Zwischendurch konnte sie Gold finden
Die anderen Frauen im Block wurden ihre Männer morgens rechtzeitig los.
Petter konnte bis zehn oder elf herumtrödeln.
Deshalb konnte sie sich kein Frühstücksnickerchen gönnen, nachdem Susy und Oliver zur Schule gegangen waren, das war der Ärger. Sie horchte auf das Klappern seiner Schreibmaschine im Wohnzimmer. Sie könnte natürlich lügen, denn wenn Kundinnen kamen, um sich die Haare machen zu lassen, war er sofort über alle Berge, das war ihm dann zu viel Hühnerstall. Aber an diesem Tag kam die erste erst um halb eins, Frau Vaage aus dem Block weiter unten, die Haarschnitt und Dauerwelle wollte, danach dann Frau Befring aus Treppenhaus C, die die Haare geschnitten und gelegt haben wollte, während bei Frau Vaage die Dauerwelle einwirkte. Aber sie hätte lügen und behaupten können, die erste Kundin könne jeden Moment eintreffen.
Zuerst musste sie außerdem einkaufen, sie hatte keinen Kaffee mehr. Zum Glück hatte sich die Sitte entwickelt, dass die Damen etwas zum Kaffee mitbrachten. Und das Gebäck zum Kaffee bedeutete Prestige, die Kundinnen wetteiferten darum, das Beste zu haben. Und sie wussten genau, was die anderen mitgebracht hatten, selbst wenn das Wochen her war. Die Männer, die sich die Haare schneiden ließen, tauchten natürlich mit leeren Händen auf. Sie konnten sogar auf die Idee kommen, erst spätabends nach den Nachrichten zu erscheinen. Aber Geld war eben Geld.
Sie steckte sich eine Zigarette an, öffnete das Fenster einen Spaltbreit, zog den Morgenmantel fester zusammen und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Auch sie hätte einen Haarschnitt brauchen können, aber bei sich selbst konnte sie das nicht. Dann müsste sie sich einen Termin bei Frau Berg hinten am Jonsvannsvei geben lassen, die einen richtigen Salon in einem eigenen Anbau an der Längsseite des Einfamilienhauses besaß. Sie ging gern hin, dort erfuhr sie von neuen Haarpflegeprodukten und konnte sich für eine Weile professionell vorkommen. Es war etwas ganz anderes, als am Küchentisch der Familie Haare zu schneiden und zu legen. Aber zugleich sparte sie viel Geld, wenn sie keinen Laden mietete. Petters Büro unten in der Innenstadt war nicht umsonst, auch wenn es nur zehn Quadratmeter groß war und in einem Haus ohne Fahrstuhl im vierten Stock lag.
Sie seufzte tief und lange.
»Stimmt was nicht?«, rief er.
»Nicht doch. Nur ein bisschen müde.«
»Dann leg dich doch noch mal hin.«
»Are you mad? Das geht nun wirklich nicht! Ich hab so viel zu erledigen.«
Sie sah sich den chaotischen Frühstückstisch an, griff nach der Flasche mit dem Sanostol und nahm einen Schluck daraus.
»Nicht aus der Flasche trinken, das kann in Gärung übergehen und explodieren.«
Nichts entging diesem Mann. Und allein die Tatsache, dass er sich einen ganz anders aufgeteilten Alltag vorstellen konnte, sorgte dafür, dass sie sich große Mühe geben musste, um jederzeit zufrieden zu wirken.
»Werd es nie mehr wieder tun«, sagte sie. »Promise.«
Er hätte gern die ganze Zeit zu Hause gearbeitet und tagsüber den Haushalt übernommen.
Sie wusste außerdem, dass er das schaffen würde. Er fand, sie sollte sich eine feste Stelle in einem Frisiersalon suchen und Vollzeit arbeiten, dann könnte er sein Büro kündigen und zu Hause an seinen Übersetzungen arbeiten, da sein, wenn die Kinder aus der Schule kamen, Kleider waschen und das Essen bereit haben, wenn sie nach Hause kam. Er nutzte jede noch so kleine Gelegenheit, um diese Lösung zu propagieren, die ihnen mehr Geld einbringen und seinen Alltag zugleich leichter machen würde. Er war ein guter Koch, er konnte mit der Waschmaschine umgehen, und was andere Leute meinten, war ihm ganz einfach egal. Sowie er bei ihr das kleinste Anzeichen von Unzufriedenheit entdeckte, war er sofort mit seinen Plänen und seinen Rechnungen zur Stelle.
Wenn nur eine Kundin anriefe und sagte, sie würde gern ein wenig früher kommen. Um zehn, zum Beispiel, das könnte sie sehr gut schaffen. Sie könnte statt des Kaffees ein wenig englischen Typhoo-Tee kochen, die Damen fanden es exotisch, das serviert zu bekommen, wenn sie fragte, ob sie »a cuppa tea, dear« haben wollten. Auch das Telefon war nicht billig, vielleicht hätten sie gar keines gebraucht, nur sie und Foss im dritten Stock hatten ein Telefon. Oder vielleicht auch Moes im Erdgeschoss, das wusste sie nicht, die blieben unter sich mit ihrem neugeborenen kleinen Kind, das sie bisher nicht einmal hatte weinen hören, nicht einmal nachts, und dabei war es nur zwei Monate alt, vielleicht jünger, sie war sich nicht ganz sicher.
Aber Petter brauchte das Telefon, um mit der Literaturagentin in Oslo zu diskutieren, die ihm die Bücher zum Übersetzen zusandte. Sie müsste eigentlich froh darüber sein, dass das Telefon hier zu Hause installiert war und nicht in dem kleinen Büro unten in der Innenstadt, denn so konnte sie ab und zu ein Ferngespräch mit ihrer Mutter in England führen. Es waren blitzschnelle Gespräche, so teuer, wie jede Minute war, aber sie besaß immerhin die Möglichkeit, wenn etwas passierte. Und deshalb war sie lockerer. Dass das Telefon sich in der Wohnung befand, verschaffte ihr eine direkte Verbindung nach Hause. Aber das kostete, auch wenn es ganz still dort stand. Und Geld hatten sie nie genug.
