EPILOG
Hamburg
Fabel saß zusammen mit Maria am Fenster. Er hielt ihre Hand und schaute ihr in die Augen, doch sie blickte an ihm vorbei durch die Scheibe. Dahinter lagen die Anbauten des Krankenhauses, die Nebengebäude, das große Dreieck des mit Gras besäten Geländes und das grüne Strauchwerk, das als Abgrenzung diente. Noch weiter hinten verlief die Straße, auf der ständiger, im Zimmer nur schwach hörbarer Verkehr dahinzog.
Fabel wusste, dass Maria diese wenig bemerkenswerte Ansicht zwar zu betrachten schien, doch nichts davon wahrnahm. Er ahnte nicht, was sie stattdessen sah. Vielleicht war es das Feld bei Cuxhaven. Vielleicht ein Garten oder ein Lieblingsort aus ihrer Kindheit in Hannover. Jedenfalls existierten diese Dinge nur in der Welt, in die sie sich zurückgezogen hatte. Am meisten erschreckte Fabel jedoch der Gedanke, dass Maria überhaupt nichts sah, sondern sich im Nichts aufhielt.
Er versuchte, mit ihr zu sprechen. Darüber, dass sie nun, da sie wieder in Hamburg sei, genesen könne. Die Polizei Hamburg habe dafür gesorgt, dass Dr. Minks in ihre Behandlung mit einbezogen werde. Maria antwortete immer noch nicht, sondern blickte unverwandt aus dem Fenster zur Straße oder ins Nichts hinüber. Fabel redete weiter von der Genesung, von der er wusste, dass sie nie – oder jedenfalls nicht vollständig – eintreten würde. Er erzählte von den Kollegen, mit denen sie, wie er einsah, nie wieder zusammenarbeiten konnte. Dabei sprach er mit der gleichen erzwungenen Ruhe, mit der er sie vor so langer Zeit, als sie dem Tode nahe auf dem Feld bei Cuxhaven lag, beschworen hatte zu überleben. Allerdings wusste er, dass er sie diesmal nicht retten konnte.
Hin und wieder lächelte Maria, doch nicht über eine seiner Bemerkungen, sondern über etwas in der fernen Innenwelt, die sie nun bewohnte.
An jenem Tag regnete es in Hamburg. Fabel traf sich mit Susanne in der Bar, die nahe bei seiner Wohnung in Pöseldorf lag. Auf neutralem Boden.
»Susanne, ich möchte mit dir reden. Wir müssen einiges ins Lot bringen.«
»Ich dachte, das hätten wir getan«, erwiderte sie nüchtern. »Zumindest, was dich angeht. Ich meine, als du mich vor der Abfahrt nach Köln angerufen hast.«
Fabel schob seine Bierflasche sinnierend auf der Tischplatte hin und her. Er rief sich die drei Telefonate ins Gedächtnis, die er Wochen zuvor geführt hatte: mit Ulrich Wagner im Bundeskriminalamt, mit Roland Bartz und mit Susanne.
»Weißt du, Susanne«, fuhr er behutsam fort, »als ich da unten in Köln war, herrschte Chaos. Das ist vermutlich der Hauptzweck des Karnevals. Aber für mich war es kein undurchschaubares Chaos mehr, sobald ich herausfand, dass Maria ihren persönlichen Kreuzzug begonnen hatte, der sie dann um den Verstand brachte. In Köln war ich von Menschen umgeben, die jemand anders waren. Von Vera Reinartz, die sich in Andrea Sandow verwandelt hat und behauptet, zu einem mörderischen Clown zu werden, über den sie keine Kontrolle hat. Und dann Witrenko, der eine Identität nach der anderen stahl und alle in seiner Nähe manipulierte. Aber ich … ich wusste, wer ich war. Komischerweise wusste ich es früher nicht. Oder vielleicht habe ich es auch nur geleugnet.«
»Wer bist du denn?«
»Ich bin Polizist. Genau wie der arme Breidenbach, der junge Mann, der sich lieber erschießen ließ, als einen Bewaffneten hinaus auf die Straße zu lassen. Genau wie Werner und Anna und Benni Scholz in Köln. Das bin ich, nichts anderes. Meine Aufgabe ist es, mich zwischen die Verbrecher und die Unschuldigen zu stellen. Nur hatte ich bis jetzt nicht begriffen, dass es mehr als eine Arbeit ist. Es ist oft hässlich, und niemand dankt es einem, aber es ist das, was ich tun muss. Ich habe mir oft eingeredet, ein Historiker oder Intellektueller zu sein, der in seinen Beruf hineingestolpert ist und nicht ganz in diese Umgebung passt. Aber das stimmt nicht, Susanne. Ob der Beruf mich gefunden hat oder ich ihn – ich bin dafür geschaffen worden.«
»Also hast du den Bundesauftrag angenommen? Die Supermordkommission-Sache?«
»Nein. Ich habe mich bereit erklärt, anderswo auszuhelfen, wenn ich benötigt werde. Meine ›Fachkenntnisse‹ zur Verfügung zu stellen. Aber das ist das Zweite, was ich begriffen habe: Ich gehöre hierher. Hamburg ist meine Stadt. Dies sind die Menschen, die ich beschützen will.«
»Und was hat das alles für uns zu bedeuten?« Susannes Stimme war kalt und hart.
