Montag, 24. Juli 2006
Vormittag
Dass der Conte noch auf Reisen war, nutzte Balistreri, um im Morgengrauen unter dem Vorwand, sie müssten Manfredi identifizieren, seinen Privatsekretär, seine Hausangestellten und den Pförtner abholen zu lassen. Bevor sie ins Leichenschauhaus traten, wurden sie gebeten, sich aller metallischen Gegenstände zu entledigen, auch der Schlüssel.
»Haltet sie hier im Büro mit irgendwelchem Papierkram fest, bis ich zurück bin«, sagte Balistreri zu Piccolo und schnappte sich einen Zweitschlüssel zum Penthouse.
Er nahm Corvu und Mastroianni mit. Um halb acht kamen sie in der Via della Camilluccia an und verschafften sich ohne Schwierigkeiten Zutritt zur leeren Wohnung. Sie begaben sich gleich in Manfredis Zimmer, wo Teodori und er den Jungen 1982 befragt hatten. Seitdem hatte sich nichts verändert, abgesehen von dem Notebook, auf dem er jetzt arbeitete, einem neuen großen Spiegel im Bad und den Fenstern ohne Vorhänge.
An den Wänden hingen immer noch die Poster der Metal-Bands. Das eine, an das er sich erinnerte, hing in der dunklen Ecke, in die Manfredi sich damals während des aufreibenden Disputs mit Teodori und ihm zurückgezogen hatte.
Ein Mann mit Satansmaske und zehn kleine Frauenfiguren, die T-Shirts mit je einem Buchstaben darauf trugen, aus dem weißes Blut heraustropfte. Die zehn Buchstaben ergaben den Titel eines Albums: YOU ARE EVIL.
Er öffnete sämtliche Schubladen, dann sah er im Schrank unter den Pullis nach. Es war alles da. Der fehlende Ohrring von Elisa Sordi, die Bluse mit den Initialen S.R., der an den Ellbogen aufgescheuerte Pulli von Nadia, die Streberbrille von Selina Belhrouz, die blinzelnde Armbanduhr von Ornella Corona.
Sie fotografierten alles, ohne etwas anzufassen.
In einer Schublade fand er unter der Unterwäsche ein zerknittertes Blatt Papier. Eine gut gemachte Bleistiftzeichnung. Das Motiv kannte Balistreri, es war der Blick von der Terrasse hinunter. Auf der Zeichnung sah man ein Fenster und eine verwelkte Blume. Darunter stand ein Text, der wohl erst kürzlich mit einem anderen Stift hinzugefügt worden war. Balistreri erkannte Manfredis Schrift.
Hätte ich auch weiter getötet, wenn es beim ersten Mal, mit Linda, anders gelaufen wäre? Anfangs habe ich mich das oft gefragt. Nach all den Jahren weiß ich nicht einmal mehr, wie viele es waren, und die Frage, die sich mir nun stellt, ist eine andere: Wäre ich ein besserer Mensch, wenn ich nur die eine getötet hätte, in einem einzigen Anfall von Wahnsinn?
Balistreri faltete das Blatt sorgfältig zusammen und steckte es ein.
Nachmittag
Das Staatsbegräbnis von Pasquali fand in einer Kirche in der Altstadt statt, in Anwesenheit des Präsidenten der Republik, des Premierministers sowie zahlreicher Minister, Politiker, Funktionäre und Polizisten. Hunderte von Bürgern drängten sich vor dem Kirchenportal und auf dem Platz davor, zusammen mit den Übertragungswagen der Fernsehsender.
Nach der öffentlichen Zeremonie wurde der Sarg für das private Begräbnis zum Friedhof Campo Verano getragen. Pasqualis Frau hatte veranlasst, dass die Messe in der Friedhofskapelle im kleinen Kreis zelebriert wurde, nur mit den engsten Mitarbeitern, den Freunden und den Verwandten aus dem Dorf in den Abruzzen, in dem ihr Mann geboren und aufgewachsen war.
Balistreri ging als Letzter hinein, blieb in der Nähe des Ausgangs und genoss den Weihrauchduft und die angenehme Kühle, da es draußen fast vierzig Grad hatte und feuchtschwül war. Er folgte der Messe im Stehen, allein. Corvu, Piccolo und die anderen saßen ein paar Bänke weiter vorne.
Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, und allen Brüdern und Schwestern, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe.
Die Stimme des Priesters riss ihn aus seinen Gedanken.
Die Zeremonie verlief rasch und still.
Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa.
Die Worte, gegen die er 1970 rebelliert hatte. Die Worte, die ihn allmählich wie eine Nemesis durchdrangen und sein Leben lang lähmten.
Plötzlich stand Conte Tommaso dei Banchi di Aglieno neben ihm. Er schlug sich nicht an die Brust, aber immerhin hatte er die Verabredung, um die Balistreri ihn gebeten hatte, akzeptiert.
Da stand er nun, das Böse schlechthin, der alleinige Architekt des großen Plans. Der Mann, dessen Stimme Pasquali in Angst und Schrecken versetzt hatte, der Mann, der nicht einmal davor zurückgeschreckt war, das persönliche Elend seines Sohns zu instrumentalisieren und seinen politischen Intrigen zu unterwerfen, ein Mann, der über Leichen ging, nicht aus Habsucht, sondern einzig um der Macht willen, aus blinder und totaler Treue zu seinen Prinzipien.
Nur ein einziges Mal hatte dieser Mann sich beugen müssen, vor der Ungewissheit nämlich, von wem Elisa Sordi getötet worden war, nachdem sein Sohn sie geschlagen, eingeritzt und bewusstlos in diesem Büro zurückgelassen hatte.