Doch allein die Vorstellung, in aller Herrgottsfrühe aufzustehen, um sich zurechtzumachen und tadellos auszusehen und zur Arbeit zu gehen und den ganzen Tag an diesem anderen Ort gefangen zu sein, mit den Händen in anderer Leute Haar, diese Vorstellung war nicht zu ertragen. Der Sinn davon, zu heiraten und Kinder zu bekommen, war doch gerade, dass ihr das erspart blieb, dass sie ihr Leben selbst einrichten konnte, dass sie Nein sagen konnte, »freitags nehme ich keine Kundschaft, komm lieber am Dienstag«, um dann den ganzen Freitag im Haus herumzupusseln, mit Wäschewaschen und Aufräumen, den Illustrierten und dem eigenen Schlafbedürfnis auf den neuesten Stand zu kommen. Den ganzen Tag zu arbeiten, das hatte sie mit zwanzig geschafft, als sie noch kein eigenes Heim gehabt hatte, in das sie sich zurückwünschen konnte. Damals konnte sie den ganzen Tag in den hochhackigen Schuhen stehen, ohne dass Beine, Arme oder Rücken müde wurden.
Sie zog die Illustrierte zu sich heran und steckte sich eine neue Zigarette an. An diesem Tag würden die neuen Zeitschriften kommen, das fiel ihr plötzlich ein. Dann musste sie jedenfalls in den Laden, und es würde doch keinen englischen Tee geben. Sie griff zum Kaffeekessel und füllte ihre Tasse mit lauwarmem Kaffee, dann sah sie sich lange den Bericht über König Konstantin und Anna-Maria von Griechenland an. Wie schön sie war. Er auch. Eine griechische Schauspielerin litt jetzt an furchtbarem Liebeskummer, weil sie ihn nicht bekommen konnte. Wie hieß sie doch gleich wieder? Aber sie war nicht gut genug für das Königshaus, obwohl sie eine Anwaltstochter war und aus feiner Familie stammte. Ja, Aliki, so hieß sie. Sie war jetzt nach Hollywood gegangen und gab vor, absolut nicht traurig zu sein. Deshalb wurde sie als stark bezeichnet. Vor den Augen der Weltpresse nicht zu trauern, das bedeutete also, stark zu sein, das musste sie sich merken, dachte sie.
Und Anna-Maria, die sich mit ihrem Schwangerschaftsbauch in der Öffentlichkeit zeigte! Auch ganz schön mutig. Zum Königshaus zu gehören und sich trotzdem bei öffentlichen Repräsentationsaufgaben schwanger zu zeigen. Da stand sie unten vor dem Flugzeug an der Gangway auf einem grauen Teppich, der in Wirklichkeit sicher rot war, Hand in Hand mit ihrem Konstantin, in einem weiten dunklen Rohseidenkleid über dem gewölbten Bauch. Sie hatte die Reportage schon zweimal gelesen und machte sich jetzt ans dritte Mal. Sie hatte ihren Namen von Anne-Marie zu Anna-Maria ändern müssen, als sie geheiratet hatte. Es konnte keinen Spaß machen, den Namen zu ändern. Nachnamen, das schon, aber nicht den Vornamen. Die Griechen liebten sie, stand dort. Sie wurde von einem ganzen Volk geliebt. Was das wohl für ein Gefühl war? Es stand nichts über die Sprache dort, nichts darüber, wie sie als Dänin Griechisch gelernt hatte. Oder vielleicht hatte sie das noch nicht gelernt, und sie redeten kaum miteinander.
»Willst du nicht den Tisch abräumen? Mmm, du riechst aber gut, Barb.«
Er umarmte sie von hinten ganz fest, hatte schon eine Hand in ihren Morgenrock geschoben über die eine Brust.
»Petter, stop it. Ich rieche überhaupt nicht gut. Ich habe noch nicht geduscht.«
»Vielleicht sollten wir uns wieder hinlegen, alle beide?«
»Ich habe so viel zu erledigen.«
»Ja, das sehe ich. Anna-Maria und Konstantin? Das Liebespaar?«
»Das nennt man einen ruhigen Start in den Tag. In einer halben Stunde werde ich wie ein Whirlwind sein. Zieh deine Pantoffeln an!«
Seine Socken waren voller Haare. In der Ecke beim Trockenschrank stand der Besen, stets mit einer Menge Haarflaum in allerlei Schattierungen am blauen Gummirand. Er brauchte wirklich nicht in diesem Haus auf Socken herumzulaufen.
»Aber du …«, sagte er.
Sie schlug die Illustrierte zu und sprang so eilig auf, dass die Asche von der Zigarette auf den Tisch fiel. Jetzt würde er sicher wieder etwas sagen. Herrgott, was für ein Nervkram! Vielleicht müsste sie wieder schwanger werden, damit er aufhörte, und Susy würde sich dann freuen, wo sie doch die ganze Zeit mit Puppen spielte.
Sie nahm die Teller und die Milchgläser der Kinder und ging damit zum Spülbecken, schraubte den Deckel auf das Kunsthonigglas, packte den Ziegenkäse in Butterbrotpapier, drehte den Verschluss auf die Kaviartube und drückte den Pappdeckel auf den Schmierkäse. Die ganze Zeit merkte sie, dass er ganz ruhig dastand und sie im Auge behielt. Als sie sich vor dem winzigen Kühlschrank bückte, trat er hinter sie. Dass er auch niemals etwas zimmern konnte, das man unter diesen Kühlschrank stellen könnte, damit der etwas höher wäre, wo er doch ohnehin dauernd unten im Hobbyraum war.
»Meine wunderbare Barbara«, sagte er. »Immer morgenmunter und frisch wie ein Tautröpfchen.«
»Petter, ich habe zu tun.«
»Ich auch.«
»Wie weit bist du gekommen?«, fragte sie und richtete sich auf.
»Seite 94.«
»Du bist aber tüchtig.«
»Sie ist ziemlich einfach zu übersetzen, die gute Agatha. Viele Wiederholungen. Sie führt uns sehr schnell in ihr Universum ein, am Anfang ist es ein wenig schwierig, aber dann … und apropos schnell …«
Sie drehte sich zu ihm um, atmete nach unten, weil sie sich noch nicht die Zähne geputzt hatte. Auch gegessen hatte sie noch nicht, nur Kaffee getrunken und geraucht und den kleinen Schluck Sanostol genommen. Sie schüttelte den Kopf. Er holte Luft und wandte sich ab.
»Aber du«, sagte er zu der braunen Rasenfläche unter dem Fenster.
