja wohl nicht wahr sein! Ihr Typen seid schlimmer als eine Teenie-Mädchen-Clique … Vielleicht sollte ich auch mit Laufen beginnen. Mir scheint, ich verschlafe alle interessanten Infos.“
Ryan unterbrach sie. „Schon gut, schon gut. Ich halte den Mund. Aber was deine sportlichen Ambitionen angeht … Du kannst direkt damit anfangen und zum Treibhaus des Biologiefachbereichs joggen. Ich warte dort auf dich. Und zieh dir feste Schuhe an. Wir machen eine Wanderung. Weißt du, so bitter es klingt, aber es hat einen Vorteil, dass Felicidad verschwunden ist …“
„Was machen wir hier?“ Sierra bog vorsichtig die mit Dornen bestückten Zweige eines Strauchs auseinander, damit die scharfen, spitzen Stacheln nicht ihren Sweater zerrissen.
„Ich weiß es selber nicht genau. Es ist nur so eine Idee“, murmelte Ryan, während er mit Argusaugen den Waldboden absuchte und weiter durch das Gebüsch stapfte.
Er hatte beim Treibhaus des Biologieseminars auf Sierra gewartet und sie schnurstracks in das an die Universität angrenzte Waldstück geführt. Der Forst war naturbelassen und diente den Biologie-Studenten der Hochschule zu Forschungszwecken. Eigentlich durften Sierra und Ryan sich gar nicht darin aufhalten. Der mehrere Hektar umfassende Waldbestand war mit einem elektrischen Weidezaun vor unerwünschten Besuchern geschützt. Sierra hatte einen unangenehmen Stromschlag erhalten, als sie unter der Abspannung durchgekrochen war.
Ryan bückte sich und hob einen Gegenstand auf. Er musterte ihn gründlich, bevor er enttäuscht aufsah. „Nur eine alte Markierung. Auf solchen Plastikclips werden Informationen über frisch gepflanzte Bäume festgehalten.“ Er legte den Chip auf eine Astgabel und seufzte.
„Was suchst du?“, fragte sie. „Verrätst du es mir endlich?“
„Mhm …“, hielt Ryan sie hin. „Du willst es bestimmt nicht hören. Vorhin am Telefon hast du mich zumindest nicht aussprechen lassen. Es hat mit dem tratschenden Jogger und seiner Freundin zu tun.“
„Oh, nee! Na ja, wenn’s wichtig ist. Schieß los!“
„Gleich. Vorab muss ich dir etwas sagen. Der schreckliche Vorteil, den Felicidads Verschwinden hat, ist, dass sich die Cops endlich um alle vermissten Mädchen kümmern. Außerdem ist jetzt die Öffentlichkeit informiert. Viele Augen sehen mehr als nur unsere. Manchmal fallen einem im Nachhinein seltsame Begebenheiten ein, denen man vorher keine Bedeutung beigemessen hatte. Die aber, nachdem man von den verschwundenen Mädchen weiß, plötzlich in einem neuen Licht erscheinen. Im Übrigen gibt es diesmal konkrete Anhaltspunkte, wann und wo Felicidad verschwunden ist.“
„Und es gibt Boone als Tatverdächtigen, selbst wenn Felicidad mit Ladykiller Hanson unterwegs war und dieselben House-Partys wie die anderen Mädchen besucht hat“, ergänzte Sierra.
„Das stimmt. Und trotz meiner Zweifel halte ich Benjamin für fähig, ein Verbrechen zu begehen. Ich habe ihm seine Aussage, er hätte Felicidad auf dem Campus aus dem Blickfeld verloren, nicht geglaubt. Der Typ ist ein durchtrainierter Leistungssportler, und dem rennt angeblich dieses zierliche Püppchen davon … Also echt! Aber … möglicherweise stimmt seine Behauptung. Und nun kommen mein joggender Kumpel und seine Freundin ins Spiel. Sie war, wie gesagt, Augenzeugin der Auseinandersetzung zwischen Boone und Felicidad. Und sie hat gesehen, dass die Spanierin den Quarterback beim Sprint über den Campus abgehängt hat und auf das Treibhaus zugerannt ist.“
„Aber der Weg ist eine Einbahnstraße“, warf Sierra ein. „Entweder rennt sie zurück über den Campus und somit in Boones Arme. Oder sie läuft weiter in dieses Biotop.“
„Genau. Und da sie nicht wieder aufgetaucht ist …“
„… befindet sie sich vielleicht noch hier im Wald.“ Sierra sah sich automatisch nach der kleinen hübschen Frau um. „Das kann ich mir nicht vorstellen“, bemerkte sie. „Möglich ist es, dass Felicidad gestern vor Benjamin in den Forst geflohen ist. Aber sie ist nie und nimmer die ganze Nacht an diesem dunklen, finsteren Ort geblieben.“ Sie grübelte. „Und selbst wenn Felicidad bis zum Morgengrauen hier ausgeharrt hat, wäre sie spätestens bei Sonnenaufgang ins Wohnheim zurückgekehrt. Oder sie hätte sich bei uns im Büro gemeldet. Oder sie wäre direkt zur Polizei gegangen und hätte Boone angezeigt. Vielleicht sitzt sie jetzt, in diesem Moment, auf der Wache …“