Fabel ergriff ihre Hände. »Genau das wollte ich dich fragen …«
Köln, sechs Monate später
Andrea saß auf dem Bettrand. Kein Make-up, kein Lippenstift, das an den Wurzeln nachdunkelnde platinblonde Haar streng zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden.
Die Zelle enthielt nichts als ein Bett und eine Schreibtisch-Sitzbank-Kombination, und alles war am Boden festgeschraubt. Es gab keine freien Gewichte, mit denen sie arbeiten konnte. Das würde ein großes Problem sein, solange man sie in dieser Zelle festhielt. Andrea wusste jedoch, dass sie wegen Suizidgefahr unter Beobachtung stand und irgendwann aus diesem leeren Raum verlegt werden würde. Bis dahin konnte sie ihr eigenes Körpergewicht nutzen, um die wichtigsten Muskeln zu trainieren. Ohne freie Gewichte würden sie an Masse verlieren, schlanker werden, doch wenigstens konnte sie ihren Tonus behalten. Sie erhob sich, ging in die Zellenecke, stemmte die Füße an die Wand, um die von ihren Armen getragene Last zu maximieren, und begann eine Serie von Liegestützen. Sie wusste, dass eine Wächterin sie durch die Tür beobachtete. Man würde ihr den Zutritt zu einem Fitnessstudio nicht während ihrer gesamten Haftzeit verbieten. Dort würde sie Gewichte und Widerstandsgeräte vorfinden. Dann konnte sie ihre Muskeln und ihre Kraft erneut aufbauen. Vorläufig würde sie sich mit ihren Liegestützen zufrieden geben: Sets von zwanzig, sechs Sets am Tag, drei Tage pro Woche. Insgesamt neunzehntausend Liegestütze jährlich. Jeden zweiten Tag würde sie, während Arme und Oberkörper geschont wurden, eine ähnliche Serie Rumpfbeugen ausführen.
Sie würde darauf achten, dass sich ihr Programm nicht mit Therapiesitzungen, Arbeitseinsätzen, Essenspausen und Gemeinschaftsübungen überschnitt. Überhaupt würde sie als Musterpatientin oder als Mustergefangene – als was auch immer man sie hier betrachten mochte – auftreten. Eines Tages würde man sie entlassen. Vielleicht erst nach langer Zeit, aber sie würde die Ärzte davon überzeugen, dass sie geheilt war und keine Gefahr für andere mehr darstellte. Dass sie wieder jemand anders geworden war.
Schon in den ersten Tagen des Bodybuilding hatte Andrea gelernt, dass sich der Körper nur konzentrieren konnte, wenn auch der Geist konzentriert war. Setz dir ein Ziel und verliere es nicht aus den Augen. Sie biss die Zähne zusammen, als die letzten Übungen des Sets ihre Arme schmerzen ließen. Am Anfang war sie durch das Gesicht des Karnevalsclowns motiviert worden, der sie zusammengeschlagen, vergewaltigt und fast erdrosselt hatte. Dieses Bild war sieben Jahre lang Tag für Tag bei jeder Übung vor ihrem geistigen Auge erschienen. Es hatte ihr den Antrieb geliefert, den sie benötigte.
Doch nun hatte sie eine neue Motivation. Bei jedem Liegestütz wiederholte sie im Stillen ein neues Mantra, das sie bei jeder Übung, an jedem Tag ihrer Haft, wiederholen würde.
Jan Fabel.
Wenn man sie entließ, würde sie immer noch stark sein.