»Ja?«
»Vergiss die Nieren nicht. Die sehen gar nicht schön aus da in ihrer Bütte. Und sie riechen.«
»Natürlich riechen sie. Vor dem Duschen werde ich das Wasser erneuern.«
»Willst du sie heute kochen?«
»Sicher, ich bin um halb vier mit Frau Vaage fertig, dann gibt es um fünf Steak and Kindney Pie.«
»Das schaffst du nie im Leben.«
»Aber sicher doch.«
»Hast du den Deckel für die Pastete denn schon gemacht?«
»Nein.«
»Dann machst du heute am besten nur die Füllung, und wir essen den Pie morgen und heute lieber etwas anderes.«
»Warum denn?«
»Weil du das nie im Leben schaffst. Du bist doch nicht gerade der häusliche Typ, das wissen wir beide«, sagte er und ließ sie los, holte den Wischlappen, drehte den Wasserhahn auf, spülte den Lappen gründlich aus, spritzte ein wenig Zalo darauf, rieb energisch daran und wrang ihn am Ende so hart aus, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. Dann wischte er den Küchentisch ab, hob sogar den Aschenbecher hoch und wischte darunter.
»Und weil ich Hunger habe, wenn ich nach Hause komme, und dann gerne sofort essen möchte«, sagte er.
»Schon verstanden.«
Sie steckte sich eine neue Zigarette an, stellte sich ans Fenster und kehrte ihm den Rücken zu. Warum konnte er jetzt nicht einfach gehen? Er war der einzige Mann, der jetzt noch im Haus war, man musste sich geradezu schämen, weil man mit so einem verheiratet war. Sie drehte sich rasch zu ihm um.
»Leg den Lappen weg, ich kümmere mich um die Küche«, sagte sie. »Seite 95 wartet auf dich.«
»Bist du jetzt sauer?«
»Nein. Aber du störst mich. In my routines.«
»Du meine Güte. Das klang ganz schön königlich, wenn ich das mal so sagen darf. Und noch was … wenn du das Ausgussbecken als Mülleimer benutzt, wird es bald verstopft sein.«
»Ich mache es sauber, bevor die Kundschaft kommt, ich wasche ihnen doch über diesem Becken die Haare, remember?«
Sie drückte die halbgerauchte Zigarette aus und ging ins Badezimmer, goss das Salzwasser der Kalbsnieren in die Dusche und füllte mit frischem Wasser auf. Natürlich roch es, wenn man Nieren auswässerte, wusste er nicht, was Nieren waren? Diese Norweger mit ihrer Aversion gegen Innereien. Als sie beim Schlachter unten im Zentrum zum ersten Mal Rinderherz bestellt hatte, hatte er sie angesehen, als ob er an ihrem Verstand zweifelte. Er hatte offenbar noch nie ein mit allerlei Leckerbissen gefülltes Rinderherz probiert. Der Vorteil war, dass sie die Innereien fast gratis bekam und damit eine Menge Geld sparte.
Endlich hörte sie, wie die Tür ins Schloss fiel. Sie ließ das Wasser durch die Haare und über ihren Rücken laufen, über ihren Hintern und weiter die Waden hinab, es war so gut, sich einzuseifen, abzuspülen und sich wieder einzuseifen, viel zu lange dort zu stehen, zu viel heißes Wasser zu verbrauchen. Aber die Kundinnen, die keine Dauerwelle brauchten, wuschen sich oft schon vorher die Haare, viele kamen mit einem Handtuch um die nassen Haare gewickelt. Der kleine Heißwassertank reichte nicht für alle, sie feuchtete dann einen Kamm in einem Glas Wasser an und machte die Haare nass, ehe sie sie auf Wickler rollte, wenn die Kundin nur legen lassen wollte. Und an diesem Tag hatte sie nur eine Dauerwelle.
Sie zog sich nicht sofort an, trocknete sich ab und zog wieder den Morgenmantel an und rieb sich die Haare. Sie liebte diese Stunden, wenn sie allein in der Wohnung war, sie graute sich immer vor dem Sonntag und freute sich auf den Montag. Der neuste Schwachsinn war, dass die Kinder in der Schule samstags vielleicht frei bekommen würden. Das sollte dann mit Hausaufgaben für den Montag ausgeglichen werden, aber was hätte sie davon? Sie hätte sie dann von Freitagnachmittag bis Montagmorgen im Haus. Natürlich sollte das nur dafür sorgen, dass die Lehrer freihätten und die Füße auf den Tisch legen könnten, während die Schüler sich am Wochenende mit den Aufgaben abmühten und die Eltern für die Lehrer die Arbeit erledigten.
Die Morgensendung würde bald zu Ende sein. Sicher war sie die Einzige im ganzen Haus, die die Sendung um neun nicht in Ruhe von Anfang bis Ende und ohne Mann im Haus hören durfte. Jetzt prahlte dieser Kjell Thue damit, dass seine Sendung eine »Beatles-freie« Zone sei, ehe er »Wo die Birken rauschen« spielte.
Sie steckte sich eine Zigarette an und widmete sich wieder der Illustrierten. Eigentlich könnte sie den Teig für die Pastete auch jetzt machen, bevor die Kundinnen kamen. Und sie hatte alles, was sie für die Füllung brauchte. Rindfleisch in Streifen, Zwiebeln, Kartoffeln, Thymian und Worcestersoße, die die Mutter ihr regelmäßig aus Bristol schickte. Die Mutter war wunderbar und schickte ihr immer wieder Dinge, die sie brauchte und die es hier nicht gab. Wie beispielsweise Haarfarben in allerlei Brauntönen. Hier bleichten sie die Haare von blond bis fast weiß, andere Möglichkeiten hatten sie nicht, sie färbten dann mit Haarfestiger, der nur wenige Tage hielt.
Die Mutter schickte ihr auch das Family Circle Magazine, wenn sie es selbst ausgelesen hatte, und Salbei und andere Gewürze, die sie für Kalbfleisch und die Füllung für Geflügel benutzte. In diesem Land hier kochte man ja kaum mit Gewürzen.
Zugleich war sie ehrlich beeindruckt davon, wie viele es dennoch schafften, das Essen gut schmecken zu lassen, nur mit Salz und Pfeffer, Petersilie und Schnittlauch, ein wenig Dill und Porree und Kümmel. Und Butter. Sie hatten wirklich keine Angst davor, Margarine und Butter zu verwenden. Sie hatte selbst immer Butter oder Margarine und Weizenmehl im Haus, denn alles, vom langweiligsten Essensrest bis zu altem Obst, ließ sich als Füllung in einer leckeren kleinen Pastete verstecken. Frau Rudolf brachte ja auch Obst und Gemüse mit, die sie selbst nicht mehr verarbeiten wollte. Petter hatte keine Ahnung, wie viel sie wirklich von Frau Rudolf bekam, sie prahlte lieber damit, wie weit sie mit dem Haushaltsgeld kam, er schrieb das den Einnahmen ihrer Frisierarbeit zu.