„Warte! Das wissen wir gleich“, meinte Ryan, zog sein Handy aus der Hosentasche und tippte auf den Tasten herum. Kurz darauf hielt er ihr das Telefon vor die Nase. Das Display zeigte die Internetseite des Uni-Fernsehsenders und die aktuellen News an. Es hieß, dass es von der spanischen Austauschstudentin Felicidad Nieves nach wie vor keine Spur gab. „Das dazu“, meinte Ryan und steckte das Handy wieder ein. „Keine Felicidad … Außerdem hat die Augenzeugin gesehen, dass Boone ebenfalls zum Treibhaus gerannt ist. Er war zirka fünf Minuten weg und ist dann wieder auf dem Campus aufgetaucht. Fünf Minuten. Die reichen, um jemanden umzubringen. Aber er hätte Felicidad nicht so schnell verstecken können. Beziehungsweise er hätte sie nur in einem Umfeld von fünfzig Metern unter Ästen oder in einem Erdloch verbergen können. Ich denke, dann wären wir bereits auf Hinweise …“
„… oder ihre Leiche gestoßen“, beendete Sierra seinen Satz. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie malte sich aus, wie sie über einen toten Mädchenkörper stolperte. Sie schüttelte sich, um den Gedanken zu vertreiben. „Nehmen wir an, Boone hat sie nicht gefunden. Sie hat sich so gut im Wald versteckt, dass er unverrichteter Dinge abziehen musste. Vielleicht ist er mitten in der Nacht wiedergekommen, hat sie entdeckt und …“
„Möglich. Er hat noch an anderen Stellen auf dem Universitätsgelände randaliert, war anschließend für etwa drei Stunden unauffindbar, und dann haben ihn die Cops seinen Rausch ausschlafend auf einer Bank auf dem Campus aufgegriffen. So lauteten zumindest die Uni-Nachrichten.“
„Mhm … drei Stunden.“ Sierra überlegte einen Moment. „In dem Fall könnte er Felicidad tiefer in den Wald verschleppt haben.“
„Schon. Aber der Kerl war ziemlich besoffen. Ich denke nicht, dass es ihm in dem Zustand gelungen wäre, eine Leiche zu vergraben, ohne dass Spuren von Dreck, Blut und Kratzer an seiner Kleidung oder an seinen Händen zurückgeblieben wären.“
„Woher weißt du, dass dies nicht der Fall war?“
„Das weiß ich nicht“, gab Ryan zu. „Ich spiele nur die möglichen Szenarien durch.“
„Und die eröffnen noch eine weitere Variante“, meinte Sierra und bekam eine Gänsehaut. „Der wahre Entführer hat die Auseinandersetzung zwischen Felicidad und Boone mitbekommen und hat Felicidads Flucht beobachtet. Er ist ihr in den Wald gefolgt und … Wir müssen herausfinden, ob Hanson für letzte Nacht ein Alibi hat.“
„Machen wir. Willst du noch tiefer in den Wald gehen?“
„Eigentlich nicht. Aber wir sollten weiter nach ihr su…“
Ein Rascheln im Gebüsch ließ Sierra verstummen. Sie zuckte zusammen und trat automatisch dichter an Ryan heran. Er nahm sie in die Arme. Sierra überlief wieder eine Gänsehaut. Aber diesmal aus einem schönen Grund.
„Was war das?“, flüsterte Sierra, während ihr auffiel, wie gut Ryan roch.
„Ein Tier?“, entgegnete er unsicher.
Wieder das gleiche Rascheln. Diesmal konnte Sierra die Richtung, aus der es kam, lokalisieren. „Dort vorn“, murmelte sie und deutete auf einen Strauch, hinter dem sich etwas bewegte.
„Ein Tier.“ Ryan atmete erleichtert auf. „Vielleicht ein Vogel, der im Boden nach Würmern scharrt. Oder ein …“
„Pst! Für einen Vogel scheint mir das Tier ein bisschen groß“, murmelte Sierra. Sie löste sich aus Ryans Umarmung – so schade sie das auch fand – und näherte sich leise und vorsichtig dem Busch.
Als sie knapp einen Meter von dem Gestrüpp entfernt war, hörte das Rascheln auf. Das Tier musste sie bemerkt haben.
Bevor Sierra darüber nachdenken konnte, dass ihr das Wesen eventuell gefährlich werden könnte, beugte sie sich vor, um hinter das Gebüsch zu gucken.
Im gleichen Moment ertönte ein aggressives Knurren. Ein bernsteinfarbenes Augenpaar starrte Sierra an. In Sekundenschnelle schoss ein orangebraunes Geschöpf aus dem Gestrüpp. Es sprang ihr beinahe ins Gesicht.
Sierra schrie auf, als der Fuchs um Haaresbreite an ihr vorbeisauste und im Dickicht verschwand. Auf seiner Flucht vor den Menschen ließ er seine Beute zurück.
Zuerst glaubte Sierra, es handelte sich um eine tote Taube oder eine Maus. Das graubraune Bündel lag bedeckt von Laub und Ästen unter dem Busch. Der Fuchs hatte Löcher hineingerissen, durch die Sierra den Waldboden erkennen konnte.
„Das ist kein totes Tier …“ Sierra langte danach. Innerlich bereitete sie sich darauf vor, dass sie sich irrte und in weiches Fell oder zerrupfte Federn griff, einen warmen Körper in der Hand hielt und womöglich noch den Herzschlag fühlte.
Nichts dergleichen war der Fall. Sie behielt recht. Es war kein Tier. Sobald sie das Objekt berührte, spürte sie seidig-weiches Material. Es war ein Kleidungsstück. Sie schüttelte Laub und Staub ab und breitete das T-Shirt aus.
„Igitt!“ Entsetzt ließ sie es fallen. Das entfaltete T-Shirt war mit Blutflecken übersät. Es sah aus wie ein Kinderhemd. Ein Abnäher im Nacken zeichnete es als Größe XS aus. In einem Flashback erinnerte sich Sierra an Felicidad, wie sie auf der Parkbank saß und auf Benjamin wartete. Sie hatte genau dieses Oberteil getragen. „Nun ist es sicher“, stieß Sierra hervor. „Felicidad ist etwas Schreckliches widerfahren.“