Sie verließen die Kirche schweigend, ohne das Ende der Messe abzuwarten, und unternahmen unter der brennenden Sonne einen letzten Spaziergang über den Friedhof.
Balistreri schwitzte. Der Conte aber war ordentlich gekämmt und tadellos gekleidet wie immer, und kein Tröpfchen Schweiß war auf seinem dunklen Anzug zu erkennen.
Der Nachtflug aus Afrika in der Businessclass hatte ihn nicht ermüdet. Nur die Falten an seinen Augenwinkeln traten etwas deutlicher zutage.
Ein Vater, der kürzlich seinen Sohn verloren hat. Seine Achillesferse. Und meine Lebensversicherung.
»Ich habe nur wenige Minuten, Balistreri. Dann muss ich der Witwe meines teuren Freundes Pasquali mein Beileid aussprechen und den Innenminister treffen, der mir das seinige aussprechen möchte. Bevor ich nach Afrika zurückfliege, muss ich mich noch mit meinen Anwälten um die Rückführung von Manfredis Leichnam kümmern. Ich möchte nicht, dass er in Italien beigesetzt wird. Kenia ist seine Heimat.«
Balistreri hatte sich auf dieses Gespräch vorbereitet, aber dieser Mann, der auch inmitten all der Gräber keine Spur von Anteilnahme oder Beklommenheit zeigte, war weit mehr als ein gewöhnlicher Feind.
Er ist das Böse schlechthin, nicht Hagi, nicht Manfredi.
Es war überflüssig, dem Conte zu erzählen, was alles geschehen war. Das wenige, das er nicht wusste, würde er in den nächsten Tagen erfahren. Es war auch überflüssig, ihm damit zu drohen, dass seine Telefonate mit Pasquali in einem armseligen Kalender notiert waren. Beweise gab es nicht, und der Conte würde ihn zerquetschen wie einen Wurm.
»Ich schlage Ihnen einen Pakt vor«, sagte Balistreri schließlich.
Der Conte hörte der Aufzählung der Indizien gegen Manfredi schweigend und mit geringem Interesse zu. Er schien kaum überrascht und noch weniger beunruhigt.
»Ich werde es so einrichten, dass niemand davon erfährt. Ihr Sohn wird im Gedächtnis aller der Wohltäter der Armen bleiben. Im Gegenzug möchte ich, dass Sie mir Ihr Wort geben, niemanden mehr zu ermorden oder ermorden zu lassen.«
Der Conte musterte ihn. Nicht wütend oder drohend, sondern mit der gleichen subtilen Herablassung wie 1982.
»Es ist eine Schande, was aus Ihnen geworden ist, Balistreri. Ich kenne Ihren Lebenslauf. Sie waren ein vielversprechender junger Mann, der sich gegen die Kräfte des Obskurantismus und der Korruption aufgelehnt hat. Damals hätte ich Gefallen an Ihnen gefunden. Wirklich schade, dass Sie Ihr Leben so vergeudet haben.«
»Liegt Ihnen nichts daran, dass Ihr Sohn als Wohltäter und nicht als Mörder in Erinnerung bleibt?«
Der Conte blieb zwischen den Gräbern stehen.
»Manfredi war kein Mörder, Balistreri. Er wurde dazu gemacht, durch die Vorurteile unserer westlichen Gesellschaft, die in bürgerlichem Hedonismus und katholischer Heuchelei gründet. Er war ein freundlicher, gebildeter, schüchterner Junge. Die Frauen haben ihn wegen seines Aussehens abgelehnt. Und Sie haben ihn aus demselben Grund eines Verbrechens beschuldigt, das er nicht begangen hat und dessen wahren Urheber wir heute noch nicht kennen. Später habe sogar ich, sein Vater, ihn manipuliert. Ich habe ihm Marius Hagi vorgestellt und die Rachegelüste der beiden für meine Pläne benutzt.«
»Manfredi wusste nicht, dass Hagi und Ajello die Leiche von Elisa Sordi weggebracht, verunstaltet und in den Tiber geworfen haben?«
»Er hatte keine Ahnung. Er kannte weder Hagi noch Ajello. Von meinem Bruder in Afrika erfuhr ich allerdings, dass Manfredi nicht aufhörte mit dem Töten und Einritzen. Da begriff ich, dass mein Sohn eine Krankheit hatte, an der er keine Schuld trug. Vor einem Jahr teilte Hagi mir dann mit, dass er Lungenkrebs habe und vor seinem Tod noch Anna Rossi umbringen werde. Damals war Manfredi gerade in Rom. Wir unterhielten uns zu dritt darüber, auf der Terrasse, eine ganze Nacht lang. Und wir kamen überein, dass es wirkungsvoller sei, Samantha Rossi zu töten. Aber alles hat einen Ursprung, Balistreri, und Sie haben einen entscheidenden Anteil daran.«
Der Conte deutete auf drei benachbarte Grabsteine. Balistreri drehte sich um und erstarrte.
Das mittlere war das Grab von Elisa Sordi. Rechts und links davon lagen Amedeo und Giovanna.
»Sehen Sie, Balistreri. Da unten ruht die einzige Sache, die sich mir immer entzogen hat. Die Wahrheit, der Name von Elisas wahrem Mörder. Graben Sie sie aus. Dann werde ich Ihren Pakt respektieren, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
Der Conte sah ihm einen Moment in die Augen, dann kehrte er ihm den Rücken zu und ging.
Balistreri betrachtete die drei Gräber. Es war sehr heiß, doch auf allen dreien standen frische Blumen.