Sie las ungeheuer gern Kochrezepte. Vermutlich, musste sie zugeben, aber nicht anderen und schon gar nicht Petter gegenüber, verbrachte sie mehr Zeit mit Rezeptelesen als mit Kochen. Family Circle war vollgestopft mit Koch-und Backrezepten, hierzulande gab es die nur selten. Hier standen sie auf Strickmuster und bestickte Tischdecken und Sofakissen und Schnittmuster für Kinderkleider. Aber ab und zu fand sie Gold, etwas, das ein wenig anders und »unnorwegisch« war. Wie in der letzten Nummer von Illustrert, »Knochenlose Vögelchen«. Das war Rindfleisch mit Speckscheiben und Gewürzgurken, zusammengebunden und in der Pfanne angebraten, ehe es in Sahnemilch ziehen durfte. Ganz besonders gern hatte sie die Beilage: »Käsesonne«. Aus grobem Brot wurden mit einem Milchglas Kreise ausgestochen und danach mit zerbröseltem Roquefort bestreut, der in der Mitte eine Vertiefung erhielt. In diese Vertiefung kam ein Eidotter in einem Kranz aus gehacktem Porree und Kümmel. Es klang wunderbar. Aber die Kinder mochten keinen starken Käse. Nicht einmal den köstlichen Stilton wollten sie probieren, den die Mutter jedes Jahr zu Weihnachten schickte. Das andere Rezept war für Fischsuppe.
Sie konnte Fisch nicht ausstehen.
Sie servierte niemals Fisch, niemals. Norweger waren verrückt nach Fisch. Petter hatte vor einigen Jahren einmal Bacalao von ihr haben wollen. Sie hatte sich nach Rezepten erkundigt und am Ende geräucherten Kabeljau in einer Tomatensuppe aus der Tüte zusammen mit Kartoffeln und Zwiebeln gekocht. Sie, Petter und die Kinder hatten schweigend gegessen. Danach hatte sie Susy gefragt, ob es ihr geschmeckt habe. »Sicher, Mama, das hat sehr gut geschmeckt, aber du brauchst es nicht wieder zu kochen.«
Petter kochte ab und zu ein Fischgericht, Seelachs oder Kabeljau, und sie blieb dann im Wohnzimmer. Vom Geruch war ihr schon schlecht, noch ehe sie sich zu Tisch gesetzt hatte. Es roch nach einer Mischung aus Leim und Erbrochenem, und es half nicht einmal, alles mit zerlassener Butter zu bedecken. Danach stank es noch tagelang in der ganzen Wohnung danach. Aber er beklagte sich über den Geruch von feinen frischen Kalbsnieren? Herrgott, wenn sie ihm seinen Traum erfüllte, zu Hause arbeiten zu dürfen, würde es wohl alle zwei Tage Fisch geben. Das allein wäre schon Grund genug, wieder schwanger zu werden. Aber dann würde sie auch wieder mit ihm schlafen müssen, und dazu hatte sie jetzt seit geraumer Zeit keinen Grund mehr gesehen.
Sie räumte die Küche fertig auf, pulte mit den Fingern den Inhalt aus dem Ausgussbecken und ließ ihn in den Mülleimer fallen. Danach scheuerte sie das Becken mit einer Prise Ata auf der Spülbürste, ließ Wasser nachlaufen und rieb den Rand davor sauber und glänzend. Schließlich war das die Stelle, wo sie immer das Handtuch hinlegte, wenn die Kundinnen sich zurücklehnten, um sich die Haare waschen zu lassen. Es durfte nicht unordentlich oder schmutzig sein, wenn die Damen kamen, sie klatschten ja so schrecklich. Sie machte auch eine Runde durch das Wohnzimmer, wischte den Couchtisch ab und legte die Sofakissen auf den Sofarücken, las einige Kleidungsstücke der Kinder auf und sammelte Petters Durchschlagpapier ein, das wild durcheinander neben der Schreibmaschine auf dem kleinen Schreibtisch lag. Zwei Bogen konnte sie gleich wegwerfen, die waren restlos von Buchstaben durchlöchert. Sicher hatte er jeden Bogen mindestens zehnmal benutzt, es war unmöglich, auch nur ein Wort in Spiegelschrift zu lesen. Die schwarze Farbe blieb an ihren Fingern haften, sie knüllte die Blätter zusammen und warf sie in den Kamin, ehe sie sich die Finger am Spüllappen abputzte.
Auch vor den Büchern in ihren Regalen wischte sie ein wenig Staub, schob das Staubtuch in die Nischen in den ungleichmäßigen Bücherreihen; oben wurden sie fast nie staubig, er benutzte sie immer wieder, es waren nur Nachschlagewerke und Wörterbücher und Fachbücher. Gott sei Dank hatte er mit laut laufendem Radio auf dem Klo gelesen, als am Vorabend der Vertreter geklingelt hatte, um sein Lexikon zu verkaufen. Sie hatten kein Lexikon, und Petter träumte davon, eins zu besitzen. Wenn er die Herrschaft hier zu Hause übernähme, würden sie sich sicher auch das Lexikon leisten können. Achtzehn Bände, hatte der Mann gesagt. Achtzehn dicke Bände zu allem, was sie ohnehin schon hatten! Wenn sie katholisch gewesen wäre, hätte sie sich jetzt bekreuzigt vor Dankbarkeit darüber, dass er keine Ahnung von dem Vertreter hatte. Er hatte ihren englischen Akzent gehört und angefangen, über den guten Winston zu plappern, aber sie hatte ihm sofort die Nase vor der Tür zugeschlagen. Ihre Mutter, die zum Glück viele Meilen entfernt wohnte, hätte eine neue religiöse Bewegung mit Churchill als Abgott starten können, und sie hatte es sich verbeten, die Schriften dieses Mannes im Hause zu haben. Und noch dazu dafür zu bezahlen, indem sie anderen Leuten die Haare schnitt und legte. Die Vorstellung war fast makaber.
Sie hielt inne, während sie das Staubtuch noch in der Luft hielt. Wildes Geschrei ertönte aus dem Erdgeschoss von Treppenhaus B. Der Beton, aus dem das Haus errichtet war, musste eingebaute Megaphone enthalten. Sie war ja so froh, dass sie nicht in B wohnten, sondern in A. Das Geschrei war ein Gemisch aus Frauenstimmen und Kinderstimmen, bestimmt hatte die ganze Bande verschlafen. Es war nicht zu fassen, dass die Stadt Trondheim eine Wohnung bei einer anständigen Wohnungsgenossenschaft kaufen und danach eine richtige Abschaumfamilie dort hineinsetzen konnte, die weder arbeitete noch die Hausordnung einhielt. Ihnen ging es nur darum, zu trinken und jeden Sonntag auf Pferde zu wetten. Nein, hier im Treppenhaus lebten Leute, die einen Anteil an einem Pferd besaßen und nicht darauf wetteten. In England wetteten auch anständige Leute auf Pferde, aber in Norwegen war das nicht so. Doch in England kamen jedenfalls Ehefrauen und Hausmütter nicht am Sonntagnachmittag betrunken vom Trabrennen zurück mit weinenden Gören im Schlepptau. In England waren Pferderennen a man’s world.
Der Lärm näherte sich einem heftigen Höhepunkt, dann schlug er in Kinderweinen um, um kurz darauf abrupt zu verstummen. Sie hatte gehört, das letzte Haus, in dem die gewohnt hatten, sei abgebrannt und sie hätten mit leeren Händen dagestanden und die Stadt habe eingreifen müssen. Das Haus war sicher im Suff angesteckt worden. Fünf Kinder hatten die, die Götter mochten wissen, wo die alle schliefen, bestimmt standen in den beiden kleinen Schlafzimmern an jeder Wand Etagenbetten. Was die für ein Leben hatten, eigentlich müsste sie für ihres dankbarer sein.
Denn sie liebte ihn doch. Das war nicht das Problem. Das war nicht das Problem, das war es wirklich nicht. Natürlich liebte sie ihn. Oder etwa nicht? Er war die ganze Zeit in ihrer Nähe, sagte, er liebe sie, sie sei so wunderbar, sie rieche gut, auch wenn sie ganz genau wusste, dass sie nach Schlaf und Schweiß stank. Worüber er wohl noch log, wenn er über solche grundlegenden Dinge log? Aber sie fühlte sich ihm nicht mehr nah, fast nie, sie teilten doch gar nichts, hatten nicht ein einziges gemeinsames Erlebnis. Es ging immer nur darum, was im Laufe eines Tages erledigt werden musste.
Sie legte den Wischlappen auf die Anrichte, ohne ihn vorher auszuspülen, und glaubte schon seinen Kommentar zu hören: »Nicht so richtig angenehm, einen Wischlappen aufzuheben, um irgendwo sauber zu machen, und dann fällt alles von Kartoffelschalen bis zu Zigarettenstummeln heraus.«
Petter rauchte nicht, er war fast der einzige Nichtraucher, den sie kannte. Nicht einmal Pfeife rauchte er, und dabei war das doch so männlich.
Sie zog dieselben Sachen an wie am Vortag, die Kleidungsstücke, die sie auf den Korb für die schmutzige Wäsche geworfen hatte. BH und Hose waren auf den Boden gefallen, nachdem die Kinder sich angezogen hatten. Sie zog die Hose an, ohne vorher die Socken überzustreifen, und stand dann da und musterte ihre Zehen.
Die sahen ganz normal aus. Es waren ihre Zehen, so sahen sie seit zwanzig Jahren aus, und auf eine seltsame Weise konnten sie sie immer beruhigen. Sie lagen solide auf dem Linoleumboden, alle zehn, und spreizten sich ein wenig ungleich fort voneinander, wie das ihre Art war. Sie holte tief Atem und stöhnte auf, als sie die Luft wieder ausstieß. Jetzt könnte das doch niemand hören. Vielleicht sollte sie sich die Zehennägel lackieren. Bei den Fingernägeln ging das nicht, wo sie doch dauernd mit Haaren und Wasser und chemischen Flüssigkeiten beschäftigt war, aber vielleicht die Zehen? Doch andererseits – warum sollte sie sich die Zehennägel lackieren? Für wen? Sie wollte ihn doch fast nie.
Aber sie war gern schwanger gewesen, hatte gern in einem Sessel gesessen und zufrieden – ganz wie Dickens’ Mr. Micawber – die Hände auf dem Bauch gefaltet und sich wichtig gefühlt. Dass sie einen ganzen und echten Menschen in sich trug, hatte sie mit Stolz erfüllt. Und diesen Stolz besaß sie vierundzwanzig Stunden am Tag bei allem, was sie tat, ob sie sich nun den Pony aus dem Gesicht strich oder spazieren ging, während Petter kochte, und sie konnte langsam und wogend und selbstbewusst dahingehen mit einem lebenden Leben in sich.
Beim ersten Mal, bei Susy, war es natürlich am besten gewesen. Bei Oliver war es eher anstrengend, denn da war Susy noch klein und anspruchsvoll, und es war nicht so leicht gewesen, sich allem zu entziehen und ihr eigenes Glück auszukosten. Sie sah sich im Winter gern den Sternenhimmel an, fühlte sich dann wie ein Sandkorn in einem gigantischen Wirbel, aber als sie schwanger gewesen war, hatte sie sich überhaupt nicht klein gefühlt, sondern groß und enorm wichtig. Sie war die Nabe im Rad. Was sie erschuf und in sich trug, war größer als die Sonne selbst, zehntausendmal größer als die Bedingungen und Voraussetzungen, die sie für ihr eigenes Leben definierte. Als das Kind geboren war, wurde natürlich alles bodenständiger, es gab von Minute zu Minute Pflichten und Aufgaben, und es war nicht sonderlich sakral und kosmisch. Aber vorher war es nur phantastisch, und sie hätte gern gewusst, ob Anna-Maria gerade auch so empfand. Oder vielleicht war das Kind schon da, die Illustrierten waren ja nicht tagesaktuell, sie hatten acht Wochen Produktionszeit, und diese Art von Nachrichten kam nur selten im Radio. Dazu lag Griechenland zu weit weg. Wenn überhaupt, würde es in der Morgensendung um neun erwähnt werden.
Frau Åsen putzte gerade den Eingang, als sie auf dem Weg zum Einkaufen unten vorbeikam. Der Postbote war schon da gewesen, aber der Briefkasten war leer. Sie musste sich über Moes Kinderwagen lehnen, um mit ihrem Postschlüssel die grüne Metalltür zu öffnen und zu schließen. Dass Frau Moe den Wagen nicht in die Wohnung holte, sie hatte doch nur eine kleine Treppe, aber da stand der Wagen mit Kissen und Decke, fast zu intim, um so für das ganze Treppenhaus entblößt zu werden.
»Sie könnten den ja wohl in die Wohnung holen, finden Sie nicht?«, fragte Frau Åsen. Die Kittelschürze spannte über ihrem üppigen Hintern, als sie sich in der Ecke unter den Briefkästen mit dem grauen Wischlappen in der linken Hand bückte, während sie sich mit der rechten auf den Kinderwagen stützte.
»Finde ich auch«, antwortete sie.
»Spannende Post?«
»Nichts. Ist eigentlich auch gut so. Dann gibt es auch keine Rechnungen, ha, ha.«
»Bekommen Sie keine Post aus England?«, fragte Frau Åsen.
»Doch, Zeitschriften. Und Pakete, ein paarmal im Jahr.«
»Das ist sicher spannend«, sagte Frau Åsen ein bisschen gleichgültig und richtete sich auf, der Schweiß strömte ihr über die Schläfen. Warum hatten die beiden wohl keine Kinder? Es roch nach grüner Seife mit Salmiak, das war ein guter Geruch. Im Putzeimer schwamm oben schmutziggrauer Schaum, aber er dampfte noch, das Wasser musste also noch ziemlich frisch sein.
»Wollen Sie einkaufen?«, fragte Frau Åsen.
»Ja.«
»Heute kommen die neuen Zeitschriften.«
»Ja.«
»Und Sie haben sicher auch Kundschaft.«
»Das habe ich. Und ich habe keinen Kaffee mehr, dabei geht ziemlich viel Kaffee drauf, ja!«
»Das müssen Sie auf den Preis aufschlagen«, meinte Frau Åsen.
»Aber sie bringen das Gebäck doch selbst mit.«
Frau Åsen beugte sich über den Putzeimer und tunkte den Wischlappen in das dampfende Wasser, wieder und wieder, so heftig, dass der graue Schaum sich auflöste und sie bis zu den Ellbogen nass wurde. Sie trug keinen Schmuck, kein Armband und keine Armbanduhr und keinen anderen Ring als ihren dünnen Trauring. Auch nichts an den Ohren. Und sie schien sich die Haare selbst geschnitten zu haben, die waren im Nacken ganz schief und rechts länger als links. Ja, ja, auch so ließ sich Geld sparen. Åsens hatten als Einzige im Haus eine eigene Hütte, das konnte nicht billig sein, falls sie nicht geerbt hatten.
»Ich wünschte, die Leute putzten sich die Füße an dem Lappen ab, den ich hier vor die Tür lege.«
»Ja, Sie bekommen ja allen Dreck ab, hier unten im Erdgeschoss.«
»Da sagen Sie wirklich etwas Wahres.«
Frau Befring brachte Brötchen und italienischen Salat mit. Sie war mit einem Seemann verheiratet, hatte eine Tochter in Susys Alter, die laut Susy die Klassenbeste und immer mucksmäuschenstill war, und Frau Befring langweilte sich dermaßen, dass sie mit dem Gedanken spielte, wieder arbeiten zu gehen. Was für eine Vorstellung, es so gut zu haben, dass man sich langweilte. Frau Vaage brachte Apfelstrudel vom Bäcker mit.
Sie kochte einen Kessel mit frischgemahlenem Kjeldsberg-Kaffee und stellte ihn auf das Holzbrett auf dem Küchentisch zum Ziehen, während sie anfing, mit den dünnsten Wicklern Frau Vaages Haare aufzurollen. Frau Befring schnitt die Brötchen auf einem Essteller auf und bestrich sie mit Margarine und dem Salat.
»Bitte, greifen Sie zu.«
»Sie sind nicht so für das Süße, nicht wahr?«, sagte Frau Vaage.
»Nein. Wissen Sie, ich kann Kuchen und Süßigkeiten ewig stehen lassen, ohne sie anzurühren, aber ein Rest von einem guten Essen wird im Kühlschrank nicht alt«, sagte Frau Befring.
»Ich könnte ja von Kuchen leben«, sagte Frau Vaage. »Au, das war ein bisschen zu fest, glaube ich!«
Sie zog das Plastikstäbchen aus dem Wickler und legte die Strähne abermals darum, diesmal etwas lockerer. Es waren gute Haare für diese Arbeit, dick und glatt, sie kannte die Haare aller Stammkundinnen, die Haare schienen ihre eigene Persönlichkeit zu haben, und alle waren unterschiedlich. Sie hatte ein engeres Verhältnis zu den Haaren als die Besitzerin, glaubte sie, auch wenn die sie rund um die Uhr mit sich herumtrug. Auf diese Weise gehörten die Haare ihr auch ein wenig, da sie für den Schnitt und den Sitz der Locken zuständig war. Sie konnte ihre Stammkundinnen im Laden treffen und ihnen einfach so in die Haare greifen, ohne dass das seltsam oder zudringlich gewirkt hätte, während sie sich über einen widerborstigen Wirbel oder die Haarlänge äußerte oder ein Kompliment machte. Sie träumte oft von Haaren, wie sie durch ihre Finger flossen, lebendig und wogend.
»Es regnet«, sagte Frau Vaage.
»Wie gut. Dann werden die Rasenflächen sicher bald grün.«
»Alle mal herhören«, sagte Frau Befring, die vor sich auf dem Tisch die neuste Ausgabe der Hjemmet liegen hatte. Sie hatte ein bisschen italienischen Salat an der Wange und in alle drei Tassen Kaffee eingeschenkt.
»Hier ist ein Leserbrief an Peter Penn: Ich staune schon lange darüber, wie es möglich ist, dass die Hausfrau von heute viel gehetzter lebt als die Hausfrau von vor dreißig, vierzig Jahren oder von noch früher? Damals hatten sie doch nicht die vielen technischen Hilfsmittel von heute, die die Arbeit erleichtern sollen und nicht erschweren?«
»Gute Frage«, sagte Frau Vaage.
»Ich bin überhaupt nicht gehetzt«, erwiderte Frau Befring.
»Sie haben ja auch keinen Mann zu Hause.«
»Ich bin auch nicht gehetzt, wenn er da ist. Dann ist er doch den ganzen Tag zu Hause und hat frei und kann mir bei allem Möglichen helfen.«
»Und was antwortet Peter Penn denn nun?«
»Mal sehen… Ja, das ist wirklich verwunderlich. Liest man z.B. Hanna Winsnes …«
»Peter Penn liest ja wohl nicht Hanna Winsnes!«
»Klar tut er das, wo er doch für eine Frauenzeitschrift schreibt.«
»Vielleicht ist er so ein warmer Bruder.«
»Igitt. Aber jetzt hören Sie doch zu! Liest man zum Beispiel Hanna Winsnes’ Haushaltsbuch, staunt man zweifellos darüber, wie viel die Hausfrau von damals zu tun hatte, wie beschäftigt sie war, aber man liest nicht, dass sie gehetzt gewirkt hätte. Und das ist wohl die Kehrseite des technischen Fortschritts: Je leichter die Welt in den Griff zu bekommen ist, umso hektischer scheint sie zu werden. Aber man braucht schon viel Zeit, um mit Waschmaschine, Kühlschrank, Tiefkühltruhe, Thermostat für die Ölheizung, Radio und Fernsehen, Staubsauger, den neunzehntausend verschiedenen Artikeln im Supermarkt fertigzuwerden. Und dazu kommen dann noch Auto, Mann und Kind und die Hütte im Gebirge und der Lottozettel mit der Chance auf eine Traumreise in die Sahara, nicht wahr?«
Alle drei lachten laut. Sie betupfte die Lockenwickler mit Wellmittellösung und überzeugte sich davon, dass die Flüssigkeit überall gleichmäßig einzog, dann steckte sie sich eine Zigarette an.
»Ich hätte gern Tiefkühltruhe und Ölheizung und Auto, aber die Hütte im Gebirge und die Reise in die Sahara können sie behalten.«
»Die brauchen doch so viel Platz, diese Tiefkühltruhen. Und im Keller gibt es keine Steckdosen.«
»Das wäre auch ungerecht, der Strom im Keller ist doch im Wohngeld und den Gemeinschaftskosten inbegriffen. Wenn die einen da unten eine Tiefkühltruhe hätten und andere nicht, meine ich.«
»Ihr Mann benutzt doch Strom, wenn er im Hobbyraum beschäftigt ist.«
»Ja, aber das können alle, wenn sie wollen, das ist also etwas anders.«
»Aber ich habe den Eindruck, dass er der Einzige ist.«
»Ja, Ihr Mann ist nicht wie alle anderen, Barbara.«
»Ist das so deutlich?«, fragte sie.
»Ja, er wirkt irgendwie jünger als die anderen«, sagte Frau Befring.
»Jünger?«
»Ja, er ist zum Beispiel der einzige Mann in meinem Bekanntenkreis, der keinen Hut trägt. Ja, abgesehen vom Berg aus dem Zweiten, aber den zähle ich nicht, der wirkt so wenig umgänglich.«
»Das habe ich mir noch nie überlegt«, sagte sie. »Dass Petter keinen Hut trägt. Wir sind so selten gleichzeitig draußen.«
»Haben Sie übrigens heute Morgen den Krach aus Aufgang B gehört?«
»Sicher, da habe ich gerade das Wohnzimmer geputzt.«
Putzen klang besser als Staubwischen.
»Das ist doch eine Schande«, sagte Frau Befring. »Da müssen wir Kaution und Wohngeld bezahlen, während diese Bande einfach einzieht und sich breitmacht, weil die Stadt für alles aufkommt. Denen wird alles in die Hände gedrückt, ich wache manchmal nachts auf und muss daran denken, wie ungerecht das ist. Hier placken wir uns ab und schuften, aber die …«
»Ich begreife ja nicht, wie die ganze Familie in einer Wohnung von zweiundsiebzig Quadratmetern Platz hat«, sagte sie. »Petter und ich finden es schon ein bisschen eng, und wir sind nur vier. Die sind sieben!«
»Ihr einer Sohn ist eines Nachts aus dem Etagenbett gefallen und hat sich die Zungenspitze abgebissen«, sagte Frau Befring.
»Großer Gott.«
»Ja, es war furchtbar. Der arme Junge. Er kann doch nichts für seine Eltern.«
»Es ist schlimm, wenn sie sonntags betrunken von der Trabrennbahn nach Hause kommen.«
»Mit dem Taxi.«
»Ja, dann haben sie wohl ein paar Kronen gewonnen.«
»Vielleicht haben sie auf das Pferd von diesem schrecklichen Berg gesetzt.«
»Ich glaube nicht, dass dieses Pferd so oft gewinnt.«
»Einmal hat es einen Teelöffel gewonnen.«
Sie lachten laut und zündeten sich gleichzeitig ihre Zigaretten an. Frau Vaage drehte selbst, aus einer grauen Tabakspackung, auf die ein Fuchs aufgedruckt war, und sie musste sich immer kleine Tabakreste von der Zungenspitze pflücken, wenn sie die Zigarette angesteckt hatte.
»Dann sind Sie an der Reihe«, sagte sie und holte den zweiten rosa Umhang aus dem Schrank. Ihre Mutter hatte ihr die Umhänge aus Bristol geschickt, sie waren aus Nylon und hatten unten eine Art Rand wie ein Kinderlätzchen. Dieser Rand sollte die abgeschnittenen Haare auffangen, doch, was dort landete, war begrenzt, das Meiste endete auf dem Boden.
»Haben Sie Haarfestiger mitgebracht? Ich hätte auch Bier, das hat ja dieselbe Wirkung.«
»Sicher doch«, sagte Frau Vaage und nahm eine kleine Flasche aus der Tasche, die an ihrem Stuhl lehnte. »Ich habe Mittelbraun gekauft.«
»Das ist aber etwas ganz anderes als Ihre eigene Farbe.«
»Das weiß ich. Nur so zum Spaß. Mal so zur Abwechslung.«
Oliver kam eine Stunde vor Susy aus der Schule. Beide wurden mit einem Teller Puffreis mit Zucker und Milch ins Wohnzimmer gesetzt, bevor sie mit den Hausaufgaben anfingen, und sie bekamen ein neues Tom-und-Jerry-und ein neues Donaldheft.
»Lasst nicht überall Zucker fallen«, sagte sie. »Und nur einen Teller, damit ihr nachher noch Appetit habt.«
Sie hatte Lungenhaschee und Zwiebeln gekauft, die Zeit reichte nicht für die Pastete. Aber sie hatte die Nieren aus dem Wasser genommen, Häute und Harnröhren entfernt und sie danach sorgfältig abgetrocknet und in den Kühlschrank gelegt. Sie wollte am Abend Teig und Füllung machen, dann wäre für morgen alles fertig. Petter jedenfalls sollte um fünf Uhr das Essen auf dem Tisch vorfinden. Als die Damen gegangen waren, kochte sie die Kartoffeln und stellte sie warm. Brötchen waren keine mehr da, doch den Rest Apfelstrudel konnten sie zum Nachtisch essen. Keine Kundin nahm die Reste des mitgebrachten Gebäcks wieder mit. Das wäre auch überaus unhöflich gewesen. Sicher sehr norwegisch, aber eben unhöflich.
»Warum trägst du keinen Hut?«, fragte sie, als er nach Hause kam.
»Was soll ich denn damit?«
»Alle außer dir tragen einen Hut.«
»Im Winter nehme ich doch eine Mütze.«
»Das ist etwas anderes. Erwachsene Männer haben einen Hut.«
»Die Haare werden nur schweißnass und klebrig. Ich hatte einen Hut, als wir uns kennengelernt haben.«
»Wirklich?«, fragte sie und sah ihn an. »Das weiß ich nicht mehr.«
»Es ist ja auch lange her. Wir waren jung und verliebt… Lungenhaschee? Keine Pastete?«
»Die gibt es morgen.«
»Alles klar. Riecht gut.«
»Und Apfelstrudel zum Nachtisch.«
Er hätte gern die Arme um sie gelegt, tat es aber nicht. Er dachte daran, wie seltsam es doch sei, hier zu stehen und sich so nach ihr zu sehnen, und dabei war sie nur einen Meter von ihm entfernt. Das Ausgussbecken war gefüllt mit Kartoffelschalen und Resten der Zwiebel, unter dem Tisch lagen Haare herum, und der Aschenbecher war überfüllt.
»Wo sind die Kinder?«
»Oliver ist draußen. Susy ist in ihrem Zimmer. SUSY!«, rief sie.
»Dass der Junge die Uhr nicht lernen kann.«
»Die kann er. Er schaut nur nicht darauf.«
»Es ist nicht richtig, dass die Kleine immer…«
»Er ist ihr Bruder. Das ist schon gut so. SUSY! HOL OLIVER!«
»Dann essen wir, wenn er zu Hause ist.«
»Das tun wir«, sagte sie.
Er setzte sich aufs Klo, nahm die Zeitschrift Alle Menn und drehte das kleine Reiseradio auf, das unter dem Klopapierhalter auf dem Boden stand. An diesem Tag hatte er vierzehn Seiten geschafft und lag vor seinem Zeitplan. Im Radio kam eine Unterhaltungssendung, sie spielten »500 miles away from home«. Er schlug die Zeitschrift bei der Fortsetzungsgeschichte von Edward S. Aarons auf, es war eine Schande, dass die Illustrierten nie die Namen der Übersetzer abdruckten.
Er las, bis seine Beine einschliefen und die Nachrichten anfingen und er Lust auf ein Bier hatte. Der Mörder in der Geschichte trank nach dem Mord »mehrere große Gläser Export«, das waren so visuelle Wörter, er sah den dunklen Schaum im Glas vor sich, hatte den Geschmack im Mund. Er klappte die Zeitschrift zu und ließ sie auf den Boden fallen. Barbara mochte keinen Alkohol, und sie waren ja auch nie allein, nur sie beide. Allein zu trinken war nicht dasselbe. Er schaute zur Deckenlampe hoch, während er Toilettenpapier abriss, er könnte eine neue Deckenlampe herstellen, diese hier hatte er satt. Er hatte noch dunkelrote und gelbe Plastikstreifen und er könnte denselben Metallrahmen benutzen, denn die Form an sich sah gut aus.
Er drehte das Radio aus, nun hörte er die Stimmen beider Kinder. Er wusch sich gründlich die Hände und ging in die Küche, nahm sich eine leere Plastiktüte und füllte sie mit dem Abfall aus dem Abgussbecken, nahm den Schlüssel zum Müllschacht vom Nagel an der Wand neben der Wohnungstür und ging hinaus ins Treppenhaus. Herr Berg kam die Treppe hoch, sein Gesicht war rot und verbissen, aus welchem Grund, konnte man nur ahnen. Er nickte kurz, Herr Berg nickte zurück, ohne seinen Blick zu erwidern, dann machte er sich an die letzten beiden kleinen Treppen.
Die Haare auf dem Boden unter dem Küchentisch waren noch immer nicht weggefegt, als sie sich zum Essen hinsetzten, er versuchte, sie nicht mit den Füßen zu berühren.
»Ich hab es so satt, dich suchen zu müssen«, sagte Susy. »Das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen. Du bist doch ein Baby, wenn du nicht von selbst rechtzeitig nach Hause kommen kannst.«
Oliver gab keine Antwort.
»Greift jetzt zu«, sagte Barbara. »Streitet euch nicht.«
»Ich streite mich nicht, ich hab es nur so satt«, sagte Susy. »Ich ziehe hier aus, sowie ich groß genug bin.«
»Ich auch«, sagte Oliver.
»Wenn du ausziehst, brauch ich das doch nicht mehr«, erwiderte Susy.
»Stop it«, sagte Barbara.
Sie war eine gute Köchin, wenn sie nur genug Zeit dafür freischaufeln konnte. Aber die Kartoffeln waren lauwarm. Das Lungenhaschee war in Scheiben mit ganz vielen Zwiebeln gebraten, und sie hatte Kapern und Senf auf den Tisch gestellt zusammen mit einem kleinen Topf zerlassener Butter. Er war hungrig und er war zufrieden mit seiner Tagesschicht im Büro, er könnte am nächsten Morgen ein wenig später aufbrechen, länger schlafen. Das war eine erhebende Vorstellung.
»Haben wir Bier, Barb? Oder hast du das den Leuten in die Haare gegossen?«, fragte er.
»Ich glaube, eine Flasche haben wir noch.«
»Brauchst du die vielleicht morgen früh?«
»Nimm sie nur.«
»Du hast also nicht schon ganz früh Kundschaft?«
»Doch, Frau Sivertsen um zehn. Sie will sich die Haare bleichen lassen. Aber sie trägt die Haare immer offen oder hochgesteckt, und da müssen sie nicht gelegt werden. Deshalb brauche ich auch das Bier nicht.«
»Verflixt. Ich dachte, ich könnte es morgen langsam angehen lassen.«
»Du kannst doch hierbleiben, wir machen einfach die Schiebetür zu, dann hörst du uns nicht.«
»Doch, tu ich wohl. Ach, verflixt. Das weißt du genau«, sagte er und goss sich lieber dünnen Apfelsinensaft ins Glas.